Familie am Tisch - Christine Ordnung - E-Book

Familie am Tisch E-Book

Christine Ordnung

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Ein warmherziges Grundlagenbuch, in dem es um so viel mehr geht als Essen.“ Nora Imlau

»Essen und Beziehung sind beides Lebensmittel. Die Erfahrungen, die der Mensch beim gemeinsamen Essen macht, begleiten ihn ein Leben lang.«

Alle Themen, die in einer Familie vorkommen und verhandelt werden, treffen sich am Esstisch. Hier wird nicht nur gegessen, es wird auch gespielt, gelernt und gearbeitet, Neues ausprobiert, gelacht, geschwiegen und gestritten. Christine Ordnung, Familientherapeutin und enge Mitarbeiterin von Jesper Juul, und der Journalist und siebenfache Vater Georg Cadeggianini begleiten mit diesem Buch Eltern am Familientisch: Welches Potenzial steckt in Streit? Was hilft, damit jede und jeder einen guten Platz findet? Warum sind wir erlernten Mustern aus der eigenen Kindheit selten so ausgeliefert wie dort?

Das Buch schärft den Blick dafür, was wirklich zählt – am Familientisch und darüber hinaus.

»Familie am Tisch ist ein warmherziges Grundlagenbuch, in dem es um so viel mehr geht als Essen. Es geht um die Prägungen und Glaubenssätze, die wir alle mit an den Familientisch bringen, um Hoffnungen und Ängste, um Wunsch und Wirklichkeit. Vor allem aber geht es um zwischenmenschliche Beziehungen und darum, wie diese nicht unter Stress und Streit rund ums Essen leiden. Mit viel Empathie für die großen wie die kleinen Menschen in einer Familie leuchten die Autor*innen aus, wieso gerade rund um Mahlzeiten unsere Emotionen oft so hochkochen – und wie wir zu einem entspannten, gleichwürdigen Miteinander finden.« Nora Imlau, Erziehungsexpertin und Spiegel-Bestseller-Autorin

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 264

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Themen, die in einer Familie vorkommen und verhandelt werden, treffen sich am Esstisch. Hier wird nicht nur gegessen, es wird auch gespielt, gelernt und gearbeitet, Neues ausprobiert, gelacht, geschwiegen und gestritten. Christine Ordnung, Familientherapeutin und enge Mitarbeiterin von Jesper Juul, und der Journalist und siebenfache Vater Georg Cadeggianini begleiten mit diesem Buch Eltern am Familientisch: Welches Potenzial steckt in Streit? Was hilft, damit jede und jeder einen guten Platz findet? Warum sind wir erlernten Mustern aus der eigenen Kindheit selten so ausgeliefert wie dort?

Das Buch schärft den Blick dafür, was wirklich zählt – am Familientisch und darüber hinaus.

Christine Ordnung ließ sich von Jesper Juul zur Familientherapeutin ausbilden und gründete 2010 auf seinen Impuls hin das deutsch-dänische Institut für Familientherapie und Beratung ddif in Berlin. Sie etablierte damit die Ausbildung »Erlebnisorientierte Familientherapie« im deutschsprachigen Raum, wie sie Jesper Juul über viele Jahre in Dänemark entwickelt und geprägt hat. Seit 2008 arbeitet Christine Ordnung mit Familien in Krisen und begleitet kontinuierlich Pädagog:innen Sie hat eine erwachsene Tochter und geht zweimal die Woche ins Boxtraining. Kochen muss bei ihr schnell gehen.

Georg Cadeggianini ist Redakteur im Wochenendressort der Süddeutschen Zeitung und betreut dort die Kinderseiten und Familienthemen. Er hat Philosophie studiert, die Deutsche Journalistenschule besucht und mit der Familie immer wieder im Ausland gelebt: Florenz, Edinburgh, Tel Aviv. Er hat vier Töchter und drei Söhne. Georg Cadeggianini sitzt nicht gern an der Stirnseite des Tisches, liebt tief hängende Lampen und besitzt ein kugelgelagertes Nudelholz.

Christine Ordnung

mit Georg Cadeggianini

Familie am Tisch

Für ein neues Miteinander – beim Essen und darüber hinaus

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Daniela Gasteiger

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotive: iStock.com / Imgorthand; nadiia_oborska / Shutterstock.com

Umschlagklappen: U2: oben - Emely / Image Source / Getty Images; links - Studio Firma / Stocksy United; unten - iStock.com / South_agency

U3: oben - Jose Luis Pelaez Inc / DigitalVision / Getty Images; links - iStock.com / skynesher; unten rechts - Sally Anscombe / Moment / Getty Images

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30756-1

www.koesel.de

Inhalt

Welche Farbe soll unser Tisch haben?

Elternsein ohne Montageanleitung

Alte Muster und neue Reflexe Übers Seinlassen und Loslassen

Warum ist das heute alles so kompliziert, selbst das gemeinsame Essen?

Gegenfrage: Was ist wirklich einfach – außer Lottospielen?

Unser Kind soll auf keinen Fall picky werden?

Schon passiert. Und jetzt?

Und jetzt Werbung?

Wenn beste Absichten den Appetit verderben

Aber Probieren ist Pflicht?

Über einen Glaubenssatz, der jeden Tag an Tausenden von Familientischen viel kaputt macht

Kann man ein Jahr lang nur Pommes und Leberwurstbrot essen?

Logo. Worauf es dabei ankommt

Hauptsache gesund?

Am Tisch gibt es nicht nur zu essen. Über gesunde Stimmung

Machen Querstreifen dick?

Andererseits: Wer isst schon Querstreifen

Willst du dann einen Knusperwaffelwürfeljoghurt?

Von Alles-möglich-machen-Wollen zum freundlichen Nein

Sprüche und Ansprüche Eine große Frage: Was erzieht wirklich?

»Wie war’s in der Schule?«

… und wie wir wirklich miteinander ins Gespräch kommen

Wer hat mein Glas in die Tischmitte geschoben?

»Ich!« Über einen neuen Mut zur Macke

Darf man Teller an die Wand schmeißen?

Es macht auf jeden Fall Eindruck. Über Zoff am Familientisch

Können wir das sofort besprechen?

Lieber nicht. Über Alternativen zur Hauruck-Erziehung

Tischlein deck dich?

Pflichten und andere Zu-Mut-ungen

Erziehungsirrtümer

Elf Sätze, die nichts am Familientisch verloren haben

Was sind perfekte Eltern?

Die Hölle. Wie wir mit unseren eigenen Fehlern umgehen dürfen

Benehmen und annehmen Familie auf dem Präsentierteller

Der Feiertagsschmaus

Lust und Frust am Übertreiben

Schlürfst du etwa?

Und schmatzen, rülpsen, kleckern kann ich auch!

Elf neue Benimmregeln

– aber für Eltern

Sind Großeltern große Eltern?

Was sich mit Oma und Opa beim Essen verändert

Muss man Kindern das Einkaufen zumuten?

Ja, bitte. Es gehört zum Leben

Wie können wir füreinander wertvoll sein?

Liebe und liebevolles Handeln

Anhang

Welche Farbe soll unser Tisch haben?

Elternsein ohne Montageanleitung

Wenn ein Kind in die Familie kommt, wenn Erwachsene zu Eltern werden, ist erst mal jede Menge los. Die Welt wird klein und groß zugleich, sie zurrt sich zusammen aufs Private, das gleichzeitig zentral wird. Eltern sind so beschäftigt mit Überanstrengung und Glücklichsein, dass über Gewohnheiten nicht groß reflektiert wird. Sie wollen den neuen Menschen irgendwie ankommen lassen, sich selbst und den Partner als Mama und Papa kennenlernen, einen Rhythmus als Familie finden. Und irgendwann – es ist immer noch jede Menge los – sitzt das Kind mit am Tisch: Der Esstisch wird zum Familientisch. Dieses Buch rückt ihn ins Rampenlicht.

Eltern wünschen sich heutzutage, dass ihr Kind ein entspanntes Verhältnis zum Essen bekommt. Es soll die Fülle dessen kennenlernen, was es alles gibt, es soll genießen lernen und können. Es soll auch mal einfach essen, was auf dem Tisch steht. Es soll das ganze Nebenher-Geschehen schätzen, das Zusammenkommen, den Austausch und gern auch gutes Essen. Eltern wollen ihrem Kind gute Eltern sein. In ihrem Job sind sie genauso gefordert wie noch ohne Kind, die Nächte sind unruhig. Und wo bleibt eigentlich die Partnerschaft? Alles soll und muss irgendwie reingepfercht werden in jeden einzelnen Tag, das Zusammensein beim Essen könnte da doch ein erholsamer Ort sein. Könnte, ist es aber nicht. Eltern wechseln dann oft in einen Präventivmodus. Sicherheitshalber stellen sie genau das auf den Tisch, was das Kind gern isst. Proteste und Tränen wollen sie vermeiden, Ärger vorausschauend wegpuffern. Nach einem anstrengenden Tag oder einer anstrengenden Woche fühlen sie sich dem nicht gewachsen. Und dann – das kennen alle – passiert genau das, was man so dringend vermeiden wollte. Die Kinderhand taucht ins Saftglas, die Fusilli kullern über die Tischkante, der Löffel wird hinterher gepfeffert. Der Käse, der gestern noch der Lieblingskäse war, geht heute gar nicht. Ältere Kinder schaffen es kaum, Legolandschaft oder Bastelprojekt zu verlassen. Essen wird ihnen zur lästigen Nebensächlichkeit.

Was in anderen Familien scheinbar mühelos gelingt – das gemeinsame Essen –, wird in der eigenen zum täglichen Kraftakt. Die Kinder mäkeln, Geschwister fechten ihre Kämpfe aus. Eltern sind angestrengt, ihre Gelassenheit verlässt sie immer öfter, ihre Zündschnur wird nach und nach kürzer.

Gleichzeitig sind Eltern nirgendwo sonst den eigenen Automatismen derart ausgeliefert wie am Esstisch. Das sind oft kleine Dos und Don’ts: der Marmeladenlöffel etwa oder die Küchenrolle, die auf keinen Fall fehlen dürfen. Kann Käse im Papier auf den Tisch? Darf es Abendbrot vom Teller geben oder müssen es Brettchen sein? Wie laut ist es am Tisch? Kann man aufstehen und sich was holen oder muss man es sich geben lassen? Was passiert, wenn einer rülpst? Nimmt man sich Brot oder gehört es sich, erst den Tischnachbarn zu bedienen? Darf man gleichzeitig reden, sich ins Wort fallen, mit vollem Mund sprechen? Darf das Flugzeug rechts neben dem Teller parken, zwischendurch aufgetankt werden?

Dabei rutschen wir immer wieder in uralte Reflexe. Spielzeuge haben am Esstisch nichts verloren! Mit vollem Mund spricht man nicht! Können wir nicht einmal ein friedliches Essen haben? Vielleicht gut zu wissen, dass wir nur maximal zwanzig Prozent unseres Verhaltens und Sprechens bewusst steuern, manche sprechen sogar nur von fünf Prozent. Mimik, Gestik, Tonlage, Blick, Haltung ... – wir transportieren sehr vieles, was uns nicht bewusst ist.

Es sind ungeschriebene Gesetze, oft vererbt, oft unreflektiert, die Eltern am Tisch abspulen: »Zumindest probieren könntest du.« »Hauptsache, gesund!« »Du kannst doch nicht immer das Gleiche essen.« Anderes verfestigt sich bis zum Sprichwort – oft mit beißendem Beigeschmack: Da sind Menschen, die den Hals nicht vollkriegen oder die Suppe auslöffeln müssen. Da wird jemand in die Pfanne gehauen oder über den Tisch gezogen, ein anderer lässt sich unterbuttern oder nimmt den Mund zu voll. Eltern begegnen am Esstisch ihrer eigenen Kindheit. Es ist der Ort, an dem alte Erlebnisse unerwartet auftauchen, an dem Eltern dem ausgesetzt sind, was sie selbst erlebt haben, und eingebrannte Muster und Reflexe ungewollt reproduzieren.

Der gängigste blinde Fleck von Eltern am Tisch ist, keinen zu bemerken. Ich bin überzeugt: Würde man bei einem x-beliebigen Essen in der eigenen Familie ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen, alles mitschneiden – die vielen guten Ratschläge und die Belehrungen, die Nachbohrereien, die Kommentare und auch die Zurechtweisungen – die allermeisten Eltern könnten die Aufnahme nicht mal bis zum Ende abhören. Das soll ich sein? Warum rede ich da ständig rein? Kann mal bitte jemand meine Kinder in Ruhe essen lassen?

Wenn das Baby zum Kleinkind wird und mit am Tisch sitzt, ist ein guter Moment gekommen, um innezuhalten, um die vielen offenen Fragen einzufangen, die sich im Windschatten des Trubels weggeduckt haben. Es ist ein guter Moment für dieses Buch: Was für eine Familie sind wir da am Familientisch? Was ist uns hier, an diesen zwei, drei Quadratmetern, wichtig? Wer sitzt da alles und wie? Dürfen Gäste spontan dazukommen? Wie geht’s den Geschwistern miteinander? Hat jeder seinen festen Platz? Wer kocht? Wer deckt ab? Worauf legen wir beim Essen wert? Von Beikost bis Feinkost, von Rosmarinkartoffeln mit Bio-Kalb im Gläschen bis zu Sushi, Shiitake, Seitan, von Immer-Pfannkuchen bis Wann-lernst-du-endlich-für-Mathe. Wie erleben alle die gemeinsamen Essen, die Ruhe, die Hektik, das Miteinander? Im Alltag rumpelt das romantische Ideal der immer gut gelaunten, harmonischen Familie frontal mit Einkaufen-Putzen-Steuermachen-immer-ich aufeinander. Am Familientisch wird gestritten – mal mehr, mal weniger. Das ist eine Tatsache, kein Problem. Das verwechseln Eltern oft. Das Gemeine: Je dringender wir Konflikte loshaben wollen, desto mehr und lästiger werden sie. Der Familientisch ist ein guter Ort für Streit. Jeder Erwachsene bringt eigene Erfahrungen mit diesem besonderen Ort mit. Es ist gut, sich genau darüber zu unterhalten: Wie war es bei dir am Esstisch und wie war es bei mir? Und wie wollen wir es miteinander haben?

Solche Gespräche haben ein Problem. Sie finden nicht statt. Und wenn doch, dann zu selten. Familie ist immer neu, da steckt immer Entwicklung drin. Sie ist die Beziehung in unserem Leben, in der am meisten in Bewegung ist. Der Esstisch ist der Ort, an dem sich das alles spiegelt: gute Vorsätze und tägliches Scheitern, Lachen, Streiten, Es-nicht-Hinkriegen, Neuprobieren.

Die Fragen rund um Familie am Tisch werden oft auf später verschoben oder vielleicht auch gar nicht richtig ernst genommen. Viel wichtiger sei doch – das höre ich ganz oft von Eltern –, sich mal ein Wochenende zu zweit frei zu boxen. Eine Auszeit vom Elternsein, richtig ausspannen, tüchtig durchschnaufen. Das gönne ich allen, wenn es machbar ist. Aber es hilft einem nicht im Alltag. Das Signal dahinter: Man braucht endlich mal Erholung von dieser ganzen Belastung. Ist es das, wie wir als Familie eigentlich sein wollten? Neu ist für Eltern heutzutage eine dichte Gleichzeitigkeit von vielen Rollen. Aus der Work-Life-Balance ist längst eine Kids-Life-Work-Partnership-und-wann-gehen-wir-endlich-mal-wieder-tanzen-Balance geworden.

Ungefähr ab dem Zeitpunkt, wenn ein Kind mit am Tisch sitzt, haben Eltern die Chance, und ich würde sagen, auch die Aufgabe, sich wieder um ihr eigenes Leben zu kümmern, und zwar im Zusammensein mit ihrem Kind oder ihren Kindern. Sie haben jeden Tag zu viel auf dem Teller. Sie sind erschöpft, sie wollen allem nicht nur gerecht werden, sondern es auch gut machen. Für das Zusammenleben halte ich es für überlebensnotwendig, dass die Erwachsenen im Miteinander mit ihrer Familie sich auch um sich selbst kümmern. Ein Lernfeld, das am Familientisch ins Zentrum gehört.

Manchmal schleicht sich bei Eltern etwas ein, was ich gern »Ufo-Vorstellung« nenne: Der ganze irdische Alltag mit den Sorgen, Problemen und Angespanntheiten soll dann Pause haben, man sitzt auf extraterrestrischem Raum, »endlich ein Essen in Ruhe und Frieden«. Mit diesem – oft unbewussten – und immer gut gemeinten Wunsch stehen wir uns selbst im Weg. Denn das Großwerden am Esstisch, dieses kindliche Orientieren, das Sich-Umschauen und Ausprobieren, braucht natürlich Zeit und Raum, auch für Fehlversuche und Krisen. Da wird erzählt, diskutiert, nachtarockt. Alles, was in der Luft liegt, kommt auf den Tisch. Familie, auch der Familientisch ist nicht immer das Gelbe vom Ei – wie wunderbar! Essen am Familientisch ist Familienleben. Es gibt kein Abheben, kein Ufo, keine große Pausentaste. Der Alltag geht weiter. Der Schulstress und der eingestürzte Bauklotzturm, der Zoff mit der Freundin, der Bürostress der Eltern, das schwierige Personalgespräch. Alles und jeder sitzt mit am Tisch. Und Kinder nehmen die Gestimmtheit der Eltern mit allen Poren auf.

Jede Familie ist und isst dabei auf ihre eigene Weise. Frühstücken im Stehen etwa geht für manche überhaupt nicht. Und in anderen Familien ist es das Beste, was man am Morgen an Begegnung bekommen kann. Ich kann für mich überlegen: Ist mir wichtig, was auf den Tisch kommt, welche Qualität das Essen hat, oder liegt für mich der Schwerpunkt darauf, dass wir überhaupt zusammensitzen? Dürfen die Kinder schlecht gelaunt zum Essen kommen oder ist da Eitelsonnenschein? Vielleicht muss sich gerade auch etwas ganz grundsätzlich verändern, bis hin zum Möbelstück: Unser Tisch könnte ein Drittel größer sein, damit halbfertige Legoraumschiffe und Hausaufgaben einfach schnell zur Seite geschoben werden können. Darf gerade viel parallel stattfinden? Der Tisch wächst mit. Oder umgekehrt: Der Tisch ist gerade zu breit, dass da immer fünfzehn bis zwanzig Zentimeter zu viel sind zwischen uns, vielleicht dürfen die Gegenüber näher aneinanderrücken. Brauchen wir ein gelbes Einlagebrett, klarer Bereich für Butter, Brot und Käse? Überhaupt mehr Farbe am Tisch – und welche? Darf eine Kerze in die Mitte? Braucht es eine Tischdecke, Servietten, beginnen wir zusammen? Was passiert mit Telefonklingeln, Fußballfinale, Klogehen? Stehen wir am Ende gemeinsam auf oder darf auch jemand mal früher weg?

All diese Fragen rund um den Tisch dürfen Eltern miteinander besprechen. Die Antworten werden sie immer wieder korrigieren, vollkommen über Bord werfen oder bestätigen. Welchen Weg finden wir miteinander? Natürlich kann dabei niemand Erfahrungen vorwegnehmen, die man mit den eigenen Kindern erleben wird. Die Kinder sind das erste Mal Kinder, und die Eltern sind das erste Mal Eltern. Dabei ist klar: Die ideale Familie existiert nicht. Wissen alle. Aber die Sehnsucht danach hält sich bei Eltern erstaunlich hartnäckig. Ich erlebe immer wieder, wie sich Erwachsene im Elternsein verlieren und auch wie sich Erwachsene über das Elternsein finden. Die Phasen können sich abwechseln, mal mehrmals innerhalb eines Tages, mal erst nach Wochen oder Monaten.

Dieses Buch soll Impulse geben in diesem Hin und Her, soll Bewegung in die Familie bringen. Unhinterfragte Ideale und versteckte Muster kommen in den Blick. Dabei darf es knirschen, dürfen alte Gewissheiten infrage gestellt werden.

Es gibt keine Pauschallösung, kein Allzweckwerkzeug, keine Montageanleitung. Das Buch schlägt einen anderen Ton vor, um neu miteinander ins Gespräch zu kommen. Das Buch will Anstoß sein, sich als Mutter und Vater, als Erwachsene, die mit Kindern leben, immer wieder selbst zu reflektieren, sich als Erwachsener aktiv dem Leben zu stellen, statt sich leben zu lassen.

Solange keine Kinder da sind, arrangieren sich Paare oft, passen sich einander an, ohne es sich bewusst zu machen. Mit Kindern kommt ein eigener Prozess in Gang. Das Thema drängt sich anders auf. Dann kommen Erinnerungen hoch oder auch nur Stimmungen, Atmosphären, Gefühle. Auf einmal fährt man Antennen aus, die bisher nicht auf Empfang gestellt waren: Welche Gewohnheiten bringst du mit, welche Gewohnheiten bringe ich mit? Ein guter Anfang. Die Freude am Essen oder auch die schlechte Laune, das Lachen und der Ärger – all das hat eine eigene Präsenz, Dringlichkeit, Dynamik. Da sprechen alle mit: Wie ist es heute bei uns, wie war das bei euch damals, als ihr noch Kinder wart? Da geht es vielleicht um Nebensächlichkeiten: Durfte man sich einfach nehmen oder wurde einem aufgetan? Ihr habt vor dem Essen immer gebetet? Und danach auch? Was ist eine Drehplatte? Hattest du immer den gleichen Platz? Was ist ein Klingelmesser? Genauso sind auch die großen Fragen interessant: Wie war die Stimmung? Wurdest du mal weggeschickt vom Essen? Wie viel wurde am Tisch gelacht? Musstest du mal hungrig einschlafen?

»Kinder sind für Eltern dann am wertvollsten, wenn sie am schwierigsten sind«, sagte der dänische Familientherapeut Jesper Juul immer. Viele seiner Gedanken und Erfahrungen sind in meine Arbeit und auch in dieses Buch eingeflossen. Auf seine Initiative habe ich 2010 das Deutsch-Dänische Institut für Familientherapie und Beratung in Berlin gegründet.

Wenn wir bei Seminaren mit mehreren Familien zusammenarbeiten, beginne ich oft mit der Frage: Was war ein guter Moment in eurer Familie? Viele müssen da erst mal nachdenken, müssen kramen. Sie tragen zusammen, was die Einzelnen als gute Momente empfinden. Und jedes Mal gibt es diese vielsagende Verwechslung, einige der Familien sammeln statt guter Momente schöne Momente.

Um genau diesen Unterschied geht es in diesem Buch: Wie sind wir füreinander wertvoll? Von gut bis schön, von harmonisch bis sauanstrengend, vom hehren Ideal bis zum So-wollte-ich’s-nie. All das gehört dazu, macht meine Familie aus, ist wertvoll: das eine im Moment, das andere im Rückblick. Familie ist Genießen und Verzweifeln, sich Auseinander- und Zusammensetzen. Familie ist Weitermachen und sich und die anderen dabei Kennenlernen.

Wir decken in diesem Buch den Tisch noch mal neu. Der Esstisch ist das neue Wohnzimmer der Familie. Es geht um den Ort, an dem Familie heute vor allem stattfindet. Es geht um Mut und Zumutung, um alte Muster, um ein neues Miteinander und jede Menge Benimmregeln – aber diesmal für Erwachsene.

Alte Muster und neue Reflexe

Übers Seinlassen und Loslassen

Warum ist das heute alles so kompliziert, selbst das gemeinsame Essen? 

Gegenfrage: Was ist wirklich einfach – außer Lottospielen?

Spielen wir mal kurz Gott: Stellen wir uns vor, wir dürften den Menschen ein wenig neu konstruieren. Wir haben natürlich im Kopf, was er alles braucht. Er muss ernährt werden, und er braucht Begegnungen, Energie und Miteinander, muss sich gegenseitig spüren.

Aber wie oft kommt es zu Streit am Tisch, die vielen Abendessen, die auf den Magen schlagen, die hektischen Frühstückszenen, die den Tag mit schlechter Stimmung einläuten? Wäre es da nicht gut, die Bereiche Ernährung und Beziehung sauber voneinander zu trennen? Nachts etwa schlösse man diesen neuen Menschen an Geräte an. Er bekäme – optimiert auf dem höchsten Stand der Wissenschaft – genau die richtigen Nährstoffe. Es gäbe kein Über- oder Untergewicht mehr, kein Rumkritisieren mehr am Wieviel, keine umgeschmissenen Saftgläser, kein wütendes Auf-den-Tisch-Hauen, kein Schlürfen, Rülpsen, Schmatzen. Und um Beziehungen, um Familie kümmerten wir uns wann anders, vielleicht vorher, beim Spazierengehen, beim Geschichtenerzählen oder gemütlich vor dem Kachelofen, beim Angeln, Flüstern, Kuscheln, Bergsteigen …

Wir sind, so wie der Mensch jetzt konstruiert ist, existenziell aufs Essen angewiesen. Das ist so überlebensnotwendig wie Atmen – nur mit einer anderen Frequenz. Und Essen ist gleichzeitig fest verdrahtet mit einer anderen überlebensnotwendigen Zutat des Lebens: mit Bindung und Beziehung.

Essen und Beziehung sind beides Lebensmittel. Die Erfahrungen, die der Mensch beim gemeinsamen Essen macht, begleiten ihn ein Leben lang.

Kuscheln-Flüstern-Kachelofen und was sich der neue Mensch noch alles einfallen lassen würde – alles wunderbar. Das Problem dabei: Ich kann das alles auch lassen. Ich muss es nicht tun. Schon gar nicht, wenn schlechte Stimmung herrscht. Essen müssen wir trotzdem.

Die Notwendigkeit des Essens ist der Gamechanger. Essen ist das stärkste Bindemittel der Welt. Das geht am ersten Tag los beim Stillen oder Fläschchen auf engstem Raum und reicht bis ans Ende des Lebens. Jemandem, der selbst noch nicht oder nicht mehr essen kann, Essen zu geben, ihn zu nähren, schenkt Verbindung. Essen ist die Chance, ohne viel Aufhebens beieinander zu sein.

Natürlich wird so etwas auch torpediert. Verschiedene Smart-Food-Label etwa werben damit, das Beste aus dem Essen rauszuholen: Wasser drauf schütten, schlucken, fertig: »Satt in drei Minuten!« Ein bisschen Gott spielen. Es ist eine absurde Vorstellung, eine Familie um den Tisch zu versammeln: schütten, schlucken, fertig. Für All-in-one-Shakes braucht es keinen Tisch mehr, keine Gemeinschaft: »Null Prozent Unnötiges!«, heißt es in der Werbung. So etwas trinkt man im Stehen, im Türrahmen, auf dem Sprung. Dabei liegt immer so viel mehr auf dem Teller als nur das Essen. Es wäre ein lustiger Rückblick, auf die eigene Familienmahlzeiten-Biografie zu schauen, darüber mit den eigenen Kindern zu sprechen:

»Unser Studentenstandard, unser Schlachtross zu zweit, das uns über Semester gebracht hat, war gebratener Lauch mit Rührei, fast jeden zweiten Tag, billig, nahrhaft, aber Achtung: Man muss pupsen davon.«

»Der Heißhunger in der Schwangerschaft. Am liebsten Zuckerwatte, Wasabi-Chips und Suppen. Vor allem Suppen.«

»Früher, als ich Kind war, gab es überhaupt kein Olivenöl bei uns in der Familie, immer nur Sonnenblumenöl – auch für den Salat.«

»Oma hat von dem Tag erzählt, als eine Tüte mit zwei Avocados an ihrer Wohnungstür hing. Avocado wurde damals eingeführt in Deutschland, samt Rezept. Niemand kannte das. Niemand wusste, was das ist. Schält man das? Kocht man das? Und was macht man mit der Kugel in der Mitte?«

»Immer wenn ich im Supermarkt an den Säften vorbeigehe, muss ich an die Stillzeit mit dir denken. Ich habe damals so wahnsinnig viel Buttermilch mit purem Mangosaft getrunken. Das war so halblecker – aber das Beste gegen dein Bauchweh.«

»Wisst ihr, dass wir im Winter früher oft Maronen gegessen haben, als vollständiges Abendessen. Ein Glas Milch dazu und basta. Und am Schluss, wenn man schon satt ist, immer noch die restlichen Maronen schälen, weil die Schale nur warm gut abgeht.«

Vielleicht wäre es mal ein schönes Weihnachtsgeschenk: family’s finest. Die besten Rezepte von Mama, Papa, Oma und Opa, samt Geschichten rundrum – Tagebuch und Feinkost, Erinnerung und Anregung. Gesammelt, gebunden, zum Nachschlagen, Mitkochen, Ergänzen.

Den verschiedenen Settings und Vorstellungen ist eine Sache gemein: Es gibt kein Ideal. Es ist eine zutiefst persönliche Entscheidung, was sich gut anfühlt. Und selbst das kann sich und wird sich in einer Familie auch immer wieder ändern. Der Familienesstisch schafft so viele Möglichkeiten der Verbindung und dazu einen verbindlichen Rahmen: Die Menschen setzen sich gemeinsam hin, sie nehmen Platz und nehmen sich Zeit füreinander. Das Füreinander darf dabei nebenbei geschehen, en passant. Am Esstisch erfahren wir unglaublich viel voneinander, aber auch von uns selbst. Wer kann vor Ungeduld nicht warten, wer sitzt nur halb auf dem Stuhl, wie gelassen oder gereizt reagiere ich auf verschütteten Saft? Wie schön, wenn wir dabei nicht gleich in einen Sortiermodus geraten, hier die guten, da die schlechten Erfahrungen. Es sind Erfahrungen. Und dann kann es sein, dass es einem mal den Appetit verschlägt. Was für ein wertvolles Signal! »In meiner Familie ist was Wichtiges los«, sagt mir mein Bauchgefühl. Angenehm ist das nicht. Aber informativ. Essen ist ein wunderbarer Moment, an dem sich Unzufriedenheit zeigen kann, egal wo in der Familie sie gerade wabert. Aber wie gehen wir nun damit um, wenn wir entgegen alter Gewohnheit Signale, Bauchgefühl und Konflikte nicht unter den Teppich kehren wollen?

Früher passten Familien in Schablonen. Früher war klar, was sich gehört und was nicht. In der Musterfamilie gab es um zwölf Uhr Mittagessen, um halb sieben Abendbrot. Pflicht und Tugend waren Allgemeingut: aufstehen beim Begrüßen, eine saubere Handschrift, erst mal ablehnen, wenn einem etwas angeboten wird, ordentlich am Tisch sitzen, essen, was auf den Tisch kommt … Überall in der Nachbarschaft herrschten nahezu identische Regeln: fest, streng, starr. Gehsteig kehren am Sonntag? Undenkbar. Natürlich waren Eltern auch damals keine bösen Menschen. Sie folgten einfach der Vorstellung davon, wie man es richtig macht, wie es sich gehört.

Das ist zum Glück vorbei. Zur alten Musterfamilie gibt es kein Zurück. Und trotzdem tragen wir heute noch viele Muster davon in uns. Erwachsene, die heute Eltern sind, sind oft noch mit Folgen des alten Erziehungsstils aus Kontrolle und Gehorsam aufgewachsen. Sie haben gelernt, über sich und ihre Bedürfnisse hinwegzugehen. Ihre Kindheit lang haben sie trainiert, nicht zu spüren, was sie wollen und was sie nicht wollen. Es sind Erwachsene, die in dieser Hinsicht erst mal alphabetisiert werden müssen. Wirklich gut ging es in diesem System aus Macht und Gehorsam, aus Unterordnung an vorgegebene Regelwerke eigentlich niemandem. Den ohnmächtigen Kindern nicht, die wahrscheinlich die erwachsenenfreie und unüberwachte Zeit zwischen Schule und Mahlzeiten gerettet hat, aber auch den Eltern nicht. Sie haben ihre Kinder genauso geliebt, wie Eltern heute ihre Kinder lieben. Auch wenn es schon immer Eltern gab, die sich intuitiv anders verhalten haben, so war es doch den meisten von ihnen nicht möglich, ihre Liebe in liebevollem Handeln sichtbar zu machen. Das Bedürfnis wurde als Schwäche niedergemacht, als Gefühlsduselei: »Auf keinen Fall verhätscheln!« Und auch die Kinder haben natürlich ihre Eltern genauso geliebt, wie die Kinder heute ihre Eltern lieben. Sie dachten, das ist Liebe, was meine Eltern mir zeigen. Und wenn sich diese Liebe für mich als Kind so schmerzhaft anfühlt, mit so viel Abstand, mit so vielen Regeln, dann hat das etwas mit mir zu tun. Dann bin ich verkehrt.

Noch in den Fünfzigerjahren – mit dem heutigen Wissen der Forschung wirklich grausam und brutal – wurden kleinere operative Eingriffe an Säuglingen ohne Narkose vorgenommen. Man dachte, Säuglinge hätten kein Schmerzempfinden. Dreimonatige Babys hielt man für autistische Reflexbündel, traute ihnen keinerlei Eigeninitiative zu. Kleine Kinder galten als unzivilisierte Wilde, die man erst mühsam kultivieren müsste. Der Mensch, so das dahinterstehende Konzept, kommt als leeres Gefäß auf die Welt. Wir brauchen Input und einen guten Trichter. Fertig.

Dieses Menschenbild ist zum Glück längst widerlegt. Der Mensch kommt als vollständiges Wesen auf die Welt. Nachdem neben anderen der amerikanische Entwicklungspsychologe Daniel Stern die soziale Dimension des Säuglings nachgewiesen hatte, machte er sich mit seinem Team daran, das optimale Set-up von Beziehung zu finden. Sie sichteten Hunderte Stunden Filmmaterial, beobachteten, analysierten. Wann geht es Säugling und Bezugsperson am besten? Was stärkt, was schwächt? Wie sieht der Idealzustand aus?

Er scheiterte. Es gibt keine Montageanleitung für Beziehungen, kein Einmaleins der Liebe, keine Gefühlsregeln. Das Einzige, was das Team rund um Stern als verlässlichen Beziehungsmotor entdecken konnte, waren die Unstimmigkeiten. Jede Irritation oder Störung im Beziehungsgeschehen und das darauffolgende Wiederzueinanderfinden haben die Beziehung verdichtet. Im Großen bedeutet das: Ich muss streiten, ich muss mich mit dem anderen auseinandersetzen, ich muss mal aneinandergeraten oder die Grenzen vom anderen überschreiten, sonst lerne ich ihn nicht kennen. Beziehung wächst in der Nähe, und da gibt es notwendigerweise eben auch Konflikte. Sonst entwickelt sich nichts zwischen zweien. Wenn man immer auf Abstand bleibt, passiert nichts.

Eine Beziehung zwischen zwei Menschen ist wie ein Seil. Hält jeder ein Ende des Seils in der Hand, spüren sie einander. Sie spüren, wenn das Seil gespannt ist, wenn es angespannt ist, wenn es locker hängt, wenn es in wilder Bewegung ist. Das Seil kann auch ein Faden, ein Gummiband oder Drahtseil sein. Ein Machtkampf unterbricht diese Beziehung. Es ist so, als ob das Seil um ein Tischbein geschlungen wäre. An den Seilenden kommt nichts mehr an vom anderen Menschen. Jeder spürt nur noch das tote Tischbein.

Am Familientisch gibt es jede Menge solcher Tischbeine, jede Menge Knoten und Schlaufen: »Issweniger«, »iss mehr«, »iss ordentlich«, »pass auf«. »Du kannst jetzt keinen Hunger haben, wir haben doch gerade erst gegessen.« »Iss deinen Teller leer.« Wir haben Dutzende solcher Sprüche. Immer dann, wenn etwas wichtiger ist als die Beziehung zueinander, als die beiden Menschen, die die Seilenden halten, kann sich das Seil verheddern, die Beziehung unterbrochen werden.

Es gibt diesen ungläubigen Moment, der regelmäßig in meinen Gesprächen mit Eltern auftaucht. Zunächst oft begleitet von Misstrauen. »Was ist denn dann überhaupt noch richtig«, fragen sie etwa. Musterfamilie ist passé, aber was stattdessen? »Dann macht es ja jeder einfach so, wie er will?«

»Ja«, kann man darauf nur antworten, »hoffentlich. Und nein«, füge ich dann gern hinzu, »einfach ist es deswegen nicht unbedingt.« Niemand kann wissen, wie es sich anfühlt, wirklich Mutter oder Vater in dieser Familie, an diesem Familientisch zu sein. Niemand kann einem sagen, wie es richtig geht oder was falsch bedeutet. Es gibt nur individuelles, eigenes Probieren – ein Leben lang. Jede Familie ist einzigartig, von Baby bis Teenager, von Paar bis Sonntagmorgen, von Tisch bis Bein. Es gibt nicht mehr dieses: So ist es. Basta. Punkt. Stattdessen: Ich möchte es gern so haben. Können wir das probieren?

Machen wir es uns damit aber nicht ein bisschen zu einfach? Unbedingt. Wann immer es geht, bin ich dafür, genau das zu tun. Einfach machen! Beim Esstisch könnte das zum Beispiel der Ausschlafteller sein. Einen für die Kinder, wenn sie noch klein sind, Freitagnacht vor der Kinderzimmertür platziert, kurz nachdem man den Babysitter verabschiedet hat, damit die Eltern am nächsten Morgen ausschlafen dürfen; Jahre später dann wieder einen, das Kind ist inzwischen Teenager, am Wochenende, als Gegenentwurf zu: »Frühstück ist jetzt vorbei!«

Einfach machen kann auch mal heißen, im Wohnzimmer zu picknicken, dazu Filme anschauen, »E.T. Wer hat Lust?«. Einfach machen könnte auch ein Süßigkeitentag sein. Einmal im Jahr so viel Süßes, wie man will – von früh bis spät, einen ganzen Tag lang. Wer etwas anderes isst, etwas Nichtsüßes, scheidet aus. Ein Einfach-machen-Satz wäre auch: »Heute bin ich unvernünftig. Und morgen wird’s hart. Ist es okay für dich?« Bis nach Mitternacht vorlesen, sieben Kugeln Eis, Basketballturnier in der Wohnung. Einfach machen! Schöne, ungewohnte, eigene Ausnahmen bestätigen die Regel.

Tatsächlich steckt in diesem Hinwenden zum eigenen Wollen einiges an Anstrengung. »Jeder, wie er will« bedeutet ja nicht, sich irgendwie treiben zu lassen, sondern ist der dringende Aufruf, sich tatsächlich auf die Suche zu begeben. Das grundlegende Umdenken unserer Epoche, der größte Wandel, der sich bei Familien je vollzogen hat, besteht in der Aufgabe, herauszufinden, was man selbst will – und darin, wie ich das, was ich will, mitteilen kann. Um dann zuzuhören, was die anderen wollen. Dafür muss man sich als Person und Elternteil erst mal selbst kennenlernen, wichtig nehmen, sichtbar machen. Es warten unendlich viele Entscheidungen auf Eltern mit ihren Kindern: Stillen oder nicht, Beikost aus dem Glas, wer geht wann in Elternzeit? Was machen wir, wenn wir keinen Kita-Platz bekommen? Ist es okay, den Klavierunterricht nach einem Jahr aufzuhören? Unser Sohn will gern Kleider tragen. Ab welchem Alter soll das Kind ein Handy haben? Wann soll die Dreizehnjährige abends zu Hause sein? Welche Schule ist die richtige? Ja oder Nein, dies oder jenes, keins oder beides, jetzt oder später, zusammen oder allein, wie die meisten anderen oder doch ganz eigen, eine Kugel oder vier, vor oder nach dem Essen in die Badewanne, Youtube oder Buch …

Und dabei muss man als Eltern auch noch genug Raum für das eigene Leben freiboxen, kann sich nicht hinter dem Job des Erfüllungsgehilfen der ach so schönen wie einmaligen Kindheit verstecken. Kinder von Eltern, die sich selbst immer hintanstellen, die es ihnen immer nur recht machen, die dem Alltag der anderen entsprechen, drehen durch. Ihnen fehlt Orientierung.

Also lieber die Egonummer fahren? Sich selbst ernst zu nehmen, hat nichts mit Egoismus zu tun. Es ist keine Frage von me first, von Macht und Kontrolle dem anderen gegenüber, sondern eine Einladung, ein Vorbild, dass die anderen mich mitkriegen, erfahren, was mir wichtig ist, und sich auch ernst nehmen und von sich erzählen. Es ist so mühsam, erraten zu müssen, was für die anderen stimmt.

Wir wissen heute, dass es nicht darum geht, Kindern das richtige Verhalten anzuerziehen. Kinder brauchen Bezugspersonen, an deren Verhalten sie sich orientieren können. Die Orientierung kommt am besten von jemandem, der möglichst gut weiß, was er will und nicht will, und es ehrlich ausspricht oder auch eingesteht, wenn er es gerade nicht so genau weiß. Der sich nicht hinter einer Fassade versteckt und seine Kinder in eine Form reindrücken will. In diesem Miteinander können Eltern und Kinder gemeinsam lernen.

Die Suche nach dem eigenen, persönlichen Weg ist mitunter schmerzhaft und problembeladen und sicherlich lang und prinzipiell und glücklicherweise immer wieder veränderbar, also nie fertig, aber sie birgt den unschlagbaren Vorteil, dass es der eigene Weg ist, die eigene Familie. Und mit diesem eigenen Weg ist viel mehr an Herzlichkeit möglich, viel mehr an sich gegenseitigem Genießen.