Faire Fachkräftezuwanderung nach Deutschland -  - E-Book

Faire Fachkräftezuwanderung nach Deutschland E-Book

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Beschreibung

Gut gesteuerte Zuwanderung wirkt sich positiv auf Deutschland aus: Sie verjüngt die Bevölkerung, federt regionale und berufsbezogene Fachkräfteengpässe ab und fördert den kulturellen Austausch. Aber gilt das auch in Zeiten hoher Flüchtlingszuwanderung? Wie ist es um die Offenheit der Gesellschaft bestellt und wie wirkt sich der wachsende Rechtspopulismus aus? Welche Rolle spielt die Fachkräftesicherung über Zuwanderer, wenn die einheimische Bevölkerung besser in Arbeit gebracht werden soll? Ist Deutschland attraktiv genug für ausländische Fachkräfte oder brauchen wir gar ein neues Einwanderungsgesetz? Der Sammelband beleuchtet diese und viele weitere Fragen aus verschiedenen Perspektiven und stellt faire, zielorientierte Lösungen vor. Mit seinen Impulsen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft möchte der Band die Debatten zur Fachkräftezuwanderung und zu einem Einwanderungsgesetz bereichern.

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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Faire Fachkräftezuwanderung nach Deutschland

Grundlagen und Handlungsbedarf im Kontext eines Einwanderungsgesetzes

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Verlag Bertelsmann Stiftung, GüterslohVerantwortlich: Dr. Matthias M. MayerLektorat: Heike Herrberg, BielefeldHerstellung: Marcel HellmundUmschlaggestaltung: Elisabeth MenkeUmschlagabbildung: Getty Images/Gen Sadakane/EyeEmSatz und Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, BielefeldISBN 978-3-86793-791-7 (Print)ISBN 978-3-86793-812-9 (E-Book PDF)ISBN 978-3-86793-813-6 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1Die Grundlagen der Fachkräftesicherung im Kontext der offenen Gesellschaft

1.1 Herausforderungen und Chancen der Fachkräftezuwanderung nach Deutschland

Thomas K. Bauer

1.2 Demographie und Fachkräftemangel: Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderer braucht

Johann Fuchs, Alexander Kubis

1.3 Zuwanderung und Aktivierung von inländischen Potenzialen

Werner Eichhorst

1.4 Willkommenskultur besteht Stresstest, aber die offene Gesellschaft ist nicht selbstverständlich

Ulrich Kober

1.5 Kulturelle Vielfalt, nationale Identität und der Kitt der Gesellschaft

Kai Unzicker

Teil 2Wie steht es um die gegenwärtige Fachkräftezuwanderung nach Deutschland?

2.1 Fachkräftezuwanderung im Rahmen der EU-Binnenmobilität

Timo Baas

2.2 Fachkräftezuwanderung aus Drittstaaten im Jahr 2015: Erwerbstätigkeit, Arbeitsplatzsuche und Statuswechsel

Matthias M. Mayer

2.3 Kann die Flüchtlingszuwanderung zur Behebung des Fachkräftemangels beitragen? Erkenntnisse aus der Forschung zu Qualifikationen von Flüchtlingen

Andreea Baier, Christian Babka von Gostomski, Axel Böhm, Matthias Neske, Anna-Katharina Rich, Nina Rother, Jana Anne Scheible, Manuel Siegert, Susanne Worbs

2.4 Migration von indischen Hochqualifizierten und Studierenden nach Deutschland: Auswahlkriterien, Bleibeintentionen und Entwicklungseffekte

Thomas Faist, Mustafa Aksakal, Kerstin Schmidt

2.5 Migration als Chance für Migranten, Herkunftsland und Zielland am Beispiel Bosnien-Herzegowina und Deutschland

Björn Gruber

Teil 3Reform der bisherigen Migrationssteuerung – welchen Beitrag kann ein Einwanderungsgesetz leisten?

3.1 Steuerungssysteme der Erwerbszuwanderung im internationalen Vergleich: Welches System passt am besten zu Deutschland?

Uwe Hunger

3.2 Was kann ein Einwanderungsgesetz leisten?

Daniel Thym

3.3 Verbesserungspotenzial der rechtlichen und verwaltungstechnischen Regelungen zur Zuwanderung nach Deutschland

Bettina Offer

3.4 Vorschläge zur Neuregelung der Bildungs- und Arbeitsmigration im deutschen Einwanderungsrecht

Esther Weizsäcker, Kathleen Neundorf

3.5 Wie könnte ein Punktesystem das deutsche Erwerbsmigrationsrecht sinnvoll ergänzen?

Holger Kolb

Schlussfolgerungen: Reformimpulse für ein Einwanderungsgesetz aus einem Guss

Matthias M. Mayer, Ulrich Kober

Die Autorinnen und Autoren

Abstract

Vorwort

Die Fluchtkrise der letzten Jahre hat die gesamte Migrationsdebatte in Deutschland geprägt. Weite Bevölkerungskreise befürchten inzwischen, dass die stark gestiegene Einwanderung die Sozialsysteme belastet und zu Konflikten führt, während mögliche Vorteile von Migration in Bezug auf den Fachkräftemangel und die Demographie aus dem Blick geraten. In einem dürften Skeptiker und Optimisten aber übereinstimmen: In einer zunehmend globalisierten und digital vernetzten Welt ist eine bessere Gestaltung und Steuerung von unterschiedlich motivierten Wanderungsbewegungen nötiger denn je.

Auch wenn die Asylfrage derzeit die öffentliche Debatte dominiert, darf die politische Frage der Arbeitsmigration aus Drittstaaten nicht vernachlässigt werden – gerade angesichts der Herausforderungen von Fachkräftemangel und demographischem Wandel. Kernfragen dabei sind, ob Deutschland ein neues Einwanderungsgesetz braucht und wie dieses aussehen sollte.

Ersteres bejahte CDU-Generalsekretär Peter Tauber im Januar 2015 nachdrücklich; mittlerweile haben die Bundestagsfraktionen von SPD (November 2016) und Bündnis 90/Die Grünen (April 2017) jeweils Konzepte für ein solches Gesetz vorgelegt. Von einem politischen Konsens in dieser für die wirtschaftliche und demographische Entwicklung des Landes zentralen Frage ist Deutschland aber noch weit entfernt. Das gilt auch deshalb, weil Migrations-debatten traditionell weniger sachorientiert als vielmehr von Emotionen und Ideologien dominiert verlaufen. Bestes Beispiel hierfür ist das Erstarken einer migrationskritischen Partei, die Skepsis gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen schürt. Dass sie damit bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein zu mobilisieren versteht, erschwert die Suche nach einem Konsens weiter.

Der vorliegende Band möchte daher dazu beitragen, eine sachorientierte Debatte über die Frage eines neuen Einwanderungsgesetzes zu stärken. Dabei werden sowohl die Notwendigkeit und die bisherigen Möglichkeiten von Fachkräftemigration einerseits als auch die inhaltlichen Eckpunkte einer durch ein neues Einwanderungsgesetz verbesserten Migrationssteuerung andererseits beleuchtet.

Der erste Teil beschäftigt sich zunächst damit, die Bedeutung von Erwerbsmigration aus der Perspektive eines Aufnahmelands zu klären. Zentrale Erfolgsbedingung für gelungene Erwerbsmigration ist dabei auch die Frage der Offenheit in der Bevölkerung. Ein möglicher Konsens über ein Einwanderungsgesetz braucht diese Einigkeit über den Nutzen von Erwerbsmigration für das Land und die Aufnahmebereitschaft der Einheimischen.

Der zweite Teil widmet sich dann der Frage, wie stark die Fachkräftemigration nach Deutschland überhaupt ist. Denn ein Konsens über eine Reform braucht als weitere Bedingung ein Bewusstsein von Dringlichkeit. Tatsächlich kommen mit den bisherigen Regelungen nur relativ wenige Fachkräfte aus Drittstaaten nach Deutschland, was angesichts der in den letzten Jahren ausgeprägten EU-Binnenmobilität aus dem Blickfeld gerät.

Schließlich werden im dritten Teil auf Basis dieser Grundlagen sinnvolle Reformen und Eckpunkte für ein mögliches Einwanderungsgesetz diskutiert. Aus Sicht der Bertelsmann Stiftung macht ein neues Einwanderungsgesetz dann Sinn, wenn folgende Ziele erreicht werden:

•Attraktivität: Ein neues Einwanderungsgesetz muss Deutschland für Fachkräfte attraktiver machen. Dazu gehören einerseits weniger Komplexität und mehr Transparenz im Blick auf die Zuwanderungsregeln, andererseits aber auch bessere Bedingungen im Blick auf den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland und den Erwerb der Staatsbürgerschaft.

•Effektivität: Ein neues Einwanderungsgesetz muss dafür sorgen, dass nicht nur mehr Fachkräfte kommen wollen, sondern auch mehr kommen können. Das heißt, die bestehenden Möglichkeiten dürfen nicht eingeschränkt, sondern müssen erweitert werden. Zudem müssen die gesetzlichen Zuwanderungsregeln durch eine schlagkräftige Verwaltung umgesetzt werden.

•Flexibilität: Ein neues Einwanderungsgesetz muss die Möglichkeit bieten, die Höhe der Gesamteinwanderung nach Deutschland flexibel zu gestalten. Das gilt in Bezug auf Bedürfnisse des Arbeitsmarkts, aber auch auf die Ressourcen der Aufnahmesysteme und die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung.

•Pragmatik: Auch wenn Änderungen im Gesamtsystem der Migrationssteuerung Sinn machen können (zum Beispiel die Einführung eines an Kanada orientierten Punktesystems), ist auf die Anschlussfähigkeit von Reformen im Rahmen bestehender Systeme und Logiken zu achten.

Diese Ziele stehen durchaus in einem gewissen Spannungsverhältnis. So können sich Attraktivität und Pragmatik reiben, weil ein Punktesystem für Fachkräfte zwar auf den ersten Blick attraktiv erscheinen mag, aber wenig Anschlussfähigkeit an die bisherige Steuerungslogik hat. Auch Effektivität und Flexibilität können in Konflikt zueinander geraten, wenn die Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung gegenüber Migranten generell zurückgeht, jedoch akute Fachkräfteengpässe auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Insofern ist die Reform der Migrationssteuerung eine hohe politische Kunst und für die verantwortlichen Entscheidungsträger eine komplexe Herausforderung.

Wir hoffen, dass die vorliegende Publikation Impulse für diese Herausforderung gibt, indem sie die Debatten zur Gestaltung von Fachkräftezuwanderung und eines Einwanderungsgesetzes konzeptionell und empirisch bereichert. Ein großer Dank gilt den Autoren für ihre hervorragenden und kenntnisreichen Beiträge. Zudem danke ich Matthias Mayer, der diesen Sammelband inhaltlich verantwortet hat, und Klaudia Wegschaider für die Unterstützung.

Dr. Jörg Dräger

Mitglied des Vorstandes

Bertelsmann Stiftung

Teil 1 Die Grundlagen der Fachkräftesicherung im Kontext der offenen Gesellschaft

1.1 Herausforderungen und Chancen der Fachkräftezuwanderung nach Deutschland

Thomas K. Bauer

Seit 2010 steigt die Nettozuwanderung in Deutschland stetig an und erreichte im Jahr 2015 mit 1,14 Millionen Personen einen neuen Höchststand. Diese Entwicklung ist insbesondere zurückzuführen auf eine steigende Zuwanderung von Personen aus den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), den von der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise besonders stark betroffenen EU-Staaten Griechenland, Spanien und Italien sowie – besonders seit 2015 – auf den außergewöhnlich hohen Anstieg von Schutzsuchenden aus Drittstaaten (Statistisches Bundesamt 2017a). Angesichts der steigenden Zuwanderung in Kombination mit zuletzt steigenden Geburtenraten äußert selbst die Bundesregierung in ihrer neuesten demographiepolitischen Bilanz die Hoffnung, dass sich die Bevölkerungszahl Deutschlands auf dem heutigen Niveau stabilisieren könnte (BMI 2017).

Ist die Demographiekrise damit abgewendet? Keineswegs! Zum einen hat die aktuelle Zuwanderung keinen wesentlichen Einfluss auf die Alterung der Bevölkerung. Zwar wird nach der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung in einem Szenario dauerhaft hoher Wanderungsgewinne von 300.000 Personen pro Jahr die Bevölkerung bis 2040 relativ zum Jahr 2013 voraussichtlich konstant bleiben. Die Zahl der 20- bis 66-Jährigen würde jedoch von knapp 51,2 Millionen im Jahr 2014 um elf Prozent auf 45,6 Millionen im Jahr 2040 abnehmen und die Zahl der ab 67-Jährigen würde von 15,2 auf 21,6 Millionen um 42 Prozent steigen (Statistisches Bundesamt 2016). Der Altenquotient, also das Verhältnis der ab 67-Jährigen zu den 20- bis 66-Jährigen, steigt in diesem Zeitraum von knapp 30 über 66-Jährigen je 100 Personen im erwerbsfähigen Alter auf mehr als 47 an. Betrachtet man den Gesamtabhängigkeitsquotienten, also das Verhältnis der Personen im nicht erwerbsfähigen Alter zu denen im erwerbsfähigen Alter, zeigt sich, dass im Jahr 2040 100 Personen im erwerbsfähigen Alter für knapp 78 Personen im nicht erwerbsfähigen Alter aufkommen müssen – im Jahr 2014 waren es noch etwas mehr als 58 Personen.

Zum anderen zeigt die Erfahrung aus der Vergangenheit, dass der Wanderungssaldo erheblichen Schwankungen unterliegt – Zeiten hoher Zuwanderung folgten stets Zeiten hoher Abwanderungen (Abbildung 1.1-1). Demnach ist in den kommenden Jahren zumindest wieder von einer geringeren Nettozuwanderung auszugehen, sofern sich nicht aufgrund anderer Faktoren – wie etwa nicht abnehmender Fluchtursachen oder eines weiteren Anstiegs der Arbeitsmigration – Schwankungen des Wanderungssaldos auf einem höheren Niveau einspielen. Die Prognose künftiger Wanderungsgewinne unterliegt daher einer hohen Unsicherheit. Zudem ist die Abnahme der absoluten Zahl an Personen im erwerbsfähigen Alter mit einem Rückgang des Angebots qualifizierter Arbeitskräfte verbunden. Letzteres trifft dabei auf eine nicht zuletzt aufgrund des technischen Fortschritts in der Informations- und Kommunikationstechnologie und der damit verbundenen Zunahme komplexer dienstleistungs- und wissensbasierter Tätigkeiten (z. B. Acemoglu und Autor 2011; Dauth 2014; Goos, Mannig und Salomons 2014; Spitz-Oener 2006) stark steigende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften.

Auch wenn sich der daraus ergebende zukünftige Fachkräftemangel nur schwer und mit erheblichen Unsicherheiten prognostizieren lässt, muss davon ausgegangen werden, dass in naher Zukunft einige Berufe und Regionen einen erheblichen Fachkräftemangel zu bewältigen haben (BMAS 2013).

Abbildung 1.1-1: Wanderungssaldo für Deutschland, 1950–2015

Quelle: Statistisches Bundesamt 2017b; eigene Darstellung.

Grundsätzlich steht der Politik eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, um den Folgen des demographischen Wandels für den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungssysteme zu begegnen. Hierzu gehören verstärkte Bildungsinvestitionen, eine Verlängerung der individuellen Lebensarbeitszeit, Maßnahmen zur verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit oder die Aktivierung von Erwerbslosen und der Stillen Reserve. Im Umfeld des Fachkräftemangels wird insbesondere auch die Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland diskutiert. Inwieweit eine Strategie der Ausweitung der Zuwanderung von Fachkräften geeignet ist, die Folgen des demographischen Wandels abzuschwächen, ist ebenso wie die mit einer derartigen Strategie verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen Gegenstand dieses Beitrags.

Chancen der Fachkräftezuwanderung

Die Notwendigkeit einer auf qualifizierte Arbeitskräfte ausgerichteten Zuwanderungspolitik wird überwiegend mit dem infolge des demographischen Wandels erwarteten Fachkräftemangel begründet (z. B. BMI 2017: 16; BMAS 2011). Hierbei stellt sich in einem ersten Schritt die grundlegende Frage, ob ein Mangel an Fachkräften in bestimmten Berufen oder Regionen überhaupt eine selektive Zuwanderungspolitik legitimieren kann und welche wirtschaftlichen Folgen mit einem Fachkräftemangel verbunden sind.

In einem perfekten Arbeitsmarkt mit vollkommener Mobilität der Arbeitskräfte und vollkommenen Informationen aller Marktteilnehmer würde eine Ungleichgewichtssituation, in der zum herrschenden Lohn die Nachfrage nach Arbeitskräften das entsprechende Angebot übersteigt, zu Reallohnsteigerungen führen und damit über den Marktmechanismus eliminiert werden. Es existiert daher aus ordnungspolitischer Sicht keine unmittelbare Notwendigkeit, einen Fachkräftemangel über eine selektive Zuwanderungspolitik auszugleichen, sofern kein Marktversagen in Form etwa einer eingeschränkten Mobilität der Arbeitskräfte, rigider Löhne oder mangelnder Informationen seitens der Marktteilnehmer vorliegt.

Doch selbst im Falle eines Marktversagens ist für die Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer selektiven Zuwanderungspolitik zur Bekämpfung eines Fachkräftemangels die Kenntnis der Ursachen dieses Mangels von zentraler Bedeutung (Zimmermann et al. 2002: 26 ff.). Kann ein Fachkräftemangel beispielsweise überwiegend auf einen andauernden technischen Fortschritt zurückgeführt werden, ist eine selektive Zuwanderung in diese Arbeitsmarktsegmente positiv zu beurteilen, da damit die Entwicklung innovativer Wirtschaftsbereiche begünstigt werden kann. Ist er hingegen auf Informationsdefizite oder eine mangelnde regionale oder berufliche Mobilität der Arbeitskräfte zurückzuführen, ist aus ökonomischer Sicht eine selektive Zuwanderung keine sinnvolle Option, da damit eine Verfestigung struktureller und friktioneller Arbeitslosigkeit einhergehen kann.

In einer alternden Bevölkerung ergeben sich zusätzliche Argumente, die einen Zuwanderungsbedarf begründen können. Dabei wird insbesondere die Frage diskutiert, ob eine vermehrte Zuwanderung zur langfristigen Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme beitragen kann. Hier stehen das umlagefinanzierte soziale Alterssicherungssystem sowie die erwarteten Kostensteigerungen für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen im Zentrum der Diskussion. Inwieweit Zuwanderung die mit dem demographischen Wandel verbundenen fiskalischen Belastungen der inländischen Bevölkerung abmildern oder zumindest abschwächen kann, ist dabei in erster Linie eine empirische Frage. Die Quantifizierung des fiskalischen Beitrags von Zuwanderung ist jedoch mit erheblichen konzeptionellen und methodischen Problemen verbunden. Daher müssen die durchaus sehr unterschiedlichen Ergebnisse derartiger Berechnungen (z. B. Bonin 2014; Sinn 2015) mit der gebotenen Vorsicht interpretiert werden.

Eine gemeinsame Erkenntnis dieser Studien ist jedoch, dass insbesondere eine humankapital- und arbeitsmarktorientierte Zuwanderungspolitik einen erheblichen Beitrag zur fiskalischen Entlastung der Bevölkerung leisten kann, sofern eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft gelingt und somit die Kosten der Integration der Zuwanderer gering gehalten werden können. So kommt Bonin (2014) zu dem Ergebnis, dass eine jährliche Zuwanderung von 200.000 Personen die einheimische Bevölkerung um etwas mehr als 400 Euro pro Kopf und Jahr entlasten würde, wenn 30 Prozent der Zuwanderer hoch qualifiziert wären, 50 Prozent eine mittlere Qualifikation und nur 20 Prozent eine niedrige Qualifikation vorweisen könnten.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des demographischen Wandels gehen jedoch weit über die Finanzierungsprobleme der umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme hinaus (Börsch-Supan 2003; Fertig und Schmidt 2003; Bauer und Schmidt 2008). So führt der demographische Wandel zu einer Verschiebung relativer Knappheiten, insbesondere zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen »erfahrenen« und »jungen« Arbeitskräften mit potenziell erheblichen Auswirkungen auf die individuelle und gesamtwirtschaftliche Produktivität sowie die Lohn-, Einkommens- und Beschäftigungsstruktur. Darüber hinaus kommt es zu altersstrukturbedingten Veränderungen des Konsum- und Sparverhaltens. Diese haben wiederum verhaltensbedingte Anpassungsreaktionen zur Folge, die die Folgen des demographischen Wandels verstärken, aber auch dämpfen können.

So können die auf den demographischen Wandel zurückzuführenden Lohn- und Beschäftigungseffekte die Entscheidungen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihres Arbeitsangebots sowie ihrer Bildungs- und Wanderungsentscheidungen beeinflussen. Beispielsweise haben junge Arbeitskräfte einerseits aufgrund steigender Humankapitalerträge einen höheren Anreiz, in Bildung zu investieren; andererseits sinken ihre Ausbildungsanreize aufgrund eines mit dem demographischen Wandel verbundenen verringerten Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt. Ob mit dem demographischen Wandel das durchschnittliche Qualifikationsniveau zu- oder abnehmen wird, ist daher offen (Zimmermann et al. 2002: 37).

Zudem wird der demographische Wandel Unternehmensgründungen voraussichtlich entscheidend beeinflussen. Dabei wird nicht nur die Zahl der möglichen Unternehmensgründer zurückgehen, sondern es verändern sich auch die Alternativen talentierter und leistungsbereiter Personen zur Selbstständigkeit. Schließlich können bestehende Institutionen die Folgen des demographischen Wandels verstärken. So ist mit der Alterung der Bevölkerung tendenziell ein Anstieg der Steuerlast verbunden, die wiederum insbesondere von der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter getragen werden muss. Von der sich daraus ergebenden höheren Steuerbelastung können dann negative Effekte auf das Arbeitsangebot in der Form ausgehen, dass vermehrt Personen ins Ausland abwandern oder – insbesondere verheiratete Frauen – von einer Vollzeit- auf eine Teilzeitbeschäftigung wechseln oder ganz aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden (Keane 2011).

Eine in der Diskussion weitgehend vernachlässigte Dimension des demographischen Wandels ist seine regionale Heterogenität. Abbildung 1.1-2 zeigt für die Bundesrepublik die Entwicklung des Anteils der über 65-Jährigen zwischen 2015 und 2035 auf Kreisebene (Kaeding, Breidenbach und Schaffner 2017). Die Abbildung verdeutlicht zum einen die fortschreitende Alterung in allen Regionen Deutschlands. Sie zeigt aber insbesondere die Gefahr einer regionalen demographischen Polarisierung mit einer dynamisch fortschreitenden Alterung der Bevölkerung beispielsweise in Teilen Ostdeutschlands, des Saarlands, des südlichen Rheinland-Pfalz sowie des Ruhrgebiets und einer vergleichsweise jungen Bevölkerung in den Metropolregionen, wie etwa Berlin, München, Stuttgart oder Hamburg.

Abbildung 1.1-2: Regionales Wachstum des Anteils der über 65-Jährigen, 2015–2035

Quelle: Kaeding, Breidenbach und Schaffner 2017; eigene Darstellung.

Entsprechend werden die oben diskutierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des demographischen Wandels regional sehr unterschiedlich ausfallen. Diese regionale Heterogenität könnte durch die Zuwanderung von Fachkräften noch verstärkt werden, wenn sich diese vor allem in »jungen« Regionen ansiedeln sollten. Zur Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik könnte man für Zuwanderer aus Drittstaaten jedoch Anreize vorsehen, sich überwiegend in den stark alternden Regionen anzusiedeln, um damit die regionale Heterogenität der Alterung zumindest teilweise zu stoppen.

Ohne Veränderungen der Institutionen und des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Rahmens haben diese mit dem demographischen Wandel verbundenen Anpassungen auf den Arbeitsmärkten und den Märkten für Waren, Dienstleistungen und Kapital potenziell erhebliche negative wirtschaftliche und gesellschaftliche Implikationen – sowohl auf Bundesals auch auf regionaler Ebene. Auch wenn die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des effektiven demographischen Wandels – das heißt die Folgen unter Einbeziehung möglicher Anpassungen der Märkte und Verhaltensänderungen der auf diesen Märkten agierenden Akteure – eher als rudimentär zu bezeichnen sind (Bauer und Schmidt 2008), begründet das Potenzial dieser Effekte durchaus einen Bedarf an Zuwanderung von Arbeitskräften, die schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden können.

Angesichts der hohen Flüchtlingszuwanderung in den letzten Jahren stellt sich die Frage, ob eine zusätzliche Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte überhaupt noch notwendig ist. Gerade zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 herrschte insbesondere bei den Arbeitgebern und der Politik die Hoffnung, dass man mit den Flüchtlingen den in einigen Branchen und Regionen bereits spürbaren Fachkräftemangel beheben könnte (»Gabriel sieht Flüchtlinge als Chance gegen Fachkräftemangel« 2015; »Flüchtlinge könnten Wirtschaftswunder bringen« 2015). Dieser Hoffnung folgte inzwischen eine gewisse Ernüchterung. Aus verschiedensten Gründen ist nicht zu erwarten, dass Flüchtlinge einen erheblichen Beitrag zur Lösung der Probleme aus dem demographischen Wandel leisten können.

Während Arbeitsmigranten ihre Wanderung üblicherweise im Vorfeld planen und bestenfalls bereits notwendige Investitionen in die Übertragbarkeit ihres im Heimatland erworbenen Humankapitals auf die Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes vorgenommen und vielleicht auch schon die deutsche Sprache erlernt haben, kann bei Flüchtlingen nicht von einer geplanten Wanderung ausgegangen werden. Es ist daher zu erwarten, dass geflüchtete Menschen zu Beginn ihres Aufenthalts im Empfängerland relativ zu vergleichbaren Arbeitsmigranten größere Probleme haben, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und erhebliche Investitionen getätigt werden müssen, um ihre erfolgreiche und nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu erreichen (Bauer 2015). Entsprechend zeigen empirische Studien, dass die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen im Vergleich zu Arbeitsmigranten sehr viel mehr Zeit benötigt und Erstere vergleichsweise niedrigere Löhne erhalten, auch wenn über die Zeit eine Konvergenz der Arbeitsmarktposition von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten zu beobachten ist (Bauer, Braun und Kvasnicka 2013; Brücker, Hauptmann und Vallizadeh 2015). Neben der fehlenden Passgenauigkeit der Qualifikationsprofile und den Bedarfen des deutschen Arbeitsmarktes kann aufgrund der relativ hohen Integrationskosten darüber hinaus nicht davon ausgegangen werden, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen zu einer fiskalischen Entlastung der einheimischen Bevölkerung beitragen kann.

Wie weiter unten ausgeführt wird, erfolgt mit der Hoffnung, dass mit der Flüchtlingszuwanderung die demographischen Herausforderungen Deutschlands bewältigt werden könnten, schließlich eine wenig Erfolg versprechende Vermengung verschiedener migrationspolitischer Ziele. Das primäre Ziel der Flüchtlingspolitik ist humanitärer Natur – inwieweit damit auch wirtschaftliche Probleme gelöst werden können, ist zunächst sekundär und muss der Arbeitsmigrationspolitik vorbehalten bleiben.

Politische Herausforderungen

Akzeptiert man die aus dem demographischen Wandel resultierende Notwendigkeit einer auf Fachkräfte ausgerichteten selektiven Zuwanderungspolitik, entstehen für die Politik einige Herausforderungen. Eine ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Nachfrage Deutschlands nach qualifizierten Arbeitskräften nicht notwendigerweise auf ein entsprechendes Angebot trifft.

Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung sowie der Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie ist die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften weltweit stark gestiegen. In diesem internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe hat Deutschland nicht nur gegenüber den klassischen Einwanderungsländern bedeutende Wettbewerbsnachteile, die sich vor allem aus der einwanderungspolitischen Reputation und aus der Verkehrssprache ergeben. Nachdem Deutschland über Jahrzehnte die Zuwanderung von Arbeitsmigranten weitgehend abgewehrt hat, muss man sich zudem erst wieder eine Reputation als Land, das Zuwanderer willkommen heißt, erarbeiten. Und obwohl sich die Zahlen der Deutschlernenden nach einem weltweiten Rückgang inzwischen wieder stabilisieren, ist Englisch international immer noch dominierend (Auswärtiges Amt 2015).

Aus diesen Nachteilen im internationalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Zuwanderungspolitik. Will man potenzielle Fachkräfte für Deutschland gewinnen, muss man die institutionellen und ökonomischen Rahmenbedingungen für sie – relativ zu ihren Perspektiven in anderen potenziellen Zielländern – verbessern. Hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen hat Deutschland in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht (SVR 2014, 2015). Nicht zuletzt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Deutschland bescheinigt, eine im Vergleich zu anderen OECD-Ländern liberale Zuwanderungspolitik für Arbeitsmigranten zu verfolgen (OECD 2013: 15). Auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR 2014) sieht bei den rechtlichen Regelungen zur Zuwanderung von Arbeitsmigranten keinen grundlegenden Reformbedarf.

Die künftige politische Herausforderung besteht darin, diese liberalen Zuwanderungsregelungen angesichts der momentan geführten migrationspolitischen Debatte zu erhalten und in einigen Teilen sogar zu erweitern, um die Position Deutschlands im internationalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte zu sichern und möglichst auszubauen. Die im derzeitigen Bundeswahlkampf von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen präsentierten Vorschläge zur Gestaltung eines Einwanderungsgesetzes stimmen eher nachdenklich. Beide Konzepte sehen im Kern ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild vor und bleiben hinter den derzeitigen Regelungen zurück (SVR 2016b). Abgesehen davon werden die aktuellen, vergleichsweise liberalen Regelungen nicht ausreichen, um Deutschland als Zielland für qualifizierte Migrantinnen und Migranten attraktiv zu machen, solange diese Regelungen national wie international kaum bekannt sind. Trotz des Engagements einiger Ministerien und des von der Bundesregierung betriebenen Willkommensportals www.make-it-in-germany.com fehlt es hier noch an einem systematischen und offensiven Marketing, etwa durch aktive Werbekampagnen an ausländischen Universitäten (SVR 2015: 43).

Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine weitere zentrale politische Herausforderung: die Entwicklung eines zuwanderungspolitischen Gesamtkonzepts. Die in den letzten Jahren vorgenommenen Veränderungen der Regelungen zur Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte entstanden besonders im Umfeld der Diskussionen eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels. Die heutige Debatte konzentriert sich – verständlicherweise – nahezu ausschließlich auf die Asyl- und Flüchtlingspolitik, während die Arbeitsmarktmigrationspolitik zumindest in der öffentlichen Diskussion nahezu vollständig in den Hintergrund gedrängt wurde.

Insgesamt erweckt die Zuwanderungspolitik Deutschlands den Eindruck einer Ad-hoc-Gesetzgebung, die überwiegend auf jeweils aktuelle Debatten und Entwicklungen reagiert und zu einem komplizierten, unübersichtlichen System aufenthaltsrechtlicher und arbeitsmarktpolitischer Regelungen und Verordnungen geführt hat. Angesichts der demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen fehlt eine Migrationspolitik aus einem Guss bzw. ein Nationaler Aktionsplan Migration (NAM), wie er seit einigen Jahren beispielsweise vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR 2013, 2014) gefordert wird.

Zwar wird derzeit intensiv über die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes diskutiert und einige Parteien haben bereits entsprechende Vorschläge vorgelegt. Keiner dieser Vorschläge scheint jedoch eine zuwanderungspolitische Gesamtstrategie in dem Sinne zu verfolgen, dass verschiedene Formen der Zuwanderung (u. a. Fachkräftezuwanderung und Zuwanderung Niedrigqualifizierter, Asyl- und Flüchtlingspolitik, Familienzusammenführung, EU-Binnenmigration, Studierendenmobilität) diskutiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Darüber hinaus würden die bisher vorgelegten Vorschläge die bestehenden Regelungen tendenziell eher verkomplizieren als vereinfachen und wären nur schwer mit europarechtlichen Vorgaben vereinbar (Kolb 2017).

Im Rahmen eines nationalen Aktionsplans sollten alle wichtigen migrationspolitischen Akteure eine migrations- und integrationspolitische Gesamtstrategie erarbeiten und zur Diskussion stellen. Im Zentrum einer solchen Debatte könnten im ersten Schritt folgende Fragen stehen: Welches Ausmaß an Zuwanderung möchte Deutschland in Zukunft erreichen? Welche Zuwanderungsströme kann man und welche will man steuern? Welche Ziele sollen mit einer Zuwanderungspolitik erreicht werden und wie können sie erreicht werden?

Allgemein können mit einer Zuwanderungspolitik soziale, humanitäre, demographische und ökonomische Ziele verfolgt werden, wobei die verschiedenen Personengruppen, die in der sozialen Wohlfahrtsfunktion eines Einwanderungslandes Berücksichtigung finden können (die einheimische Bevölkerung, die Immigranten, die Bevölkerung der Herkunftsländer), eng mit diesen Zielen verbunden sind (Zimmermann et al. 2002: 8 ff.). Ziel eines NAM müsste sein, einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens zu erreichen »über die Gewichtung der Interessen verschiedener Personengruppen in der Wohlfahrtsfunktion des Einwanderungslandes und über die vorrangigen Ziele, denen die Zuwanderungspolitik dienen soll« (ebd.: 8 f.). Sicherlich handelt es sich hier um ein schwieriges Unterfangen, da neben den unterschiedlichen Interessen der diversen gesellschaftlichen Gruppen potenziell viele Zielkonflikte auftreten. So wird eine Zuwanderungspolitik, die humanitären Zielen ein hohes Gewicht beimisst, zwar die Wohlfahrt der Zuwanderer vergrößern, gleichzeitig jedoch durch die damit – zumindest temporär – verbundene höhere fiskalische Belastung eine Verringerung der Wohlfahrt der einheimischen Bevölkerung in Kauf nehmen.

Auch bei einer auf Fachkräfte ausgerichteten selektiven Zuwanderungspolitik entstehen Zielkonflikte, sobald die Wohlfahrt der Bevölkerung der Herkunftsländer miteinbezogen wird. Eine solche Politik erhöht zwar die Wohlfahrt der einheimischen Bevölkerung, kann jedoch über einen möglichen Braindrain zu einer verringerten Wohlfahrt der Bevölkerung der Herkunftsländer führen – auch wenn die aktuelle wissenschaftliche Forschung ebenfalls die Möglichkeit eines durch diese Politik entstehenden »Braingain« in den Herkunftsländern diskutiert (SVR 2016a: 162 ff.). Doch selbst wenn ein Konsens hinsichtlich der vorrangigen Ziele einer Zuwanderungspolitik nur schwer erreichbar scheint, würde eine derartige Diskussion zumindest die verschiedenen Interessen der beteiligten Gruppen sowie potenziell auftretende Zielkonflikte verdeutlichen.

Konzentriert man sich auf die Arbeitsmigrationspolitik, ergeben sich weitere grundlegende Fragen: Will man weiterhin auf eine überwiegend nachfrageorientierte Zuwanderungspolitik setzen oder diese durch angebotsorientierte Elemente ergänzen? Soll sich die Zuwanderungspolitik lediglich auf hoch qualifizierte Arbeitskräfte konzentrieren oder sollte man auch die Zuwanderung für Personen mit mittleren oder niedrigen Qualifikationen ermöglichen? Will man, ähnlich den klassischen Einwanderungsländern, überwiegend permanente Zuwanderung fördern, in einigen Bereichen – wie in der Vergangenheit – nur temporäre Zuwanderung erlauben oder auf zirkuläre Migrationsströme setzen?

Die Veränderungen der zuwanderungsrechtlichen Regelungen der letzten Jahre im Bereich der Arbeitsmigration und auch die bisher vorliegenden Vorschläge zur Gestaltung eines neuen Einwanderungsrechts deuten in vielen Fragen auf einen recht breiten Konsens der Parteien hin, auch wenn im Detail sicher Unterschiede bestehen. Nahezu alle Parteien sehen die Notwendigkeit der Zuwanderung insbesondere von qualifizierten Arbeitskräften, wobei nicht nur die Zuwanderung von Akademikern, sondern auch die von Nichtakademikern in Mangelberufen unterstützt wird. Die Vorschläge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen legen nahe, dass darüber hinaus zumindest in Teilen der Politik ein Bedarf gesehen wird, die derzeitigen Regelungen um (weitere) angebotsorientierte Komponenten zu ergänzen. Auch die Notwendigkeit, die Zuwanderungsregelungen für Arbeitskräfte durch liberale Regelungen bei der Zuwanderung von Familienangehörigen und deren Arbeitsmarktzugang sowie ein ausreichendes Angebot an Integrationsmaßnahmen zu ergänzen, erscheint bei den meisten Parteien unstrittig (SVR 2015).

Die Möglichkeiten, über die Zuwanderungspolitik die zu beobachtende demographische Polarisierung Deutschlands zu bekämpfen, bleiben bisher jedoch in den öffentlichen wie auch in den wissenschaftlichen Überlegungen weitgehend unberücksichtigt. So gehen alle bisherigen Diskussionen über ein Einwanderungsgesetz implizit vom Status quo der Zuwanderungspolitik als Bundesangelegenheit mit einem geringen Handlungsspielraum der Länder aus. In dieser Hinsicht lohnt ein Blick nach Kanada und Australien, die im Rahmen ihres Punktesystems Migrantinnen und Migranten bevorzugen, die bereit sind, sich in bevölkerungsarmen Regionen anzusiedeln.

In Kanada ermöglicht das Provincial Nominee Program (PNP) den kanadischen Provinzen und Territorien, selbst einwanderungspolitisch tätig zu werden (SVR 2017: Abschnitt A.3.3). Da sich die Zuwanderer in Kanada sehr stark in Ontario, British Columbia und Quebec konzentrierten, äußerten die eher ländlich geprägten Regionen den Wunsch, mehr von der Einwanderung zu profitieren. Daraufhin wurde den Provinzen mit dem 1995 eingeführten und inzwischen stark an Bedeutung gewonnenen PNP die Möglichkeit eröffnet, eigenständig Einwanderer auszuwählen, wobei jedoch eine sekundäre Weiterwanderung in andere Provinzen nicht verhindert werden kann. Die Erfahrungen mit dem PNP sind gemischt. Eine 2011 durchgeführte Evaluation zeigte bei den Bleibequoten der über dieses Programm zwischen 2000 und 2008 Zugewanderten ein sehr heterogenes Bild. Im Durchschnitt blieben 82 Prozent der Zuwanderer in der »nominierenden« Provinz. Allerdings gab es regional erhebliche Unterschiede: Die Bleibequoten schwankten zwischen knapp 95 Prozent in Alberta und British Columbia und durchschnittlich 56 Prozent in den Regionen an der Atlantikküste (Citizenship and Immigration Canada 2011: 52 f.).

In Deutschland kann das im Herbst 2016 in Baden-Württemberg gestartete Punktebasierte Modellprojekt für ausländische Fachkräfte (PuMa) als erster Schritt in Richtung Regionalisierung der Arbeitsmigrationspolitik gesehen werden (BMAS 2016; Kolb 2016). Es eröffnet Personen mit beruflicher Ausbildung außerhalb der Mangelberufe im Rahmen eines einfachen Punktesystems die Zuwanderung, wobei die Aufenthaltserlaubnis zunächst zeitlich befristet erteilt wird und ihre räumliche Eingrenzung auf Baden-Württemberg vorgesehen ist. Eine weitere Regionalisierung der Erwerbsmigrationspolitik erfolgte auf Initiative des Bundesrates (BR-Drs. 182/13) im Rahmen der Regelungen zur Zuwanderung von Nichtakademikern in Mangel- oder Engpassberufen (§ 6 Abs. 2 Nr. 2 BeschV), für deren Ermittlung die Bundesagentur für Arbeit (BA) verantwortlich ist. Diese weist nicht nur Berufe aus, für die bundesweit ein Engpass ermittelt wurde, sondern führt darüber hinaus eine regionale Betrachtung durch (und kennzeichnet in ihrer Positivliste Berufsgattungen mit lediglich regionalen Engpässen mit einem Sternchen).

Erweisen sich diese ersten Schritte zu einer regionalisierten Erwerbsmigrationspolitik als effektiv, sollten sie konsequent weiterentwickelt werden, um der zunehmenden regionalen Heterogenität des demographischen Wandels entgegenzuwirken. So könnte man in Anlehnung an das kanadische PNP oder das baden-württembergische PuMa den Ländern im Zuge einer Gesamtstrategie die Möglichkeit eröffnen, selbst eine Zuwanderungsquote für Fachkräfte aus Drittstaaten festzusetzen, und ihnen dabei die Auswahl der Fachkräfte überlassen. Nicht zuletzt die kanadischen Erfahrungen zeigen, dass eine derartige Politik erfolgreich sein kann, wenn in den Regionen eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft gelingt.

Eine weitere politische Herausforderung liegt darin, die einheimische Bevölkerung von der Notwendigkeit einer aktiven Erwerbsmigrationspolitik zu überzeugen. Letztlich ist für die erfolgreiche Integration der Migranten und damit den Erfolg der Politik entscheidend, dass die Bevölkerung diese Politik akzeptiert. Dabei ist die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung gegenüber der Zuwanderung von Hochqualifizierten durchaus positiv eingestellt. Im Migrationsbarometer 2011 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration antworteten knapp 58 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund und 59 Prozent der Personen mit Migrationshintergrund auf die Frage »Sollten mehr oder weniger hoch qualifizierte Zuwanderer, wie zum Beispiel leitende Angestellte oder Akademiker, nach Deutschland kommen?« mit »viel mehr« oder »etwas mehr« und nur jeweils rund 33 Prozent mit »etwas weniger« oder »viel weniger«. Auf die Frage »Sollten mehr oder weniger Zuwanderer nach Deutschland kommen, um einfache Arbeiten zu verrichten?« antworteten hingegen rund 21 Prozent mit »viel mehr« oder »etwas mehr« und über 68 Prozent mit »etwas weniger« oder »viel weniger«.

Hinsichtlich der Zuwanderung Hochqualifizierter bestätigen die Ergebnisse des SVR-Integrationsbarometers 2014 diesen Befund (www.svr-migration.de/barometer). Der Aussage »Es sollten mehr Hochqualifizierte aus Nicht-EU-Staaten zuwandern« stimmten knapp 63 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund mit »voll und ganz« oder »eher« zu und nur knapp 36 Prozent mit »eher nicht« oder »gar nicht«. Bei den Befragten mit Migrationshintergrund ergab sich hingegen ein heterogenes Bild: Zwar stimmten durchweg mehr als 56 Prozent der Aussage tendenziell zu, doch sprachen sich rund 43 Prozent der Spätaussiedler und Personen aus der Türkei tendenziell gegen eine verstärkte Zuwanderung von Hochqualifizierten aus.

Die Entscheidung Großbritanniens, aus der Europäischen Union (EU) auszusteigen, die nicht unerheblich auf zuwanderungspolitische Fragen zurückgeführt werden kann, die damit verbundene gesamteuropäische Diskussion über die Zukunft der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU sowie das in vielen Ländern zu beobachtende Erstarken rechtspopulistischer Parteien zeigen jedoch, dass diese mehrheitlich positive Einstellung gegenüber der Zuwanderung von Hochqualifizierten nicht als selbstverständlich angesehen werden kann. In einer empirischen Analyse von Befragungsdaten aus zwölf OECD-Ländern zeigen Bauer, Lofstrom und Zimmermann (2000), dass die Einstellungen und Ängste der einheimischen Bevölkerung zu Fragen der Zuwanderung stark mit der Ausgestaltung der Zuwanderungspolitik korrelieren. Dabei legen die Ergebnisse nahe, dass eine auf Arbeitsmarktbedarfe ausgerichtete Einwanderungspolitik die Akzeptanz der Zuwanderung durchaus positiv beeinflussen kann. Insofern könnte eine zuwanderungspolitische Gesamtstrategie die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen bzw. verstetigen.

Fazit

Deutschand befindet sich in einem demographischen Umbruch, der sich nur schwer umkehren lässt und mit potenziell erheblichen Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft verbunden ist. An diesem Befund ändern voraussichtlich auch die jüngst zu verzeichnenden höheren Zuwanderungszahlen wenig. Sollte sich diese erhöhte Zuwanderung als ein dauerhaftes Phänomen erweisen, kann zwar ein Schrumpfen der Bevölkerung hierzulande vermieden, der Trend einer zunehmenden Alterung aber nur begrenzt beeinflusst werden. Darüber hinaus führt dieser Umbruch tendenziell zu einer demographischen Polarisierung Deutschlands mit »alten«, eher ländlich geprägten Regionen und »jungen« Metropolregionen.

Den Folgen des demographischen Umbruchs kann mit einer Vielzahl von Maßnahmen begegnet werden – von einer verlängerten Lebensarbeitszeit über höhere Bildungsinvestitionen bis hin zu einer verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf –, doch die Dynamik des Wandels legt nahe, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen werden und Deutschland weiterhin auf die Zuwanderung junger und qualifizierter Personen angewiesen ist, wenn man das derzeitige Wohlstandsniveau sichern möchte.

Hinsichtlich der Erwerbsmigrationspolitik erscheint Deutschland auf den ersten Blick gut gerüstet. Es verfolgt im Vergleich zu anderen OECD-Ländern gerade im Hinblick auf qualifizierte Arbeitskräfte eine sehr liberale Zuwanderungspolitik und hat sich damit im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe gut positioniert. Doch es bleiben einige große Herausforderungen. Hierzu gehört ein aktives Marketing der Zuwanderungsmöglichkeiten für qualifizierte Arbeitskräfte, da die derzeitigen liberalen Regelungen international und national wenig bekannt sind. Aufgrund einer in der Vergangenheit tendenziell verfolgten Ad-hoc-Gesetzgebung, die vor allem auf aktuelle Problemlagen reagierte, hat sich ein kompliziertes und unübersichtliches zuwanderungspolitisches Regelwerk entwickelt.

Die aktuelle politische Diskussion zur Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes zeugt zwar von der Einsicht, dass dieses Regelwerk vereinfacht und systematisiert werden muss – die bisher vorliegenden Vorschläge würden jedoch nicht nur hinter die derzeitigen Regelungen zurückfallen, sondern diese auch tendenziell komplizierter machen. Insgesamt mangelt es in allen Diskussionen momentan an einer Vision für eine zuwanderungspolitische Gesamtstrategie, die die verschiedenen Formen der Zuwanderung zueinander in Beziehung setzt und kohärent in das europäische zuwanderungspolitische Regelwerk einordnet. Angesichts der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen, die sich nicht zuletzt aus dem demographischen Umbruch ergeben, erscheint eine solche Zuwanderungspolitik aus einem Guss dringend notwendig. Sie zu gestalten, wird wohl die größte zuwanderungspolitische Herausforderung der kommenden Jahre sein.

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1.2 Demographie und Fachkräftemangel: Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderer braucht

Johann Fuchs, Alexander Kubis

Die Herausforderung

Das Statistische Bundesamt meldet für das Jahr 2016 eine jahresdurchschnittliche Erwerbstätigkeit von rund 43,4 Millionen Personen und damit den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Zugleich warnen Forscherinnen und Forscher, dass die Zahl der Arbeitskräfte hierzulande in den kommenden Jahrzehnten aus demographischen1 Gründen massiv zurückgehen wird. Dann würden den Betrieben künftig sehr viel weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Weniger Arbeitskräfte einerseits, mehr Ältere (Rentner) andererseits könnten die Finanzierung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gefährden. Zudem hängen auch die Steuereinnahmen, besonders die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer, von der demographischen Entwicklung bzw. dem Arbeitsmarkt ab (Calahorrano et al. 2016).

Dieser Beitrag beschreibt in Thesenform den Hintergrund dieser Befürchtung und belegt den prognostizierten Arbeitskräfterückgang mit den neuesten Zahlen zum Erwerbspersonenpotenzial (siehe These 1). Das Erwerbspersonenpotenzial ist die Summe aus Erwerbstätigen, Erwerbslosen und der Stillen Reserve und stellt die Obergrenze des Arbeitskräfteangebots unter gegebenen Rahmenbedingungen dar (siehe Infokasten). Deshalb zeigen einige Simulationsrechnungen die Folgen denkbarer Änderungen dieser Rahmenbedingungen (These 2). Konkret wurde untersucht, wie sich höhere Geburtenraten, ein Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie ein späterer Renteneintritt auswirken.

Gegenwärtig wird die negative demographische Entwicklung zudem durch starke Zuwanderung gedämpft. Das Erwerbspersonenpotenzial wächst dadurch derzeit sogar. These 3 beschreibt, wie es weitergehen könnte und wie sich Zuwanderung auf das Erwerbspersonenpotenzial auswirkt.

Da auch eine längere Wochenarbeitszeit sowie eine höhere Produktivität möglichen negativen Folgen des demographischen Wandels entgegenwirken können, werden diese Aspekte ebenfalls beleuchtet (These 4). Die Produktivitätsfrage stellt sich vor allem auf dem Hintergrund der Diskussion um die Auswirkungen der zunehmenden Vernetzung und Automatisierung aller wirtschaftlichen Prozesse (Industrie 4.0). Aktuelle Studien sprechen für einen weiterhin hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften (These 5).

Erwerbspersonenpotenzial

Das Erwerbspersonenpotenzial entspricht der Summe aus Erwerbstätigen, Erwerbslosen und Stiller Reserve. Es wird aus einer multiplikativen Verknüpfung von Bevölkerung und Erwerbsquoten errechnet, und zwar differenziert nach Alter und Geschlecht sowie nach Deutschen und Ausländern. Die Erwerbsquote ist in der amtlichen Statistik als Summe aus Erwerbstätigen und Erwerbslosen bezogen auf die Bevölkerung definiert. Im Text wird aus sprachlichen Gründen zwar auch der Begriff der Erwerbsquote verwendet, aber es handelt sich immer um eine sogenannte Potenzialerwerbsquote, die die Stille Reserve einschließt.

Man nimmt also eine bestimmte Bevölkerungsgruppe und multipliziert deren Zahl mit der jeweiligen Erwerbsquote. Die Summe über alle Gruppen ergibt das Erwerbspersonenpotenzial. Neben dem Umfang der Bevölkerung spielt also auch eine Rolle, wie sehr diese am Erwerbsleben beteiligt ist. Typischerweise sind die Erwerbsquoten bei Jüngeren und Älteren niedriger als bei den mittleren Altersjahrgängen; Männer haben eine höhere Erwerbsquote als Frauen und deutsche Frauen eine deutlich höhere als Ausländerinnen.

Das Erwerbspersonenpotenzial erstreckt sich über das Altersintervall 15 bis 74 Jahre; die Stille Reserve ist aus methodischen und konzeptionellen Gründen auf das Alter 15 bis 64 Jahre beschränkt.

Das Konzept des Erwerbspersonenpotenzials impliziert, dass sich in den zukunftsbezogenen Szenarien und Simulationen die Arbeitslosigkeit und die Stille Reserve gegebenenfalls (bei Fachkräftemangel bzw. Vollbeschäftigung) auflösen bzw. aufgelöst haben.

Das Erwerbspersonenpotenzial nennt die Zahl der Erwerbspersonen, sagt aber zunächst nichts über den Umfang der Arbeitszeit oder die Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte aus.

Bei der Zuwanderung ist zu differenzieren: Nicht nur die Zahl der Menschen, die in Deutschland als Flüchtlinge Schutz suchen, ist in den letzten Jahren stark gewachsen; auch die Zuzüge aus EU-Ländern sind enorm gestiegen. Aus demographischen Gründen ist jedoch zu erwarten, dass die EU-Migration mittelfristig deutlich zurückgeht (These 6). Mit These 7 gehen wir auf die Bedeutung der Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern (Drittstaaten) ein. In unserem Resümee leiten wir ab, was sich aus den Thesen an politikrelevanten Folgen erschließt.

These 1: Aus demographischen Gründen sinkt die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte

Zu den wichtigsten Auswirkungen des demographischen Wandels zählt der Rückgang des Potenzials an Arbeitskräften. Diese Veränderungen sind auch Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Beitrags. Wir folgen im Weiteren einer aktuellen Langfristprojektion des Erwerbspersonenpotenzials, die am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erschienen ist (Fuchs, Söhnlein und Weber 2017).

Um den rein demographischen Einfluss zu zeigen, wird das Erwerbspersonenpotenzial unter zwei Bedingungen prognostiziert. Erstens wird das Wanderungsgeschehen bei der Modellierung hypothetisch ausgeblendet. Zweitens wird angenommen, dass sich die Erwerbsbeteiligung künftig nicht ändert. In dem Fall ändert sich das Erwerbspersonenpotenzial nur aufgrund der Veränderungen der bereits heute in Deutschland lebenden Bevölkerung, wobei »heute« das Ausgangsjahr 2015 der Projektion ist.

Der stärkste Einflussfaktor auf das Erwerbspersonenpotenzial ist die Alterung. Die Babyboomer-Generation kommt in die Jahre und scheidet nach und nach aus dem Erwerbsleben aus. Beispielsweise erreicht der geburtenstärkste Jahrgang 1964 im Jahr 2031 das 67. Lebensjahr und würde unter den heute geltenden rentenrechtlichen Regelungen spätestens dann in Rente gehen. Seit Anfang der 1970er-Jahre liegt die durchschnittliche Geburtenziffer (Total Fertility Rate, TFR) jedoch mit rund 1,4 Kindern pro Frau deutlich unter dem Wert von 2,1 Kinder, der langfristig für den Bevölkerungserhalt erforderlich wäre. Die auf die Babyboomer folgenden Geburtsjahrgänge sind entsprechend deutlich schwächer besetzt.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahre würde deshalb ohne Zuwanderung zwischen 2015 und 2060 um 3,1 Millionen (–28,5 %) sinken, während die der 75-Jährigen und Älteren im gleichen Zeitraum um 4,67 Millionen (+52 %) steigt. Der Personenkreis, der in einem relativ arbeitsmarktnahen Alter steht, hier beispielhaft mit 15 bis 74 Jahre abgegrenzt, nähme bei einem solchen Szenario um 20,2 Millionen Personen (–32,6 %) ab. Für die Gesamtbevölkerung kommen diese demographischen Berechnungen somit auf einen Rückgang von 18,6 Millionen (–22,8 %).

Aufgrund der aus heutiger Sicht nahezu vorgegebenen Alterung der Bevölkerung würde das Erwerbspersonenpotenzial bereits in den kommenden Jahren stark schrumpfen. Bis zum Jahr 2030 geht es bei diesem Szenario um 14 Prozent auf 39,5 Millionen Personen zurück (Abbildung 1.2-1, Szenario 1). Bis 2060 würde es demographisch bedingt auf 28,6 Millionen Personen sinken, also auf 62 Prozent des Ausgangsjahres.

Wie oben angedeutet, haben die Geborenenzahlen einen entscheidenden Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung, und zwar vor allem auf den arbeitsmarktrelevanten Teil der Bevölkerung. Im Jahr 2015 stieg die Geburtenziffer in Deutschland auf 1,5 Kinder pro Frau. Die TFR von Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit erreichte jedoch nur den Wert von 1,427 Kindern, die TFR der Ausländerinnen lag dagegen bei 1,955 Kindern. Im Jahr 2012 waren die Werte noch 1,357 respektive 1,792 Kinder pro Frau. Das weckt Hoffnungen auf eine Trendwende und eine demographische Entspannung.

Ob der Anstieg der Geburtenraten durch eine Verhaltensänderung bewirkt wurde, ist jedoch noch nicht geklärt. Insbesondere ist nicht gesichert, in welchem Umfang familienpolitische Maßnahmen die Geburtenrate beeinflussen (Bujard 2015). Die vorliegenden Befunde deuten eher auf eine begrenzte Wirksamkeit hin. Als wichtigen Grund für die Zunahme diskutieren Demographen den sogenannten Tempo-Effekt: Die Mütter gebären immer später ihre Kinder (Pötzsch 2016). Aufgrund des inzwischen hohen Durchschnittsalters der Mütter kommt dieser Effekt nun langsam zu einem Ende. Deshalb prognostizieren einige Studien langfristig einen Anstieg auf Werte zwischen 1,5 und 1,6 Kinder pro Frau (z. B. Vanella 2016).

Aus einer höheren Geburtenrate resultieren längerfristig mehr Erwerbspersonen. Der Effekt baut sich natürlich erst langsam auf und tritt frühestens nach 15 Jahren ein. Modelliert man für die deutschen Frauen einen Anstieg der TFR ab 2018 von 1,427 auf die oben angegebenen 1,6 Kinder pro Frau (einen Zuwachs um 12 %), folgt daraus ein Plus von 940.000 Erwerbspersonen im Jahr 2060 (Fuchs, Söhnlein und Weber 2017, Tabelle 1.2-1). Eine Zunahme der Geburtenraten schwächt den demographischen Trend ab – allerdings weniger, als man zunächst vermuten könnte. So wichtig höhere Geburtenraten langfristig sind, so wenig können sie kurz- und mittelfristig dazu beitragen, den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials zu vermindern.

Abbildung 1.2-1: Erwerbspersonenpotenzial bis 2060

Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen, jeweils Jahresdurchschnitte, in 1.000 Personen, Basisjahr 2015. Bei Szenario 3 ist für die Jahre 2016 und 2017 eine Schätzung für die Flüchtlingszuwanderung eingerechnet; außerdem werden für die restliche Nettozuwanderung in diesen beiden Jahren jeweils 300.000 Personen zugrunde gelegt. Erst ab 2018 beträgt die Nettozuwanderung 200.000 pro Jahr; Quelle: Fuchs, Söhnlein und Weber 2017.

These 2: Inländische Personalreserven sind weitgehend ausgeschöpft

Höhere Erwerbsquoten würden den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials schwächer ausfallen lassen als im »demographischen« Szenario 1. Allerdings muss berücksichtigt werden, bei welchen Personengruppen substanzielle Anstiege möglich erscheinen. So liegt die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland im europäischen Vergleich mit an der Spitze (Eurostat 2017). Eine weitere Zunahme ist daher nicht einfach zu verwirklichen und hängt von diversen Einflussfaktoren ab, etwa dem Ausbau der Kinderbetreuung.

Größere Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung bestehen zwischen deutschen Frauen und Ausländerinnen. Je nach Alter betragen die Differenzen bis zu 20 Prozentpunkte, wobei die Erwerbsquoten der Deutschen höher sind (Abbildung 1.2-2). Der Prognose von Fuchs, Söhnlein und Weber (2017) zufolge ist auch längerfristig keine Konvergenz erkennbar.

Für die Erwerbsbeteiligung von Ausländerinnen und Ausländern spielt auch die der Flüchtlinge eine Rolle. Aufgrund von Daten aus den Herkunftsländern ist anfänglich nur von einer 30-prozentigen Erwerbsquote der 15- bis 64-jährigen weiblichen Flüchtlinge auszugehen. Fuchs und Weber (2016) rechnen jedoch mittelfristig mit einer Angleichung an die durchschnittliche Erwerbsquote (2015: 67 %) der bereits in Deutschland lebenden Ausländerinnen. Darüber hinaus haben auch männliche Flüchtlinge teils aus rechtlichen Gründen (Arbeitserlaubnis), teils aus faktischen Barrieren (z. B. Sprache, Qualifikation) eine etwas niedrigere Erwerbsquote. Mit anderen Worten: Flüchtlinge, vor allem weibliche, erhöhen in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft das Arbeitskräfteangebot im Vergleich zur bereits in Deutschland wohnenden Bevölkerung nur unterproportional. Auf Dauer sollte der Rückstand in den Erwerbsquoten aber aufgeholt werden. Andernfalls wäre das Erwerbspersonenpotenzial in den hier dargestellten Szenarien zu hoch.

Die Erwerbsbeteiligung hängt sehr vom Alter ab. Abbildung 1.2-2 stellt die zukünftige Entwicklung daher am Beispiel der altersspezifischen Frauenerwerbsquoten bis 2050 dar. Weil sich die Erwerbsquoten der Männer künftig nur wenig ändern, wird auf eine ausführlichere Darstellung verzichtet.

Die Erwerbsquoten der jüngeren Frauen, und im Übrigen auch der jüngeren Männer, sinken bildungsbedingt geringfügig. Diese Veränderungen sind hier vernachlässigbar.

Die Erwerbsquoten von Frauen mittleren Alters steigen in der Prognose um einige Prozentpunkte (Abbildung 1.2-2); das gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Allerdings haben gerade in diesem Alterssegment deutsche Frauen viel höhere Erwerbsquoten als Ausländerinnen.

Die Erwerbsquoten von Männern mittleren Alters bleiben, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, auf hohem Niveau. Die Erwerbsquote der 30- bis 49-Jährigen lag 2015 bei gut 98 Prozent und nimmt dementsprechend nur noch geringfügig zu.

Bei den älteren Frauen und Männern ist mit einem kräftigen Anstieg der Erwerbsquoten zu rechnen. Hier spiegelt sich der Einfluss der Rentengesetzgebung der jüngeren Vergangenheit (weitgehende Abschaffung von Möglichkeiten zur Frühverrentung sowie die »Rente mit 67«). Dieser Anstieg folgt der Logik: je später die Verrentung, umso länger der Verbleib im Erwerbsleben – mit der Folge einer höheren Erwerbsquote. Bei der prognostizierten Entwicklung der Erwerbsquote der 65- bis 69-Jährigen ist zu beachten, dass nur zwei Altersjahrgänge von der »Rente mit 67« betroffen sind.

Sofern die Erwerbsbeteiligung von Frauen im angesprochenen Maße steigt – und unter Berücksichtigung der geltenden Rentengesetzgebung – ergeben sich zusätzliche Erwerbspotenziale. Diese reichen mit beispielsweise zwei Millionen Personen im Jahr 2060 bei Weitem nicht aus, um den negativen demographischen Trend merklich zu bremsen oder gar zu stoppen (Tabelle 1.2-1, Zeile 2). Der Erwerbsquoteneffekt kann in Abbildung 1.2-1 aus der Differenz der Szenarien 2 und 1 abgelesen werden.

Abbildung 1.2-2: Altersspezifische Potenzialerwerbsquoten von ausländischen und deutschen Frauen, 2015 und 2050

Potenzialerwerbsquoten schließen die Stille Reserve mit ein, beziehen also die Summe aus Erwerbstätigen, Erwerbslosen und Stiller Reserve auf die Bevölkerung der jeweiligen Gruppe. Für den Zeitraum nach 2050 wurden keine Veränderungen der Erwerbsquoten mehr modelliert, d. h. sie bleiben auf diesem Niveau. Quelle: Fuchs, Söhnlein und Weber 2017.

Die Erwerbsquoten der ausländischen Frauen waren zwar in der Vergangenheit immer deutlich niedriger als die deutscher Frauen (Abbildung 1.2-2) – gelänge aber sozusagen eine perfekte Integration, wäre mit einer beträchtlichen Zunahme ihrer Erwerbsbeteiligung zu rechnen. Fuchs, Söhnlein und Weber (2017) quantifizieren in einem optimistischen Szenario eine Angleichung der Erwerbsquoten deutscher und ausländischer Frauen im Altersintervall 15 bis 59 Jahre. In diesem Fall stünden im Jahr 2030 etwa 425.000 zusätzliche Erwerbspersonen zur Verfügung. Aufgrund der demographischen Entwicklung (schrumpfende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) nimmt dieser Integrationseffekt jedoch ab und beträgt 2060 nur noch 266.000 Arbeitskräfte (Tabelle 1.2-1, Zeile 3).

Ältere sollten sich schon wegen der »Rente mit 67« künftig sehr viel stärker am Erwerbsleben beteiligen als heute. Am Beispiel älterer Frauen ist diese Einschätzung in Abbildung 1.2-1erkennbar. Öffentlich wird aber über eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters debattiert, eventuell im Gleichschritt mit der Lebenserwartung. Wie so eine Steigerung konkret aussehen könnte, ist derzeit noch unklar. Wir wollen trotzdem die Frage beantworten, was eine »Rente mit 70« an zusätzlichen Potenzialen bringen könnte. Hierzu wurde angenommen, dass alle 60- bis 69-Jährigen ab 2030 fünf Jahre länger arbeiten, als es noch 2015 der Fall war. Die 60- bis 64-Jährigen hätten dann im Jahr 2030 eine durchschnittliche Erwerbsquote von 85 Prozent statt wie in Szenario 2 »nur« 82 Prozent. Bei den 65- bis 69-Jährigen fällt die Veränderung sehr viel stärker aus, weil sie bis dato nur teilweise von der »Rente mit 67« betroffen sind. Ihre Erwerbsquote läge bei dieser Modellierung der »Rente mit 70« im Jahr 2030 bei 63 Prozent, nicht mehr bei 31 Prozent wie im Szenario 2.2

Eine solch grundlegende Änderung im Rentenversicherungssystem wird man nur schrittweise mit längeren Übergangsfristen einführen können. Ohne die dabei üblichen Vertrauensregelungen hier rechnerisch zu berücksichtigen, ergäbe sich für das Jahr 2030 ein zusätzliches Erwerbspersonenpotenzial von beinahe 2,2 Millionen (älteren) Erwerbspersonen. 2060 dürften es jedoch nur noch 1,5 Millionen sein – langfristig sinkt auch die Zahl der älteren Menschen und damit die Wirkung einer höheren Erwerbsbeteiligung (Tabelle 1.2-1, Zeile 4).

Tabelle 1.2-1: Auswirkungen alternativer Annahmen auf das Projektionsergebnis

Auswirkungen auf das Erwerbspersonenpotenzial (ohne Zuwanderung), in 1.000

 

2030

2060

Geburtenrate (TFR) deutscher Frauen 1,6 statt 1,427 Kinder*

0

929

»normaler« Anstieg der Erwerbsquoten**

2.480

2.020

gleiche Erwerbsquoten von Ausländerinnen und deutschen Frauen***

425

266

Renteneintrittsalter 70 Jahre****

2.174

1.478

Summe aller Effekte

5.079

4.693

* Gerechnet für Szenario 2, ohne Wanderungen, steigende Erwerbsquoten; ** Differenz von Szenario 2 zu Szenario 1 in Abbildung 1.2-1 (Vergleich von steigenden und konstanten Erwerbsquoten); *** modelliert für Szenario 2: Altersspezifische Erwerbsquoten der 15- bis 59-Jährigen sind gleich; **** modelliert mit den Erwerbsquoten für Szenario 2: Alle Personen arbeiten fünf Jahre länger als 2015. Quelle: Fuchs, Söhnlein und Weber 2017 sowie eigene Berechnungen.

Tabelle 1.2-1 fasst die beschriebenen Verhaltensänderungen zusammen. In der Summe reichen selbst die auf diesen gewagten Annahmen basierenden Potenzialzuwächse nicht aus, um die demographische Entwicklung vollständig zu kompensieren. Ohne Zuwanderung schrumpft das Erwerbspersonenpotenzial nach 2030, selbst wenn man die ungefähr fünf Millionen zusätzlichen Erwerbspersonen aus Tabelle 1.2-1 dazurechnet. In diesem Fall ergeben die vorliegenden Berechnungen für das Jahr 2030 mit 44,6 Millionen potenziellen Arbeitskräften fast so viele Arbeitskräfte wie 2015 (45,8 Mio.), aber 2060 wären es nur noch knapp 33,3 Millionen.

These 3: Nur überdurchschnittlich hohe Zuwanderung kann das Erwerbspersonenpotenzial stabilisieren

Deutschland ist seit Jahrzehnten Ziel vieler Zuwanderer. Zwischen 1960 und 2010, also vor Beginn des jüngsten Anstiegs der Zuwanderungszahlen, überwogen die jährlichen Zuzüge von Ausländerinnen und Ausländern die Fortzüge durchschnittlich um 147.000 Personen. Ähnliche Durchschnitte finden wir für andere Zeiträume, beispielsweise für die Zeit seit der Wiedervereinigung. Der durchschnittliche Wanderungssaldo 2011 bis 2015 liegt dagegen bei jährlich 575.000 Personen. Im Jahr 2015 erreichte das Zuzugsgeschehen mit über einer Million Nettozuzügen seinen Höhepunkt im Nachkriegsdeutschland. Dies ist das Ergebnis einer starken Zuwanderung aus dem EU-Raum, aber auch aus Drittstaaten, Letzteres durch den sprunghaften Anstieg geflüchteter Menschen.

Die Flüchtlingszuwanderung aus dem Jahr 2015 wird größtenteils erst ab 2016 arbeitsmarktrelevant. Das liegt an den rechtlichen Einschränkungen und auch an den Anforderungen des Arbeitsmarktes (Sprachbarriere, berufliche Qualifikation). Fuchs und Weber (2016) quantifizieren den mittelfristigen Effekt der Flüchtlingszuwanderung der Jahre 2015 bis 2017 (Letzteres als Prognose) auf rund 500.000 Erwerbspersonen, die am deutschen Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren zusätzlich zur Verfügung stehen. Sie berücksichtigen dabei auch den in These 2 angesprochenen Aspekt der niedrigen Erwerbsquote weiblicher Flüchtlinge.

Abbildung 1.2-1 vermittelt einen Eindruck, in welchem Umfang Zuwanderung insgesamt das Erwerbspersonenpotenzial erhöht. Die Differenz aus den Szenarien 2 und 3 entspricht dem Einfluss der Zuwanderung auf das Erwerbspersonenpotenzial bei einer jährlichen Nettozuwanderung von 200.000 Migranten. Eine Zuwanderung in diesem Umfang reicht offensichtlich nicht aus, um das Arbeitskräfteangebot zu stabilisieren, denn bis 2060 sinkt das Erwerbspersonenpotenzial bei diesem Szenario auf unter 39 Millionen Arbeitskräfte.

Szenario 3 basiert auf den gleichen demographischen Trends und Verhaltensannahmen wie die beiden anderen Szenarien, berücksichtigt aber ab 2018 eine jährliche Nettozuwanderung von 200.000 Personen. Für die Jahre 2016 und 2017 geht es sogar von einer höheren Zuwanderung aus. Für die Flüchtlingszuwanderung wird ein Umfang von 280.000 respektive 170.000 Personen berücksichtigt. Weil in jüngerer Zeit auch die Zahl der Zuzüge ohne Fluchtgründe vergleichsweise hoch war, rechnet Szenario 3 in den beiden Anfangsjahren der Projektion zusätzlich noch einmal mit je 300.000 Zuzügen aus anderen Gründen (u. a. Zuzüge aus dem EU-Raum). Alles in allem liegt dem Szenario 3 damit ein im Vergleich zur Vergangenheit eher überdurchschnittlicher Wanderungssaldo zugrunde.

Weil die Vorausschätzungen von dem Basisjahr 2015 ausgehen, bildet die starke Zuwanderung der letzten Jahre einen Teil der Ausgangsbevölkerung für die Szenarien aus Abbildung 1.2-1. Die Zuwanderer und vor allem die vielen jungen Flüchtlinge verbessern die demographische Struktur Deutschlands mit der Folge, dass der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials geringfügig schwächer ausfällt als vergleichbare Szenarien früherer Projektionen (z. B. Fuchs, Kubis und Schneider 2015). Die abwärts gerichtete Grundtendenz bleibt aber erhalten.

Ebenfalls lässt sich quantifizieren, wie viele zusätzliche Erwerbspersonen ein höherer Wanderungssaldo bringt. Aus einer jährlichen Nettozuwanderung von 100.000 Migranten resultieren bis zum Jahr 2030 etwa 915.00 Arbeitskräfte (Fuchs, Söhnlein und Weber 2017). Der Effekt wächst auf 3,3 Millionen Erwerbspersonen im Jahr 2060 – und da er proportional ist, lässt sich daraus ableiten, wie viele Zuwanderer Deutschland bräuchte, um das Erwerbspersonenpotenzial in etwa konstant zu halten. Der dafür erforderliche Wanderungssaldo beträgt mindestens 400.000 Personen pro Jahr. Ohne die hohe Zuwanderung aus jüngerer Zeit wären für ein konstantes Erwerbspersonenpotenzial sogar noch mindestens 100.000 Zuzüge mehr notwendig (Fuchs, Kubis und Schneider 2015).