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Atemberaubende Romantasy trifft auf Found Family - Band 2 der epischen Romantasy-Reihe «Fae Isles». Er hat sie alle betrogen. Kann ich ihm jemals vertrauen? Ganz knapp konnte Emelin dem Hof der Fae-Königin entkommen und Creon aus seinen Ketten befreien. Mit neuen Verbündeten an ihrer Seite scheint es, als hätten die beiden endlich eine Chance, sich gegen die grausame Herrscherin zu behaupten. Doch die Rebellen vertrauen dem Henker der Königin nicht – nicht nach dem, was er ihnen angetan hat. Geplagt von seiner Vergangenheit und einer Magie, die er nie wollte, droht er die Kontrolle über seine Kräfte zu verlieren. Es bleibt nur ein Ausweg: er muss den Unterschlupf der Rebellen verlassen. Eine Entscheidung, die Emelin härter trifft, als sie sich je eingestehen darf. Wird der Mann, der ihr Herz erobert hat, sich seinen Dämonen stellen oder sie alle mit in den Abgrund reißen?
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Seitenzahl: 885
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lisette Marshall
Roman
Er hat sie alle betrogen. Kann ich ihm jemals vertrauen?
Ganz knapp konnte Emelin dem Hof der Fae-Königin entkommen und Creon aus seinen Ketten befreien. Mit neuen Verbündeten an ihrer Seite scheint es, als hätten die beiden endlich eine Chance, sich gegen die grausame Herrscherin zu behaupten. Doch die Rebellen vertrauen dem Henker der Königin nicht – nicht nach dem, was Creon ihnen angetan hat. Geplagt von seiner Vergangenheit und einer unkontrollierbaren Magie, droht er für alle zur Gefahr zu werden. Es bleibt nur ein Ausweg: Creon muss den Unterschlupf der Rebellen verlassen. Eine Entscheidung, die Emelin härter trifft, als sie sich je eingestehen darf. Wie soll sie sich zwischen dem Mann, der ihr Herz erobert hat, und der Zukunft der Rebellion entscheiden?
Atemberaubende Action trifft auf herzzerreißende Romantik. Band 2 der epischen Romantasy-Reihe «Fae Isles».
Lisette Marshall – selbst groß geworden mit epischer Fantasy, Regency-Romanen und gemütlichen Krimis – schreibt am liebsten heiße und herzzerreißende Geschichten, immer versehen mit einer kleinen Prise Mord. Sie lebt zusammen mit ihrem Freund und den wenigen Zimmerpflanzen, die ihr unregelmäßiges Gießregime überlebt haben, in den Niederlanden. Wenn sie nicht gerade liest oder schreibt, findet man sie beim Zeichnen von Fantasy-Karten oder beim Backen von Keksen. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage (lisettemarshall.com) und auf Instagram (@authorlisettemarshall) zu finden.
Nina Bellem ist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium zog es sie nach Korea und Hawaii, bevor es nach Berlin ging. In der großen Stadt machte sie es sich mit Mann und Reiseführern gemütlich und wechselte vom Agenturleben in die Freiberuflichkeit. Nachdem Berlin aber zu eng wurde, ging es mitsamt Mann und Reiseführern zurück ins schöne Ruhrgebiet, wo sie auch heute noch lebt.
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Lord of Gold and Glory».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Lord of Gold and Glory» Copyright © 2022 by Lisette Marshall
Published by Arrangement with HERE BE DRAGONS BV
Redaktion Janina Roesberg
Karte © Andrés Aguirre
Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Coverabbildung Jaroslaw Blaminsky/Trevillion Images; Shutterstock
ISBN 978-3-644-02418-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für W.,
weil du immer zu mir zurückgekommen bist.
Raum und Zeit wurden in zwei Herzschläge gepresst, die ewig anzudauern schienen.
Tareds Magie schien mich um die Taille herum zu packen und aus Faewood herauszuziehen, hinein in einen übelkeiterregenden Strudel aus Farben und Klängen, schwindelerregende Blitze von Eindrücken, die schneller um mich herumwirbelten, als mein müder Verstand ihnen folgen konnte. Eine kalte Winterbrise und ein Hauch von feuchter Wärme. Schreie, Gesang, das Heulen eines Wolfes. Schimmer von Gold und ein Schwall von dunklem Violett, so dunkel, dass es mich fast in sich hineinzog.
In die Leere – an einen Ort, den ich nicht einmal kannte –, aber ich war einfach zu erschöpft, als dass es mich kümmern würde. Alles, was zählte, war …
Dass wir wieder draußen waren.
Weit weg vom Purpurhof. Weit weg von der Mutter. Weit weg von den Hunden, dem Spott, der Notwendigkeit, jedes meiner Worte und jede meiner Bewegungen zu überwachen … Mein Körper weigerte sich, das zu glauben, selbst in diesen schillernden Momenten, in denen ich nirgendwo und überall zugleich war; meine Muskeln wollten sich nicht entspannen. Ich klammerte mich so fest an Tareds schlanke Hand, dass es schmerzte, als würde mich das kleinste Abrutschen zurück auf diese verfluchte Insel befördern. Dorthin, wo ich den Zorn der Mutter befürchten musste.
Nachdem ich ihr diesen Schwall von Rot in die Augen geschleudert hatte, würde sie mich mit Sicherheit nicht mit besonders viel Zuneigung empfangen.
Aber meine Hand rutschte nicht ab, Tared ließ mich nicht los, und die Welt wurde so abrupt wieder scharf, wie ihre Konturen sich aufgelöst hatten.
Die Dunkelheit, die um mich herumwirbelte, verfestigte sich wieder, und die Farben verdichteten sich zu bekannten Formen und Umrissen. Stühle. Bett. Schreibtisch. Wir befanden uns in einem dämmrigen Raum mit einer niedrigen, gewölbten Decke und Steinwänden, die schwärzer waren als alles, was ich je gesehen hatte. Eine glatte, glänzende Oberfläche, wie erstarrte Tintenpfützen. In den Ecken schwebten kleine Lichtbälle, keine gläsernen Kugeln, wie sie im Purpurhof die Räume erhellten, sondern Feuerkugeln. Miniatursonnen, klein genug, dass sie in meine Handfläche passten.
Sie waren die einzige Lichtquelle. Es gab keine Fenster, nicht einmal der leiseste Schimmer von Tageslicht war irgendwo zu sehen.
Und nicht einmal ein winziges Flüstern war zu hören.
Ich hatte noch nie eine so vollkommene Stille erlebt wie die, die in diesem gewölbeartigen Raum herrschte – kein Rauschen des Meeres in der Ferne, kein Wind, keine Schritte oder Vogelgezwitscher. Die unheilvolle Stille wurde nur von Tareds Fluchen unterbrochen, als er seine Hand aus meiner riss und von Creon wegtaumelte, bis er gegen die Wand stieß und wie eine Stoffpuppe zu Boden fiel. Dann war da nur noch sein schweres Atmen und Lyns fast unhörbares Zappeln – es war so friedlich, dass es nach den Schreien, die immer noch in meinen Ohren widerhallten, und dem Heulen und dem bebenden Berg am Purpurhof fast schon surreal wirkte.
Ich schluckte und warf einen Blick auf Creons reglosen Körper, der sich auf dem rauen Wollteppich zusammengerollt hatte. Die Risse in seinen Flügeln waren alles andere als surreal, und es dauerte einen Moment, bis meine Lippen und meine Zunge es endlich schafften, zusammenzuarbeiten, damit sie eine einfache Frage formulieren konnten.
«Wo … wo um alles in der Welt sind wir?»
«Zu Hause», sagte Lyn und sah mich entschuldigend aus ihren bernsteinfarbenen Augen an, als sie Creons Arm sanft auf den Boden sinken ließ und ebenfalls einen Schritt zurücktrat. Mit einem kurzen Blick auf Tared fügte sie hinzu: «Iss etwas, ja?»
Er verzog das Gesicht, zog aber einen kleinen Lederbeutel aus seiner Tasche, riss ihn mit bebenden Fingern auf und schob sich drei getrocknete Aprikosen auf einmal in den Mund. Für einen Moment war das Geräusch seines kräftigen Kauens alles, was die Stille davon abhielt, sich im Raum auszubreiten.
Zu Hause.
Was bedeutete, dass Tared uns nicht in irgendeine Gefängniszelle gebracht hatte. Was bedeutete, dass er mir glaubte, was Creons Loyalität betraf. Was bedeutete, wir waren in …
Sicherheit?
Nichts an diesem Wort schien auch nur im Entferntesten etwas mit der Realität zu tun zu haben. Meine vor Anspannung zitternden Glieder glaubten immer noch, dass die Mutter höchstpersönlich jeden Moment durch die mit Runen bedeckte Holztür des Raumes hereinplatzen könnte, bereit, uns mit einem Schnipsen das Fleisch von den Knochen zu schmelzen und ihren Thronsaal mit den Überresten unserer Leichen zu schmücken. Zur Hölle, vielleicht musste sie uns dafür nicht einmal finden. Wenn sie Creon in den letzten Stunden schlimm genug zugerichtet hatte …
Ein Anflug glühender Angst verwandelte meine Benommenheit und Verwirrung zu Asche. Zera, steh mir bei, was tat ich denn da? Ich starrte stumpf die Wand an und grübelte über mögliche Entfernungen nach, dabei brauchte er ein Bett. Er brauchte einen Heiler. Er brauchte Zeit und Ruhe und liebevolle Pflege, und wenn ich mich nicht darum kümmerte, dass er all das bekam …
Wer dann?
Ich holte tief Luft, war bereit, zu flehen oder zu drohen oder was auch immer zu tun, was nötig war, damit die beiden anderen sich in Bewegung setzten. Aber Tared war schneller.
«Geduld, Emelin», murmelte er, während er immer noch kaute. «Einen Moment noch.»
«Einen Moment wofür?» Meine Stimme klang in diesem niedrigen Raum viel zu laut. Um mich herum wurde das Licht der kleinen Sonnen als schillerndes Flackern von den Wänden reflektiert, wie das Licht, das in Seifenblasen schimmerte. «Warten wir auf etwas?»
«Weisheit.» Er rieb sich die Hand über das Gesicht und bedeutete mir dann, in einem der beiden abgenutzten Sessel in der Ecke Platz zu nehmen, die mit einem Stoff bezogen waren, auf dem noch vage ein Blumenmuster zu erkennen war. «Ich versuche herauszufinden, was wir als Nächstes tun sollten.»
Ich blinzelte. «Es ist doch wohl offensichtlich, dass er einen Heiler braucht, oder nicht? Oder hast du vorgehabt, ihn einfach so liegen zu –»
«Emelin», unterbrach mich Tared und schloss die Augen. «Setz dich.»
«Nicht, wenn du …»
«Setz dich.» In seiner Stimme lag plötzlich eine Härte wie rasiermesserscharf geschliffener Stahl, der seine übliche Lässigkeit mit beunruhigender Leichtigkeit in kleine Fetzen schnitt.
Es reichte, dass mir meine Worte regelrecht auf den Lippen gefroren. Es reichte, dass meine zitternden Knie schließlich doch nachgaben. Ich plumpste auf den Teppich wie ein Getreidesack und war für die Festigkeit des Bodens dankbarer, als ich zugeben wollte.
Lyn folgte meinem Beispiel, wenn auch sehr viel anmutiger. «Das Problem ist, Emelin …» Sie stockte, wechselte einen vorsichtigen Blick mit Tared.
Ich biss mir so fest auf die Zunge, dass es wehtat. Es war alles, was ich tun konnte, damit ich nicht begann, um mich zu schlagen, wodurch die beiden mit Sicherheit auch noch den letzten Rest ihrer Geduld verlieren würden. «Das Problem?»
«Nicht alle unserer Heiler werden bereit sein, sich um ihn zu kümmern», sagte sie und schloss die Augen. «Genauer gesagt, die meisten von ihnen wären überglücklich, wenn sie ihm ihr Skalpell ins Herz rammen könnten, sobald wir ihnen den Rücken zukehren.»
Ich starrte sie an. Erst dann dämmerte es mir in meinem müden Gehirn – leider viel zu spät –, dass die beiden hier bei Weitem nicht die Einzigen waren, die Creon bereits kannten.
Schlimmer noch, sie waren auch nicht die Einzigen, die noch eine Rechnung mit ihm offen hatten.
«Ehrlich gesagt», sagte Tared und schluckte seinen letzten Bissen hinunter, «bezweifle ich, dass sie überhaupt erst warten würden, bis wir ihnen den Rücken zukehren. Wenn du also willst, dass er am Leben bleibt …» Sein Gesicht zuckte, als er sich aufrechter hinsetzte, den leeren Aprikosenbeutel in seine Tasche steckte und mir in die Augen sah. «Müssen wir ein wenig Geduld haben. Und mehr als nur ein paar gute Worte an den richtigen Stellen. Glaub mir, ich bin darüber genauso wenig erfreut wie du.»
Ich zwang mich zu einem Lachen und schaute wieder auf Creons lebloses Gesicht. In diesem hellen, gelben Licht wirkte der kränkliche Glanz auf seiner Stirn noch bedrohlicher, die Abschürfungen und Prellungen noch schmerzhafter.
«Also, welche Möglichkeiten haben wir?»
«Wir sollten es wahrscheinlich nur innerhalb der Familie besprechen», schlug Lyn vor und warf einen Blick auf die Tür. «Ylfreda wird zumindest nichts Unüberlegtes tun. Jedoch …»
«Ja.» Tared stöhnte auf. «Wie gut beherrschst du deine blaue Magie, Emelin?»
«Meine … was?»
«Seine Flügel.» Er deutete vage auf Creon. «Ylfreda ist gut, aber ich glaube nicht, dass sie diese Löcher flicken kann, ohne dabei bleibende Schäden zu hinterlassen. Also?»
Eine plötzliche Welle der Übelkeit drehte mir den Magen um. Bleibende Schäden. O nein. Ich hatte nie viel mit meiner blauen Magie trainiert. Was, wenn ich es vermasselte? Was, wenn ich seine Flügel in die Luft jagte, wie ich es immer und immer wieder mit dem Pavillon gemacht habe?
«Ich glaube nicht, dass ich es versuchen sollte, wenn ich es vermeiden kann. Meine Magie neigt dazu …» Ich schluckte. «Ein bisschen zu stark herauszukommen.»
Lyn warf mir einen neugierigen Blick zu, wandte sich aber ohne weitere Fragen wieder Tared zu. «Glaubst du, Cale würde den Mund halten, wenn Ylfreda ihn darum bittet?»
«Nur, wenn wir Glück haben.» Er klang nicht besonders hoffnungsvoll. «Für ein paar Stunden sollte es klappen. Was besser klingt als …»
«Ja.»
«Na ja», seufzte er. «In diesem Fall …»
«Besser als was?», fragte ich, verwirrt von den Gedankensprüngen zwischen ihren Gehirnen.
Lyn schien wirklich überrascht zu sein, als sie sich wieder zu mir umdrehte, als hätte jeder Einfaltspinsel aus diesen kurzen Worten und dem einen Blick die richtigen Schlüsse ziehen können. «Besser als darauf zu warten, dass er aufwacht und sich selbst heilt», stellte sie klar. «Wenn die Risse beginnen zu heilen, so wie sie jetzt sind … Nun, das würde es verdammt schwer machen, sie wieder zu richten. Also …»
«Cale wird sich darum kümmern müssen», sagte Tared grimmig und stand langsam auf. Ich versteifte mich, aber er kniete sich neben Creon, ohne ihm ins Gesicht zu schlagen, obwohl die Art, wie sein Kiefer sich verkrampfte, deutlich zeigte, wie mühsam er sich davon abhielt, es doch zu tun. «Mehr Möglichkeiten bleiben uns nicht?»
Lyn nickte, und Tared hob Creons schlaffen Körper mit überraschender Leichtigkeit hoch. Ich biss mir auf die Unterlippe, um ein Keuchen zu unterdrücken, als ich sah, wie seine dunklen Flügel herabhingen und dabei auf eine Weise verdreht waren, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte.
«Oje», sagte Lyn mit erstickter Stimme. «Vielleicht solltest du Naxi bitten, uns auch zu helfen?»
Tared nickte, während er Creon zum Bett trug und ihn vorsichtiger, als ich erwartet hätte, auf die dicken Decken legte. Im nächsten Moment sah er uns an mit einer seltsam unergründlichen Angst im Blick und war dann verschwunden.
Lyn fluchte.
Das Schimpfwort kam wie ein Blitz aus ihrem Mund geschossen, so heftig und abrupt, dass ich vermutete, sie hatte es seit Minuten zurückgehalten. Als ich zu ihr herumwirbelte, zog sie sich gerade die Knie an die Brust und rollte sich auf dem dicken Teppich zusammen – ein kleiner rothaariger Ball aus Frustration, heller als alles andere im Raum.
«Was … was ist los?», fragte ich, weil die Situation mir gerade völlig zu entgleiten drohte.
«Es gibt ein paar Dinge, die du verstehen musst.» Sie sprach schnell und starrte mit erschöpfter Miene an die Decke. «Versteh mich nicht falsch, du hast das Richtige getan – du hast das Einzige getan, was du tun konntest – aber er befindet sich hier an einem verdammt gefährlichen Ort für ihn. Nicht wenige Alben betrachten es als ihre Pflicht, ihn zu töten, und mit einem ehrenhaften Alb zu streiten …»
Sie zögerte, und ihre fest aufeinandergepressten Lippen zeigten, dass sie es oft genug versucht hatte, es aber nie eine angenehme Angelegenheit war.
Ich starrte sie an, und mir drehte sich wieder der Magen um. So viel zu meinem Traum von Sicherheit. «Aber warum …»
«Wir sind jetzt im Haus von Tareds Familie», unterbrach sie mich und sprach noch schneller. «Was gut ist, denn es würde auch gegen die Ehre verstoßen, wenn Alben aus einem anderen Haus einfach hierhergleiten und jemanden töten würden, der technisch gesehen ein Gast der Familie ist. Aber der Rat – das ist die Gruppe, die den Großteil der Aktivitäten der Allianz koordiniert –, der Rat könnte das Hausasyl wahrscheinlich aufheben, und dann wäre Creon in Schwierigkeiten. Wir müssen also den Rest davon überzeugen, dass wir ihn brauchen. Verstehst du?»
Ich nickte, obwohl sich in meinem Kopf alles drehte und ich verzweifelt versuchte, jedes Wort zu verstehen. Zur Hölle, ich hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Ich hatte wochenlang diplomatische Spielchen gespielt; ich war zu müde für so was. Aber Creon … Wenn ich ihn jetzt einer Horde tollwütiger Alben auslieferte, hätte ich ihn genauso gut im Knochensaal der Mutter hängen lassen können, und ich würde ihn nicht einfach sterben lassen.
Dann zur Hölle mit der Sicherheit. Zur Hölle mit dem Frieden.
«Was soll ich tun?»
Lyn lächelte mich schwach und freudlos an und setzte sich wieder auf. «Die oberste Priorität ist, dass du aufpasst, was du sagst. Ylfreda ist Tareds Cousine, und wenn wir sie bitten, ein paar Stunden nichts zu verraten, wird sie ihren Mund halten – aber das heißt nicht, dass sie Creon nicht zutiefst ablehnen würde. Versuch nicht, ihn zu verteidigen. Das wird dir nichts bringen.»
«In Ordnung.» Ich schluckte. «Und der Rest?»
«Darüber reden wir, wenn du ausgeschlafen hast. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, und du solltest nicht …»
In einem Schimmer von Licht erschien eine große, blonde Albin am Bett.
Abrupt schloss Lyn den Mund und sprang auf, ließ mich auf dem rauen Wollteppich in der Mitte des Raumes zurück. «Oh, Ylfreda. Den Göttern sei Dank. Hat Tared dir erzählt –»
«Ja.» Ihre Stimme klang eindeutig missbilligend, aber sie wandte sich Creon zu, ohne näher darauf einzugehen, und ließ den Riemen einer prall gefüllten Ledertasche von ihrer Schulter rutschen. «Mhm. Er sieht nicht besonders gesund aus, was?»
Wieder drehte sich mir der Magen um, aber ich dachte an Lyns Warnung und biss mir auf die Zunge. Wahrscheinlich wäre es nicht das Beste, sie zu Anfang direkt anzubetteln, ihm zu helfen.
«Sie hat ihn anscheinend eine ganze Nacht lang an seinen Flügeln hängen lassen», erklärte Lyn, und die Albin schnalzte mit der Zunge. Dabei strahlte sie diese feste, entschlossene Aura einer Heilerin aus, die zu viel gesehen hatte, um sich über banale Dinge wie durchlöcherte Eingeweide, aus Gliedmaßen ragende Knochen oder wie in diesem Fall zerrissene Flügel aufzuregen.
«Ah. So viel zu seinen Versuchen, seiner geliebten Mama zu gefallen.»
Ich sog scharf die Luft ein, fing dann Lyns warnenden Blick auf und schloss meinen Mund wieder. Jetzt war nicht der richtige Moment, um zu widersprechen. Nicht der Moment, um ihn zu verteidigen. Nicht der Moment für diesen heftigen, schmerzhaften Anflug von Dankbarkeit, der mich überkam, wann immer ich seinen geschundenen Körper in diesem fremden Bett ansah.
Ich versuchte, dem Gespräch zwischen den beiden Frauen zu folgen – irgendetwas über Cale und Naxi, die bald hier sein würden, irgendetwas über warmes Wasser und Magie und Sicherheitsmaßnahmen. Aber egal, wie sehr ich mich auch bemühte, zuzuhören, mein Verstand weigerte sich, mehr als ein paar Satzfetzen wahrzunehmen. Alles, was mich seit dem Moment, als ich das Labyrinth verlassen und Ophion direkt in die Arme gelaufen war, aufrecht hielt, waren Panik und Wut. Jetzt, da es zumindest für ein oder zwei Minuten keine Schlacht mehr zu schlagen gab, brach mein Verstand, oder das, was noch davon übrig war, mit alarmierender Geschwindigkeit in sich zusammen. Er reduzierte die Welt auf ein paar Stimmen, die sich miteinander mischten, schillerndes Licht und Creon, der so vertraut und doch fremd war; keine Spur mehr von dem arroganten, allmächtigen Fae-Prinzen, der er einmal gewesen war.
Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren, während Ylfreda sein zerrissenes Hemd aufknöpfte und darunter geschundene, abgeschürfte Haut zum Vorschein kam, die von Prellungen und einigen Schnitten gezeichnet war. Gestern Abend hat mir sein Körper die Geschichte dessen, was er durchgemacht hatte, erzählt, besser als es jeder Zeuge gekonnt hätte.
Was er durchgemacht hatte – für mich.
Unsichtbare Hände drückten mir die Kehle zu, immer fester, bis ich nur mit Mühe verhindern konnte, dass ich bei jedem Atemzug, der aus meiner Lunge kam, nicht quietschte. Jede Wunde, die Ylfreda mit den streng riechenden Flüssigkeiten aus ihrer Tasche reinigte, jede geschwollene Prellung, jeder gebrochene Knochen …
Er musste gewusst haben, dass ihn all das erwartete. Er musste gewusst haben, dass die Mutter sich langsam und schmerzhaft rächen würde. Zur Hölle, wenn er nicht erwartet hatte, dass ich wegen ihm zurückkam, musste er sich sogar auf Schlimmeres vorbereitet haben.
Und doch …
Nachdem ich ihn beschuldigt hatte, mich mit seiner Magie manipuliert zu haben, nachdem ich ihm die Namen seiner alten Feinde ins Gesicht geschleudert hatte, um ihn zu verletzen, hatte er nicht gezweifelt.
Ylfreda beugte sich vor, um seine Flügel zu untersuchen, und fuhr mit ihren geübten, von Kräutersaft verfärbten Fingern über die ausgefransten Löcher. Bevor ich mich wieder unter Kontrolle hatte, entfuhr mir ein schmerzvoller Laut, der irgendwo zwischen Schluchzen und Wehklagen lag. Diese Flügel – Ophion mit diesen götterverdammten Haken …
Ylfreda sah ruckartig über ihre Schulter. Ihre Augenbrauen schossen fast hinauf bis zu ihrem Haaransatz, als sie mein Gesicht sah.
«Bei Orins Auge. Er hat dich gefangen gehalten, nicht wahr?» Die Kälte in ihren Worten war nicht zu überhören. «Wenn ich du wäre, würde ich meine Tränen nicht an ihn verschwenden.»
Ich schluckte, und meine Stimme war kaum mehr als ein klägliches Quieken. «Er hat mir das Leben gerettet.»
«Hat er das?» Sie wandte sich wieder dem Bett zu, immer noch wenig beeindruckt. «Na ja, mach dir nicht zu viele Sorgen. Wenn ihn ein einfacher Haken durch den Flügel umbringen würde, hätten wir ihn schon vor Jahrhunderten getötet. Als wir ihn das letzte Mal gefangen nahmen, ging es ihm noch schlechter, und auch das scheint er überlebt zu haben.»
Ich schluckte. Der Kloß in meinem Hals wollte einfach nicht verschwinden.
Lyn warf mir einen besorgten Blick zu, fragte dann aber nur: «Tee?»
Ich wollte keinen Tee. Ich wollte, dass es Creon gut ging. Ich wollte, dass all diese Leute verstanden, was er getan, was er all die Jahre über geopfert hatte, in denen sie ihn für einen Verräter hielten. Ich wollte, dass sie aufhörten, mich für ein verzweifeltes kleines Opfer zu halten, das sie gerettet hatten. Ich wollte, dass er aufwachte, damit ich ihn in den Arm nehmen und ihm versprechen konnte, dass ich ihn nie wieder im Stich lassen würde.
«Ja, bitte», sagte ich emotionslos.
Lyn trat vom Bett zurück und streckte mir eine Hand entgegen, um mir beim Aufstehen zu helfen. Da sie mir nur bis zum Ellbogen reichte, machte es mir das Aufstehen nicht wirklich leichter – aber meine zitternden Beine brauchten jede Hilfe, die sie bekommen konnten.
Sie deutete auf die beiden Sessel mit Blümchenmuster. «Mach es dir bequem. Ich bin gleich wieder da.»
Ich ließ mich in den gepolsterten Sitz fallen, als hätte ich nicht vor, jemals wieder aufzustehen. Sie sah noch einmal zu Ylfreda, die gerade einen weiteren üblen Schnitt direkt über Creons Hüfte säuberte, bevor sie durch die mit Runen bedeckte Holztür hinausschlüpfte.
Ein kurzer Blick auf den Flur draußen ließ vermuten, dass es dort genauso dunkel war wie in diesem Zimmer – ich konnte nur einen schmalen, gewundenen Tunnel ausmachen, in dem kein Funken Tageslicht zu sehen war.
Wo zur Hölle waren wir hier?
In einem Keller oder einer undurchdringlichen Festung? Meine erschöpften Gedanken bewegten sich nur langsam, als würde sie jemand durch Schlamm ziehen. Der Raum sah nicht aus wie ein Zimmer in einer Festung, trotz der massiven Steinmauern – nicht mit diesen abgenutzten Sesseln und dem breiten Bett mit den ganzen Kissen aus grobem Leinen darauf. Hier herrschte eine etwas abgenutzte, ungekünstelte Art von Gemütlichkeit, aber heimelig war es nichtsdestotrotz, und viel einladender als die erschreckend makellose Schönheit des Purpurhofs.
Ylfreda arbeitete stoisch weiter, reinigte Wunden und untersuchte Blutergüsse, als wäre ich gar nicht im Raum. Bevor ich den Mut aufbringen konnte, Fragen zu stellen, um mehr über diese seltsame, unterirdische Welt zu erfahren, klopfte es an der Tür, und ein junger Mann mit dunkelbrauner Haut steckte seinen Kopf herein. Auf den ersten Blick sah er für einen Ort wie diesen ziemlich menschlich aus, aber Ylfreda schien nicht im Geringsten überrascht zu sein.
«Oh, Cale. Gut. Ich brauche deine Magie für seine Flügel.»
Magie? Ich blinzelte, als der Heiler den Raum durchquerte und auf Ylfreda zuhielt, wobei er eine Wanne mit dampfendem Wasser, zwei Beutel und mehrere dunkelblaue Handtücher trug. Erst als er seine Last abgesetzt hatte und sich mit einer angespannten Hand durch die Haare fuhr, bemerkte ich etwas, das seine kastanienbraunen Locken bisher vor mir verborgen hatten.
Seine Ohren schienen nur auf den ersten Blick rund zu sein. Aber im warmen Licht der schwebenden Miniatursonnen im Raum war ihre Form leicht verzerrt – zu lang für menschliche Ohren und seltsam ausgefranst an der oberen Rundung. Nein, nicht ausgefranst, sondern eher …
Vernarbt.
O nein.
Augenblicklich wurde mir schlecht, weil ich verstand. Jemand hatte ihm die Ohren abgeschnitten. Ihn verstümmelt, in einem verzweifelten Versuch, seine wahre Natur zu verbergen …
Halb-Fae.
Ich krallte mich in das raue Leinen meines Sessels und konnte meine Augen nicht von ihm abwenden, während er ein paar knappe Worte mit Ylfreda wechselte und sich dann an die Arbeit machte. Er war zur Hälfte Fae. Was bedeutete, er war wie ich. Wahrscheinlich gebunden, und vielleicht war er von Eltern aufgezogen worden, die ihm sein Fae-Blut nicht verheimlicht hatten – und doch …
Nicht allein.
Die Worte summten durch meine Gedanken, während ich den beiden Heilern bei der Arbeit zusah, hypnotisiert von den Bewegungen ihrer Hände. Nicht allein. Nicht allein. Ich hatte so viele Wochen damit verbracht, niemandem zu vertrauen, mich so viele Jahre nirgendwo zugehörig gefühlt, und plötzlich gab es andere? Andere, die den Fae hassten, dessen Sicherheit mir so wichtig war wie kaum etwas anderes. Andere, die mich vielleicht verachten würden, wenn sie wüssten, was er mir bedeutete, und doch …
Das letzte Loch in Creons Flügelmembran hatte sich gerade unter Cales sorgfältig gesetzten Funken blauer Magie geschlossen, da wurde die Tür aufgerissen. Mit einem Schlag war ich wieder voll fokussiert.
«Ylfreda!» Eine melodische, mädchenhafte Stimme. Ihre Besitzerin kam in den Raum gestürmt, der grüner Rock flatterte in einer unsichtbaren Brise, blonde Locken mit rosafarbenen Spitzen tanzten um ihr errötendes Gesicht. «Tared sagte, du brauchst mich! Für Creon! Ist er wieder da?»
Ylfreda schloss die Augen, als sie sich umdrehte, und unterdrückte sichtlich ein Stöhnen. «Oh, guten Morgen, Naxi. Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du …»
Ich verschluckte mich beinahe an meiner eigenen Zunge.
Anaxia wirbelte zu mir herum und ignorierte den Rest von Ylfredas Satz, bei dem es um innere Verletzungen ging. Mit einer intelligenten, beunruhigenden Schärfe fixierte sie mich aus ihren blauen Augen.
Dieser Blick, die durchdringende, unbarmherzige Kraft, war das Einzige, was die sanfte Ausstrahlung störte. Der Rest von ihr … Sie sah so unglaublich klein und unglaublich zerbrechlich aus und vor allem so unglaublich unschuldig, dass es schwer war zu glauben, dass sie dieselbe Frau sein sollte, die zwei volle Tage lang gegen Thysandra gekämpft hatte und die sie schließlich kaum noch am Leben hatte fliehen lassen.
Das war der Dämon, der auf der Seite der Allianz kämpfte? Ich hatte zugegebenermaßen keine Ahnung, wie Dämonen ohne Fae-Blut in der Regel aussahen, aber sie wirkte wie das genaue Gegenteil von Creon.
«Du bist überrascht», stellte sie fröhlich fest und musterte mich mit mehr Interesse, als mir lieb war. Ihre kreischend laute Begeisterung war wie ein schriller Angriff auf meine ausgelaugten Sinne. «Wie faszinierend! Hat er dir von mir erzählt?»
«Er …» Ich brachte ein verwirrtes Lachen zustande. «Ja, das hat er.»
«So ein Schatz.» Mit einem liebevollen Lächeln drehte sie sich zum Bett um. «Oje, ihm geht es nicht so gut, Freddie. Er hat große Schmerzen. Viel … oh.» Sie legte den Kopf schief und warf mir dann einen weiteren Blick zu, wobei ihre Augen noch heller strahlten. «Wie überaus interessant.»
Ich saß wie erstarrt da, überzeugt davon, dass sie jedes einzelne Geheimnis ausplaudern würde, das ich so stur versucht hatte, vor Lyn und Tared und allen anderen geheim zu halten. Aber sie wandte sich ab, ohne noch etwas zu sagen, und deutete mit diesem beunruhigend unschuldigen Lächeln im Gesicht auf Creons nackte Brust. «Die sechste Rippe ist gebrochen. Auf der linken Seite.»
«Die hatte ich übersehen», murmelte Cale und griff nach einem weiteren blauen Handtuch. «Sonst noch etwas?»
«Etwas befindet sich in seinem rechten Handgelenk. Und …» Sie schloss die Augen, trat näher an das Bett heran und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. «Zera hab Erbarmen, warum muss er immer so dramatisch sein?»
«Es gibt keinen Grund, seinen gesamten emotionalen Zustand zu bewerten», sagte Ylfreda und klang dabei leicht genervt. «Seine körperlichen Probleme sind vorerst das, worum wir uns kümmern.»
«Das lässt sich schwer trennen, Freddie. Sein Knöchel ist verstaucht, und du solltest dir vielleicht noch einmal den gebrochenen Finger ansehen. Das ist alles, was ich unter», sie stöhnte, «all diesen anderen Problemen erkennen kann. Es wird einfacher sein, wenn er wieder wach ist und seinen Körper wieder selbst kontrollieren kann.»
«Wenn er wieder wach ist», begann Ylfreda und rollte dabei mit den Augen, «wird er uns wahrscheinlich selbst sagen können, wo er Schmerzen hat.»
«O ja!» Anaxia strahlte sie an. «Na, dann wäre das ja geklärt. Braucht ihr sonst noch Hilfe? Ich könnte ihn ein bisschen kitzeln, um zu sehen, ob er dann aufwacht?»
«Niemand kitzelt meine Patienten», fuhr Ylfreda sie an. «Sag Tared, dass wir fast fertig sind, ja?»
«So wütend», erwiderte Anaxia verträumt und hüpfte aus dem Zimmer mit einem letzten teuflisch breiten Grinsen auf den Lippen.
Ich merkte, dass ich mich immer noch wie eine Verrückte an meine Armlehnen klammerte, und zog verlegen meine Finger von dem gepolsterten Holz. Zera, steh mir bei. Diese dämonischen Kräfte … Ich hatte zwischen den Gefahren – und Rettungsmissionen – der letzten Nacht noch nicht darüber nachdenken können, wie nervenaufreibend es für jemanden sein musste, wenn er jedes meiner Gefühle wahrnehmen konnte – aber sobald Creon wieder wach war, würden wir uns darüber unterhalten müssen.
Wahrscheinlich mehr als nur einmal.
Einen Moment später erschienen Tared und Lyn – er ohne Schwert, sie mit einem Becher in ihren kleinen Händen, der so groß war wie ihr Kopf. Dass mich beide gleichzeitig ansahen, verriet mir, dass sie über mich gesprochen hatten, aber ich war zu müde und zu dankbar für ein paar bekannte Gesichter, um darauf einzugehen.
«Fast fertig», sagte Ylfreda, ohne aufzublicken. «Cale hat den Großteil der Flügel bereits geheilt.»
Lyn murmelte einen Dank, während sie auf Zehenspitzen auf mich zukam, darauf bedacht, den heißen Tee nicht zu verschütten. Tared sagte nichts, aber er warf mir so etwas wie ein Lächeln zu, was unter den gegebenen Umständen schon ein großer Erfolg war.
«Alles in Ordnung?», fragte ich und wollte dabei nicht bloß höflich sein.
«Soweit es in Ordnung sein kann.» Mit einem dumpfen Stöhnen ließ er sich in den Sessel neben mir sinken, während Lyn mir die Teetasse reichte, sich auf den Boden fallen ließ und die Beine unter sich schlug. Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: «Naxia hat mir gerade gesagt, dass ich mir wegen Creon keine Sorgen machen soll. Keine Ahnung, warum sie denkt, dass ich mir besonders Sorgen mache, aber falls es dich beruhigt …»
«Oh.» Ich versuchte, erleichtert zu klingen, aber irgendetwas an Anaxia bereitete mir noch immer Unbehagen. «Darf ich dich fragen, was genau sie ist?»
«Halb Dämon, halb Nymphe.» Er hob die Augenbraue angesichts meines Gesichtsausdrucks. «Ich dachte, Creon hätte dir von ihr erzählt.»
«Den Nymphenteil hat er nicht erwähnt», sagte ich schwach. «Das erklärt einiges. Sind hier alle Halb-Irgendwas, oder hat es nur den Anschein?»
«Es ist eher so, dass die meisten der Halb-Irgendwas hier landen», sagte Lyn und strich sich das Haar aus dem Gesicht. «Die Ganz-Irgendwas machen immer viel Aufhebens um sie. Hier unten sind selbst die Vollblüter im Allgemeinen die Ausnahme, also …»
«Das habe ich gehört», sagte Ylfreda laut von der anderen Seite des Zimmers aus und klang zum ersten Mal etwas amüsiert. Sie packte ihre Sachen wieder ein und ließ eine Handvoll Gläser und Flaschen auf dem Nachttisch zurück. Neben ihr hatte Cale bereits seine eigenen Beutel wieder über die Schultern geschlungen.
Lyn drehte sich mit einem freudlosen Kichern zum Bett um. «Fertig?»
«Er sollte stabil sein. Ich gehe davon aus, dass er in spätestens ein paar Tagen wieder aufwacht.» Sie nickte Cale zu, der nur kurz grummelte und dann eilig hinausging, als könne er es kaum erwarten, sich die Hände, mit denen er Creon berührt hatte, zu waschen. Ylfreda setzte sich an das Fußende des Bettes, seufzte und fügte hinzu: «Sollte ich annehmen, dass ihr einen Plan habt, wie ihr mit diesem ganzen Wahnsinn fertigwerden wollt, oder wäre das zu optimistisch?»
«Hast du mich jemals Pläne machen sehen?», erwiderte Tared trocken.
«Eine Albin kann hoffen, Thorgedson.» Sie lächelte säuerlich und rieb sich mit ihren von Kräutern verfärbten Händen über das Gesicht. «Weiß der Rest des Rates über all das Bescheid?»
Die drückende Stille, die eintrat, war Antwort genug. Ylfreda schloss die Augen und fluchte murmelnd in einer Sprache, die ich nicht kannte – und erst dann drang die volle Bedeutung dieses Satzes zu meinen müden Gedanken durch.
Ich blinzelte. «Hast du gesagt, der Rest des Rates?»
Wieder folgte eine plötzliche Stille. Tared sah aus wie ein Mann, der gezwungen war, einen Mord zu gestehen. Lyn dagegen wie ein Kind, das mit den Händen in der Keksdose erwischt wurde.
«Oh», machte Ylfreda und warf ihnen leicht belustigte Blicke zu. «Dann kann ich also annehmen, dass die beiden dir diesen Teil verschwiegen haben.»
«Welchen Teil?»
«Dass sie den Großteil der Allianz verwalten.» Sie deutete mit einem Nicken auf Tared, der sie böse anstarrte, als hätte er jetzt nichts mehr dagegen, diesen Mord zu begehen. «Zumindest machen die Alben die Hälfte des Rates aus, und mein lieber Cousin hier gilt allgemein als Anführerin der …»
«Ich bin kein Anführer», unterbrach Tared sie etwas zu laut. «Sie neigen dazu, auf meine Vorschläge zu hören, aber das liegt hauptsächlich daran, dass ich normalerweise nicht vorschlage, Fae-Henker im Untergrund zu verstecken. Also …»
«Im was?», fragte ich.
«Im … oh. Im Untergrund.» Er deutete mit der Hand auf das Zimmer. «Willkommen unter der Erde und so weiter. Hör zu, Freda, nicht einmal ich bin wütend genug, um einfach draufloszustürmen und dem Rest des Rates das alles hier um die Ohren zu hauen und zu hoffen, dass sie einfach zustimmen, weil sie zu überrumpelt sind, um zu widersprechen. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht einmal sicher, wozu sie überhaupt zustimmen sollen.»
Sie presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und warf mir den typisch prüfenden Blick einer Heilerin zu. «Vielleicht sollten wir das besprechen, während das Mädchen schläft.»
«Ich muss nicht schlafen», platzte ich heraus, obwohl sich der Raum am Rand meines Sichtfeldes bereits zu drehen begann und jedes Wort, das gesagt wurde, erst mit einiger Verzögerung in meinem erschöpften Gehirn ankam. Aber wenn Tared immer noch zweifelte – wenn auch nur einer noch zweifelte –, konnte ich es mir nicht leisten, stundenlang nichts mitzubekommen. «Wenn ihr eine Entscheidung treffen wollt, kann ich …»
«Ylfreda hat recht», unterbrach Lyn mich und schob sich eine weitere widerspenstige Locke aus dem Gesicht. «Wir können noch ein paar Stunden stillschweigen darüber bewahren. Das sollte reichen, damit du ein wenig Schlaf nachholen und dich auf die Sitzung des Rates vorbereiten kannst, während wir überlegen, wie wir weiter verfahren wollen.»
«Aber …» Ich zögerte und versuchte mit aller Kraft, nicht zu Tared hinüberzuschauen. Aber was, wenn er in einer Stunde beschloss, dass er Creon doch nicht hierhaben wollte? Was wäre, wenn die ehrenhaften Alben, von denen Lyn gesprochen hatte, nicht auf die Entscheidung des Rates warten und schon hier auftauchen würden, um ihn zu töten?
«Denkst du wirklich, dass das … sicher ist?»
«Es ist alles in Ordnung, Emelin.» Lyns Blick war ein wenig zu vielsagend. Ich weiß, was du denkst, sagte dieser, aber hast du vergessen, dass ich auch versuche, ihm zu helfen? «Ylfreda kann bei ihm bleiben, während du schläfst. Die nächsten paar Stunden ist er in Sicherheit.»
Ich schluckte und sah wieder hinüber zu Creon. Jetzt, wo er versorgt und sauber war, wirkte er zumindest nicht mehr wie der Tod in Person – aber wenn ich mir vorstellte, sein Zimmer zu verlassen und ihn schon wieder im Stich zu lassen, hätte ich die anderen am liebsten angebrüllt.
«Ich bleibe hier.»
Lyn blinzelte. «Emelin …»
«Ich schlafe einfach in einem der Sessel.» Mir fiel auf, dass die alte Emelin bei diesem ersten Anflug von Missbilligung vielleicht nachgegeben hätte. Aber Creon hatte mir gesagt, ich solle mehr wollen, und wenn es eine Sache gab, die ich jetzt wollte, nur eine Sache, die ich brauchte, dann waren es ein paar wenige ruhige Minuten mit ihm, in denen niemand versuchte, uns umzubringen. «Oder auf dem Boden. Mir egal. Solange wir nicht ausschließen können, dass ihm Gefahr droht, lasse ich ihn nicht allein.»
«Ich bin nicht bekannt dafür, dass ich meinen Patienten einen Dolch ins Herz jage, wenn gerade niemand hinsieht, Mädchen», sagte Ylfreda knapp. «Und wenn eine Horde Alben verrückt genug wäre, den Hausfrieden zu verletzen und hier einzubrechen, bezweifle ich, dass eine kleine Halb-Fae in der Lage wäre, sie aufzuhalten.»
Ich ballte die Fäuste. «Sie können es gerne versuchen, aber dann brauchen sie viel Glück.»
«Bei den Göttern.» Sie erhob sich vom Bett und warf Tared dabei einen müden Blick zu. «Dann überlasse ich das hier dir. Lass es mich wissen, falls du sonst noch etwas von mir brauchst.»
Bevor jemand etwas einwenden konnte, war sie auch schon verschwunden. Tared sah mich kurz an, murmelte etwas von Sturheit, und dass er mit seiner Zeit besseres anstellen konnte als das hier, und stand mit einem leicht übertriebenen Stöhnen von seinem Sessel auf.
Lyn wirkte, als wollte sie noch einmal versuchen, mich zu überreden, woanders zu schlafen, aber irgendetwas an dem Blick, den die beiden tauschten, brachte sie dazu, es sich doch noch einmal anders zu überlegen. «Brauchst du sonst noch etwas, Emelin?», fragte sie stattdessen.
Meinem erschöpften Körper fiel selbst das Schulterzucken schwer. «Im Moment würde ich sogar auf einem Holzbrett einschlafen. Es wird schon gehen.»
Sie wirkte nicht überzeugt, nickte jedoch. «Wir holen dich dann in ein paar Stunden ab. Mit Frühstück. Wenn du etwas brauchst, dann …»
«Lyn.»
«Schon gut, schon gut.» Sie sah mich entschuldigend an, sprang auf und packte Tareds Handgelenk. «Schlaf gut.»
«Bis später. Oh, und bitte klopft an, wenn ihr zurückkommt. Ich will euch nicht aus Versehen umbringen.»
«Zu freundlich», erwiderte Tared trocken, und dann waren die beiden weg, und ich war ganz allein in einem ruhigen, dunklen Zimmer. Allein mit der Stille und den schimmernden Lichtern und …
Creon.
Creon.
Während ich aufstand und zum Bett torkelte, lag er einfach reglos da, rührte sich nicht einmal, als ich seinen Namen flüsterte. Sein zerschlagenes Gesicht in den rauen, abgewetzten Kissen war mir seltsam fremd und vertraut zugleich. Vor dem blassen Bronzeton seiner Haut wirkten seine mit Tinte gezeichneten Narben noch dunkler. Seine vollen Lippen, die Lippen, die mich im Labyrinth mit so ungezügeltem Verlangen geküsst hatten, waren blutleer und grau. Hier in der höhlenartigen Gemütlichkeit des Untergrunds sah er aus, als wäre er aus einem schlimmen Albtraum gerissen und grausam in die Enge der Realität zurückgezerrt worden – eine überwältigende, unbekannte Realität, die ich noch nicht vollständig verstand.
Ich strich mit meinen Fingerspitzen über seine Wange, die harte Linie seines Kiefers entlang. Verdammt, ich verstand ihn noch nicht einmal vollständig.
«Wer bist du wirklich?», flüsterte ich.
Ich kannte die Antworten – kannte viel zu viele Antworten. Creon Hytherion. Dämon und Fae-Prinz. Liebhaber und Lügner. Albtraum und Retter. Mein und doch … ein Rätsel.
Es hatte Wochen gedauert, bis ich die Wahrheit über seine magischen Kräfte herausgefunden hatte, und nicht, weil er sich plötzlich entschlossen hatte, mir von sich aus davon zu erzählen. Aus guten Gründen, oder zumindest aus nachvollziehbaren Gründen … Aber wie viele andere Geheimnisse verbargen sich noch hinter diesem unglaublich schönen Gesicht, von denen er mir noch nicht erzählt hatte?
Das war keine Frage, die ich jetzt beantworten musste. Ich zog meine Hand zurück, unterdrückte ein Fluchen und schob meine nutzlose Grübelei in die Ecke meines Gehirns, in der ich alle Dinge lagerte, um die ich mir später Sorgen machen konnte. Sobald er aufgewacht war, konnten wir reden. Sobald wir miteinander gesprochen hatten, konnte ich herausfinden, was genau wir füreinander waren, und dabei nur hoffen, dass die Antwort nicht «Verbündete aus Notwendigkeit» lautete.
Heute musste ich nur dafür sorgen, dass wir beide am Leben blieben.
Ich wandte mich von Creon ab, sah mich kurz im Raum um und fand in dem unteren Regal der massiven Holzgarderobe eine weitere Decke. Sie war ein wenig staubig, würde aber reichen. Es war einfacher, ihm die überzulegen, als die Wolldecken unter seinem Körper wegzuziehen.
Ich deckte ihn vorsichtig zu. Dann, mit einem letzten Blick auf die Tür, schlüpfte ich aus meinem hellblauen Kleid, legte es in Reichweite, falls es einen Notfall gab und ich es schnell wieder anziehen musste, und krabbelte unter die Decke. Während ich mich zwischen seinen Arm und seinen Oberkörper kuschelte, achtete ich darauf, mich nicht versehentlich auf Creons Flügel zu legen.
Kopf an Schulter. Haut an Haut. Alle Gedanken verschwanden aus meinem Kopf, während ich meinen Arm über ihn legte und meine Glieder sich an die vertraute Festigkeit seines Körpers schmiegten. Mein Gehirn kam stotternd zum Stehen und schaltete dann vollständig ab; Muskeln, die seit Sonnenuntergang angespannt gewesen waren, entspannten sich plötzlich. Hätte meine Haut mich nicht zusammengehalten, wäre ich vielleicht zu einer Pfütze aus Erleichterung und Erschöpfung an seiner Seite geschmolzen und in seinem vertrauten Duft von Sonne und Herbstsüße ertrunken.
Endlich in Sicherheit.
Und plötzlich schien das alles überhaupt nicht mehr so kompliziert zu sein.
Ich würde schlafen. Ich würde ausgeruht und bereit aufwachen oder zumindest nicht mehr kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Und dann würde ich herausfinden, was dieser mysteriöse Untergrund war, würde dem Rat alle Antworten geben, die sie brauchten, damit sie Creon beschützten, und mich auf das nächste Mal vorbereiten, wenn ich der Fae-Königin in die Augen schauen würde.
Das würde doch sogar ein Kind hinbekommen, oder nicht?
Der Schlaf überwältigte mich in Sekundenschnelle, schwer und doch weich wie Daunen, und ich glitt in eine dunkle und traumlose Welt, in der mir nicht einmal Lügen und gebrochene Herzen folgen konnten.
Streitende Stimmen weckten mich.
Sie tauchten ganz plötzlich vor meiner Tür auf – mindestens drei von ihnen, die in einer Sprache miteinander diskutierten, die ich nicht erkannte, geschweige denn verstand. Hastig setzte ich mich im Bett auf, die Decken verhedderten sich um meine Hüften und Beine, und brauchte einen Moment, um mich daran zu erinnern, wo ich war.
Untergrund.
Creon.
Rat.
Fluchend rollte ich mich aus Creons Armen, schnappte mir mein Kleid vom Boden und streifte es mir über. Im selben Moment klopfte jemand gegen die Tür, und es klang wie das hohle Dröhnen von Trommeln, die eine Hinrichtung ankündigen.
«Emelin?»
Tared. Er hatte sein Versprechen gehalten.
«Einen Moment!», rief ich und fuhr mir mit den Fingern durch meine verknoteten braunen Haare, um wenigstens ein wenig präsentabel auszusehen. Hatte ich alle meine Spuren verwischt? Creons Decke – ich schob sie hastig enger an seinen Körper, damit niemand sah, dass ich bis eben noch neben ihm gelegen hatte. Das musste reichen. Wenn es auch nur halbwegs überzeugend aussah, würden sie wahrscheinlich nicht davon ausgehen, dass ich die letzten Stunden in den Armen des Silent Deaths verbracht hatte.
Schließlich war ich seine arme kleine Gefangene, die unschuldige kleine Halb-Fae, die er entführt, für seine eigenen Zwecke benutzt und möglicherweise der verräterischen Dämonenmagie ausgesetzt hatte. Sie dürften niemals auch nur ahnen, dass ich ihn mochte, geschweige denn sogar begehrte.
Mit einem leisen Schnauben trat ich vom Bett zurück und streckte mich, um die Steifheit aus meinen Gliedern zu vertreiben. Auf der anderen Seite der Tür setzten Lyn und eine unbekannte männliche Stimme ihren Streit fort, wurden aber manchmal von Tared unterbrochen.
Meinetwegen. Wenn sie ohnehin miteinander beschäftigt waren …
Ich wandte mich wieder Creon zu. Vielleicht lag es an den paar Stunden Ruhe, vielleicht an meinem endlich wieder klareren Verstand, aber er sah unendlich viel besser aus als vor meinem Nickerchen – seine Haut hatte ihren üblichen Ton von tiefer Bronze angenommen, und sein Atem ging regelmäßig. Als würde er nur schlafen und sich nicht von einer Nacht der Folter erholen. Als könnte er jeden Moment aufwachen.
Ich beugte mich über das Bett und strich mit einem Fingerknöchel über seinen Kiefer, seinen scharf geschnittenen Wangenknochen, seine Schläfe. Bildete ich mir nur ein, dass ein Zittern durch seinen Körper ging, oder war es wirklich ein Lebenszeichen?
«Ich bin bald zurück», flüsterte ich. «Nur eine kurze Versammlung. Ich muss ein bisschen diplomatisch sein. Mit anderen Worten, das kann auf keinen Fall schiefgehen.»
Selbst jetzt erwartete ein Teil von mir, dass er schmunzeln und mir dieses vorsichtige Lächeln schenken würde, als würden wir ein Geheimnis miteinander teilen. Aber er reagierte nicht, und mir wurde ganz flau im Magen.
Ich drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Stirn, legte ihm die Decke noch etwas fester um die Schultern und wiederholte: «Ich bin bald zurück.»
Trotz des beklemmenden Gefühls im Bauch ging ich los. In dem Wissen, dass ich ihn nur zurückließ, um für seine Sicherheit sorgen zu können.
Die Stimmen im Flur verstummten sofort, als ich die Tür aufstieß.
Es waren tatsächlich drei Personen. Tared lehnte, gekleidet in sein sauberes, moosgrünes Hemd, an der Tür, sein Schwert trug er aber wieder auf dem Rücken – als ob er selbst an diesem unterirdischen Ort sichergehen wollte, dass ihm nicht irgendwelche Fae auflauerten. Hinter ihm schritt Lyn den gewundenen Flur auf und ab, eine flammende Gestalt aus wilden roten Locken und leuchtend gelbem Leinen. Sie hatte ihren Blick, in dem reine Mordlust loderte, auf das dritte Mitglied der Gruppe gerichtet.
Das Objekt ihres Zorns ähnelte Tared zu sehr, als dass sie nicht verwandt sein könnten. Die gleichen grauen Augen, die gleichen feinen Gesichtszüge, ein ähnliches Schwert auf dem Rücken. Aber mit seinem langen blonden Haar und seinem verwitterten Ledermantel wirkte dieser andere Mann wilder. Vielleicht lag es an dem Ausdruck auf seinem fein geschnittenen, gut aussehenden Gesicht und dem finsteren Blick, der aussah, als ob sich seine Laune erst heben würde, wenn er vor dem Frühstück ein paar Fae abschlachten könnte.
Kaum dass ich die Tür geöffnet hatte, drehte er sich ruckartig zu mir um und warf mir einen Blick aus stahlgrauen Augen zu, der mir sagte, dass ich auf der Liste, der Fae, die er abschlachten wollte, ganz oben stand.
«Da ist sie also.» Keine Begrüßung. Keine Vorstellung. Er sprach einen Dialekt, der der Sprache in Cathra ziemlich ähnlich war, allerdings mit einem starken Akzent aus dem Norden. «Du bist also diejenige, die unser verräterisches Prinzchen zurückgebracht hat?»
Er hatte Glück, dass Lyn mir gesagt hatte, ich solle diplomatisch sein. Hätte sie das nicht getan, hätte ich ihm vielleicht seine hübsche Nase von seinem hübschen Gesicht gesprengt.
«Freut mich auch, dich kennenzulernen», antwortete ich und funkelte ihn böse an. «Mein Name ist Emelin, falls dir ‹diejenige, die unser Prinzchen zurückgebracht hat› zu lang ist. Und wie lautet deiner?»
Er grinste mich schief an. Es war kein sehr freundliches Grinsen. «Bist auch noch stolz drauf, was?»
«Edored», sagte Tared scharf. «Hör auf damit. Emelin ist nicht diejenige, die die Entscheidungen getroffen hat oder hierher geschwunden ist – also könntest du uns vielleicht einmal das außerordentliche Vergnügen bereiten, dich zivilisiert zu verhalten?»
«Das Problem beim zivilisierten Verhalten ist», brummte Lyn, bevor der andere Alb antworten konnte, «dass er dafür zumindest ein Minimum an Zivilisiertheit besitzen müsste.»
Edored schnaubte. «Ich bin der verdammte Gipfel an Zivilisiertheit, meine liebe Lyn. Zumindest bin ich nicht derjenige, der regelmäßig Kinder auf Scheiterhaufen verbrennt, im Gegensatz zu deinem geliebten Verräter mit seinen rührseligen Geschichten und seinem hübschen …»
«Edored», fauchte Tared.
«Was?» Die Stimme des Alb wurde wieder lauter. «Nur weil du nicht sehen willst …»
Tared murmelte einen Fluch und packte mich an der Schulter, zog mich in einen weiteren Strudel aus Trommeln und verschiedenen Farben von Ruß. Diesmal hatte er mich nicht besonders weit weggebracht; um uns herum nahm ein weiterer Raum feste Gestalt an, bevor ich überhaupt dazu kam, mir darüber Gedanken zu machen, wohin zur Hölle er mich brachte.
Dieser neue Raum war größer und weitaus unordentlicher als das Schlafzimmer, das ich gerade verlassen hatte. Teppiche in Walnussbraun und Tannengrün bedeckten die Wände und verliehen dem Leuchten der Miniatursonnen, die unter der gewölbten Decke schwebten, einen wärmeren Schein. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, an dessen Seiten sich mit Kissen bedeckte Bänke befanden. Mein Blick glitt über ein halb fertiges Strickprojekt, ein Kartenspiel und einen kleinen Stapel ledergebundener Bücher – Spuren eines alltäglichen Lebens.
«Ich muss mich für den Gipfel der Zivilisiertheit entschuldigen», sagte Tared und klang dabei leicht erschöpft. Er nahm seine Hand von meiner Schulter und ging zum Tisch hinüber. «Mein Cousin. Er ist manchmal etwas schwierig. Ich fürchte, uns bleibt nicht viel Zeit, aber möchtest du etwas essen?»
Erst da bemerkte ich das Brot und die Marmelade am anderen Ende des Tisches. Ich war nicht besonders hungrig, aber als ich kurz darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich seit mindestens vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Sich mit leerem Magen mit einer Horde tollwütiger Alben anzulegen, war wahrscheinlich nicht besonders clever.
«Ja, danke», brachte ich mühsam hervor. «Und was meinst du mit nicht viel Zeit?»
«Na ja.» Er machte eine kurze Pause, während er schnell zwei Scheiben Brot schnitt. «Wir hatten vor, den Rat einige Stunden nach deinem Aufwachen in aller Ruhe über alles zu informieren, aber Cale hat seiner Schwester die Neuigkeiten bereits erzählt, und seine Schwester ist anscheinend eine alte … Freundin … von Edored. Dessen Sinn für Diskretion nicht unbedingt zu seinen Stärken zählt.»
Irgendwo hinter uns schlug eine Tür zu, was selbst durch die massiven Steinmauern zu hören war; eine Stimme, die verdächtig nach Edored klang, rief etwas und verstummte dann abrupt.
«Ah», machte ich und verzog das Gesicht.
«Der Rest des Rates hat vor einer Viertelstunde herausgefunden, dass Creon hier ist, und ist stinksauer, weil wir sie nicht sofort informiert haben. Wir treffen uns in fünf Minuten oder so.» Er zuckte mit den Schultern. «Käse? Marmelade?»
«Marmelade bitte», sagte ich und ließ mich auf eine der langen Bänke fallen, während er einen Klecks leuchtend orangefarbener Marmelade auf mein Brot schmierte. In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. «Und was soll ich jetzt tun?»
Tared legte das Brot auf eine Leinenserviette, schob sie mir zu und setzte sich dann auf die Bank mir gegenüber. «Nicht besonders viel. Wenn wir mehr Zeit hätten, um eine Strategie besprechen zu können, würde ich dich wahrscheinlich bitten, bei dieser Versammlung ein paar Punkte vorzubringen, aber so wie es aussieht … lass einfach Lyn und mich reden. Wir kennen die Leute am besten.»
«Willst du damit sagen, dass ich dir Creons Leben anvertrauen muss?»
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. «Vergiss nicht, zu essen.»
Ich stöhnte, nahm einen Bissen von meinem Brot und würgte ihn herunter.
Tared starrte einen Moment lang schweigend auf die Tischplatte, bevor er seufzte und mir wieder in die Augen sah. «Ich will nicht leugnen, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn ich sein Gesicht nie wieder hätte sehen müssen. Aber wenn es stimmt, dass er die ganze Zeit auf unserer Seite war, brauchen wir ihn zu sehr, als dass ich mich wegen unserer persönlichen Streitigkeiten querstellen sollte. Während du geschlafen hast, habe ich mit Lyn gesprochen. Es sollte …», er dachte zu lang darüber nach, was er als Nächstes sagen solle, «… machbar sein. Wenn also der Rest des Untergrunds seine Anwesenheit hier akzeptieren kann, werde auch ich keinen Ärger machen.»
Das war nicht unbedingt beruhigend – aber andererseits war er wenigstens ehrlich. Ich biss etwas zu heftig ein zweites Mal von meinem Brot ab, schluckte den Bissen hinunter und sagte: «Also, was genau sind diese persönlichen Streitigkeiten, die du –»
Die Tür hinter mir wurde aufgerissen. Gerade noch rechtzeitig wirbelte ich herum, um zu sehen, wie Lyn in den Raum gestapft kam. Sie sah aus wie ein kleiner Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Das Rot ihrer Haare schien noch heller zu leuchten als sonst, und kleine Flammen tanzten auf der Haut ihrer Hände und Unterarme, wie Feuer, das an einem Holzscheit leckt, und der kurz davor stand, in Flammen aufzugehen. Ich zuckte zusammen. Ein paar Wochen in Creons Gesellschaft hätten mich besser auf den Anblick von Leuten vorbereiten sollen, die wirkten, als könnten sie gerade jemanden umbringen. Aber irgendetwas an dieser kochenden Wut, die aussah, als könnte sie jeden Moment explodieren, wirkte sehr viel gefährlicher als seine kalte, berechnende Düsternis.
«Ist die Situation geklärt?», fragte Tared und klang dabei beeindruckend unbeeindruckt.
Sie knallte die Tür hinter sich zu und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, während die Flammen erloschen. «Du schuldest mir mehrere Wochen Wäschedienst, weil du mich mit deinem durchgeknallten Familienmitglied allein gelassen hast, Tared.»
Er kicherte. «Klingt fair. Wie bist du ihn losgeworden?»
«Ich habe die Nenya-Karte gezogen», brummte Lyn, kletterte neben mich auf die Bank und knallte ihre Ellbogen mit bemerkenswerter Kraft auf den Tisch. «Ich habe mir irgendeine sinnlose Nachricht ausgedacht, die sie bekommen sollte. Wie sich herausstellte, lässt er keine Gelegenheit aus, um ihr auf die Nerven zu gehen, selbst wenn er gerade die Chance hat, einen Fae zu töten.»
Tared rollte mit den Augen. «Gut zu wissen.»
«Durchaus.» Sie stöhnte erneut. «Wie auch immer. Hast du gut geschlafen, Emelin?»
«War okay», sagte ich vorsichtig und fragte mich, wie gut ich geschlafen haben sollte, wenn ich angeblich das Nickerchen auf dem Sessel verbracht hatte. Um unnötige Lügen zu vermeiden, fügte ich schnell hinzu: «Wer ist Nenya?»
«Eine der Vampirvertreterinnen im Rat», antwortete Tared und grinste, als er den Ausdruck auf meinem Gesicht sah. «Keine Sorge. Sie beißt nur, wenn man es ihr erlaubt.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Erlaubnis von dem Kerl hatte, dessen Kopf sie abgenagt hat», murmelte Lyn, und Tareds Grinsen wurde breiter.
«Allerdings war er ein echter Bastard.»
Ich schluckte meinen Bissen mit einem viel zu lauten Schlucken herunter und fragte mich, ob ein durchschnittlicher Vampir Creon für einen Bastard halten und an ihm herumkauen würde. Auch ohne Erlaubnis. Mir war klar, dass das gerade kein besonders aufmunternder Gedanke war. Ich sollte mich besser darauf konzentrieren, ihre Meinung über ihn zu ändern. Aber es war schwer, dieses Bild aus meinem Kopf zu verbannen, nachdem ich Lyns Worte gehört hatte. Vor meinem inneren Auge beugte sich eine blasse, grausige Kreatur über ihn, fletschte die mit Blut verschmierten Reißzähne, um …
«Emelin?»
Lyns Stimme ließ mich zusammenzucken, und ich merkte, dass ich mitten im Kauen erstarrt war. Ich stopfte mir den Rest meines Brotes in den Mund, murmelte eine Entschuldigung und fragte: «Gibt es etwas, das ich absolut nicht tun sollte, wenn ich meinen eigenen Hals retten will?»
«Töte keine Alben», sagte Tared fröhlich, was mich ein wenig besänftigte, denn es bedeutete, er hielt mich zumindest für fähig, das zu tun. «Und nenn niemanden einen Lügner. Das nehmen wir nicht besonders gut auf. Und bezeichne auf keinen Fall jemanden als unehrenhaft – das nehmen wir noch weniger gut auf. Aber jemanden zu einem Duell herauszufordern und ihm den Kopf wegzublasen, ist absolut ehrenhaft. Wenn es hart auf hart kommt, solltest du also am besten das tun.»
Lyn warf ihm eine Schachfigur ins Gesicht. «Bitte fordere niemanden zu einem Duell heraus.»
«Ich werde es versuchen», sagte ich, war aber noch nicht ganz beruhigt. «Was ist mit den anderen?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Mit den Nymphen sollte es keine Probleme geben. Wenn du jemals einen Fuß auf die Insel einer Nymphe setzt, fäll keine Bäume. Allerdings sollte das Risiko, dass das hier im Untergrund passiert, nicht besonders hoch sein. Die Vampire …»
«Bezeichne sie bloß nicht als hübsche Leichen», warf Tared ein und richtete seinen Blick gen Decke, wobei er aussah wie ein genervter Lehrer. «Frag sie nicht, ob sie in der Nähe etwas Totes riechen können, erkundige dich nicht nach ihrem Stuhlgang, nenne sie nicht ‹Blutegel›, auch nicht als niedlichen Spitznamen. Frage sie nicht, ob die Größe ihrer Zähne irgendetwas aussagt über die Größe ihres …»
Ich kicherte, obwohl sich mein Inneres vor Nervosität zu einem Knoten zusammenzog. «Warum habe ich das Gefühl, dass du aus eigener Erfahrung sprichst?»
Er schnitt eine Grimasse und stand von seiner Bank auf. «Ich habe jahrhundertelang mit Edored und Nenya zu tun gehabt. Wenn es dir gelingt, sie schlimmer zu beleidigen, als er es je getan hat, bin ich beeindruckt.» Tared sah Lyn an, die nickte. «Bereit für den Kampf?»
Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so wenig bereit für irgendetwas gewesen, und mein Verstand versuchte immer noch, sich die ganzen kleinen Hinweise zu merken, die mir dieses Gespräch gegeben hatte – die mir dabei helfen sollten, zu unterscheiden, was ich sagen sollte und was nicht. Aber wenn der Rat bereits verärgert war, weil wir ihn nicht sofort informiert hatten, wäre es wahrscheinlich keine besonders gute Idee, abzuwarten. Und wenn Edoreds Begrüßung ein erster Hinweis darauf war, wie sie Creons Anwesenheit aufnahmen, würde es mehr brauchen als nur ein freundliches Lächeln, und das Versprechen, dass ich wusste, was ich tat, um sie dazu zu überreden, ihn hierbleiben zu lassen.
«Ich bin bereit», sagte ich.
«Wunderbar.» Tared verschwand, glitt offenbar auf meine Seite des Tisches und tauchte plötzlich einen knappen halben Meter neben mir auf. Unwillkürlich schrie ich auf, und er lächelte mich leicht entschuldigend an, während er mir die Hand reichte. «Gehen wir.»
Ich ergriff sein Handgelenk, ohne mir einen Moment zum Nachdenken zu gönnen. Mit einer geübten Bewegung hob er Lyn von der Bank und zog uns beide in einen weiteren Sturm aus nichts.
Der Raum – nein, der Saal –, der um uns herum entstand, hatte absolut nichts mit dem zu tun, was ich mir vorgestellt hatte.
Ich hatte für den Sitz des Kerns des letzten Widerstandes gegen die Mutter eine gewisse Formalität erwartet, eine gewisse Größe. Etwas Marmor. Ein Dutzend Säulen oder so. Zumindest ein paar schwere Samtvorhänge und einige imposante Porträts, wie sie mein Vater malte. Aber der Ratssaal, in dem wir ankamen, sah genauso aus wie der Rest des Untergrunds: glatte schwarze Wände und nirgendwo auch nur der kleinste Schimmer Tageslicht …
Nur dass die Decke höher war.
Viel, viel höher.
Der Rest des Saals war vergessen, als ich meinen Blick auf den Hohlraum über uns richtete – Hunderte und Aberhunderte von Metern hoch, die Decke so weit von uns entfernt, dass ich sie in der Ferne nicht ausmachen konnte. Galerien und Balkone schmiegten sich an die dunklen Wände, einige mit Leuten darauf, die die Szene unter ihnen beobachteten. Auch kleine Sonnen schwebten um die Balkone herum, und Lichterketten und tanzende Flammen schienen ganz von selbst über den Stein zu kriechen, ohne Brennstoff oder Zünder, die sie am Brennen hielten. Sie hüllten die untere Hälfte des imposanten Raumes in verschiedene Weiß- und Goldtöne, ließen den oberen Teil jedoch im Dunkeln, sodass man nicht erkennen konnte, wie tief wir uns befanden.
«Ein ziemlich imposanter Anblick, nicht wahr?», fragte Lyn neben mir, und ich zwang mich, wieder nach unten zu schauen. Sie blickte immer noch hinauf, aber vielleicht hatte das mehr mit unserem Größenunterschied zu tun als mit der Leere, die sich über uns auftat.
«Was befindet sich über diesem Ort?», fragte ich schwach. «Das Meer? Eine Insel? Ein Berg?»
«Du hast ein Talent dafür, sofort die verbotensten Fragen zu stellen», antwortete sie, und als Tared kicherte, funkelte sie ihn streng an. «Wir werden es dir sagen, falls du es mal wissen musst. Fürs Erste …», sie zupfte an meinem Ärmel, «ist es Zeit, unsere Plätze einzunehmen.»
Plätze.
Richtig. Der Rat.
Ich folgte ihrem Blick zur anderen Seite des Saals, zu einem Versammlungsort, der bei Weitem nicht so groß und imposant war, wie ich erwartet hatte. Der Rat versammelte sich um einen breiten Kreis von etwa zwei Dutzend wild durcheinandergewürfelten Sitzen. Es gab alles, von steifen Holzstühlen bis hin zu vereinzelten Plüschsofas. Trotz der offensichtlichen Dringlichkeit der Sitzung war nur etwa ein Drittel der Plätze besetzt. Eine Handvoll Alben war dort, mit ihren Schwertern auf den Knien. Ebenso wie Anaxia, die in einem riesigen Schaukelstuhl hin und her wippte. Ein zierliches Mädchen mit grau-blauem Haar, kleinen schwarzen Hörnern und etwas auf dem Handrücken, das aussah wie silberne Fischschuppen. Ein verdächtig blasser, weißhaariger Mann in Weste und hohen Lederstiefeln, um dessen Schultern ein schwerer Samtumhang hing.
Kleidung aus Rhudak, flüsterte mir Miss Matilda hilfsbereit in meinem Kopf zu. Gerüchten zufolge lebten die Vampire noch immer im Norden der Insel, weit weg von den belebten Handelsstädten.
Ich versuchte, so blutleer wie möglich auszusehen.
Ein seltsames Gefühl von Déjà-vu überkam mich, als ich Lyn und Tared folgte und versuchte, die vielen Blicke, die mir auf Schritt und Tritt folgten, nicht zu bemerken – meine Erinnerung wanderte zu jener ersten Nacht im Knochensaal der Mutter zurück, als Creon mich als seine kleine menschliche Gefangene vor sie zerrte. Zugegeben, diese Gruppe war anders. Hier gab es keine Hemden und Kleider in allen Farben des Regenbogens, keine schimmernde, glitzernde Dekadenz, nur schwielige Hände, abgenutzte Waffen und alle Schattierungen von Grau, Schwarz und Grün. Aber die Blicke waren ähnlich, scharf und neugierig, sie warteten auf ein Spiel, das gespielt werden wollte.