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"AD(H)S? Das hat es früher nicht gegeben!" – Für viele ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung noch immer eine bloße Modediagnose, mit der unliebsames Verhalten von Kindern begründet werden soll. Für die Betroffenen und Angehörigen ist sie jedoch oftmals eine große Herausforderung, die den Alltag überschattet. Doch das muss nicht sein: Elternberaterin und selbst mit ADHS Diagnostizierte Doreen Aldugan teilt in diesem Buch nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern vermittelt auch kompetent und leicht verständlich Fachwissen rund um Thema AD(H)S bei Kindern. Ihre Tipps machen Mut, legen den Schwerpunkt auf die positiven Aspekte von AD(H)S und zeigen, wie die Diagnose als Stärke gelebt werden kann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2025
familienratgeber
ADHS
Wie du Mut, Akzeptanz und Stärke für euren Alltag entwickelst
@nocheinwunder
Doreen Aldugan
Eigentlich wollte ich heute Morgen noch meine Mails beantworten und meine Arbeit erledigen, aber dann stehe ich in der Küche und sehe, dass der Müll raus sollte. Also habe ich den Müll rausgebracht. Als ich die neue Mülltüte in den Abfalleimer stülpe, sehe ich die Fingerabdrücke der Kinder auf den Küchenfronten. Ich möchte sie wegwischen, merke dabei aber, dass der Küchenreiniger fast leer ist, also öffne ich die Drogerie-App auf meinem Handy und lege alles Nötige in den Warenkorb. Meine Freundin schickt mir ein Reel auf Instagram, ich tippe auf die Benachrichtigung und schaue mir das Reel an… Nach einer Stunde Reels scrollen, fällt mein Blick auf die Uhr und ich erschrecke. Mist, schon wieder habe ich tausend andere Dinge gemacht, aber nicht das, was ich eigentlich erledigen wollte ... So sieht nicht nur mein Alltag aus, sondern auch der vieler anderer Menschen mit ADHS.
Ich bin Doreen, ADHS-Trainerin, Mama von vier wunderbaren Kindern und komme vom schönen Bodensee. Und ich habe ADHS. Seit 2018 bin ich auf Instagram unter dem Profil @nocheinwunder als Content-Creatorin tätig. Ursprünglich begann meine Reise auf Instagram, als ich über meinen Kinderwunsch und den Weg zu unserem zweiten Kind berichten wollte. Nach und nach wurde daraus ein klassisches Mamaprofil. Ich teilte unseren Alltag, die Höhen und Tiefen des Familienlebens und baute eine wundervolle Community auf, die stetig wuchs. Doch etwas veränderte sich – immer dann, wenn ich offen über mein ADHS sprach, war die Resonanz riesengroß. Ich merkte, wie viele Menschen sich in meinen Geschichten wiederfanden, wie groß das Bedürfnis nach Austausch und Verständnis war.
Mit der Zeit fühlte ich mich in meiner Rolle als eines von vielen Mamaprofilen nicht mehr richtig am Platz. Ich wollte mehr. Mehr Tiefe, mehr Wert. Und so beschloss ich, ADHS zu meinem zentralen Thema zu machen. Denn hier konnte ich nicht nur meine eigene Geschichte erzählen, sondern echten Mehrwert bieten – und Menschen in meiner Community helfen, die sich oft genauso verloren fühlten wie ich es jahrelang tat.
Doch das war erst der Anfang. Um meine Erfahrungen und mein Wissen auf fundierte Beine zu stellen, habe ich mehrere Online-Studiengänge abgeschlossen. Heute bin ich zertifizierte ADHS-Elternberaterin, ADHS-Elterntrainerin, ADHS-Trainerin für Erwachsene und ADHS-Beraterin für Schulen. Diese Qualifikationen gepaart mit meiner persönlichen Erfahrung als ADHSlerin und Mama von vier Kindern geben mir die Möglichkeit, das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Ich weiß, wie es sich anfühlt, im Strudel der eigenen Gedanken zu versinken und gleichzeitig den Familienalltag jonglieren zu müssen – ob man gerade will und kann oder nicht –, aber ich kenne auch die Er-leichterung, wenn man Wege findet, diesen Alltag zu strukturieren und für sich und seine Familie zu erleichtern.
Und genau darum geht es in diesem Buch: leicht umsetzbare Tipps und Tricks für den Familienalltag mit ADHS. Ganz egal, ob nur ein Familienmitglied oder gleich mehrere betroffen sind. Ich möchte dir und deiner Familie erklären, warum manche Verhaltensweisen typisch für ADHS sind, dir zeigen, wie ihr das Zusammenleben harmonischer gestalten könnt, und dir vor allem praktische Hilfsmittel an die Hand geben, die den Alltag ein Stück einfacher machen. Denn eines habe ich gelernt: Mit den richtigen Strategien und einer Portion Humor lässt sich der chaotischste ADHS-Alltag oft in geordnetere Bahnen lenken.
Dieses Buch ist keine trockene Theorie, sondern praxisnah und aus dem echten Leben gegriffen. Hier erwartet dich keine perfekte Anleitung für ein „müheloses“ Leben mit ADHS – denn das gibt es nicht. Aber was ich dir bieten kann, sind Lösungsideen, die zu dir und deiner Familie passen und im Alltag umsetzbar sind. Denn es sind die kleinen Veränderungen, die den größten Unterschied machen. Ich freue mich darauf, dich auf dieser Reise zu begleiten und hoffe, dass dieses Buch den gemeinsamen Alltag ein Stück weit erleichtern wird.
In diesem Buch verwende ich bewusst eine einheitliche sprachliche Form, um den Lesefluss zu erleichtern. Das bedeutet, dass ich Begriffe wie „Jungs“ und „Mädchen“ sowie „Frauen“ und „Männer“ verwende. Dies tue ich, weil die aktuelle Forschungslage zu ADHS nach wie vor geschlechtsspezifische Unterschiede benennt und viele Studien auf dieser binären Unterscheidung basieren. Selbstverständlich gilt das Gesagte, beziehungsweise Geschriebene, jedoch für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht oder Identität.
Nicht Störung, sondern Besonderheit
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Bezeichnung von ADHS als „Störung“. Wissenschaftlich handelt es sich um eine neurologische Entwicklungsstörung, doch das Wort „Störung“ ist in unserer Gesellschaft oft negativ behaftet und mit einem Stigma verbunden. Um dem entgegenzuwirken und die Stärken und besonderen Eigenschaften von Menschen mit ADHS zu betonen, habe ich mich entschieden, an vielen Stellen stattdessen den Begriff „Besonderheit“ zu verwenden. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ADHS für Betroffene und ihre Familien eine Herausforderung sein kann, sondern vielmehr einen Perspektivwechsel anregen.
Mein Ziel ist es, ADHS nicht nur in seinen Schwierigkeiten, sondern auch in seinen Facetten und Potenzialen zu betrachten. Denn ADHS ist nicht nur eine Hürde, sondern auch eine einzigartige Art zu denken, zu fühlen und die Welt wahrzunehmen.
Diplom-Psychologin Anke Kaupp
In diesem Buch teile ich viele persönliche Erfahrungen, Tipps und Einblicke aus dem Alltag mit ADHS – als Mutter, Betroffene und Trainerin. Doch manchmal braucht es zusätzlich auch eine fachliche Perspektive. Deshalb findest du an einigen Stellen grün umrandete Infokästen mit Impulsen von Diplom-Psychologin Anke Kaupp. Sie unterstützt mit ihren bereits 35 Jahren Erfahrung im Bereich der Neurodiversität vom frühen Kindesalter bis ins hohen Erwachsenenalter dieses Buch mit ihrem fachlichen Blick auf bestimmte Themen. Ihre Einschätzungen helfen dabei, das Gesagte einzuordnen, wissenschaftlich zu ergänzen oder aus therapeutischer Sicht zu beleuchten – ohne dabei trocken oder unverständlich zu sein. Diese Kästen sollen dich darin bestärken, deinem eigenen Weg zu vertrauen – und dir gleichzeitig Sicherheit geben, dass deine Erfahrungen nicht nur gefühlt, sondern auch psychologisch nachvollziehbar sind.
Kapitel 01
Teil 1
ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, ist eine komplexe neurologische Störung, die das Leben von Betroffenen nachhaltig prägt. Sie beeinflusst die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, Impulse zu kontrollieren und das eigene Verhalten zu steuern. Die Symptome – Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität – treten bei jedem Betroffenen in individueller Ausprägung und Kombination auf.
ADHS ist keine Frage von Faulheit oder mangelnder Disziplin, sondern Ausdruck von Veränderungen in der Gehirnstruktur und -funktion. Um ADHS vollständig zu verstehen, ist es wichtig, die zugrunde liegenden Ursachen genauer zu beleuchten.
Eine zentrale Ursache für ADHS ist die genetische Veranlagung. Studien haben gezeigt, dass ADHS häufig familiär gehäuft auftritt. Das bedeutet, dass die Eltern, Geschwister oder nahe Verwandte von Betroffenen ebenfalls oft gleiche oder ähnliche Symptome zeigen. Die genetischen Einflüsse auf ADHS sind komplex: Besonders betroffen sind Gene, die die Regulation des Neurotransmitters Dopamin steuern. Dopamin ist eine chemische Substanz im Gehirn, die für Motivation, die Verarbeitung von Belohnungen und die Steuerung von Aufmerksamkeit und Impulsen eine entscheidende Rolle spielt. Bei Menschen mit ADHS ist die Funktion des dopaminergen Systems verändert, was erklärt, warum sie oft Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit gezielt zu lenken oder ihre Impulse zu kontrollieren.
Neurologische Untersuchungen bestätigen, dass ADHS mit strukturellen und funktionalen Veränderungen im Gehirn einhergeht. Besonders der präfrontale Kortex (vorderer Stirnlappen), der für exekutive, also ausführende Funktionen wie Planung, Organisation und Selbstregulation zuständig ist, zeigt bei Menschen mit ADHS eine verminderte Aktivität. Weitere betroffene Hirnregionen sind das Striatum (Streifenkörper), das an der Motivation und Bewegungssteuerung beteiligt ist, und das limbische System, das für die Verarbeitung von Emotionen eine zentrale Rolle spielt. Diese Unterschiede erklären, warum Menschen mit ADHS oft Probleme haben, langfristige Aufgaben zu organisieren, emotionale Reaktionen zu regulieren oder sich auf eine Sache zu konzentrieren. Zudem zeigen bildgebende Verfahren, dass die Signalübertragung zwischen diesen Regionen bei Menschen mit ADHS offenbar weniger effizient ist, was die typischen Symptome weiter verstärkt.
Neben den genetischen und neurologischen Faktoren spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle, insbesondere in der frühen Entwicklung. Diese sind zwar nicht die primären Ursachen von ADHS, können aber die Ausprägung der Symptome beeinflussen. Zu den bekannten Risikofaktoren gehören Frühgeburten, ein niedriges Geburtsgewicht und die Exposition des Fötus gegenüber Alkohol, Nikotin oder anderen Substanzen während der Schwangerschaft. Diese Faktoren können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und das Risiko für neurologische Auffälligkeiten erhöhen. Auch Komplikationen während der Geburt, wie Sauerstoffmangel, können das Risiko für ADHS steigern.
Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass psychosoziale Einflüsse die Symptomatik von ADHS beeinflussen können. Stress in der Familie, instabile Lebensumstände oder fehlende Routinen können die Schwierigkeiten von Betroffenen verstärken. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass diese Faktoren ADHS nicht verursachen, sondern lediglich das bereits bestehende Risiko erhöhen oder die Symptome verschlimmern können.
Die moderne Wissenschaft betont allerdings, dass ADHS nicht allein durch genetische oder Umweltfaktoren erklärbar ist, sondern durch die Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelt. Ein Kind mit einer genetischen Veranlagung für ADHS kann in einem stabilen und unterstützenden Umfeld weniger starke Symptome entwickeln als in einem Umfeld, das durch Stress und Instabilität geprägt ist. Dies verdeutlicht, wie wichtig es ist, nicht nur die biologischen Grundlagen, sondern auch die äußeren Lebensumstände von Betroffenen zu berücksichtigen.
Die Ursachen von ADHS sind somit das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Genetik, neurologischen Prozessen und Umweltfaktoren. Dieses Zusammenspiel verdeutlicht auch, warum die Symptome so unterschiedlich ausgeprägt sind und sich im Laufe des Lebens verändern können. Während genetische und neurologische Faktoren die Grundlage für ADHS bilden, beeinflussen Umweltfaktoren und psychosoziale Gegebenheiten, wie sich die Störung im Alltag zeigt.
Das Verständnis dieser Ursachen ist nicht nur für die Diagnose, sondern auch für die Behandlung entscheidend. Eine erfolgreiche Unterstützung von Menschen mit ADHS setzt voraus, dass sowohl die neurologischen Grundlagen als auch die individuellen Lebensumstände berücksichtigt werden. Mit diesem Wissen können Betroffene nicht nur bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen unterstützt werden, sondern auch ihre Stärken und Potenziale gezielt gefördert werden. ADHS mag Herausforderungen mit sich bringen, doch mit dem richtigen Verständnis und einer frühzeitigen Intervention können Betroffene ihr Leben erfolgreich gestalten und ihre einzigartigen Fähigkeiten entfalten.
Kapitel 01
Teil 2
Wusstest du, dass keine ADHS der anderen gleicht? Kennst du einen Menschen mit ADHS, dann kennst du eben einen – aber pauschalisieren ist nicht möglich. Die ADHS-Symptomatiken können sich auf unzählige Arten und Weisen zeigen, abhängig von der Person, den Umständen und sogar dem jeweiligen Moment. ADHS ist eine facettenreiche und komplexe neurologische Besonderheit, die sich durch eine Vielzahl von Verhaltensweisen und kognitiven Mustern äußern kann.
ADHS kann, wie z. B. Autismus auch, als eine Spektrumstörung betrachtet werden, so können Symptome je nach Altersgruppe, Geschlecht und individuellem Umfeld unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche Menschen zeigen hauptsächlich Symptome von Unaufmerksamkeit, während bei anderen Hyperaktivität oder Impulsivität im Vordergrund steht. Es gibt sogar Personen, bei denen eine Mischung aus beiden Symptomen vorherrscht. Hinzu kommt, dass die Ausprägung der ADHS stark unterschiedlich sein kann, je nachdem, wie sich äußere Einflüsse wie Stress, Schlafmangel oder die Lebensphase auf die Symptome auswirken.
Trotz dieser individuellen Unterschiede werden die Symptome sowohl im DSM-5 (Klassifikationssystem für psychische Störungen) als auch im ICD-11 (Klassifikationssystem der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO) grob in drei Erscheinungsformen unterteilt. Die Klassifizierung bietet eine wertvolle Orientierungshilfe, um zu verstehen, wie sich ADHS bei verschiedenen Personen zeigt, aber es ist wichtig zu betonen, dass diese Einteilung nur eine grobe Vereinfachung der vielschichtigen Realität des ADHS-Spektrums darstellen. Schauen wir uns die drei Erscheinungsformen nun genauer an:
Die hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform ist gekennzeichnet durch eine starke motorische Unruhe. Menschen mit dieser Form der ADHS sind ständig in Bewegung, ob durch Zappeln, Herumlaufen oder Klettern in unpassenden Situationen. Besonders Kinder scheinen oft nicht in der Lage zu sein, still zu sitzen oder sich angemessen ruhig zu verhalten. Dabei handelt es sich jedoch nicht um mangelnde Disziplin oder Ungehorsam, sondern um eine ausgeprägte innere Unruhe, die sich in körperlicher Aktivität entlädt. Auch Erwachsene mit dieser Form der ADHS erleben häufig das Gefühl, unter Strom zu stehen.
Zu den auffälligsten Merkmalen dieser Erscheinungsform gehört auch ein stark impulsives Verhalten. Das zeigt sich z. B. darin, dass Betroffene häufig andere in Gesprächen unterbrechen, bevor diese fertig gesprochen haben, oder Antworten heraussprudeln, bevor eine Frage vollständig gestellt wurde. Sie reden oft übermäßig viel und es fällt ihnen schwer, zu warten, bis sie in Gesprächen an der Reihe sind. Sie neigen dazu, Regeln zu ignorieren oder zu stören, was nicht selten zu Konflikten mit anderen Kindern oder Erwachsenen führt. Dieses Verhalten kann in sozialen Situationen problematisch sein, da es als unhöflich oder rücksichtslos wahrgenommen wird.
Menschen mit ADHS der hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsform neigen zu unüberlegten Handlungen, die häufig zu Missgeschicken führen. Oftmals gehen sie Risiken ein, ohne vorher über die Konsequenzen nachzudenken, was sie in gefährliche oder unangenehme Situationen bringen kann. Neben der Impulsivität erleben Menschen mit dieser Erscheinungsform häufig starke Stimmungsschwankungen. Sie reagieren emotional sehr intensiv und können schnell frustriert, verärgert oder aufgeregt sein. Diese schnellen Wechsel von Emotionen können für ihr Umfeld verwirrend oder sogar belastend sein.
Da die hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform sehr nach außen gerichtet ist, wird sie häufig bereits in der Kindheit erkannt und diagnostiziert. Eltern, Lehrer und andere Betreuungspersonen bemerken oft frühzeitig das auffällige Verhalten des Kindes. Allerdings wird diese Erscheinungsform auch genau wegen ihrer nach außen sehr starken Ausprägung häufig als „schlechtes Benehmen“ oder fehlende Disziplin missverstanden. Erwachsene mit dieser Form der ADHS berichten oft, dass sie als Kinder als „störend“ oder „rebellisch“ abgestempelt wurden, obwohl sie schlicht und ergreifend mit ihrer inneren Unruhe und Impulsivität zu kämpfen hatten.
Die vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsform zeigt sich in einer anderen Art von Herausforderung. Während die hyperaktive Variante sehr nach außen sichtbar ist, kann die unaufmerksame Erscheinungsform leicht übersehen oder falsch interpretiert werden, da die Symptome häufig nach innen gerichtet sind. Menschen mit dieser Erscheinungsform fällt es schwer, ihre Aufmerksamkeit auf Details zu richten. Flüchtigkeitsfehler sind ein ständiger Begleiter, sei es bei Hausaufgaben, in der Arbeit oder sogar bei alltäglichen Aufgaben wie Kochen oder Einkaufen.
Ein weiteres Merkmal ist die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Lange Vorträge, umfangreiche Texte oder monotone Aufgaben sind eine Herausforderung, da Betroffene schnell gedanklich abschweifen. Es fällt ihnen schwer, Anweisungen vollständig zu befolgen oder Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren und erfolgreich abzuschließen. Die mangelnde Struktur führt oft dazu, dass wichtige Aufgaben unvollständig bleiben oder überhaupt nicht erledigt werden.
Ein häufiges Problem bei dieser Erscheinungsform ist das ständige Verlieren von Gegenständen, die für Aufgaben benötigt werden. Schlüssel, Brillen, Stifte oder Dokumente verschwinden scheinbar spurlos, was den Alltag erschwert. Menschen mit der vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsform sind zudem besonders anfällig für Ablenkungen durch äußere Reize. Sei es ein Geräusch im Hintergrund oder ein visuelles Detail – sie verlieren schnell den Faden und tun sich schwer, zur ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren. Diese ständige Ablenkbarkeit führt oft zu Frustration und einem Gefühl des Scheiterns.
Typische Verhaltensweisen bei der vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsform sind Tagträumerei und häufiges gedankliches Abschweifen. Betroffene scheinen oft in ihren eigenen Gedanken versunken zu sein, was sie in sozialen Situationen unbeteiligt oder desinteressiert wirken lässt. Diese „nach innen gerichtete“ ADHS wird häufig als Schüchternheit missverstanden. Besonders bei Mädchen und Frauen wird diese Form der ADHS übersehen, da das Verhalten nicht so auffällig ist wie bei der hyperaktiven Variante. Leider führt das oft dazu, dass die Diagnose erst spät oder gar nicht gestellt wird, was den Betroffenen den Zugang zu frühzeitiger Unterstützung und Therapie verwehrt.
Die kombinierte Erscheinungsform der ADHS kombiniert, wie der Name schon sagt, Symptome aus beiden zuvor genannten Formen. Menschen mit dieser Form der ADHS zeigen sowohl Merkmale von Unaufmerksamkeit als auch von Hyperaktivität und Impulsivität. Diese Kombination der Symptome ist oft sehr belastend, da sie verschiedene Aspekte des täglichen Lebens beeinträchtigt – von der Fähigkeit, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, bis hin zur Kontrolle impulsiver Handlungen und Emotionen.
Eine typische Verhaltensweise ist hier ein sehr wechselhaftes Verhalten. Menschen mit dieser Form der ADHS können in einer Situation extrem aktiv und impulsiv sein und in einer anderen vollkommen still und unaufmerksam wirken. Diese Wechselhaftigkeit kann sowohl für die Menschen mit ADHS als auch für ihr Umfeld verwirrend sein, da sich das Verhalten scheinbar ohne Vorwarnung ändert. Das führt oft zu Missverständnissen in sozialen Interaktionen, weil Betroffene als unzuverlässig oder unbeständig wahrgenommen werden.
Die kombinierte Erscheinungsform ist die am häufigsten diagnostizierte Form der ADHS, da sie ein breites Spektrum an Symptomen abdeckt. Kinder und Erwachsene mit dieser Form der ADHS haben Schwierigkeiten in vielen Bereichen ihres Lebens, was oft zu schulischen oder beruflichen Problemen führt. Die Herausforderung, sowohl mit der Unaufmerksamkeit als auch mit der Hyperaktivität und Impulsivität umzugehen, erfordert in vielen Fällen eine individuell angepasste, sogenannte multimodale Behandlung (siehe hier).
Ein wichtiger Aspekt der ADHS, der oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Symptome nicht statisch sind. Sie verändern sich mit dem Alter und der jeweiligen Lebensphase. Kinder zeigen oft stärker ausgeprägte Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität, die sich im Erwachsenenalter oft abschwächen. Deswegen nahm man auch sehr lange an, dass ADHS eine Kinderkrankheit ist und Betroffene mit dem Älterwerden „herauswachsen“. Erst seit wenigen Jahrzehnten weiß man, dass ADHS ein lebenslanger Begleiter ist ( siehe hier). Erwachsene mit ADHS berichten häufig über innere Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten, die weniger sichtbar, aber ebenso belastend sein können. Eine hyperaktiv-impulsive Form der ADHS in der Kindheit kann sich im Erwachsenenalter zu einer kombinierten Erscheinungsform entwickeln, bei der die Unaufmerksamkeit stärker in den Vordergrund tritt.
Neben den Unterschieden im Alter gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ausprägung von ADHS. Studien zeigen, dass Jungen häufiger die hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform zeigen, während Mädchen häufiger von der unaufmerksamen Form betroffen sind. Das hat dazu geführt, dass ADHS bei Mädchen und Frauen oft später oder gar nicht diagnostiziert wird, da ihr Verhalten nicht so auffällig ist. Soziale Erwartungen und Rollenbilder spielen dabei eine entscheidende Rolle: Mädchen werden oft als „Tagträumerinnen“ oder „unaufmerksam“ abgestempelt, während Jungen eher als „hyperaktiv“ oder „auffällig“ gelten.
Wie bereits erwähnt beeinflussen auch die Umwelt und die Lebensumstände die Ausprägung der ADHS-Symptome. In stressigen Situationen oder bei Reizüberflutung verschärfen sich die Symptome oft, während sie in einem strukturierten und ruhigen Umfeld weniger stark zum Vorschein kommen. Kinder mit ADHS zeigen in der Schule oft andere Verhaltensmuster als zuhause, da die Anforderungen und Erwartungen in der schulischen Umgebung anders sind. Eltern berichten häufig, dass ihr Kind in einem Umfeld, in dem es sich wohlfühlt und klare Strukturen vorfindet, weniger Symptome zeigt.
Auch äußere Faktoren wie Schlafmangel und Ernährung können einen erheblichen Einfluss auf die Symptomatik haben. Studien zeigen, dass unzureichender Schlaf die Konzentrations- und Selbstregulationsfähigkeit deutlich beeinträchtigt, was die ADHS-Symptome verstärkt. Ebenso spielt die Ernährung eine Rolle: Während keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise existieren, dass bestimmte Lebensmittel ADHS verursachen, gibt es Hinweise darauf, dass eine ausgewogene Ernährung mit ausreichend Nährstoffen die allgemeine Hirnfunktion unterstützt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass ADHS weit mehr ist als nur „ein wenig Zappeligkeit“. Die neurologische Besonderheit von ADHS ist komplex und äußert sich auf sehr unterschiedliche Weise. Die Vielfalt der Symptome erfordert nicht nur Verständnis, sondern auch Akzeptanz – sowohl von den Betroffenen selbst, als auch von ihrem sozialen Umfeld.
Durch das Verständnis der verschiedenen Erscheinungsformen und ihren unterschiedlichen Ausprägungen in Bezug auf Alter, Geschlecht und Umfeld können wir die notwendigen Schritte zur Unterstützung und Förderung der Betroffenen ergreifen. Nur durch die Aufklärung über ADHS und das Wissen darüber, wie sie sich äußern kann, kann eine individuelle und passende Unterstützung für Menschen mit ADHS gewährleistet werden – sei es in der Familie, in der Schule oder im Arbeitsleben.
Kapitel 01
Teil 3
ADHS ist eine der am häufigsten diagnostizierten neurologischen Besonderheiten weltweit, doch trotz der umfangreichen Forschung und Aufklärung gibt es immer noch zahlreiche Mythen und Missverständnisse rund um das Thema. Diese Fehlinformationen führen nicht nur zu einer falschen Wahrnehmung, sondern auch zu einer Stigmatisierung der Menschen mit ADHS, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Häufig werden Verhaltensweisen, die typisch für ADHS sind, als Faulheit, Disziplinlosigkeit oder sogar als „schlechtes Benehmen“ missverstanden.
In meiner Arbeit als ADHS-Trainerin und auch mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, so viele Mythen und Missverständnisse wie möglich zu entkräften. Ein besseres Verständnis von ADHS kann zu mehr Akzeptanz führen und dabei helfen, den Betroffenen die nötige Unterstützung zu bieten. Im Folgenden gehe ich auf fünf der häufigsten Mythen ein, die rund um ADHS kursieren, und erkläre, warum sie schlichtweg falsch sind.
Das ist einer der am weitesten verbreiteten Mythen über ADHS. Viele Menschen sehen ADHS-bedingtes Verhalten – wie Impulsivität, Hyperaktivität oder Unaufmerksamkeit – als Zeichen von mangelnder Disziplin oder schlechtem Benehmen. Es wird angenommen, dass die Betroffenen einfach „nicht zuhören“ oder „sich nicht genug anstrengen“. Aber das ist weit entfernt von der Wahrheit.
ADHS ist eine neurologische Besonderheit, die das Gehirn betrifft, insbesondere jene Bereiche, die für die Selbstregulation, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle zuständig sind. Studien haben gezeigt, dass das Gehirn von Menschen mit ADHS anders funktioniert, insbesondere der präfrontale Kortex, der für die Planung und Kontrolle von Verhalten verantwortlich ist. Es handelt sich also nicht um mangelnden Willen oder Faulheit, sondern um eine neurobiologische Besonderheit, die das Verhalten steuert und oft gegen den Willen der Betroffenen handelt.
ADHS-Symptome sind für Außenstehende nicht immer als solche offensichtlich – besonders bei der unaufmerksamen Erscheinungsform, die eher nach innen gerichtete Symptome zeigt. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, zwischen absichtlichem Fehlverhalten und unkontrollierten ADHS-Symptomen zu unterscheiden oder bringen die Symptome nicht mit ADHS in Verbindung. Besonders Kinder mit ADHS erleben häufig, dass sie aufgrund ihres Verhaltens bestraft werden, obwohl sie sich oft selbst nicht erklären können, warum sie „nicht anders können“.
Fazit: ADHS ist keine Ausrede für schlechtes Benehmen. Es ist ein Anderssein, das Betroffene in ihrer Alltagsbewältigung einschränken kann. Anstatt Vorwürfe zu machen, sollten wir mehr Verständnis für die Schwierigkeiten entwickeln, mit denen Menschen mit ADHS täglich kämpfen.
Dieser Mythos ist besonders bei Eltern weit verbreitet, die sich häufig fragen, ob der Zuckerkonsum oder zu viel Medienzeit bei ihren Kindern zu ADHS geführt haben könnte. Es wird oft angenommen, dass Kinder durch Zucker „hyperaktiv“ werden oder dass zu viel Fernsehen oder Computerspiele die Ursache sind.
