Fair Finance - Karl Peter Sprinkart - E-Book

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Karl Peter Sprinkart

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Beschreibung

Mörderische Risiken, Zinsmanipulationen, Rekord-Boni und Bankrotterklärungen – die Exzesse des Kasino-Kapitalismus haben das Vertrauen der Menschen in die Finanzwelt zerstört. Wem kann man sein Erspartes noch anvertrauen, wer wirtschaftet verantwortungsbewusst? Karl Peter Sprinkart und Franz-Theo Gottwald stellen echte Alternativen für all diejenigen vor, die ihr Geld nachhaltig anlegen und zugleich Gutes bewirken wollen. Das Spektrum reicht von Mikrokrediten und Regionalwährungen über Banken, die nach ethischen Kriterien in gesellschaftliche Zukunftsprojekte investieren, bis hin zu innovativen Fonds, die neben wirtschaftlichen auch soziale Renditen erzielen. So wird Geld wieder das, was es sein soll: ein Mittel, um die Zukunft sinnvoll zu gestalten.

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2013 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagbild: shutterstock-images

Grafik: Thomas Mayer, www.eurorettung.org; Theiss Heidolph, München

eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7766-8166-6

www.herbig-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Tage des Zorns

1 Borderline – wie sich die Welt in der Krise verhält

Wahnsinn mit Methode

Verloren im Metaphernwald

Planet Finance – von Märkten und Monstern

Nachrichten aus dem Mikrokosmos des Kapitals

Paradoxien der Staatsschuldenkrise

Occupy Wall Street – die Wiedergewinnung des öffentlichen Raums

Der ent-täuschte Anleger

2 Die Zukunft des Kapitals – was auf dem Spiel steht

Der Blick auf das Ganze

Der Perspektivenwechsel

3 Wert(e)berichtigung – die Zeit ist reif für Fair Finance

Kritik der ökonomischen Vernunft

Die Wiederentdeckung der Moral

Kritik der Spielregeln – Auswege aus dem Kasino

Auf der Suche nach einer neuen großen Erzählung

Eigentum neu gedacht – die Ökonomie der Common Goods

Gemeinwohl als neues Zentrum wirtschaftlicher Aktivität

Talentismus als Schlüssel zum Erfolg

Das Konzept der doppelten Rendite

4 Das Kapital der Zukunft – fair, sozial, stabil

Financial Innovations 2.0

Die neue Investorenperspektive

Neue Währungen – global und regional

Microfinance – Kredit und Zinsen unter sozialer Zielstellung

Fair Banking mit neuen Banken

Rendite plus – von Unternehmensbeteiligungen bis Stiftungsgründungen

5 Unternimm was! – Schritt für Schritt zur konkreten Investition

Wie man ein faires Investment erkennt

Woran man sich finanziell beteiligen kann

Wo man selbst zum Macher wird

Nachwort

Dank

Empfehlenswerte Literatur

Lesetipps

Einleitung

Tage des Zorns

Zukunftsangst könnte einen befallen, wenn man miterlebt, wie Politiker mit immer neuen Milliardenbeträgen um sich werfen, um ein Finanzsystem stabil zu halten, das aufgrund eines Übermaßes an Spekulation zum systemischen Risiko für die Gesellschaft geworden ist. Wozu dieser Aufwand? Welche Zukunft hat ein solches System? Worin liegt überhaupt der Beitrag dieses Systems für unsere Zukunft? Wie sieht diese aus, wenn die Spirale von hilflosen Rettungsversuchen und immer neuer Finanzierungsbedarfe weiter wächst?

Wir sind inzwischen abgestumpft. Wut und Resignation machen sich breit. In dieser Situation von Fair Finance zu sprechen erscheint wie ein schlechter Witz. Schließlich erleben wir gerade die soziale Unausgewogenheit der Rettungsversuche, immer mehr Details kommen ans Licht, wie innerhalb dieses Systems betrogen wird, indem z. B. Schlüsselwerte wie Leitzinsen manipuliert werden oder mit Insiderinformationen wirtschaftliche Vorteile erzielt werden. Ja, wir erleben gerade, wie dieses System, nachdem es mit der Pleite von Lehman 2008 vor dem Zusammenbruch stand und mit dem Geld der Allgemeinheit gerettet werden musste, seine toxischen Spekulationen mit Macht auf neue Ziele ausrichtet und sich durch geschickte Lobbyarbeit jedem Versuch einer Regulation entzieht. Daran ist kaum etwas fair, darin steckt jenseits kurzfristiger Spekulationsgewinne keine Zukunft.

Der Eindruck, der uns von Seiten der politischen Führungsriegen vermittelt wird, ist, dass diese Unausgewogenheit alternativlos sei. Betrachtet man allerdings die politischen Rettungsbemühungen seit 2008 unter dem Blickwinkel ihres Erfolgs, so muss man feststellen, dass die Staatsverschuldung in allen Ländern erheblich zugenommen, die Lebensbedingungen insbesondere in den Krisenländern des europäischen Südens sich erheblich verschlechtert haben und die Bedrohung des Euro bzw. des europäischen Bankensystems nicht aus der Welt geschafft werden konnte. Kurz: Es ist keine Verbesserung, sondern eine sehr deutliche Verschlechterung gegenüber der Situation von 2008 eingetreten, was nicht unbedingt für die Qualität der eingeschlagenen Maßnahmen spricht und die Behauptung der Alternativlosigkeit erheblich infrage stellt.

In dieser Situation ultimativer Bedrohung von Fair Finance zu sprechen, klingt daher wie ein sentimentaler Traum. In der Tat wäre es schön, wenn es in der Welt der Finanzen fair zugehen würde, wenn der von diesem System versprochene Wohlstand trotz egoistischer Einzelner durch das Wirken einer »unsichtbaren Hand« auch uns alle erreichen würde, wenn unsere Wünsche nach finanzieller Zukunftssicherung, wie in den Werbeanzeigen von Finanzdienstleistern versprochen, auch durch eine gerechtes Geben und Nehmen erreicht werden könnten, wenn dabei durch globale Finanzmärkte auch ein substanzieller Beitrag zu Bewältigung der großen ökologischen und sozialen Zukunftsherausforderungen unserer Zeit geleistet würde.

Was wie ein Wunschtraum klingt, ist jedoch keineswegs so blutleer und versponnen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es spricht einiges dafür, dass aktuell rund um das Finanzthema ein weitreichender Kulturwandel in Gang gekommen ist. Seine ersten Anzeichen sind bereits sichtbar: Die Politik beginnt nach den Kosten des Finanzsystems für das gesellschaftliche Miteinander zu fragen, in der Finanzindustrie werden neue Impulse für eine veränderte Unternehmenskultur gesetzt, der einzelne Bürger macht sich Gedanken und fragt kritisch nach, wie er sein Erspartes sinnvoll und sozialverträglich anlegen kann. Kurz, ein Kulturwandel deutet sich an, der besagt: Alle müssen sich bewegen, alle müssen sich von überkommenen Vorstellungen verabschieden, alle müssen offen für Neues sein.

1 Borderline – wie sich die Welt in der Krise verhält

Vertrauen, so wird es in Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften immer wieder beschworen, bildet die zentrale Voraussetzung eines erfolgreich funktionierenden Finanzsystems. Vertrauen ist, so steht in den Lehrbüchern der Psychologie und Kommunikationswissenschaften, das Ergebnis gelingender Kommunikation. Diese beiden Verständnisse von Vertrauen sind nicht deckungsgleich; sie wieder in ein balanciertes Verhältnis zu bringen, bildet eine der großen Herausforderungen, vor denen eine demokratisch legitimierte Bewältigung der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise steht.

Befragt man Menschen heute danach, inwieweit sie nach den Erfahrungen der Finanzmarktkrise von 2008 und der nachfolgenden Staatsschuldenkrise Finanzmarktakteuren und politischen Führungseliten noch vertrauen, so lässt sich zweifelsfrei feststellen, dass das Vertrauen in diesen Bereich unserer gesellschaftlichen Lebenswelt so weit erodiert ist, dass das Handeln wirtschaftlicher und politischer Eliten unter einen Generalverdacht geraten ist. Waren vor der Krise von 2008 Banker, insbesondere Investmentbanker, smarte Leitbilder eines globalen Kapitalismus, so hat sich das Blatt in der Zwischenzeit komplett gewendet. Das Stereotyp verbindet Banker mit Gier und rücksichtslosem Egoismus, der Begriff »Bankster« ist zum Brandzeichen der Mitarbeiter einer ganzen Industrie geworden – ein Begriff, in dem sich der Bruch geteilter gesellschaftlicher Werte ebenso spiegelt wie der Wunsch nach Bestrafung. »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank«[1], hatte Bertolt Brecht einst in Zeiten der Weltwirtschaftskrise von 1929 flott gedichtet. Angesichts der im Zuge der Finanzkrise sichtbar gewordenen Praktiken und Exzesse gilt es in der öffentlichen Wahrnehmung als ausgemacht, dass es mit der jüngsten Geldschöpfung durch die Finanzindustrie nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.

Hinzu kommt: Was mit der Lehman-Pleite zugleich zerbrach, war die Selbstverständlichkeit, mit der wir den Finanzdienstleistern die finanzielle Seite unseres Lebens anvertrauen konnten. Wir leben in einer Welt, in der Geld, Kredit, Währungen, Aktien, Bausparverträge, Lebensversicherungen etc. zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Wir leben damit, ohne zu wissen, was es damit auf sich hat, und ohne zu realisieren, wie fragil dieses System eigentlich ist. Dies ist kaum anders als unser Umgang mit anderen technischen Systemen: Wir fahren Auto, besteigen Flugzeuge, zwängen uns in Nahverkehrszüge und leben im Alltag auf dünnem Eis. Was den Umgang mit Geld angeht: Dieser beschränkt sich meist auf die Regelung einfacher Transaktionen: Kontoauszüge drucken, abheben, einzahlen, überweisen. Finanzwirtschaftliches Kontextwissen wird kaum vermittelt. Und dort, wo es doch geschieht, wird ein von Harmlosigkeit geprägtes idealtypisches Standardmodell eines freundlichen Herrn Kaiser vorgestellt.

Ein wenig von der Fragilität dieses Systems war sichtbar geworden, als es 2001 um die Einführung der neuen europäischen Gemeinschaftswährung Euro ging, allerdings verschwand die Irritation vergleichsweise schnell. Was blieb, war das Bild einer wohlgeordneten, balancierten Finanzlandschaft. Dank liberaler gesetzlicher Rahmenvorgaben und elaborierter Modelle der Finanzindustrie, die das professionelle Management von Risiken erlauben, schien eine Welt garantierter Prosperität zumindest in westlichen Industrienationen denkbar.

Allerdings – was dann kam, war ein jähes Erwachen, ein Bruch des Vertrauens, der Blick in den Abgrund: Wo ist nun die von diesem System stets suggerierte Sicherheit geblieben? Die realen Ereignisse kennt inzwischen jedes Kind, jeder von uns kann die wichtigsten Stationen im Schlaf hersagen: im Oktober 2008 der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brother, in der Folge eine weltweite Finanzmarktkrise, die einer, der es wissen muss, Josef Ackermann, in einem jüngsten Rückblick als »drohende Kernschmelze des finanziellen Systems«[2] bezeichnet hat. Das globale Finanzsystem war nicht mehr in der Lage, sich selbst zu retten, es musste durch die Staatengemeinschaft gerettet werden, was einem Systembruch in der marktliberalen Rhetorik gleichkam, die bis dahin den Aufstieg der Finanzindustrie begleitet hatte. Die Krise war systemisch, der erste Krisengipfel von London schlug geeignete Maßnahmen vor, deren Umsetzung bis heute auf sich warten lässt. Ab 2009 dann entwickelte sich durch den Druck der eben erst geretteten Märkte eine Staatsschuldenkrise, verbunden mit einer Bankenkrise, gegen die es bis heute kein Rezept zu geben scheint.

Das Erwachen war jedenfalls unsanft, die Konfrontation mit der Realität brachte vieles ans Tageslicht, was wir lieber nicht gewusst hätten. Aus dem Traum von einst ist inzwischen ein nicht enden wollender Alptraum geworden. Wie in einem schlechten Zeichentrickfilm erweist sich keines der angewendeten Mittel als wirksam, die Bedrohung wechselt einfach die Gestalt und kehrt wieder ins Spiel zurück. Von Krisengipfel zu Krisengipfel ein immer neues Katz-und-Maus-Spiel zwischen Geretteten und ihren Rettern, bei der die Politik zu verängstigten Mäusen und die Finanzindustrie zu Big Fat Cats mutierte. Was bleibt, ist das Gefühl, dass mit gezinkten Karten gespielt wird, dass Information eher der Inszenierung und Desinformation dient, dass etwas nicht stimmt, auch wenn man es nicht wirklich fassen kann, und am Ende das Gefühl, im Bann einer übermächtigen und launischen Macht der Märkte zu stehen.

Im Zuge dieses Dramas ging vor allem eins verloren, der Common Sense, der gesunde Menschenverstand. Es ist bis heute nicht gelungen, erfolgreich zu vermitteln, warum es nötig war, Banken im Zuge der Lehman-Krise entgegen der Logik des Marktes zu retten. Man tat es wegen eines drohenden systemischen Risikos, vermied aber zugleich, jedwede Systemrisiken zu bearbeiten. Auch ist schleierhaft, warum es später, als aus der Finanzmarktkrise eine Staatsschuldenkrise geworden war, vernünftig sein sollte, Banken mit zinsgünstigem Zentralbankgeld auszustatten, um diese dann zum Gradmesser für die Zinsaufschläge europäischer Südstaaten zu machen. Vernunft bleibt dabei auf der Strecke. Es mangelt an nachvollziehbaren Argumenten für dieses Handeln und an den vorhergesagten Erfolgen dieser Maßnahmen. Und obendrein: Es mangelt an Gemeinsinn, d. h. der Bezogenheit der Maßnahmen aufs Ganze, an sozialer Ausgewogenheit der durchgesetzten Maßnahmen und an einer Konsequenz in der Durchsetzung neuer Spielregeln in diesem Spiel.

Wahnsinn mit Methode

Warum verstärkt sich dieser Eindruck der Hilflosigkeit des politischen Personals von Krisengipfel zu Krisengipfel, von Rettungsschirm zu Rettungsschirm? Zum einen ist es sicher die Fülle der roten Linien, die inzwischen trotz gegenteiliger Ankündigungen immer wieder überschritten wurden, d. h. die geringe Halbwertszeit der Botschaften. Dies mag den Notwendigkeiten des kommunikativen Überlebens, einer kommunikativen Physik der Macht im Zeitalter crossmedial vernetzter Medienplattformen geschuldet sein. Zum anderen aber ist es das Immergleich der Analysen, die behauptete Alternativlosigkeit des Handels, mit der trotz mangelnder Wirkung der vormals als Lösung gepriesenen Maßnahmen gleichartige Maßnahmen mit immer höher werdenden Einsätzen als neue Lösung angepriesen werden. Hier drängt sich der Eindruck von Wahnsinn auf, ein Eindruck, der in der Bevölkerung weit verbreitet ist, wenn sie zur Euro- und Bankenrettung befragt wird.

Um dies verständlich werden zu lassen, lohnt es sich, ein paar Grundsätze zu erläutern, mit denen die Kommunikationswissenschaften gelingende bzw. toxische Kommunikation beschreiben. Letztere erklärt das Entstehen von Verhalten an der Grenze der alltäglichen Normalität. Viele Kommunikationsmuster im Zuge der Krisenkommunikation zur Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise erinnern dabei fatal an ein Muster, das der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick in seinem bekannten Buch Anleitung zum Unglücklichsein eindrücklich beschrieben hat: More of the Same. In einer Geschichte beschreibt er dabei einen Mann, der alle zehn Sekunden in die Hände klatscht. Nach dem Grund für dieses merkwürdige Verhalten gefragt, erklärt er: »Um die Elefanten zu verscheuchen.« Auf den Hinweis, es gebe hier doch gar keine Elefanten, antwortet der Mann: »Na also! Sehen Sie?« – Kommt das nicht bekannt vor? Durch den konsequenten Versuch, ein Problem zu vermeiden – hier: die Konfrontation mit Elefanten – wird es in Wirklichkeit verewigt.

Wer bestimmt in einem solchen Fall, was verrückt ist und was als normal gelten kann? In der Regel besitzen Experten, also Menschen, denen spezifisches Wissen im jeweiligen Feld zugeschrieben werden kann, die Macht der Definition. Wer bestätigt das Wissen der Experten, wer entscheidet über den Expertenstatus der Experten und auf welcher Grundlage geschieht dies?

Fragt man vor diesem Hintergrund danach, wer in Sachen Eurorettung oder Bankenkrise die nötige Expertise und Definitionsmacht besitzt, so fällt der Blick zunächst auf die Zunft der Wirtschaftsexperten. Einer von ihnen, der bekannte Ökonom Hans-Werner Sinn, hat in seinem Buch Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist eine Ursachenanalyse für die Finanzmarktkrise angeboten, die vielleicht einen Ausweg bieten könnte.[3]

Der Ausgangspunkt seiner Analyse: Während die Bevölkerung und die Presse bei Gier und individuellem Fehlverhalten stehen bleiben, während Vertreter von Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen sich wertend in die Debatte einschalten, geht der Blick des Ökonomen tiefer: »Ökonomen sehen die Probleme demgegenüber weniger auf der Ebene individueller Verfehlungen als im Licht von Systemfehlern, die es zu beheben gilt. Wenn Tausende, ja Millionen von Menschen sich falsch verhalten und aus diesem kollektiven Fehlverhalten eine Krise entsteht, dann kann man mit Einzelbeispielen und noch so interessanten Storys über individuelles Fehlverhalten keinen Erkenntnisgewinn erzielen. In der Tat sind 25% Rendite-Ziel für eine Bank zu viel. Das Problem liegt aber in erster Linie nicht in der fehlenden Moral der Akteure, sondern in den falschen Anreizen, die das Rechtsinstrument der Haftungsbeschränkung in Verbindung mit einer allzu laschen Regulierung liefert. Weil es den Banken ermöglicht wird, ihr Geschäft mit einem Minimum an Eigenkapital zu betreiben, finden sie es attraktiv, mit dem Geld ihrer Kunden auf den Weltkapitalmärkten Roulette zu spielen.«[4]

Nicht die Ebene individuellen Verhaltens, sondern der Blick auf ein Regulierungssystem, das das Verhalten der Akteure an den Finanzmärkten steuert, steht im Zentrum der Betrachtung. Die Ökonomie behauptet damit für sich einen Gegenstandsbereich, der abgehoben von der alltäglichen Lebenswelt ist. Wie unzureichend diese Illusion einer aus dem sozialen und politischen, aus dem historischen und kulturellen Kontext losgelösten Verortung der Ökonomie ist, lässt sich am schlagendsten an folgender Ausführung illustrieren. »Dass Menschen gierig sind, ist bedauerlich, aber kaum zu ändern. Die Gier beschränkt sich nicht auf Bankvorstände und Manager. Auch dem Lottospieler und manchem Kleinanleger steht sie ins Gesicht geschrieben. Und natürlich muss derjenige bestraft werden, den die Gier gar zur Übertretung von Gesetzen treibt. (…) Nur trägt die Suche nach individueller Schuld weder zur Erklärung der Krise bei, noch hilft sie, neue Ordnungsregeln für das Finanzwesen zu definieren, die eine Wiederholung der Krise in der Zukunft unwahrscheinlicher machen.«[5]

Worin gründet das Menschenbild, woher stammt die Einschätzung, dass Menschen »gierig« sind, woher weiß man, dass dies eine anthropologische Grundkonstante des menschlichen Daseins darstellt, die nicht zu ändern ist? Wäre es nicht denkbar, dass die Ökonomie dabei einer Bilderwelt aufsitzt, wie sie die großen Gesellschaftsphilosophen Hume und Locke im 18. Jahrhundert aus den Zuständen ihrer Zeit heraus entwickelten? Damals galt es, einen als Kampf aller gegen alle gedachten Urzustand durch die Etablierung von Regelsystemen zu überwinden und damit die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu legen. Wäre es nicht denkbar, dass die Wirtschaftswissenschaften einer Bilderwelt aufsitzen, wie sie später dann die Darwin’sche Evolutionslehre mit ihrer Idee von Zufallsmutation und Konkurrenz der Mutationen in die Welt gesetzt hat? Dies geschah vor dem Hintergrund eines gerade eben entfalteten Industriekapitalismus.

Heutige Kulturwissenschaftler, Anthropologen, Historiker würden dem scheinbar naturgegebenen Bild vom gierigen Menschen aufs Heftigste widersprechen.[6] Für sie erklärt sich menschliches Erleben und Verhalten und damit auch Verhaltensweisen wie Kooperation oder Egoismus vielmehr aus deren Einbettung in einen historisch-kulturellen Systemzusammenhang gesellschaftlicher Kommunikation und sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Legt man diese Sicht zugrunde, wird deutlich, dass der Ökonom Sinn an dieser Stelle genau das tut, was er etwa Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen vorwirft, nämlich wertend einzugreifen. Das mag für den Alltagsmenschen Sinn legitim sein, das mag für den Stammtisch taugen, aber es reicht eben nicht dafür aus, um für die Ökonomie einen erhabenen, dem Alltagswissen an analytischer Kraft überlegenen Blick auf das Finanzmarktgeschehen zu begründen.

Und was die Bestrafung der Gesetzesübertretung angeht: Wie es scheint, kamen diese Gesetzesübertretungen gar nicht so selten vor. Es waren nicht nur Einzeltäter, die vom rechten Weg abgekommen sind, wie der Text dies nahelegt. Straftaten waren eher Teil des Systems, sie wurden auch – wie die jüngsten Enthüllungen zum Liborskandal zeigen – von den Aufsichtsinstanzen toleriert und ein Gutteil der Verletzung der gültigen Spielregeln ließ sich mit Strafzahlungen in Milliardenhöhe aus der Welt schaffen, ohne dass es zu einer echten Strafverfolgung kam. Vielleicht lohnt es sich ja an dieser Stelle doch, die Suche nach individueller Schuld ein wenig weiter zu treiben, um die Mechanismen im Detail zu verstehen und die korrumptiven Tendenzen des Systems zu identifizieren. Insbesondere gilt es, sich mit der Wertebasis von Unternehmenskultur in Finanzunternehmen zu beschäftigen und nicht gleich wieder auf die Systemebene zu springen und sich den staatlich zu organisierenden Ordnungsregeln zuzuwenden.

Bei dem eben vorgetragenen Einwand gegen das Menschenbild und das Systemmodell gängiger Ökonomie handelt es sich nicht nur um eine Frage von akademischem Interesse. Vielmehr sind es diese verborgenen Wertentscheidungen, die moralischen Prämissen, die es zu überprüfen gilt, bevor man sich einer Ursachenanalyse zuwenden kann. Und selbst dort, wo man sich einer Analyse von institutionellen Spielregeln zuwendet, wartet eine in der Ökonomie neue, zumeist weder ausgewiesene noch ernsthaft begründete Wertentscheidung. So fährt Sinn in seiner Argumentation fort: »(…) gegenüber dem wirtschaftlichen Chaos und der Gewaltherrschaft, die die sozialistischen Systeme mit sich brachten, ist selbst die Finanzkrise mit ihren Auswirkungen ein kleines Problem. Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zu Kasino-Kapitalismus mutiert und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer gefunden hat. Sie ist das Ergebnis der Unfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, ein einheitliches Regulierungssystem für Banken und andere Finanzmarktinstitute zu schaffen, die den Eigennutz der Akteure so kanalisiert, dass er sich segensreich und produktiv entfalten kann, wie man es von einer Marktwirtschaft erwartet.«[7]

Ist die Behauptung wirklich zu halten, dass die Finanzkrise mit ihren Auswirkungen ein kleines Problem ist? Das Buch ist 2009 erschienen, die prognostischen Fähigkeiten der Ökonomen sind erwiesenermaßen nicht die besten, aus der Perspektive von 2012 fällt diese Relativierung des Ausmaßes der Krise doch vergleichsweise schwer auf den Autor zurück. Mehr noch: Ist es wirklich wahr, dass es außer dem Zerrbild sozialistischer Zwangssysteme keine Alternative zu diesen aktuellen Boom- und Bust-Zyklen, zu dieser »schöpferischen Zerstörung« gibt, womit der deutsche Ökonom Schumpeter den Kapitalismus treffend bezeichnet hat? Wie häufig können wir uns diesen Wahnsinn noch leisten? Stimmt die nationalistische Tonlage, das nationalistische Stereotyp, dass es die bösen Angelsachsen sind, die die gute Marktwirtschaft auf eine falsche Umlaufbahn katapultiert haben? Kann man sich weiter auf das Modell des Wirtschaftstheoretikers Adam Smith verlassen, das im Eigennutz die Grundlage des Wohlstands aller sieht? Kann sich Eigennutz wirklich segensreich und produktiv entfalten und macht diese Entfaltung des Eigennutzes wirklich den Kern von Marktwirtschaft aus? Doch offenbar stellt kein Experte diese Fragen, weshalb es nicht verwundern mag, wenn die ökonomische Ursachenanalyse begrenzt bleibt, sich die aus ihr abgeleiteten Lösungsvorschläge im Kreise drehen und am Ende immer wieder ein »Mehr vom Gleichen« herauskommt.

Ist es denn wirklich so einfach: Kann man mit einigen veränderten Regularien, mit einigen veränderten Spielregeln nachhaltige Änderungen erreichen, wenn man gleichzeitig unterstellt, dass Menschen nun einmal gierig sind und daran nichts zu ändern sei? Wäre es bei dieser Unterstellung nicht naheliegender anzunehmen, dass es den cleveren Gierigen trotz gesetzlicher Vorschriften immer gelingen wird, Schlupflöcher zu finden, und muss man nicht feststellen, dass es, was die Strafverfolgung der Krisenverantwortlichen angeht, in der Regel bei einem Bußgeld in Millionenhöhe bleibt? Worin also begründet sich angesichts solcher Annahmen der vergleichsweise schwer nachvollziehbare Optimismus, dass neue Regeln für die Finanzmärkte neues Verhalten produzieren würden?

In Wahrheit ist das Problem deutlich breiter gelagert. Was wir brauchen, ist ein Kulturwandel, der in transparenter Weise über Werte spricht, der Einflussnetze outet und der Bewältigung der Finanzkrise eine politische Dimension gibt. Wir haben es hier mit einer Herausforderung zu tun, die in ihrer Dimension ernst zu nehmen ist. Sie betrifft wirklich alle Menschen und ihre Bewältigung kann nur durch den demokratischen Einbezug aller in einen gesellschaftlichen Dialog erreicht werden. Es geht um alles oder nichts und es geht, ähnlich dem Wiederaufbau eines Landes nach den Zerstörungen eines großen Kriegs, um die Wiedergewinnung von Gemeinsinn. Die Bedrohung von Demokratie als politische Ausdrucksform von Gemeinsinn ist durch den Druck der Märkte ganz real zu spüren. Nicht eine marktgerechte Demokratie, sondern die Entwicklung demokratiekonformer Märkte ist demgegenüber als Zielsetzung ins Auge zu fassen.

Was hier deutlich werden soll, ist, dass die Ökonomie ein Teil des Problems, nicht aber Lieferant der Lösung sein kann. Dass Ökonomie eine Wissenschaft in den Kinderschuhen mit einer Kakophonie widersprechender Meinungen ist, hat unlängst der Ökonomenstreit zur Ausgestaltung des Eurorettungsschirms gezeigt. Die von den Wirtschaftsexperten gescholtene Politik machte sich einen Spaß daraus, die Ökonomen an ihr Versagen bei der Vorhersage der Finanzkrise von 2008 und bei ihrem geringen Lösungsbeitrag zur Bewältigung der Krise zu erinnern.[8] Und um noch eins draufzusetzen: Waren es nicht nobelpreisgekrönte ökonomische Modelle, die das Werkzeug für das Hedging von Risiken lieferten oder die Einführung des Euro ausgehend von einer Theorie optimaler Währungsräume favorisierten und damit jene Probleme erst schufen, die aktuell die Schlagzeilen bestimmen?

Warum gibt es also den Irrsinn eines beständigen More of the Same? Warum also drehen sich die vermeintlichen Krisenbewältigungsmaßnahmen im Kreis? Weil die Analyse das Problem verkürzt, weil es die unabhängigen, sich selbst regulierenden Marktmechanismen ebenso wenig gibt wie die über die Alltagswelt erhöhten Standpunkte für Ökonomen.

Verloren im Metaphernwald

Auch wenn uns Ökonomen immer noch glauben machen wollen, dass wir als Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehens rational agieren, so braucht es nur einen kurzen Blick auf das Vokabular zur Erklärung der Finanzmarktkrise, um deutlich zu machen, dass dies ganz offensichtlich nicht zutrifft.

»Das Vertrauen der Märkte in den Euro schwindet« – Sätze wie dieser, zumeist vorgetragen mit dramatischem Unterton und begleitet von besorgter Trauermiene, beherrschen die Nachrichtenlandschaft und mediale Inszenierung der Finanzkrise seit ihrem Beginn. Wir haben in der Zwischenzeit vielerlei Variationen dieses Satzes erlebt: Mal ist es Griechenland, dem die Märkte ihr Vertrauen entziehen, mal Italien oder Spanien, mal die Eurozone als Ganzes. Mal sind es die mahnenden Stimmen einzelner, schwer einzuordnender Marktakteure, die das wachsende Misstrauen der Märkte telegen zum Ausdruck bringen, mal assistieren bei diesem angedrohten oder realen Vertrauensentzug – wie einst in der griechischen Tragödie der Chor – die unheilige Allianz der Rating-Agenturen.

Begleitet wird dieses Drama des Vertrauensentzugs auf Seiten der Politik mit hektischer Geschäftigkeit, die sich von Gipfel zu Gipfel steigert, und mit Beschlüssen, deren Ziel es ist, den Märkten das verlorene Vertrauen wiederzugeben, indem gezeigt wird, dass ihr früheres Vertrauen in die Wirtschafts- und Finanzkraft der Eurozone gerechtfertigt war. Wieder sind es Sätze wie »Diese Maßnahmen dienen dazu, das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen, und wir sind sicher, dass die Märkte positiv reagieren werden«, die Hoffnung machen sollen, welche sich aber – der Blick in den Rückspiegel zeigt es – bisher nie erfüllt hat.

Angesichts der inflationären Beschwörung des verlorenen oder wieder zu gewinnenden Vertrauens ist inzwischen bei uns allen ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten. Dieser macht gegenüber den gezeichneten Untergangsszenarien gleichgültig. Niemand fragt mehr nach dem Sinn dieses Satzbausteins mit seiner seltsamen Tiefengrammatik: »Das Vertrauen der Märkte«. Wer oder was ist mit diesem Genitiv gemeint? Kann ein Markt, ähnlich einem Menschen in der Beziehungsfalle, überhaupt Vertrauen haben? Hat er denn Gefühle?

Allerdings: Wenn Vertrauen tatsächlich die zentrale Währung im Spiel zwischen Gesellschaft und Finanzmärkte darstellen sollte, welche Art von Expertentum braucht es dann, um wirtschaftliches Geschehen angemessen zu verstehen. Sind die Wirtschaftswissenschaften, insbesondere in ihrer mathematischen Variante, in der Lage, wirtschaftliche Entscheidungssituationen auch anders als nur mit einem Gefangenendilemma zu beschreiben? Sind wir im Alltag wirklich Entscheider, wie Monaden durch Mauern voreinander getrennt, ohne Möglichkeit zum klärenden Dialog? Geht es immer nur darum, den eigenen Nutzen zu optimieren und geht dieser immer nur auf Kosten des Anderen? Sind die Differentialgleichungen der Wirtschaftswissenschaften so gesehen nicht mehr als magische Quadrate, d. h. nicht mehr als eine an Kabbala erinnernde Zahlensemantik, die, wenn es um seriöse Prognostik geht, lieber gleich den Gang zum Astrologen nahelegen?[9] Sind die unzähligen, im aktuellen Angebot der Finanzwirtschaft feilgebotenen Produktkonstrukte nicht mehr als eine auf Unübersichtlichkeit abzielende Scheinvielfalt, wie sie uns in der Kühltheke eines Supermarkts angesichts der zahlreichen Joghurtsorten vorgegaukelt wird?

In dieser Situation kommt es darauf an, mit welchen Bildern und Sprachkonstruktionen das Geschehen der Märkte beschrieben wird und welche Handlungsmöglichkeiten diese eröffnen. Betrachtet man die Metaphern, die bemüht werden, um die Ausmaße und Auswirkungen der Finanzkrise zu erfassen, so stößt man auf einen Mix von unterschiedlichen Bilderwelten: Dort, wo es um das Thema Finanzmarktkrise und soziale Gerechtigkeit geht, wird immer wieder ein Jargon gewählt, der die Welt ausstattet mit Zockern, Schurken, Paten, journalistischen Nutten, die geschmeidig machen, Kokain, das die Gier weiter anheizt, und zuletzt wehrlosen Kleinanlegern, die immer wieder aufs Neue betrogen und durch gekaufte Gerichte um ihr Recht gebracht werden; alternativ wird auch die Fachsprache der klinischen Psychologie herangezogen, um von Egoismen, Pathologien und Perversionen reden zu können, denn sie allein ist in der Lage, die Abartigkeit der Akteure an den Finanzmärkten, ihren inhumanen Charakter, zum Ausdruck zu bringen. Dort, wo es um die offensichtliche Unfähigkeit von Politik, den Finanzmärkten wirksam zu begegnen, geht, toben sich Verschwörungstheoretiker aus und dort, wo es um das große Ganze des gesellschaftlichen Miteinanders geht, kommt man ohne die Wortgewalt apokalyptischer Beschwörungen nicht aus.

Dies soll im Folgenden anhand einer Spiegel-Titelgeschichte zum Finanzmarktthema aufgezeigt werden.[10] Bereits bei der visuellen Gestaltung des Artikels in Form eines provokativen Aufmacherbilds wird geklotzt: Zu sehen ist ein an die New York Stock Exchange erinnerndes Gebäude mit der Bezeichnung »Global Stock Exchange«, davor als Marionettenfiguren an Fäden ein Politikerreigen von Angela Merkel bis Barack Obama. Kommentiert wird dieses Bild mit der eindrücklichen Formel »Geld regiert die Welt – und wer regiert das Geld? – Eine Expedition in die Machtzentren der Finanzmärkte«.

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: »Schlussverkauf – Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Märkte. Es verschlingt Milliarden, es kippt Regierungen, es erzeugt Gipfelzwist. Wie Finanzmärkte funktionieren und die Politik vor sich hertreiben. – Geschichte einer täglichen Machtergreifung.«[11] Gleich zum Auftakt verbinden sich hier Endzeitstimmung mit Mystifikation: Die Wortwahl scheint zwar vordergründig gedacht als ironische Beschreibung der allgemeinen Haltung dem Phänomen gegenüber, eine Haltung, der sich Der Spiegel aufklärerisch entgegenstellt, aber im Grunde wird dadurch das Mysterium der Märkte noch verführerischer gemacht, verbunden mit dem Versprechen, hier und jetzt zu erfahren, wie Finanzmärkte funktionieren und wie es ihnen gelingt, die Politik zu gängeln. Auch die Botschaft ist klar: Täglich kommt es zu einer mit demokratischen Spielregeln nicht zu vereinbarenden Machtergreifung.

»Monströs sind die Summen, die auf ihren Märkten herumschwirren, sie [die Finanzmarktakteure] arbeiten in einer Sphäre, in der die Zahlen oft acht, neun Nullen haben. Es ist eine Parallelwelt, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten verselbstständigt hat, in der Tausende Menschen Deals in Milliardengröße abwickeln, in der Computernetzwerke Geldströme um den Globus jagen, in der Schulden von einem Land aufs andere verschoben werden, in der sich Schattenbanken breitmachen und keine Buchhaltung mehr verlässlich ist, sodass überall das Misstrauen wuchert.«[12] Das macht wirklich Angst: Parallelwelten, Geldbeträge jenseits der menschlichen Vorstellungskraft, ominöse Computernetzwerke, Schattenbanken und zu allem Überfluss auch noch Abgründe in den Bilanzen, die keiner mehr überblickt. Interessant wird es dort, wo versucht wird, das Kerngeschehen der Finanzindustrie, das Zusammenspiel der Märkte zu beschreiben, dort, wo die Magie der großen Zahlen ins Spiel kommt, dort, wo es um das komplexe Zusammenspiel der Märkte, ihre wechselseitige Verschränkung und die Beschreibung der Konstruktionslogiken der Produkte geht. Von »Summen, die jede Vorstellung sprengen«, von »Paralleluniversen, in denen sich gierige Eliten verschanzt haben, die die Weltherrschaft anstreben«, ist die Rede. Unversehens landet man in einer Fabelwelt voll mit Monstern und Gespenstern, deren Spuk es zu bannen gilt. Unversehens werden selbst im vermeintlich seriösen Journalismus Bilder aus Märchen und Sagen bemüht, etwa das Bild »aus Stroh Gold spinnen«, wo es um die Beschreibung der Funktionslogik von Derivaten geht.[13] Ein Zauber liegt über dieser Welt des Geldes, »ihre Akteure verwandeln wie einst König Midas alles, was sie berühren, in Gold«, »im magischen Zirkel der Finanzmärkte« finden Schöpfungsakte aus dem Nichts statt – Akte, die vormals allein Gott vorbehalten waren wie Mephistos’ finanztechnische Nachahmung des göttlichen Schöpfungsakts, der Creatio ex nihilo.[14] Die in diesem Zusammenhang wiederbelebten Archetypen reichen – wie Tomaš Sedláček eindrucksvoll gezeigt hat – von den Anfängen des Gilgamesch-Epos bis zur Magie des Geldes, wie sie die Self-Help-Psychologie unserer Tage predigt. So sehr sich die Geschichte großer Spekulationen im Rückblick immer als Geschichte gezielter Manipulationen erweist – von Rothschild bis Rambatran, von Mike Milken bis Ivan Boesky –, so sehr sich Wirtschaftsgeschichte immer wieder als Abfolge von Marktversagen erweist – von England im 13. und Spanien im 16. Jahrhundert, von der Tulpenblase bis zur South Sea Bubble, von den französischen Assignaten über die Bankenkräche der Gründerzeit und der Weltwirtschaftskrise bis zu unseren jüngsten Krisen, etwa dem Crash 1985, der Dot Com Bubble, der Supprima-Immobilienkrise und jetzt der Eurokrise –, so wenig kann die Finanzwelt ohne diese Fantasie von einem Magic Touch auskommen. Des Kaisers neue Kleider sind nie weit entfernt.

Angesichts dieser irrwitzigen Bilderflut ist es höchste Zeit, diesen Metaphern nachzugehen und die Hilflosigkeit zu untersuchen, die hinter dieser unangemessenen Bildersprache liegt. Eine naheliegende Vermutung, denn dieses Verlorensein im Wald magischer Metaphern, dieses Story-Telling in Form von Mythen, Heldenepen oder Märchen erzeugt vor allem eins: Sprachlosigkeit, die Ohnmacht und Ratlosigkeit schürt. Es liegt etwas Schicksalhaftes in dem Geschehen, es ist wie ein Fluch, den man gerade dadurch, dass man ihm entgehen will, herbeiführt. Die Bilder appellieren an die Logik des Unbewussten. Unter einer dünnen Schicht von Rationalität lauert ein magisches Denken, dem mit diesen Sprachspielen Nahrung gegeben wird.

Eine entdämonisierende, entfiktionalisierende Sprache zu finden, wäre deshalb essenziell für den Entscheidungsprozess, vor dem wir stehen: Wir können uns aus dem Sumpf ziehen, in dem wir stecken, indem wir die hinter verbalen Denkbarrieren ausgeblendeten Wahlmöglichkeiten erkennen, bestimmte Themen wieder in den gesellschaftlichen Dialog einführen, aus dem sie von Finanzindustrie, Politik und Medien gezielt ausgeschlossen wurden. Zu diesen Themen zählen unter anderem die Frage nach dem cui bono / cui boni, die Frage nach den Interessen der handelnden Finanzakteure, die Frage nach den Erkenntniszielen einer quasi-naturwissenschaftlichen Ökonomie mit ihren abstrakten Marktmodellen und die Frage nach der Ausgrenzung der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit und ihrer Interessen aus diesem Dialog.

Gespenster, das wissen wir seit Ghost Busters, lassen sich fangen und mit einem geeigneten Exorzismus austreiben. Kompliziert mag innerhalb der gängigen politischen Rituale der Weg der Konsensfindung sein, wie diese Dämonen ausgetrieben werden können. Die Vorgehensweise bei diesem Exorzismus muss jedoch vergleichsweise schlicht sein: Es bedarf vor allem der Einsicht, dass ein »Weiter so« für die Welt nicht mehr zu verantworten ist, das systemische Risiko des bisherigen Systems einfach zu hoch ist.

Planet Finance – von Märkten und Monstern

Finanzmärkte werden vielerorts als Paralleluniversum beschrieben. Sie seien eine andere Galaxie, deren schiere Dimensionen im Verhältnis zu den Realitäten unseres Wirtschaftsuniversums und der in diesem erwirtschafteten Güter, der Weltwirtschaftsleistung (BIP), alle Vorstellungen sprengt. Man fühlt sich an jene Zahlenspiele erinnert, mit der Physiker und Astronomen gerne von Alpha Centauri, dem nächsten, aber dennoch Milliarden von Lichtjahren entfernten Stern berichten. Wir bewegen uns in unermesslichen Weiten, in denen andere Gravitationsgesetze sowie Zeittaktungen im Nanosekundenbereich gelten. Wie kann man sich diesem Paralleluniversum, das für manche Zeitreisende über Wurmlöcher zugänglich zu sein scheint, nähern?

Es ist ein komplexes System mit vielen Akteuren, die von Versicherungsgesellschaften, Investoren für Aktienfonds, Devisenhändler, Derivatehändler bis hin zu Hedgefondmanager reichen. Jeder dieser Akteure lenkt in diesem System einen winzigen Teil der Geldströme im Interesse seiner Kunden, die sich aus High Networth Individuals bis hin zu biederen Einzahlern in Lebensversicherungen rekrutieren. Das bedeutet, »hinter jedem dieser (…) Finanzmarktakteure stehen Tausende von Menschen, die ihr Geld vermehren wollen«.[15]

Hinzu kommt: Es sind komplex ineinander geschachtelte Märkte, diese Märkte für Bonds, Staats- oder Unternehmensanleihen, Aktien und Devisen. Die Teilmärkte beeinflussen sich gegenseitig, verhalten sich wie eine einzige Reaktionskette, wie ein endloses Dominospiel: Die Aktien bestimmen die Währungen, welche die Staatsanleihen beeinflussen, welche auf den Aktienkurs einwirken. »Wo die Bewegung losgeht, ist oft nicht zu sehen. Der ominöse Markt ist am Ende nichts anderes als das sich sekundenschnell bewegende Geld und es fließt dorthin, wo es sich am besten vermehrt. Die globale Suchbewegung geschieht im Takt der Informationen, die gerade über den Ticker laufen.«[16]

Charakteristisch für die Märkte ist, dass sie teils global, teils durch extreme Konzentrationsprozesse etwa im weltweiten Devisenmarkt gekennzeichnet sind. Fünf Banken halten hier 50 Prozent des Marktes, der mit Abstand größte Player ist die Deutsche Bank: Ein Fünftel aller Devisengeschäfte laufen über sie. Kennzeichnend für diesen Markt sind vor allem neuartige Instrumente. Sie haben die Finanzmärkte zu dem gemacht, was sie heute sind: ein systemisches Risiko für die Weltwirtschaft und dennoch, wie es scheint, unverzichtbar. »Derivate (…) sind kompliziert verschachtelte, exotische Wetten (…). Ihr Wert leitet sich ab von der künftigen Preisentwicklung bei Rohstoffen, Aktien, Zinsen oder Devisen. Es geht um Geschäfte, die in der Zukunft spielen, um Wetten und Erwartungen. Es ist ein Markt, der alle Märkte wie ein Schatten begleitet und noch weiter miteinander verschränkt.«[17]

Ausgehend von Zahlen, wie sie die Weltbank und der Internationale Währungsfond zur Verfügung stellen, lässt sich die Situation der Finanzmärkte in ihrer Gesamtheit etwa so beschreiben: Wir haben es im Kern mit einer jährlichen globalen Wirtschaftsleistung von 70 Billionen US-Dollar zu tun. Allein der Devisenmarkt wird auf 1007 Billionen US-Dollar geschätzt, im Derivatemarkt stecken 708 Billionen US-Dollar, im Aktienmarkt 63 Billionen US-Dollar und im Anleihenmarkt der Staats- und Unternehmensanleihen sind weitere 24 Billionen US-Dollar gebunden. Dagegen nehmen sich der Arbeitsmarkt mit 55 Billionen US-Dollar, der Energiemarkt mit 7 Billionen US-Dollar und der Immobilienmarkt mit 0,4 Billionen US-Dollar schon fast bescheiden aus. Hinzu kommt ein Geldmarkt, d. h. der Interbankenmarkt, auf dem sich Banken kurzfristig untereinander Geld leihen: Er ist aktuell weitgehend trocken, weshalb die Zentralbanken einspringen und massiv Geld in diesen Markt pumpen, zuletzt allein in Europa in zwei Tranchen jeweils 500 Milliarden Euro.

Auf diesen Finanzmärkten sind die Banken mit einem Kapital von 95 Billionen US-Dollar nach wie vor die wichtigsten Akteure, allerdings sind Schattenbanken und Hedgefonds mit 60 Billionen US-Dollar und institutionelle Investoren wie Versicherungen und Pensionsfonds mit 39 Billionen US-Dollar in der Zwischenzeit zu gewichtigen Playern aufgestiegen. Zentralbanken mit einem Kapital von 10 Billionen US-Dollar, öffentliche Finanzinstitute (z. B. KfW) mit einem Gesamtkapital von 12 Billionen sowie Staatsfonds mit einem Kapital von 5 Billionen US-Dollar runden das Bild ab.

Aus diesen Zahlen ergeben sich folgende triviale Einsichten und Fragen:

Vergleicht man die Zahlen zur Kapitalausstattung der Player mit den Summen, die auf den Märkten bewegt werden, dann lässt sich ganz einfach ein fatales Ungleichgewicht feststellen: Die Akteure bewegen ein Vielfaches von dem, was durch ihre Kapitalausstattung abgesichert ist.