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Beschreibung

Wie war und wie ist der theologische Berufsstand in deutschen Parlamenten repräsentiert? In welchen Parteien engagieren sich evangelische Theologinnen und Theologen in welchen Epochen vorrangig? Welche fachpolitischen Aufgaben übernahmen sie im Parlament schwerpunktmäßig? Lässt sich eine bestimmte Typologie von Karriereverläufen feststellen? Die Beiträge dieses Bandes behandeln erstmals das Wirken evangelischer Theologinnen und Theologen in deutschen Parlamenten seit 1848. Neben umfangreichem statistischem Material legt er exemplarische Studien zur Lerngeschichte des deutschen Protestantismus vor, in denen die historischen Kontexte, der rechtliche Rahmen und das politische Wirken der theologischen Parlamentarier beleuchtet werden.

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Über das Buch

Wie war und wie ist der theologische Berufsstand in deutschen Parlamenten repräsentiert? In welchen Parteien engagieren sich evangelische Theologinnen und Theologen in welchen Epochen vorrangig? Welche fachpolitischen Aufgaben übernahmen sie im Parlament schwerpunktmäßig? Lässt sich eine bestimmte Typologie von Karriereverläufen feststellen? Die Beiträge dieses Bandes behandeln erstmals das Wirken evangelischer Theologinnen und Theologen in deutschen Parlamenten seit 1848. Neben umfangreichem statistischem Material legt er exemplarische Studien zur Lerngeschichte des deutschen Protestantismus vor, in denen die historischen Kontexte, der rechtliche Rahmen und das politische Wirken der theologischen Parlamentarier beleuchtet werden.

Vita

Uta Elisabeth Hohmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation« der Universität Münster.

Arnulf von Scheliha ist Professor für Theologische Ethik, Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und Principal Investigator am Exzellenzcluster »Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation« der Universität Münster.

Inhalt

Uta E. Hohmann und Arnulf von Scheliha: »Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier« (TheoParl). Konzeptionen und Zwischenergebnisse eines Forschungsprojektes

Methodische und konzeptionelle Operationalisierung

Vorstellung der Kernergebnisse

Parteipolitische Verteilung

Zu den theologischen Berufsfeldern

Zu den fachpolitischen Schwerpunkten

Zur Geschlechterverteilung

Zu diesem Band

Literatur

Martin Otto: »Politische Pastoren sind ein Unding«. Rechtshistorische Aspekte zur Vereinbarkeit von geistlichem Amt und politischem Mandat

Ein hellsichtiger Kaiser?

Frühkonstitutionalismus: Theologen als Parlamentarier der »Ersten Kammern«

Württemberg, Bayern, Baden: Der Landesbischof im Landtag

Bundesrepublikanisches Nachspiel: Der Bayerische Senat

Das zweite Deutsches Kaiserreich: Der politische Pastor im Kulturkampf

Der »Kanzelparagraph«

Prototyp des »politischen Pastors«: Adolf Stoecker

Ruhe nach dem Kulturkampf: Parlamentarische Einzelfälle

Weimarer Republik

Nicht immer erwünscht: »Parteipolitische Tätigkeit der Geistlichen«

Umstritten: »Politische Pastoren« in der Weimarer Republik

a) Der »Fall Kleinschmidt«

b) Der »Fall Eckert«

Empfehlungen und »präzise Einzelverbote«

Parlamentarische Statisten: Nationalsozialismus

»Suchet der Stadt Bestes«: Pfarrer und Politik in der frühen Bundesrepublik bis 1990

Erste Kirchengesetze

Der Konflikt: Bremen

Im Zweifel links? »DKP-Pfarrer« und »Fortschrittschristen«

Unterschiedliche politische Pfarrer: DDR

Angekommen? »Politische Pfarrer« in der Bundesrepublik ab 1990

Auch in der Politik dem Amt verpflichtet: neue kirchengesetzliche Regelungen

Weiter verboten: Der »kommunalpolitische Pastor«

Grenzen des Pfarramts? Faktische Inkompatibilitäten

Literatur

Christian Schulze Pellengahr: Verfassungsrechtliches Konfliktpotenzial im Verbot der politischen Betätigung für Geistliche

Liegt ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 und Art. 48 Abs. 2 GG vor?

Eingriff in den Gewährleistungsbereich?

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung?

Zwischenergebnis

Theologische Begründung und eigene Bewertung

Theologische Begründung der politischen Neutralität der Priester

Aspekte für eine maßvolle politische Teilhabe durch Priester

Stellungnahme und eigene Bewertung

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

Literatur

Rasmus Wittekind: Staatlichkeit als »Spiel zwischen Privatinteresse und Gemeingeist«. Friedrich Schleiermachers demokratietheoretische Deutung der Monarchie

Diskursiver Hintergrund: Aufklärerische Skepsis an der Demokratie

Staatlichkeit als Herausbildung des Gegensatzes von Individualität und Allgemeinheit

Die echte Monarchie als kontrollierte Selbstgesetzgebung der Bürger

Schluss: Die Demokratie als Gestaltungsauftrag der Bürger:innen

Literatur

Uta Elisabeth Hohmann: Das Parlament als »Fundgrube« theologischen Erkennens. Theologie und Politik bei Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz

Wege in die Politik

Rudolf Otto

Magdalene von Tiling

Heinrich Albertz

Wechselwirkungen zwischen theologischer Profession und politischer Arbeit

Motivation zum parlamentarischen Mandat und fachpolitische Schwerpunkte

Politischer Gegner

Äußerungen zum demokratischen System

Eine Zusammenschau in vier Thesen

Literatur

Benedikt Brunner: Aneignungen und Abgrenzungen. Der protestantische Umgang mit dem demokratischen Parlamentarismus in Weimar

Einleitung: Das protestantische Demokratiedefizit als Grundproblem der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts

Die deutsche Revolution von 1918/19 und das Schreckgespenst der Demokratie

Bau einer demokratischen Kirche? Diskussionen über demokratische Prinzipien in den kirchlichen Verfassungen

Von der Ankunft in der Demokratie zu ihrem freudigen Abschied

Ausblick: Zwiespältige Orientierungen im Spannungsfeld von Aneignungen und Abgrenzungen

Literatur

Arnulf von Scheliha: Paradoxien theologischer Demokratie-Lerngeschichte. Theorie und parlamentarische Praxis der theologischen Kritik an der Weimarer Republik am Beispiel von Emanuel Hirsch, Bruno Doehring und Paula Müller-Otfried

Grundsätzliche Kritik an der parlamentarischen Demokratie: Emanuel Hirsch

Rechtspopulistische Kritik an der parlamentarischen Demokratie: Bruno Doehring

Zwischen Demokratiekritik und fachpolitischer Mitwirkung: Paula Müller-Otfried

Abschluss: Das Spektrum der nationalprotestantischen Demokratiekritik

Literatur

Claudia Lepp: Rot-grün bewegt. Evangelische Theologen und Theologinnen in der letzten Volkskammer und im ersten gesamtdeutsch gewählten Bundestag

Protestantismus und Politik in der Bundesrepublik 1949 bis 1989

Protestantismus und Politik in der DDR bis 1989

Die zehnte Volkskammer und ihre theologischen Mitglieder

Die Theologen und Theologinnen im zwölften Deutschen Bundestag

Literatur

Roxanne Camen-Vogel: Mit der Bergpredigt die Welt regieren? Der Parlamentarier Rainer Eppelmann

Vorüberlegungen

Die 10. Volkskammer der DDR

Zeitgeschichtliche Kontextualisierung

Parlamentsportrait

Rainer Eppelmann: Sozialisation und Politisierung

Biographisches

In den parlamentarischen Debatten der Volkskammer

Nach dem Mandat

Das protestantische Profil des Eppelmann

Religiöse Anschauungen

Politische Überzeugungen

Zentrale Themen

Zusammenschau: Eppelmann, der protestantische Reformer

Literatur

Catharina Jacob: Theologischer Parlamentarismus in der Europäischen Union. Biographische Beispiele und theologische Metareflexion

Das Europäische Parlament und seine Abgeordneten: theologische Relevanz und Hintergründe

Theologinnen und Theologen als Abgeordnete im Europäischen Parlament: theologische Metareflexion und empirische Grenzen

Theologinnen und Theologen als Abgeordnete im Europäischen Parlament: quantitative Analyse

Vorbemerkungen

Allgemeines

Parteien

Konfessionen

Einzelbeobachtungen

Biographische Einzelbeispiele

Sven Giegold

Catherine Trautmann

László Tökés

Fazit

Literatur

Stephan Reimers: »Tue deinen Mund auf für die Stummen…«. Ein theologischer Erfahrungsbericht

Literatur

Anhang

Ausgewählte Forschungsergebnisse des TheoParl Projektes in grafischer Darstellung

Autorinnen und Autoren

Uta Elisabeth Hohmann, Arnulf von Scheliha (Hg.)

»Eyn sonderlicher Gottisdienst«?

Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier

Campus Verlag Frankfurt / New York

»Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier« (TheoParl). Konzeptionen und Zwischenergebnisse eines Forschungsprojektes

Uta E. Hohmann und Arnulf von Scheliha

Kaum eine öffentliche Erklärung eines bzw. einer leitenden Geistlichen einer deutschen evangelischen Kirche kommt ohne ein Bekenntnis zum Grundgesetz, zu seinem Art. 1 Abs. 1 »Die Würde des Menschen ist unantastbar« und zum demokratischen Rechtsstaat aus. Der deutsche Protestantismus ist ein Hort des Verfassungspatriotismus. Die bekannte Denkschrift der EKD Evangelische Kirche und Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe von 1985 gehört zu den meistzitierten Verlautbarungen der EKD und genießt nahezu kanonischen Rang. Das Leitnarrativ der Forschung berichtet, dass in diesem – damals durchaus strittigen – Dokument eine Lerngeschichte ihren Abschluss gefunden hat, die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte.1 Mit ihr schwenkte der deutsche Protestantismus, der traditionell dem Bündnis von Thron und Altar verpflichtet war, in denjenigen Denkzusammenhang ein, der – etwa in der Schweiz, aber auch in Großbritannien oder den USA – schon länger die innere Affinität des christlichen Glaubens zur Demokratie betont hatte.

Das Projekt »Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier« (TheoParl), das seit 2017 am Exzellenz-Cluster »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität angesiedelt ist, will dieser These nicht widersprechen, sie aber ausdifferenzieren. In diesem Forschungsprojekt wird das Wirken von prominenten Protestantinnen und Protestanten, die sich seit der Einführung parlamentarischer Strukturen in Deutschland politisch engagiert und sich in Parlamenten für demokratische Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens eingesetzt haben, quantitativ und qualitativ erschlossen. Es zeigt unter anderem, dass die Lerngeschichte »Protestantismus und Demokratie« eine Vorgeschichte hat, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Dabei wird sichtbar, dass sich prominente Protestantinnen und Protestanten schon längst vor dem Zweiten Weltkrieg politisch engagiert und sich in Parlamenten für demokratische Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens eingesetzt haben. Sie werden im Folgenden abgekürzt als »TheoParl« bezeichnet. Die Geschichte der gewählten TheoParl beginnt mit den 66 studierten evangelischen Theologen, die sich 1848 in die Deutsche Nationalversammlung wählen ließen und den Entwurf für die erste demokratische Reichsverfassung mitverantworteten. Ernst Moritz Arndt (1769‒1860), ein Schwager Friedrich Schleiermachers, dürfte der bekannteste sein. Für das Kaiserreich fallen einem sofort die bekannten Namen Adolf Stoecker (Mitglied des Reichstages, MdR, 1881‒1907) und Friedrich Naumann (MdR 1907‒1919) ein. Es hat mindestens zwei Versuche gegeben, eine politische Partei zu gründen, die den deutschen Protestantismus in den Parlamenten vertreten sollte. Stoecker hat es 1878 mit der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei versucht, Bruno Doehring fünfzig Jahre später mit der Deutschen Reformationspartei.2 Die Revolution 1918 verstärkte diesen Schub von Theologinnen und Theologen, die in die deutschen Parlamente gewählt wurden. So wurden in die Weimarer Nationalversammlung 14, in den ersten Reichstag 18 TheoParl gewählt, in Preußen waren es exakt die gleichen Zahlen. Auf die parteipolitische Verteilung wird später eingegangen. Diese hohen Zahlen können durch jene These vom Beginn der Demokratie-Lerngeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erklärt werden.

Das Projekt TheoParl fragt daher nach der Vorgeschichte jener bundesrepublikanischen Lerngeschichte und setzt ein mit einer umfassenden statistischen Bestandsaufnahme derjenigen Theologinnen und Theologen, die seit der Einführung parlamentarischer Strukturen als Parlamentarier politische Verantwortung übernommen haben, im Reich und in den Ländern. Über die quantitative Erfassung hinaus erschließt TheoParl Rückkoppelungseffekte der politischen Tätigkeit in Theologie, Kirche und Zivilgesellschaft, um auf diese Weise theologische Spuren jener beginnenden Lerngeschichte zu identifizieren. Dabei ist insbesondere in der Weimarer Zeit die Vermutung leitend, dass sich gerade bei Theologinnen und Theologen, die sich als Gegnerinnen und Gegner der parlamentarischen Demokratie verstanden und sich gleichwohl in die Parlamente wählen ließen, gewisse Annäherungen erkennen lassen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die für den Wahlakt notwendige Bindung an eine politische Partei, an deren Programmatik und ihrem Funktionieren nach an demokratisch-repräsentative Vorgaben. Für evangelische Theologinnen und Theologen ist die Bindung an eine politische Partei deshalb prekär, weil sie per se mit dem Anspruch der evangelischen Kirchen, eine Volkskirche sein zu wollen, kollidierte.3 Der Umgang mit dieser Differenz ist Anlass zu intensiver Reflexion auf dem Gebiet der theologischen Ethik der damaligen Zeit. Die parteipolitische Rückbindung des politischen Engagements der TheoParl setzt aber noch eine weitere qualitative Suchbewegung frei, nämlich die Frage nach dem protestantischen Politikprofil. Lässt sich über die vier Epochen (Kaiserreich, Weimarer Republik, ›alte‹ Bundesrepublik, ›Berliner Republik‹) und über die trennenden Parteigrenzen hinweg ein gemeinsames protestantisches Politikerinnen- oder Politiker-Profil identifizieren? Oder bilden sich mehrere heraus und wie und nach welchen Gesichtspunkten lassen sie sich typisieren? Im gegenwärtigen theologischen Diskurs zu den Konzepten »Öffentliche Theologie« und »Öffentlicher Protestantismus« wird auch darum gerungen, ob es ein Profil gibt bzw. geben soll oder eben mehrere.4 Das Projekt TheoParl kann dazu beitragen, in dieser Frage weiterzukommen.

Das Forschungsfeld »Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier« ist bisher kaum erschlossen. Die Monographie Evangelische Christen in der Paulskirche von Christian Homrichshausen ist hier zu nennen5 sowie Kurt Nowaks Darstellungen u. a. in seinem Standardwerk Evangelische Kirche und Weimarer Republik6. Sodann gibt es ein paar Überblicksstudien zu einzelnen Epochen7 oder Personen sowie biographisch angelegte Untersuchungen zu einzelnen – oft prominenten – Akteurinnen und Akteuren, bei denen auch ihre parlamentarische Tätigkeit zur Sprache kommt, ohne dass die hier leitenden Fragestellungen fokussiert werden.8 Schließlich führen die Statistiken zur Repräsentation von Berufsgruppen in Parlamenten zwar in der Regel auch »Geistliche« auf, theologische Berufe werden dabei jedoch selten konfessionell und mitnichten nach theologischen Arbeitsfeldern (Kirchengemeinde, Universität, Schule etc.) differenziert.9 Daneben berücksichtigen juristische Untersuchungen, die sich mit der Gesetzgebung zur politischen Betätigung kirchlicher Amtsträgerinnen und Amtsträger beschäftigen, nur den gemeindlichen Kontext.10 Daher stellt sich die Frage: Wer ist eigentlich ein TheoParl?

Methodische und konzeptionelle Operationalisierung

Der Kreis der Personen und Institutionen, die vom skizzierten Meta-Thema »Protestantismus und Demokratie« tangiert sind, ist immens, denn die Leitfrage nach dem Verhältnis von evangelischer Kirche und parlamentarischer Demokratie betrifft die politische Tätigkeit aller protestantischen Gläubigen oder Interessierten und sie betrifft sie unabhängig davon, ob ihr jeweiliges politisches Engagement an eine Parteimitgliedschaft und Mandatsübernahme geknüpft ist.

Um dieser Vielschichtigkeit des Themas zu begegnen, grenzt das Projekt TheoParl das zu untersuchende Personenkollektiv anhand von zwei objektivierbaren Kriterien ein:

Das erste Auswahlkriterium klärt den Begriff der »Theologin« bzw. des »Theologen« und fordert ein abgeschlossenes Studium der Evangelischen Theologie. Diesem Kriterium liegt eine professionstheoretische Prämisse zugrunde, nämlich die Annahme, dass der Beruf eine zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Platzierung von Individuen in der Gesellschaft einnimmt. Über die theologische Profession erfolgen Rollendefinitionen untereinander und gegenüber Nicht-Mitgliedern, die eine berufliche Identität schaffen, welche sich wiederum in einer gemeinsamen Fachsprache und gemeinsamen Wertvorstellungen ausdrücken kann.11

Mit Blick auf die theologische Profession arbeitet das Projekt dabei mit einem »weiten« Theologiebegriff, um anders als der Großteil der Vorarbeiten nicht nur die geistliche Profession im Pfarramt zu berücksichtigen. Der Begriff ist also nicht reserviert für Pastorinnen und Pastoren, sondern umfasst Universitätstheologinnen und -theologen, Absolventinnen und Absolventen theologischer Lehramtsstudiengänge und Personen, die nach dem Theologiestudium etwa als Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker oder in anderen Berufen tätig waren. Ein Beispiel dafür ist der Journalist August Haußleiter (1906‒1989), nach dem Kriege Gründungsmitglied der Christlich-Sozialen Union (CSU) in Bayern, Mitglied des Bayerischen Landtages 1946‒1954. Er verließ die CSU 1949, gründete 30 Jahre später die Grünen mit und zog 1986 für diese Partei erneut in den Landtag ein.

Der weite Theologiebegriff hat zur Folge, dass es für die Aufnahme in den zu untersuchenden Personenkreis unerheblich ist, ob jemand Evangelische Theologie im Vollstudium (Hauptfach) oder im Nebenfach studiert hat. Entscheidend ist aber der erfolgte Abschluss des Studiums, da ein Abbruch desselben die erwähnten professionstheoretischen Prämissen obsolet macht. Gelegentlich werden durch die Recherchen auch Fehlinformationen aufgedeckt. Das ist z. B. bei Ernst Lemmer (1898‒1970) der Fall. Er war sowohl Mitglied des Reichstages (MdR) als auch Mitglied des Bundestages (MdB) und verkörpert damit parlamentsgeschichtliche Kontinuität. Er hatte für die linksliberale DDP bzw. Deutsche Staatspartei (DStP) ein Reichstagsmandat von 1924‒1933 inne und war als CDU-Mitbegründer 1952‒1970 Mitglied im Deutschen Bundestag. 1956/57, 1957‒1962 und 1964/65 amtierte er mehrfach als Bundesminister. Er würde zu den profiliertesten TheoParl gehören, wären die in den einschlägigen Parlamentshandbüchern notierten Angaben, nach denen er Theologie, Geschichte und Nationalökonomie studiert hatte, zutreffend. Von Beruf war er übrigens Journalist, bevor er in die Politik wechselte. Nachfragen bei den Universitäten in Marburg und Frankfurt am Main, an denen er studiert hatte, ergaben, dass er je weder geschichtswissenschaftliche noch theologische Veranstaltungen belegt hatte.

Der im Forschungsprojekt verwendete offene Theologiebegriff ist schon deswegen für die quantitative Forschungsfrage hilfreich, weil er frühzeitig die Erschließung der parlamentarischen Tätigkeit von Frauen ermöglicht, die unmittelbar mit der Revolution einsetzt. Frauen stand zwar seit dem Ende des Kaiserreiches der Weg zum Theologiestudium offen, der Weg ins kirchliche Amt aber war ihnen noch weitaus länger versperrt. Mit Elisabeth Spohr (Deutschnationale Volkspartei, DNVP) und Gertrud Bäumer (Deutsche Demokratische Partei, DDP) begegnen 1919 direkt zwei sehr prominente Politikerinnen. Man erkennt einen Universitätstheologen wie Michael Baumgarten (1812‒1889), der aus neupietistischer Gesinnung heraus die lutherischen Amtskirchen Schleswig-Holstein und Mecklenburg kritisierte und aus seinen kirchlichen und akademischen Ämtern entfernt wurde. Er engagierte sich als Vertreter der Bibeltreuen im Deutschen Protestantenverein, wurde für die Fortschrittspartei 1874 in den Reichstag gewählt, dem er bis 1881 angehörte, und trat dort gegen Stöckers Judenfeindlichkeit und für die Zivilstandsgesetzgebung ein. Der weite Theologiebegriff bringt auch Theologinnen und Theologen auf den Schirm, die aus den sogenannten Freikirchen kommen, wie etwa Daniel Rottmann, der 2016–2021 für die AfD Mitglied des Baden-Württembergischen Landtags war. Oder, noch einmal in die Anfangsgeschichte des deutschen Parlamentarismus zurückgeblickt: Von den 66 Theologen im Paulskirchenparlament hatten etliche in anderen Berufen Karriere gemacht, wie etwa der berühmte Georg Waitz (1813‒1883), der von der Theologie in die Rechtswissenschaft gewechselt war und maßgeblich an der Ausarbeitung der Reichsverfassung beteiligt war. Das innerprotestantische Spektrum ist also breit und nicht auf die Landeskirchen beschränkt.

Freilich stellen sich auch immer Abgrenzungsprobleme. Als interessante Grenzfälle entpuppten sich im Laufe der Projektarbeit nicht-akademische Formen der theologischen Ausbildung, die besonders mit Blick auf die schon erwähnten frühen weiblichen theologischen Parlamentarierinnen zu diskutieren sind. So hat etwa Paula Müller-Otfried (1865‒1946), eine der führenden Vertreterinnen der konservativ geprägten evangelischen Frauenbewegung und eine der ersten weiblichen Abgeordneten in der Weimarer DNVP, kein theologisches Studium vorzuweisen, sondern einen Abschluss auf der Höheren Töchterschule. Später dozierte sie u. a. am »christlichsozialen Frauenseminar für Frauen und Mädchen«, das sich um die Professionalisierung von Sozialer Arbeit bemühte. Im Jahr 1930 wurde ihr von der Universität Göttingen die theologische Ehrendoktorwürde verliehen mit der Begründung, dass sie

»ihr Leben in den Dienst christlicher Liebesarbeit gestellt [hat], die deutsche evangelische Frauenbewegung ein Menschenalter hindurch erfolgreich geführt [hat und] über die Grenzen der hannoverschen Heimat hinaus in Synoden und Parlamenten für kirchliche und sittliche Erneuerung unerschrocken gekämpft hat«12.

Auch ihre rege publizistische Tätigkeit als Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes sowie als Herausgeberin der Evangelischen Frauenzeitung und des Handbuches zur Frauenfrage (1908) weist eindeutig eine theologische Fachkompetenz auf. Inwiefern haben wir es hier also trotz fehlendem Studium, das in Preußen überhaupt erst ab 1908 für Frauen zugelassen war, mit einer Theologin zu tun? Oder mit Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert gefragt: Qualifiziert einen die Ausbildung zur Gemeindehelferin in der DDR als Theologin, wenn einem vom Regime das Studium verweigert wurde? Bei Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen) etwa stellt sich diese Frage.

Für das erste Kriterium ist festzuhalten: Ein solch breites Verständnis von Theologinnen und Theologen, das mit Verweis auf das reformatorische Priestertum aller Gläubigen gut zu begründen ist, erlaubt es, wegen der Breite der theologisch-gebildeten Berufe den Protestantismus als zivilgesellschaftlichen Akteur in repräsentativer Weise zu erschließen, der mehr ist als die Amtskirchen und ihr geistliches Regiment. Daneben begegnet das zweite Kriterium der Herausforderung, dass wiederum auch die Möglichkeiten der politischen Betätigung überaus divers sind. Zu nennen wären etwa

»zunächst einmal alle (verbalen) Äußerungen zu politischen Fragen und Ereignissen, die auf den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß einwirken und deshalb politische Relevanz besitzen; sodann politische Einzelaktionen, wie z. B. Verteilung von Flugblättern, die Teilnahme an Demonstrationen oder die Organisierung von Veranstaltungen; ferner die auf Dauer angelegte Unterstützung von politischen Parteien und anderen politischen Organisationen durch Mitgliedschaft, Mitarbeit oder sonstige Förderung; und schließlich die Übernahme eines Mandats in den Bundestag, in einen Landtag oder in eine kommunale Vertretungskörperschaft (Kreistag, Gemeindevertretung).«13

Das Projekt TheoParl fokussiert letzteres, also fordert das zweite Kriterium die Übernahme eines demokratisch gewählten Parlamentsmandats, also diejenige politische Betätigung, die in Intensität und Umfang am bedeutendsten ist. Entsprechend wurden nur angenommene Mandate berücksichtigt und es fand keine Überprüfung der Wahllisten auf unterlegene Kandidatinnen und Kandidaten mit theologischer Profession statt. Weiterhin werden unter dem Begriff des Parlaments nur »gesetzgebende Körperschaften« gefasst. Nicht erfasst wurden also politische Akteurinnen und Akteure auf kommunaler Ebene, Inhaberinnen und Inhaber von Leitungsfunktionen der politiknahen staatlichen Administration oder Teile der politischen Subeliten, wie z. B. die Angehörigen des der Politik zuarbeitenden Personals in den Stabs- und Beratungsfunktionen von Exekutive und Legislative.

In zeitlicher Hinsicht wurde auf der Reichsebene als erstes Parlament das Paulskirchenparlament von 1848 untersucht und nachfolgend die Parlamente im Kaiserreich von 1871‒1918, der Weimarer Reichstag von 1919‒1933 sowie der Deutsche Bundestag von 1945‒heute. Auf der Ebene der Länderparlamente wurden in den gleichen Zeiträumen bisher die Daten für die Länder Preußen, Bayern, Hessen, Sachsen, Baden bzw. der Nachfolgeterritorien Niedersachen, NRW und Baden-Württemberg erhoben.

Es wird deutlich, dass die unter der nationalsozialistischen Herrschaft gewählten Parlamente von 1933‒1945, sowie die Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik von 1950‒1989 von der Erhebung ausgeschlossen wurden. Diese Entscheidung beruht auf der Überzeugung, dass bei Wahlen mit Einheitslisten nicht von »demokratischen Wahlen« gesprochen werden kann. Natürlich kann das Prädikat »demokratisch gewählt« mit Blick auf die Wahlsysteme im Kaiserreich ebenfalls diskutiert werden. Die erste »freie« Wahl in der DDR fand 1990 statt und der außergewöhnliche Befund hinsichtlich der theologischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier in dieser 10. Volkskammer wird in diesem Band eigens thematisiert.14

Die Stärke dieser zwei Auswahlkriterien ‒ also (1) abgeschlossenes Studium der Theologie und (2) die Übernahme eines demokratisch gewählten Parlamentsmandats ‒ liegt in ihrer Schärfe und Transparenz, wodurch sie die Frage nach der Zugehörigkeit zum zu untersuchenden Personenkollektiv auch über den langen Zeitraum von rund 170 Jahren handhabbar machen. Die skizzierten Grenzfälle verweisen gleichzeitig auf die mögliche Kehrseite, nämlich dass andere politisch engagierte Protestantinnen und Protestanten, die ebenfalls über progressive synthetische Denkmodelle ihrer theologischen und politischen Überzeugungen verfügen könnten, unberücksichtigt bleiben müssen.

Die im Projekt aufgebaute Datenbank TheoParl hat eine möglichst vollständige Aufstellung der theologischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die seit 1848 Mitglieder in deutschen Parlamenten gewesen sind, zum Ziel. Die wichtigsten Quellen für diese quantitative Ausleuchtung des Phänomens des theologischen Parlamentarismus sind die jeweiligen Parlamentshandbücher, in denen die Biografien der Abgeordneten in durchaus unterschiedlicher Gründlichkeit notiert sind. Für die frühen Länderparlamente liegen diese Daten fast ausschließlich in gedruckter Form vor, für die Reichs- und Bundesebene war teilweise ein Rückgriff auf bereits vorhandene digitale Abgeordnetendatenbänke möglich.15 Abgeordnete, die es für unerheblich hielten, ein früheres Theologiestudium zu erwähnen, konnten entsprechend nicht berücksichtigt werden.

Nach Möglichkeit wurden für alle theologischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier neben den grundständigen biografischen Angaben folgende Informationen zur theologischen Profession und zur parlamentarischen Arbeit in der Datenbank erfasst:

Wann und wo erfolgte welche theologische Berufs- und Hochschulausbildung? Wann und wo wurde in welchen theologischen Berufspositionen gearbeitet? War ein TheoParl Mitglied in einem (kirchlichen) Verein bzw. in einer innerkirchlichen Partei? Wann erfolgte der Eintritt in welche Partei? Gab es Parteienwechsel? In welchem Parlament wurde für welchen Wahlbezirk ein Mandat übernommen? Für welche relevanten Ämter und Funktionen war ein TheoParl im Parlament zuständig? In welchen Ausschüssen war ein TheoParl Mitglied? Welche berufliche Tätigkeit wurde nach dem Mandat ausgeübt?

Die gesammelten Daten zur theologischen und parlamentarischen Biografie und Tätigkeit wurden sodann mit Blick auf folgende »quantitative« Fragenkomplexe auf Trends und Konjunkturen hin ausgewertet. Für jedes Parlament wurde ein Parlamentsportrait erstellt, anhand dessen die Antworten auf folgende Fragenkomplexe durch übersichtliche Grafiken abgelesen werden können:

Wie ist der theologische Berufsstand in deutschen Parlamenten repräsentiert? Gibt es eine bestimmte Partei, in der sich evangelische Theologinnen und Theologen zu einer bestimmten Zeit vorrangig engagieren? Seit wann gibt es Frauen unter den TheoParl, wie sind sie repräsentiert? Gibt es eine bestimmte theologische Berufsgruppe, die besonders häufig im Parlament anzutreffen ist? Gibt es bestimmte policy-Felder (fachpolitische Aufgaben), für die sich evangelische Theologinnen und Theologen schwerpunktmäßig engagieren? Welche relevanten Ämter im Parlament wurden von TheoParl übernommen? Gab oder gibt es prominente TheoParl in diesem Parlament?

Vorstellung der Kernergebnisse16

Parteipolitische Verteilung

Die Verteilung der TheoParl im politischen Spektrum zeigt über die Epochen hinweg einen Großtrend, nach dem sich während des Kaiserreiches die meisten TheoParl in den liberalen Parteien engagieren. Nach einer kurzen Überlappungsphase schwenkt die Mehrheit der TheoParl in der Zeit der Weimarer Republik ins konservative Lager. In der frühen Bundesrepublik Deutschland dominieren bürgerliche TheoParl in den Volksparteien, seit den 1970er Jahren haben sozialdemokratische TheoParl die Mehrheit, den Höhepunkt der Dominanz »rotgrüner« TheoParl bilden die frei gewählte DDR-Volkskammer (1990) sowie die 1990, 1994, 1998 und 2005 gewählten Deutschen Bundestage. Seit 2009 ist das Spektrum ausgeglichen. Aber dieser Großtrend erweist sich in der Nahoptik als sehr differenziert.

Dazu gehört, dass es bereits im Kaiserreich sozialdemokratische TheoParl gab. Wilhelm Liebknecht (1826‒1900), einer der Gründerväter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und Vater des späteren Gründers der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Karl Liebknecht (1871‒1919), hatte in Gießen Theologie studiert, aber mutmaßlich nicht abgeschlossen.17 Er war 1871‒1890 Mitglied des Deutschen Reichstags, 1869‒1892 auch Mitglied des Sächsischen Landtags. Er kann freilich nur eingeschränkt als TheoParl gelten. Richard Calwer (1869‒1926), ebenfalls studierter evangelischer Theologe, beruflich als Journalist in SPD- und Gewerkschaftsorganen tätig, vertrat die SPD zwischen 1898‒1903 im Deutschen Reichstag. Paul Göhre (1864‒1928), Pastor in Frankfurt/Oder und aufgrund seines Engagements für die soziale Frage frühzeitig mit der Preußischen Kirchenleitung im Konflikt, wurde 1903 in den Reichstag gewählt. Er gehörte seit 1900 der SPD an, brach 1906 mit der Kirche. Während der Revolution übernahm er hohe Positionen in der Preußischen Regierung.

Betrachtet man die Aufteilung nach Parteien und den Anteil am Gesamtparlament des Reichstages im Kaiserreich, dann bestätigt sich insgesamt die Annahme, dass die liberalen TheoParl dominieren, während konservative und sozialdemokratische TheoParl eine (wenn auch signifikante) Minderheit darstellen. Das Spektrum ist aber insgesamt breit. In der zeitlichen Abfolge der gewählten Reichstage ist eine »TheoParl-Delle« zwischen 1884‒1893 zu konstatieren. Möglicherweise ist dies ein Folge des Kulturkampfes, den Bismarck in Preußen gegen die katholische Kirche führte.18 Der 1871 ins Strafgesetzbuch eingeführte und 1876 verschärfte sogenannte »Kanzelparagraph«, der politische Äußerungen von Geistlichen stark einschränkte, könnte sich hemmend auf das parlamentarische Engagement von evangelischen »Religionsdienern« ausgewirkt haben.19 Nach dem Ende des Kulturkampfes und mit der Entdeckung der sogenannten »Sozialen Frage«, die Pastoren in allen Lagern politisch motiviert, steigt die Kurve ab 1893 deutlich an. Gegen Ende des Kaiserreiches sind die meisten TheoParl im Reichstag vertreten. Diesen Sachverhalt kann man verallgemeinern: In Umbruchszeiten ist die Zahl der TheoParl am höchsten.

Die hohe Mobilisierung von TheoParl setzt sich zu Beginn der Weimarer Republik fort. Hier fällt nun auf, dass der Anteil konservativer TheoParl von Anfang an höher ist. 1919 sind die liberalen TheoParl zwar noch in der Mehrheit. Aber parallel zur allgemeinpolitischen Entwicklung der Weimarer Republik geht der politische Einfluss der Liberalen dramatisch zurück. Ab 1924 dominieren die konservativen TheoParl. Mit den Reichstagswahlen 1932a (Mai) geht der Anteil der TheoParl insgesamt zurück. Zwei Einzelbeobachtungen sollen mitgeteilt werden. Erstens, mit dem Theologen und Pädagogen Paul Seiffert (1866‒1936), der beruflich im kirchlichen Schul- und Sozialwesen tätig war, zog schon bei der Dezemberwahl 1924 ein Vertreter der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung (NSFB) in den Deutschen Reichstag ein. Seiffert trat später der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei. Erster TheoParl für die NSDAP war Ludwig Münchmeyer (1885‒1947), ehemals Pastor auf der ostfriesischen Nordseeinsel Borkum. Er war nicht nur glühender Antisemit, sondern wurde in seiner Gemeinde auch sexuell übergriffig. Er musste den kirchlichen Dienst 1927 quittieren, wurde politischer Aktivist, zog 1930 in den Reichstag ein, wurde in den Wahlen 1932 und 1933 wiedergewählt, letztmals – anders als oftmals angegeben – 1936.20 Seit September 1933 war der Reichstag allerdings ein Scheinparlament, dem kaum noch Befugnisse zukamen und das selten tagte. Zweitens, Adolf Köster (1883‒1930) aus Verden an der Aller, studierte in Heidelberg, Halle, Marburg und Zürich Evangelische Theologie und Philosophie, wurde in Erlangen zum Dr. phil. promoviert, war später Privatdozent für Philosophie an der Technischen Hochschule München. Er arbeitete als Journalist, Publizist und Literat. Seit seinem Studium war er SPD-Mitglied und übernahm mit der Revolution Funktionen in der Preußischen Verwaltung, u. a. als Staatskommissar für die deutsch-dänischen Abstimmungsgebiete der Provinz Schleswig-Holstein. 1921 rückte er in den Deutschen Reichstag ein. Das Mandat hielt er bis 1924. Er nahm hochrangige Ämter wahr, 1920 als Reichsaußenminister (unter SPD-Kanzler Hermann Müller) und 1921/22 als Reichsinnenminister (unter SPD-Kanzler Joseph Wirth). Anschließend wechselte er in den Diplomatischen Dienst und war Gesandter in Riga und Belgrad. Er gehört zu den (leider vergessenen) prominentesten TheoParl.

Der Blick auf die parteipolitische Verteilung des Preußischen Landtages der Weimarer Zeit bestätigt den Befund des Reichstages: Konservative und Liberale liegen anfangs gleich auf. Die Liberalen werden sukzessive marginalisiert. Die SPD ist anfangs vertreten. Braune TheoParl gibt es auch hier seit 1924. Insgesamt nimmt die Zahl der TheoParl auch im Parlament des größten deutschen Bundesstaates im Laufe der Zeit ab.

Der Befund für den Deutschen Bundestag seit 1949 gibt auf den ersten Blick die veränderte Parteienlandschaft zu erkennen. Durchgängig sind TheoParl in den beiden Fraktionen der großen Volksparteien, SPD und CDU/CSU vertreten. Lediglich 1980–1983 und seit 2021 gibt es keinen CDU/CSU-TheoParl. Liberale TheoParl gibt es nur sporadisch (1961‒1972, 2005‒2013, seit 2017). Die Grünen ziehen mit TheoParl 1983 erstmals in den Bundestag ein und stoßen mit der Pastorin Antje Vollmer auch in das Bundestagspräsidium vor. Hier begegnet man sehr prominenten TheoParl wie Eugen Gerstenmaier (CDU/CSU), Peter Hinze (CDU/CSU) und Susanne Kastner (SPD). Nach den TheolParl-Höhepunkten in der letzten DDR-Volkskammer, dem ersten gemeinsamen Bundestag und der folgenden Legislaturperiode sinkt die Zahl der TheoParl in absoluten Zahlen und dem prozentualen Anteil nach deutlich ab. In dem am 26. September 2021 gewählten 20. Bundestag sind sogar nur noch drei TheoParl vertreten, nämlich Luise Amtsberg (Bündnis90/Die Grünen), Heike Baehrens (SPD) und Pascal Kober (FDP). Ihre Fraktionen bilden gemeinsam die sog. Ampel-Regierungskoalition, während sich in den Oppositionsfraktionen von CDU/CSU, AfD und Die Linke keine Parlamentarier oder Parlamentarierinnen mit evangelisch-theologischem Professionshintergrund finden.

Schließlich sei ein kurzer Blick in die Bundesländer geworfen, in denen es – beeinflusst durch territorial- und konfessionsgeschichtliche Besonderheiten – sehr unterschiedliche Befunde gibt. Im Hessischen Landtag waren überhaupt erst seit 1974 TheoParl vertreten und dies in einer sehr einseitigen parteipolitischen Orientierung. Bemerkenswert ist der Liberale Heiner Kappel, der einige Jahre als Pfarrer tätig war und dann Lehrer wurde. Er gehörte 1983‒1999 dem Hessischen Landtag an, trat aber 1997 aus der FDP aus, driftete ins rechte Spektrum ab und engagiert sich bis heute in rechten Splitterparteien. Ganz anders Karin Wolff. Die Religionslehrerin zog 1995 in den Hessischen Landtag ein, dem sie bis 2019 angehörte. Sie war 1999 bis 2008 Kultusministerin, seit 2003 zugleich stellvertretende Ministerpräsidentin. Auch sie gehört in die Gruppe sehr hochrangiger TheoParl.

Im Sächsischen Landtag dominieren bis 2019 CDU-TheoParl, der parteilose Abgeordnete Frank Richter gehört der SPD-Fraktion an. Etwas bunter präsentiert sich der Baden-Württembergische Landtag, weil hier auf Langstrecke SPD-, CDU-, FDP-, Grüne- und AfD-TheoParl vertreten sind. Prominente TheoParl auf Länderebene sind u. a. Christine Lieberknecht (geb. 1958, 1984‒1990 Pastorin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, seit 1991 Mitglied im Thüringischen Landtag, 1999‒2004 sogar als Landtagspräsidentin, 1990‒1999 amtierte sie als Landesministerin in unterschiedlichen Ressorts, 2009 bis 2014 als Ministerpräsidentin), Ernst Albrecht (1930‒2014, Studium der Philosophie und Theologie in Tübingen, Basel und an der Cornell-Universität; 1970‒1990 Mitglied des Niedersächsischen Landtages, 1976‒1990 Ministerpräsident) und Edo Osterloh (1909‒1964, Pastor und Dozent an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf, 1956‒1964 Kultusminister in Schleswig-Holstein, 1958‒1964 Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages).

Zusammengefasst: Es zeichnet sich über die Epochen hinweg der Großtrend ab, dass der politische Protestantismus von liberal, über nationalistisch-konservativ und christlich-konservativ hin zu sozialdemokratisch-grün geschwenkt ist. Der Großtrend ist aber flankiert von der Konstante, dass eigentlich immer das gesamte Spektrum abgedeckt war. Insofern ist es doch einseitig, von einer Rot-Grün-Werdung des politischen Protestantismus zu sprechen. Es gibt früh sozialdemokratische TheoParl, ebenso früh nationalsozialistische. Liberale sind nie ganz verschwunden und auch im rechten Spektrum heute finden sich – auch in anderen Landesparlamenten – TheoParl. Insofern liegt in der Abdeckung des Gesamtspektrums auch Kontinuität vor: Die Demokratie-Lerngeschichte des deutschen Protestantismus vollzieht sich synchron zur gesamtgesellschaftlichen Lerngeschichte. Der Glaube denkt nicht voraus, hinkt auch nicht hinterher, sondern ist (reflexiver) Begleiter der politischen Geschichte.

Zu den theologischen Berufsfeldern

Überblickt man alle bisher in der Datenbank gelisteten Theologinnen und Theologen und ihre Berufshintergründe, ist das weitaus größte Berufsfeld mit 53% die Kirchengemeinde, theologische Berufe in der Schule sind mit 28% vertreten und 9% lassen sich in den Arbeitsbereich der theologischen Publizistik verorten. Daneben ist auch die akademisch-theologische Tätigkeit mit nur 10% vertreten, gerade unter den TheoParl-Universitätstheologinnen und -theologen begegnen aber zahlreiche prominente Namen.

Zu denken wäre etwa an den schon erwähnten Michael Baumgarten, an Martin Rade (Professor der Theologie in Marburg, linksliberaler Politiker zuletzt in der DDP als Abgeordneter der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung 1919‒1921) oder an Ernst Troeltsch (Professor für Systematische Theologie u. a. in Berlin und als liberaler Politiker in der Badischen Ständeversammlung sowie ebenfalls in der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung 1919‒1921). In diesem Zusammenhang ist auch Franz Rendtorff zu nennen, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig und für die DNVP Mitglied des Sächsischen Landtages 1919‒1922. Es handelt sich um den Großvater von Trutz Rendtorff, der sechzig Jahre später maßgeblich an der Ausarbeitung der EKD-Demokratie-Denkschrift beteiligt war.

Für die Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem universitären Berufshintergrund und einer Zugehörigkeit zu den liberalen Parteien erkennen, neben den schon genannten Beispielen von Baumgarten, Rade und Troeltsch trifft dieser Konnex auch auf Martin Schian (Professor für Praktischen Theologie in Gießen und Abgeordneter der Deutschen Volkspartei im Hessischen Landtag 1921‒1924) und auf den systematischen Theologen und Religionswissenschaftler Rudolf Otto zu.21

Im Deutschen Bundestag war unter den TheoParl mit Wilhelm Hahn überhaupt nur einmal ein Professor der Theologie vertreten. Er war Professor für Praktische Theologie in Heidelberg und saß für die CDU von 1962‒1965 im Bundestag. Sein Mandat legte er nieder, um in Baden-Württemberg Kultusminister zu werden. Auch im Baden-Württembergischen Landtag und im Europäischen Parlament hatte er nachfolgend Mandate inne.

Zu den fachpolitischen Schwerpunkten

Eine eindeutige fachpolitische Spezialisierung der TheoParl lässt sich nicht feststellen. Im Reichstag des Kaiserreiches überwiegt das Interesse an der Sozialpolitik. Dieses Thema hatte im 19. Jahrhundert viele Pastoren zum politischen Engagement motiviert – in allen Parteien. Die wichtigen Namen wurden schon genannt. Das bleibt auch in der Weimarer Zeit so, aber die anderen Politikfelder werden jetzt sichtbarer, insbesondere Wirtschaft und Finanzen. Im Deutschen Bundestag ist die fachpolitische Ausrichtung der TheoParl insgesamt ausgeglichen.

In den Landtagen dominiert, soweit man sehen kann, ein Interesse an der Kultur- und Bildungspolitik, was mit den spezifischen Zuständigkeiten der Bundesländer zusammenhängt. Neben den bereits genannten TheoParl Traugott Hahn (Baden-Württemberg), Christine Lieberknecht (Thüringen), Karin Wolff (Hessen) und Edo Osterloh (Schleswig-Holstein) bekleidete der Theologe Steffen Reiche (SPD) von 1994‒2004 das Amt des Bildungsministers in Brandenburg.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es bei TheoParl zwar eine gewisse fachpolitische Disposition zu den Themengebieten Soziales und Bildung gibt. Aber grundsätzlich finden sich TheoParl auf allen fachpolitischen Gebieten, auch im Bereich Internationales und Sicherheit. Hier sind neben dem bereits genannten Adolf Köster noch Markus Meckel (geb. 1952, Mitglied der Volkskammer 1990, MdB 1990‒2009, 1990 Minister für Auswärtige Angelegenheit der DDR) und Rainer Eppelmann (geb. 1943, Mitglied der Volkskammer 1990, MdB 1990‒2005, 1990 Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR) zu nennen.22

Zur Geschlechterverteilung

Der Frauenanteil der TheoParl im 19. Deutschen Bundestag liegt bemerkenswerterweise bei 44% und ist damit um 14 Prozentpunkte höher als der Frauenanteil am gesamten Parlament, der lediglich bei rund 30% liegt. Selbstverständlich wird die Frage nach der Repräsentation von Frauen im Projekt TheoParl erst ab 1918/19 interessant, da in der Verordnung über die Wahl zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung das aktive und passive Wahlrecht für alle Bürgerinnen erstmalig verankert wurde. Dieses neue Recht wurde von Theologinnen sofort genutzt. Tatsächlich waren Frauen unter den TheoParl im Weimarer Reichstag und im Preußischen Landtag durchgehend vertreten. Einen Höhepunkt bildet im Reichstag die Legislaturperiode von 1928‒1930 mit einem Frauenanteil von 25% bei den TheoParl, wohingegen der Frauenanteil des Gesamtparlaments bei knapp 6% lag und während der gesamten Weimarer Republik die 9%-Marke nicht erreichte. In den Länderparlamenten der Bundesrepublik dominieren eindeutig die Männer, in Niedersachsen gab es bis heute keine weibliche TheoParl. Bedingt durch die späte Zulassung von Frauen zum Pfarramt, überwiegt unter den weiblichen TheoParl insgesamt die Schule als theologischer Berufshintergrund.

Zu diesem Band

Mit diesem Band legen wir einen kontextualisierten Zwischenbericht zum Forschungsprojekt vor und präsentieren neben den angeführten quantitativen Ergebnissen die sich wandelnden religionsrechtlichen Rahmenbedingungen, geschichtswissenschaftliche Analysen zu zwei Schlüsselepochen und die zentralen theologischen Einsichten.

Der Rechtshistoriker Martin Otto (Hagen) bietet einen als Längsschnitt gestalteten Überblick über »politisierende Pastoren« seit Beginn der Einführung von Parlamenten im 19. Jahrhundert. Er macht auf die ständischen Wurzeln der Parlamentsgeschichte aufmerksam, die evangelische Geistliche schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die politische Bühne brachten. Straf-, kirchen- und dienstrechtliche Regularien gibt es seit dem berühmten Kanzelparagraphen von 1871, die dem parlamentarischen Engagement Grenzen stecken, faktisch aber breite Entfaltungsmöglichkeiten einräumen. Otto bietet zahlreiche, zum Teil kuriose Beispiele von Pastorinnen und Pastoren aus allen Epochen der deutschen Demokratiegeschichte, die die Möglichkeiten zur parlamentarischen Arbeit genutzt und dabei eine gewisse Prominenz erreicht haben. Im Wechsel der kirchen- und dienstrechtlichen Bedingungen erweisen sich Wahl und parlamentarische Arbeit als mit dem geistlichen Amt vereinbar, obgleich beide Ämter nicht zeitgleich ausgeübt werden dürfen. An teils sehr bekannt gewordenen Einzelfällen werden Konflikte deutlich und Sanktionen sichtbar, die insbesondere dann eingesetzt wurden, wenn sich die politischen Pastoren in Parteien am Rande oder außerhalb des demokratischen Spektrums engagierten. Dennoch gehört zur Lerngeschichte von Protestantismus und Demokratie, dass sich für den (seltener werdenden) Fall eines parlamentarischen Engagements von evangelischen Pastorinnen und Pastoren eine theologische und dienstrechtliche Normalität eingespielt hat. Die diesbezüglichen Kirchengesetze der Landeskirchen ermöglichen die Übernahme politischer Wahlämter und haben vorrangig eine appellative Bedeutung.

Im Unterschied dazu zeigt der Jurist Christian Schulze Pellengahr (Coesfeld), dass das geltende römisch-katholische Kirchenrecht grundsätzlich die Tätigkeit eines Abgeordneten wie auch eines aktiven Politikers mit dem Amt eines Priesters für unvereinbar erklärt und darauf abzielt, den katholischen Klerus vom Amt des Abgeordneten auszuschließen. Diese Bestimmung, die auch Teil des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich ist, greift zwar in die Freiheitsrechte der deutschen Bürger ein (Art. 48 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 GG), ist jedoch durch das in Art. 4 Abs. 2 GG, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gerechtfertigt und insofern bindend. Die eingehende theologische Begründung für dieses strikte Verbot ist zwar einerseits stringent, lässt aber andererseits doch Raum für Argumente, die für ein politisches Engagement auch von Klerikern sprechen. Denn es kann gefragt werden, ob es nicht dem göttlichen Schöpferwillen entsprechen könnte, dass sich ein katholischer Geistlicher eingedenk der besonderen Gnadengaben, mit denen er durch Amt und Weihe ausgestattet ist, mit ausdrücklicher Billigung seines Oberhirten in den Dienst des Staates und der politischen Umsetzung des Gemeinwohls stellt. Daher fordert der Autor, dass die Ortsbischöfe künftig in Einzelfällen von ihrem Recht, Ausnahmefälle zuzulassen, Gebrauch machen sollten, um auch Priestern mit ihrer spezifischen Kompetenz parlamentarisches Engagement zu ermöglichen. Die kirchengesetzlichen Regelungen und die bewährte Praxis auf evangelischer Seite könnten dafür Vorbild sein.

Der Politikwissenschaftler und Philosoph Rasmus Wittekind (Köln) steuert einen theoriegeschichtlichen Beitrag zur protestantischen Demokratie-Lerngeschichte bei. Es ist bezeichnend, dass die Wiederentdeckung der monarchiekritischen und die moderne Demokratie vorbereitenden Staatstheorie Friedrich Schleiermachers (1768–1834), der eine Schlüsselgestalt des modernen Protestantismus ist, erst am Ende des 20. Jahrhunderts erfolgte. Sichtbar wird in diesem Beitrag, dass die Staatsform der repräsentativen Demokratie ein mixtum compositum ist, welches die Akteure vor große Herausforderungen stellt, denen sich der obrigkeitstreue Protestantismus lange verweigert hatte. In dieser Hinsicht war Schleiermacher seinen theologischen Zeitgenossen voraus. Er entwarf einen Staat, dessen Bürger als zentrale Akteure am politischen Prozess mitwirken und diesen mit eigenen Ideen mitgestalten. Zugleich sind die Bürger durch eine überparteiliche Instanz, die vom Monarchen repräsentiert wird, vor der Tyrannei der Mehrheit oder vor Gesetzen geschützt, die an bloßen Partikularinteressen orientiert sind. Diese Schutzfunktion des Staates endet jedoch an der Freiheit der Einzelnen, die wiederum ihrerseits dazu aufgerufen sind, im öffentlichen Leben nicht nur ihre Privatinteressen zu verfolgen, sondern als Bürger das im Staat verkörperte Allgemeine politisch in den Blick zu nehmen. Diese Einsicht Schleiermachers dürfte auch für die gegenwärtigen TheoParl gelten.

Die Theologin Uta Elisabeth Hohmann (Münster) fragt nach den qualitativ-inhaltlichen Wechselwirkungen zwischen der theologischen Profession und der politisch-parlamentarischen Arbeit bei drei exemplarisch ausgewählten TheoParl: Rudolf Otto (1869–1937), Magdalene von Tiling (1877–1974) und Heinrich Albertz (1915–1993). In einem historischen Längsschnitt des 20. Jahrhunderts legt sie deren Beweggründe für die Aufnahme eines parteipolitischen Engagements, ihre fachpolitischen Schwerpunktsetzungen sowie ihre zentralen politischen Gegner vergleichend nebeneinander. Dabei beobachtet Hohmann bei aller Varianz strukturell ähnlich gelagerte Interdependenzen von Theologie und Politik. Das Urteil der drei ausgewählten TheoParl über die theologische Eignung des politischen Systems der Demokratie wird wesentlich von ihrer jeweiligen theologischen Anthropologie beeinflusst. Alle drei untersuchten TheoParl messen ihrer politischen Arbeit im Rückblick eine hohe Bedeutung für ihre Theologie insofern zu, als dass die vielfältigen Erfahrungen im Parlament sie zu einer kontinuierlichen und kritischen Überprüfung der Praxistauglichkeit der eigenen Theologie veranlasst haben.

Der Kirchenhistoriker Benedikt Brunner (Mainz) analysiert die Prozesse der Aneignung und Abgrenzung im protestantischen Umgang mit der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik. Er fokussiert auch die breiten Debatten um die landeskirchlichen Verfassungen, die nach der revolutionsbedingten Trennung der Kirchen vom Staat geführt wurden und die die Demokratiefrage innerkirchlich aufwarfen. Brunner legt dar, dass die Einführung demokratischer Prinzipien einschließlich des Frauenwahlrechts in den Landeskirchen mehrheitlich sehr kritisch bewertet wurde. Umso mehr mutet das Ergebnis dieser Diskurse paradox an, denn die Verfassungen, die sich die Landeskirchen in der Folgezeit gaben, waren die demokratischsten, die es im deutschen Protestantismus jemals gegeben hat. Die theologischen Parlamentarier spielten dabei ebenso wie das Selbstverständnis der Kirche als »Volkskirche« eine maßgebliche Rolle. Dieser Fokus war es denn auch, der es den Landeskirchen leicht machte, nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« die erzielten Lernerfolge in Sachen Demokratie zurückzustellen und in der Hoffnung auf eine von den Nationalsozialisten versprochene »Durchchristlichung« des Volkes die parlamentarische Demokratie in Staat und Kirchen freudig zu verabschieden.

Der Theologe Arnulf von Scheliha (Münster) präsentiert drei theologische Beispiele für konservative Demokratiekritik in der Zeit der Weimarer Republik. Während der Göttinger Theologe Emanuel Hirsch auf eine ideengeschichtliche und systematische Kritik an der parlamentarischen Demokratie zielt, sich der Weimarer Republik vollständig verweigert und sich nach 1933 als Gelehrtenpolitiker auf die Seite der NS-Regierung stellt, lassen sich die theologisch ähnlich gesinnten Theologen Bruno Doehring und Paula Müller-Otfried auf die neue Staatsform ein und werden als Mitglieder des Deutschen Reichstages nationalkonservative TheoParl für die DNVP. Ihr Wirken fällt aber sehr unterschiedlich aus. Während Doehring die parlamentarische Arbeit durch rechtspopulistische Tiraden zu delegitimieren versucht, bringt sich Müller-Otfried als Fachpolitikerin aktiv in die Gesetzgebung ein, verwirklicht anteilig ihre sozialpolitischen Leitideen und reflektiert ihre Rolle durch eine originelle Ergänzung der lutherischen Staatstheologie. Doehring und Müller-Otfried stellen sich nicht in den Dienst der NS-Regierung, was zeigt, dass die politische Ausrichtung des theologischen Nationalkonservativismus nicht automatisch in den Nationalsozialismus führte.

Die Historikerin Claudia Lepp (München) ordnet in ihrer umfassenden Bestandsaufnahme die erste frei gewählte Volkskammer der DDR (1990) und den ersten (zwölften) gesamtdeutschen Bundestag (1990–1994), in denen es prozentual und in absoluten Zahlen die größte Zahl von TheoParl in der deutschen Parlamentsgeschichte gegeben hat, in die Geschichte des west- und ostdeutschen Protestantismus ein. Zugleich bildeten diese Parlamente den Höhepunkt des politischen Linksprotestantismus mit einer rot-grünen TheoParl-Mehrheit. Grund dafür war die hohe Quote an Pastorinnen und Pastoren, die am 18. März 1990 in die Volkskammer gewählt wurden. Sie hatten sich zuvor in der Zeit des politischen Umbruchs als Protagonistinnen und Moderatoren des friedlichen Umbruchs bewährt. Sie waren sprachfähig, hatten Leitungserfahrung und profitierten von einem Glaubwürdigkeitsvorschuss. Einige hatten auf Grund ihrer kirchlichen Positionen Erfahrungen im Ausland gesammelt, die kirchlichen Synoden der DDR-Landeskirchen lehrten parlamentarische Erfahrung. So erschienen die Pastorinnen und Pastoren als Übergangspolitikerinnen und -politiker besonders geeignet und wurden im Verhältnis zur DDR-Bevölkerung mit einem überproportional hohen Anteil in die Volkskammer und in den Bundestag gewählt, wo einige zum Teil hohe Ämter bekleideten und sich fachpolitisch insbesondere bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit engagierten.

Die Theologin Roxanne Camen-Vogel (Münster) präsentiert eine repräsentative Einzelstudie aus der Hoch-Zeit evangelischer TheoParl. Rainer Eppelmann war Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer und von 1990–2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er amtierte als Minister in der kurzlebigen DDR-Übergangsregierung Modrow und später als Abrüstungs- und Verteidigungsminister in der ersten dem Parlament verantwortlichen Regierung der DDR unter Ministerpräsident de Maizière. Camen-Vogel macht deutlich, warum in Krisenzeiten evangelische Pastoren für politische und parlamentarische Aufgaben besonders qualifiziert sind. Neben rhetorischer Erfahrung, Nähe zu den Menschen und prozeduralem Know-how bringen sie personale Glaubwürdigkeit als Regime-Kritiker und theologische Expertise für Themen ein, die in dieser Umbruchsituation besonders wichtig waren: Eppelmann profilierte sich als Fachpolitiker in den Bereichen Friedens- und Sozialpolitik und bei der politischen Aufarbeitung des von der DDR-Regierung begangenen Unrechts. Dabei bildet sich ein theologisches Profil eines reformorientierten Politikers heraus, das Elemente der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre aufgreift, mit Impulsen einer jesuanischen Ethik verbindet und insgesamt auf die Verwirklichung von Freiheit zielt.

Die Theologin Catharina Jacob (Münster) wirft einen Blick auf das seit 1976 direkt gewählte Europäische Parlament. Neben den besonderen kategorialen und methodischen Schwierigkeiten betont sie die Probleme der Datenerhebung. Sie erweitert den vorausgesetzten Theologiebegriff, der für sie im Anschluss an das reformatorische Priestertum aller Getauften auch ein nicht abgeschlossenes Studium der evangelischen Theologie oder ein ausgewiesenes kirchliches Engagement einschließt. Vor diesem Hintergrund präsentiert sie zunächst statistische Überblickergebnisse. Dabei zeigt sich, dass auch im Europäischen Parlament die Zahl der TheoParl in Umbruchszeiten am höchsten ist. Ebenso ist das parteipolitische Spektrum, das die TheoParl repräsentieren, recht breit. TheoParl treten als Befürworter, aber auch als Gegner der Europäischen Union auf. In den Parlamentsdebatten wird der theologische Hintergrund der TheoParl selten explizit. An den drei Fallbeispielen zeigt sich, dass die europapolitischen Erfahrungen jedoch theologisch bzw. kirchlich verarbeitet werden. An ihnen wird auch die Vielgestaltigkeit des europäischen Protestantismus sichtbar. Seine staats- und damit politiknahe landeskirchliche Organisationsform in Deutschland ist in der europäischen Perspektive nur ein, freilich bedeutsamer, Einzelfall.

Stephan Reimers, Pastor in Hamburg, ist ein TheoParl (Mitglied der Hamburger Bürgerschaft und Mitglied des Deutschen Bundestags) und war später Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. In seinem Erfahrungsbericht reflektiert er umfassend seine Tätigkeit auf beiden Seiten der Schnittstelle von Kirche und Politik. Es zeigt sich, dass er dabei seine besonderen fachpolitischen Interessen und Schwerpunkte, insbesondere die Sozialpolitik, einbringen konnte. Sichtbar wird auch die theologische Fundierung seines politischen Engagements in der prophetischen Überlieferung des biblischen Zeugnisses. Da in seine Zeit als Bevollmächtigter die Wiedervereinigung fällt, ist Reimers auch Zeitzeuge für die Hoch-Zeit evangelischer Theologinnen und Theologen im Deutschen Bundestag.

Die hier versammelten Beiträge ziehen eine Zwischenbilanz. Die Daten einer Reihe von kleineren Landesparlamenten harren der Auswertung. Weitere qualitative, auch vergleichende Studien zum Wirken von TheoParl und über theologische Rückkoppelungen wären anzuschließen. Sie dürften die hier vorgelegten Befunde zur protestantischen Demokratie-Lerngeschichte weiter vertiefen.

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»Politische Pastoren sind ein Unding«. Rechtshistorische Aspekte zur Vereinbarkeit von geistlichem Amt und politischem Mandat

Martin Otto

Ein hellsichtiger Kaiser?

Der evangelische »politische Pastor« ist älter als die Bundesrepublik, aber jünger als die ältesten deutschen Verfassungen, ein Kind des »langen 19. Jahrhunderts«. Für Karikaturen sind evangelische Pfarrer, gut erkennbar am ebenfalls im 19. Jahrhundert zur Regel gewordenen schwarzen Talar mit Beffchen23, gut geeignet. Am 16. August 1881 veröffentlichte die in Altona erscheinende ursprünglich radikalliberale, später sozialdemokratische Tageszeitung Die Reform24 die Lithographie Wer Hass sät, wird Gewalt ernten, eine Anspielung auf Hosea 8,7.25 Die Illustration war zweigeteilt, die obere Hälfte »Saat« zeigte eine »Antisemiten-Versammlung« mit den Namen »Stöcker« und »Henrici«, den evangelischen Pfarrer und Reichstagsabgeordneten Adolf Stoecker als Karikatur. Die untere Hälfte »Frucht« zeigte einen antisemitischen Mob in »Pommern«. Das bezog sich auf den »Synagogenbrand von Neustettin« vom 18. Februar 188126; am 13. Februar war der »Radauantisemit« Ernst Henrici27 dort aufgetreten. Die Kausalität war evident. Der nicht abgebildete Henrici war kein Pfarrer, sondern Lehrer und radikaler als Stoecker, doch dessen Rolle als antisemitischer Politiker besaß durch sein Pfarramt besondere Brisanz. Eine Aussage Kaiser Wilhelms II. vom 28. Februar 1896 erscheint unerwartet hellsichtig:

»Stoecker hat geendigt, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial; christlich-sozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.«28

Wilhelm II. hatte seinem ehemaligen Erzieher, dem strengen Calvinisten Georg Hinzpeter29 telegraphiert, doch als private Äußerung war es nicht gedacht; auf »allerhöchsten Befehl« wurde das Telegramm über den Industriellen und konservativen Reichstagabgeordneten Carl-Ferdinand von Stumm-Halberg30 an die Presse lanciert, eine Reaktion auf Stockers endgültiges und von wechselseitigen Intrigen begleitetes Ausscheiden aus der konservativen Partei.31

Frühkonstitutionalismus: Theologen als Parlamentarier der »Ersten Kammern«

Der erste »politische Pastor« oder Theologe im Parlament war Stoecker nicht. Viele Verfassungen des Frühkonstitutionalismus32, die bis 1918 in Geltung waren, räumten Theologen ausdrücklich Sitze in den Parlamenten ein.

Württemberg, Bayern, Baden: Der Landesbischof im Landtag

So bestimmte die Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 181933 in § 133, dass zu den Mitgliedern der »zweiten Kammer« die sechs »protestantischen General-Superintendenten« gehören; im gemischtkonfessionellen Württemberg wurde auf Parität geachtet, entsprechendes galt für den katholischen »Landesbischoff [d.i. der Bischof von Rottenburg], einem von dem Domkapitel aus dessen Mitte gewählten Mitgliede, und dem der Amtszeit nach ältesten Dekan katholischer Confession«. Die Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 181834 sah eine »Stände-Versammlung« als Zweikammerparlament vor (Tit. VI § 1). Der ersten »Kammer der Reichs-Räthe« gehörten der »vom Könige ernannte[n] Bischof[e]« der evangelische Landeskirche35 und der »jedesmalige[] Präsident[en] des protestantischen General-Consistoriums« an (Tit. VI § 6 Nr. 5); in der »Kammer der Abgeordneten« stand »Geistlichen der katholischen und protestantischen Kirche« (Tit. VI § 7), »ein Achttheil« der Mitglieder (Tit. VI § 9) zu. Ähnlich bestimmte § 27 die Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 181836, dass in der ersten Kammer »dem Landesbischoff [d.i. der katholische Erzbischof von Freiburg] und einem vom Großherzog lebenslänglich ernannten protestantischen Geistlichen mit dem Range eines Prälaten« Sitze zustehen. Eine Verfassungsänderung am 24. August 190437 änderte an der Mitgliedschaft von »dem katholischen Landesbischof und dem Prälaten der evangelischen Landeskirche« nichts. Eine ähnliche Regelung kennt bis heute das englische Verfassungsrecht38; zum Oberhaus House of Lords gehören 26 englische Bischöfe der Church of England als Lords Spiritual, die zudem als Mitglieder des Oberhauses nicht zum Unterhaus House of Commons wahlberechtigt sind. Nicht nur der Erzbischof von Canterbury ist gleichzeitig Parlamentarier und Theologe; das erinnert an ständische Wurzeln des Parlamentarismus, in denen sich die Frage nach »politischen Pastoren« nicht stellte, da Staat und Kirche nicht getrennt waren und geistliche Macht mit politischer Macht verbunden war.

Bundesrepublikanisches Nachspiel: Der Bayerische Senat

In der Bundesrepublik besaß der Freistaat Bayern nach seiner Verfassung vom 8. Dezember 1946 neben dem Landtag einen »Senat« als »Vertretung der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und gemeindlichen Körperschaften des Landes« (Art. 34 BayVerf aF), der 1999 ersatzlos abgeschafft wurde.39 Ihm gehörten fünf Vertreter der »Religionsgemeinschaften« an (Art. 35 Nr. 7 BayVerf. aF) , faktisch der katholischen und der evangelischen Kirche sowie der Israelitischen Kultusgemeinde.40 Diese Senatoren, die als einzige nicht »nach demokratischen Grundsätzen gewählt«, sondern von den Religionsgemeinschaften »bestimmt« wurden (Art. 36 Abs. 1 BayVerf aF) , mussten keine Theologen sein, doch gehörten von 1946 bis 1999 neun evangelische Pfarrer dem Senat an, Thomas Breit41, Heinrich Grießbach42, Gerhard Hildmann43, Georg Lanzenstiel44, Helmut Lindenmeyer45, Hugo Maser46, Heinrich Riedel47 und Friedrich Veit48; bekanntester Senator war Bischof Theodor Heckel49, ein Bruder des evangelischen Kirchenrechtlers Johannes Heckel50, vom 1. April 1961 bis zu seinem Tod am 24. Juni 1967. Anders als die bayerische Verfassung von 1946 sah die preußische Verfassung von 1850 keine Repräsentation der Kirchen vor. Im Herrenhaus waren von 1850 bis 1918 nur wenige Theologen vertreten, vorwiegend katholische Priester. Evangelische Pfarrer waren nur Wilhelm Faber51 und Johannes Hesekiel52. Sie wurden von Domstiften vorgeschlagen.

Das zweite Deutsches Kaiserreich: Der politische Pastor im Kulturkampf

Der »Kanzelparagraph«

Die erste gesetzliche Maßnahme gegen »politische Pastoren« stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kulturkampf, der »Kanzelparagraph«, der am 10. Dezember 1871 auf Antrag Bayerns als § 130a in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.53

»Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche, oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft.«54

Der Tatbestand richtete sich nicht gegen eine bestimmte Konfession oder Religion, zielte aber auf die katholische Kirche; nach der gegen den preußischen Kulturkampf gerichteten Enzyklika Papst Pius IX. Quod numquam vom 5. Februar 1875 wurde der Tatbestand erweitert.

»Gleiche Strafe trifft denjenigen Geistlichen oder anderen Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes Schriftstücke ausgibt oder verbreitet, in welchen Angelegenheiten des Staats in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstand einer Verkündigung oder Erörterung gemacht sind.«55

Praktisch verlor der »Kanzelparagraph« nach dem Ende des Kulturkampfs an Bedeutung; er wurde 1953 abgeschafft. Gegenüber Adolf Stoecker wurde die Bestimmung nicht angewendet. Aber Stoecker als protestantischer Prototyp des »politischen Pastores« gehört in den Kontext des Kulturkampfs.

Prototyp des »politischen Pastors«: Adolf Stoecker

Geboren 1835 in Halberstadt, entstammte Stoecker einfachen, frommen und intakten Verhältnissen56; der Vater, ursprünglich Schmied, war Gefängnisinspektor und ehemaliger Unteroffizier. Der rhetorisch begabte Stoecker konnte als erster in seiner Familie studieren, kannte die soziale Wirklichkeit der Arbeiter, sein sozialer Impetus war glaubhaft. In einer verunsicherten evangelischen Kirche, die mit einer zunehmenden Entkirchlichung der Arbeiter konfrontiert war, wurde er wahrgenommen. 1874, keine 40 Jahre alt, erhielt er eine Dompredigerstelle in Berlin, bedeutend war seine Rolle seit 1877 als Neugründer und Leiter der »Stadtmission«. 1878 versuchte er in der »Eiskeller«-Versammlung die Gründung einer christlich-sozialen Partei. 1879 wurde Stoecker für die Deutschkonservativen im ostwestfälischen Wahlkreis Bielefeld-Herford-Halle in den preußischen Landtag gewählt, 1880 gab es im Anschluss an einen Vortrag einen ersten antisemitischen Zwischenfall, der zu einer Beschwerde des Bismarck besonders verbundenen Bankiers Gerson Bleichröder57 führte.58