Fast kein Land - Ocke Bandixen - E-Book

Fast kein Land E-Book

Ocke Bandixen

4,8

Beschreibung

Sommer 1939. Der 12-jährige Hannes wächst auf einem Bauernhof in Nordfriesland auf - und gerät auf dem abgeschiedenen Hof unversehens in die Wogen der Weltpolitik. Ein schwedischer Vermittler hat Hermann Göring und einige englische Lords hierher zu einer Geheimkongferenz eingeladen - eine letzte Anstrengung, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Hannes weiß, dass der Deich und der heimatliche Hof durch Diamentenfunde in Deutsch-Südwestafrika bezahlt wurden. Während er von dem fernen Land träumt, spielt er plötzlich eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen. Und ebenso sein Geburtstagsgeschenk, das lang ersehnte Taschenmesser.-

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Ocke Bandixen

Fast kein Land

Roman

Saga

1.

Wir fühlten uns wohl in der blauweißen Gemütlichkeit der Küche. Ich saß wieder neben Irene. Die Kartoffelstücke platschten von Zeit zu Zeit in die weiße Emaillewanne. Ludwig hockte auf der weißen Bank gegenüber am Tisch und erzählte, wie er das immer tat: langsam, fast stockend, aber melodisch. Heute denke ich, er wusste, dass er es konnte: erzählen.

Mir öffnete er die Welt.

Ich saß neben Irene, nicht neben Ludwig, weil ich ihm so besser zusehen konnte, wie er sprach, mein Freund. Und weil ich, dann und wann unbemerkt, wie ich am Anfang dachte, oder zumindest geduldet, wie ich später vermutete, von Irenes Kaffee trinken konnte.

Ludwig fuhr, segelte noch einmal um die Welt. Um Kap Horn, durch die Südsee. Er war bestimmt ein guter Pirat gewesen. Davon war ich als kleiner Junge überzeugt – und später davon, dass er zumindest ein guter Seemann gewesen war.

Seine Geschichten wehten und schaukelten, sie stürmten und wirbelten, sie sprühten mir die Gischt an den Küchentisch, auf meinen Platz, mitten ins Gesicht. Ich konnte nicht genug davon bekommen, dabei war er eigentlich etwas anderes. Geologen-Assistent oder so.

Ich liebte so sehr seine Seegeschichten, die er aus jener Zeit erzählte, als er in Afrika die Eisenbahn mitgebaut hatte – oder zumindest den Weg für sie vermessen. Und ich wusste dann, eher instinktiv als durch das Gewicht seiner Worte, dass es ihm ernst war. Er erzählte eine wahre Geschichte. Diese Erzählung konnte mich noch mehr gefangen nehmen als seine anderen, gerade weil sie so besonders war. Auch sie schien fantastisch und kaum zu glauben. Die grauen Augen und das dann und wann zum Unterstreichen des Gesagten eingesetzte Nicken Ludwigs, verbunden mit seinem heiseren, bekräftigenden Brummen, waren noch öfter zu beobachten als sonst, sie scheuchten alle Zweifel in die Marschenfelder vor unserem Haus. Was blieb, war das Wundern, das Staunen, dass es so etwas geben konnte.

Eine Stadt im Sand, mitten in der Wüste, wie aus dem Nichts entstanden. Erbaut, gewachsen allein durch die Sehnsucht und die Gier der Menschen: Ballsäle, Salons, Promenaden, Hotels.

Sie lag an der Strecke, die Ludwig damals gebaut hatte. Natürlich nicht allein. Er war nur ein Helfer, wie er das nannte. Die Verantwortung hatten andere, zum Beispiel der Mann, für den er arbeitete.

Die Stadt hieß Kolmannskuppe. Und sie lag in Deutsch-Südwest. Eine afrikanische Goldgräberstadt. Besser: eine Diamantengräberstadt. Man sprach vornehmlich deutsch. Aber hier lebten Händler, Diamantensucher, Glücksritter aus aller Herren- und Sklavenländer.

Sie stand und trotzte der Wüste, der Sonne, der Hitze, dem Sand wie der Fiebertraum eines Durstenden, der wahr wurde. Eine Fata Morgana aus Holz und Stein.

Ich hatte heimlich im großen Atlas meines Vaters versucht, diesen geheimnisvollen Ort zu finden. Bisher vergeblich. Die Lücke im Regal war gewaltig, wenn der Atlas fehlte, also machte ich, so schnell ich konnte. Mehrere Versuche, die ich jeweils aus Angst abgebrochen hatte, waren erfolglos geblieben. Ich stellte mir mehr und mehr die Frage, die ich im Angesicht Ludwigs nicht einmal zu denken gewagt hätte: Gab es diese Stadt?

Ludwig hatte einen Strich auf dem Arm, dem linken. Ich wollte nur zu gern glauben, dass es eine Tätowierung war. Es hätte so gut gepasst. Und er ließ mich in dieser Fantasie.

»Mir ist das Geld ausgegangen«, knurrte er und lachte unter dem Rost in seinem Gesicht, den Ringen und Falten, den roten Flecken und den schweren Linien um die Augen. Der Strich war violett, tatsächlich wohl ein alter Schnitt. Ein Strich wie ein großes I. Für Irene, da war ich mir sicher. Für mehr Geld hätte er auch mehr Buchstaben bekommen.

Irene lachte leise, wie nur sie es konnte, still, fast schweigend, nur für sich. Ihre Augen, die kugeligen, die sonst alle einluden, festhielten, beisammen sein lassen wollten, diese Augen waren dann immer ganz schmal, wenn sie lachte, hatten die Herrschaft verloren über ihr Gesicht. Irene kicherte nur für sich, weil sie es dann vielleicht besser bewahren konnte, ihr kleines Gelächter, die hellen Momente, als wenn sie laut alles heraus und fort gelacht hätte.

Irene hatte schmale Schultern, einen runden, breiten Rücken und hochgesteckte Haare. Man konnte ihren Nacken sehen. Ein, zwei graue Haare fielen zwischen den braunen aus dem Knoten herunter. Die hellblau-weiße war ihre Lieblingsschürze. Irene war schon lange bei meinen Eltern, länger als ich.

»Wir fingen an im Dezember 05«, begann Ludwig stets seine Geschichte. Es klang für mich immer wie eine Ansage am Bahnhof. Achtung, der Zug fährt ein, Dezember 05!

»Sechs Fuß, drei Zoll, sollte später an das südafrikanische Eisenbahnnetz angeschlossen werden. Geld lief, Wasser nicht. Das hatten wir nicht. Keines da. Hottentotten-Aufstand, die Soldaten, die Seuchen, ach, alles nicht so schlimm. Aber der Durst war niederträchtig.«

»Dann trink man noch«, brummte Irene stets gutmütig an dieser Stelle. Ludwig stürzte jedes Mal, auch aus Schau, die Tasse hinunter. Ich brannte auf eine Fortsetzung. Das Beste, das wusste ich schließlich, würde gleich kommen: Diamanten!

Ludwig wusste, dass ich es wusste, und so ließ er sich Zeit. Berichtete ausführlich von Spurbreiten der Gleise, den Trinkwasserproblemen und den Nama, die immer wieder Vorposten angegriffen hatten, und so weiter.

»Ludwig?«

»Ja?«

»Na?«

»Was?«

»Die Diamanten!«

»Ach, ja.« Er lächelte und tat, was er immer an dieser Stelle der Geschichte tat. Er krempelte seine Ärmel hoch. Und wenn er es schon getan hatte, dann tat er so, als täte er es noch einmal.

»Der Zacharias, fixer Junge, sollte was holen, weiß bei Gott nicht mehr, was.«

Ludwig sprach es schnell wie eine tausendmal gesagte Zauberformel, hektisch, doch voller Melodie. Die Pause und dann das »bei Gott«. Ludwig war, zumindest nach meiner Beobachtung, wenig bis gar nicht gläubig. Die Worte fielen wie von selbst in der immer gleichen Reihenfolge und Betonung aus seinem Mund.

»War erst bei Kilometer 16. Noch fast gar nichts also. Lüderitzbucht konnte man noch riechen. Er, der Zacharias, war auf jeden Fall mit einer Schaufel los. Und kam dann wieder. Moj Klip! Moj Klip!«

Ludwig hielt uns die Hand offen hin. Und wir guckten wie jedesmal auf seinen Handteller, als sähen auch wir den ersten gefundenen Rohdiamanten. Wie er damals. Den Diamanten, der alles verändert hatte.

2.

Mein zwölfter Geburtstag sollte etwas ganz Besonderes bringen, das war klar. Nicht nur ein Jahr mehr, das ich natürlich auch schon sehnsüchtig erwartete, um ja doch von den Großen noch ernster genommen zu werden.

Meine Mutter war schwanger. Der Arzt hatte erst voriges Mal gefragt, ob sie denn auch zwei Kinderbetten auftreiben könne. Der liebe Gott meine es eventuell mit ihr doppelt gut. Ich hatte gelauscht.

Es sollte noch ein wenig dauern mit der Geburt, hatte Irene mir am Tag darauf zugeraunt. Sie war die Vertraute meiner Mutter. Selbst hätte die mir so etwas doch nie erzählt. Dass sie in anderen Umständen war, das hatte sie mir von Irene quasi überbringen lassen. Wohl hatte sie Angst, sie müsste mir erklären, wo die Kinder herkommen. Dabei wusste ich natürlich längst Bescheid.

Ludwig hatte einen Kompass und eine Pfeife. Den Kompass trug er an einer Uhrkette, zog ihn dann und wann aus der Tasche und guckte ihn an, als sei er eine Uhr. Manchmal, wenn ich oder jemand anderes, den er mochte, guckte, tat er so, als ziehe er den Kompass auf und höre dann, ob er auch wieder ticke.

Die Pfeife hatte eine langen, schwarzen Stiel und ein graues, weil zerbissenes Mundstück. Als ich neun war, hatte er mir auch eine gemacht, massiv aus Holz, ebenfalls schwarz, nur ein bisschen kleiner als seine. »Darfste nur Madame nicht zeigen«, hatte er gesagt und auf die oberen Fenster des Hauses gewiesen.

»Nur auf dem Wagen, wenn wir alleine fahren, einverstanden?«, hatte ich gefragt und ein rostiges Lächeln, wie nur Ludwig es konnte, zur Antwort bekommen.

Und mein Vater? Nun, er hatte zu tun. Und ich natürlich auch. Ich hatte Sommerferien, und das bedeutete für mich, dass ich mithalf. Ich machte alles, wobei mich Ludwig, unser Knecht, gebrauchen konnte. Und das war eine Menge: Tiere, Hof, Feld. Besorgungen machten wir auch. Mit dem Wagen, denn alles andere war ja zu weit.

Unser Hof lag draußen, weit vor den anderen. Das Land war gut, es war wohl das fruchtbarste in ganz Nordfriesland. Es war gerade erst eingedeicht worden. Der mächtige Wall, der vom Wasser her flach anstieg und dann doch eine beachtliche Höhe erreichte, schützte uns. Unserer und die anderen Pachthöfe neben uns standen in der ersten Reihe dahinter.

»Moj Klip!«, das sagte Ludwig oft. Immer dann, wenn ihm etwas einfiel, etwas gutes Neues unterkam, wie vielleicht eine neue Sorte Tau, die mein Vater aus der Stadt mitgebracht hatte, oder eine schöne Feder, die ich aufgesammelt hatte und ihm unter die Nase hielt. »Moj Klip!« Und ich sagte es dann auch. Moj Klip!

Erst durch die Jahre, das Älterwerden und das zunehmende Verstehen, denke ich, erkannte ich langsam, wie besonders wir wohnten. Mir muss es bei einer der Fahrten mit Ludwig aufgegangen sein: Weiße, große Häuser. Farmhäuser, lernte ich später, gebaut nach dem üblichen Kolonialstil in Deutsch-Südwest, standen hier. Sieben an der Zahl, mehr oder weniger nebeneinander. Schwer und breit, auf jedem Hof eines.

»Woher kommst Du eigentlich, Ludwig?«

»Woher?« Ludwig schlürfte Kaffee in der Küche und versenkte sein Gesicht lange in der Tasse.

»Na, von da.« Er zeigt unbestimmt in Richtung Südwest.

»Woher genau?«

»Genauer kann ich das gar nicht mehr sagen.«

Er lachte kurz sein rostiges Lachen und suchte beim Umherblicken nach etwas, das mich ablenken könnte.

»Doch, Du willst nur nicht.« Das hatte ich unserem Knecht noch nie gesagt. Er war mir vertraut und ich wagte schon, ein wenig respektloser mit ihm zu reden als beispielsweise mit meinem Vater.

»Habe ich Dir schon einmal erzählt von dem Vorposten, als ich angegriffen wurde? Vor Seeheim war das. In Südwest.«

»Nein.«

Ludwig kniff die braunen Augen zusammen, lächelte schief und nickte, sodass sich eine graue Strähne aus seinen nachlässig nach hinten gekämmten Haaren löste.

»Das war auch nicht so schön.«

»Was ist da passiert?«

»Erzähle ich lieber nicht. Verstehst Du?«

Ich bewegte meinen Kopf und wusste selbst nicht, ob ich nickte oder ihn schüttelte.

3.

Unser Land war etwas Besonderes. Die Straßen waren breit und gerade, sie waren so gebaut, wie sie einst auf einem Reißbrett gezogen worden waren. Die Möwen waren bei uns öfter als anderswo. Sie kamen – wie immer – an Land, wenn draußen das Wetter schlecht war, aber auch sonst kamen sie öfter zu uns als zu den anderen Bauern, deren Höfe und Land weiter drinnen waren, man kann fast sagen, weiter auf dem Festland.

Und der Wind war immer da. Nicht dass das etwas wirklich so Außergewöhnliches gewesen wäre. Denn der Westwind war hier zu Hause. Zu uns kam er aber beinahe ungeschützt, ungebremst.

Er war an manchen Tagen und Abenden so hart und nass, dass man glauben konnte, er habe auf dem letzten bisschen Meer vor unserem Land noch Salz und Gischt aufgesammelt, die er uns quer in die Gesichter trieb und auf die Felder warf. Die Deiche waren die Sicherung des Landes. Nicht immer schon, aber seit vielen großen Fluten erprobt. Einer größer als der andere, einer von See her flacher ansteigend als die anderen. Es gab drei Deiche: Den alten, er lag gerade einmal kurz hinter den Ortschaften, eine erste, alte Grenze zum Meer, wie eine Falte, die sich in das Land gelegt hatte.

Der zweite war der Schlafdeich. Er war höher und lief flacher an als der alte, war damit breiter. Er wurde auch besser gepflegt von Schafen und Menschen. Er hatte noch Dienst, wenn der Außendeich brechen sollte. Und der lag vor unserem Hof. Die Grenze, die ich sah, wenn ich von unserem Haus auf das Meer blicken wollte.

Es war, als hielte er nicht nur die Flut auf der Seeseite zurück. Er ließ auch die Blicke von der anderen Seite, also unserer, nicht zu, die sehnsüchtig zum Meer gerichtet wurden. Er schaffte Ordnung in unserem Leben. Das Meer zog die Menschen hier dennoch ständig an, auch mich, aber der Deich verhinderte das Schlimmste. Über den Deich wachte der Graf, wie bekannt, Herr mehr über Land und Schafe, denn über Untertanen. Die Schafe fraßen, traten fest, trampelten Mäuse- und Karnickellöcher zu. Wie Wolken, langsam sich immer wieder teilend und zu neuen Mustern und Formen zusammenfindend.

Zwischen den Deichen lagen die Köge, benannt nach ihren Erbauern oder Planern, junges Land mit alten Namen und Geschichten versehen, wie es gut in die Landschaft passte. Denn das Land hatte ein gutes Gedächtnis, hier wurde nichts vergessen, schon gar nichts, das mit dem Meer zu tun hatte.

Das Land war gut, die Felder waren groß. Das Korn stand jeden Sommer hoch, höher noch als anderswo. Der Neid der anderen war uns eigen wie der Stolz, hier zu sein.

Mein Vater empfand es als Privileg, hier Pächter zu sein. Als junger Mann hatte er, ich konnte es aus manch betrunkener Rede heraushören, die er mehr für sich als für mich brabbelte, von Amerika geträumt. Amerika und immer wieder Amerika. Hier nun waren seine Träume gelandet, nicht ganz Amerika, aber in einem Land vor der anderen Welt. Vorland nannte man bezeichnenderweise das Land vor dem Deich, das noch ungeschützt war.

Einmal war es, als wir Besuch von einem Onkel hatten, der unser neues Zuhause noch nicht kannte, da gingen wir zusammen auf den Deich und guckten. Das taten wir oft, nur meistens schweigend. Nun aber hob der Onkel seinen Stock und krächzte in den feuchten Abendhimmel: »Wer kann England sehen? Da hinten ist England!«

Mein Vater wandte sich verächtlich zur Seite und sprach zu mir, der ich der einzige Begleiter war, an den er solche Rede richten konnte: »Wir können viel weiter sehen als England. Viel weiter, was?«

Im Nachbarkoog, im nächsten Dorf, die Straße immer weiter, da sahen die Häuser anders aus, schon immer: geduckt, rote Ziegel, manche weiß angemalt, die meisten mit Reetdach, wie üblich im Land. Die Straßen in den Dörfern verliefen rund, gebeugt, wie immer, als mache sie der ewig gleiche Gang so, um die Kirchen, um die Warften, um die Erhöhungen, auf denen die alten Häuser standen.

Und hier? Verbargen sich in den Häusern die Geschichten, die Ludwig als Zeugen mitgebracht zu haben schienen?

Unser Koog, so nennt man den Abschnitt des neu eingedeichten Landes, wurde nach seinem Finanzier, dem Eisenbahnbauer und Millionär Sönke Nissen, benannt.

Er stammte ursprünglich aus einem Nachbardorf. Er war Eisenbahningenieur geworden und hatte nach einiger Erfahrung im Bau von Bahnstrecken den Auftrag bekommen, in den deutschen Kolonien in Afrika die Schienenwege zu bauen.

Zuerst baute er die Usambara-Bahn in Deutsch-Ostafrika. Da hatte Ludwig ihn auch kennengelernt. »Sie zahlten mir einfach besser an Land als auf dem Meer«, sagte er immer wieder, immer im gleichen Singsang der gleiche Satz, immer wenn er davon erzählte.

Und dann hatte Nissen als Oberingenieur auch noch in Deutsch-Südwest eine Strecke bauen sollen. 1905 ging es los, kurz nach dem Hottentotten-Aufstand, den ich auch in der Schule hatte. Sie bauten über eine Strecke zwischen Lüderitz und Keetmannshoop. »Sand, Staub, so wenig Wasser, kann sich kein Mensch ausdenken«, pflegte Ludwig zu sagen und dann noch einmal nach seiner Tasse zu greifen, als wolle er den Durst von damals immer noch tilgen.

»140 Kilometer, auf 1400 Höhe rauf, Lüderitz, Burenkamp, Kolmannskuppe, Grasplatz, Haalenberg, Schkalskuppe und weiter bis nach Seeheim. Dann, der Ausbau«, Ludwig zeichnete meist mit dem Pfeifenstiel auf dem Küchentisch die Strecke, »weiter nach Keetmannshoop, Hoolog, Grabwasser, Grünau und nach Kalkfontein. Als sie dann den Stein, den Klippie, gesehen hatten, haben sie erstmal die Schnute gehalten«, sagte Ludwig immer über Nissen und seine Kollegen.

»Sie sicherten sich die Schürfrechte, wurden enorm reich und lösten einen Diamantenrausch in der Kolonie aus. Diamanten, die wurden auf den Knien eingesammelt, in Marmeladengläsern«, sagte Ludwig, und es klang nach Ekel, nicht nach Freude. »Diamanten, die liebte man dort nicht, man hasste sie. Oder vergötterte sie. Viele Männer blieben. Nissen nicht.«

Den Rest wusste ich aus der Schule und von meiner Mutter. Sönke Nissen bezahlte den neuen Deich und bekam das Recht, dem Koog seinen Namen zu geben, sowie sieben Höfe samt fruchtbarstem Land.

Er brachte ein Stück seiner neuen Heimat zurück in die alte. Er ließ sieben Gutshäuser im Stil der Farmen Namibias bauen, weiß und breit, und gab den Höfen Namen von Bahnstationen aus Deutsch-Südwest, die ihm soviel Glück gebracht hatten. Und da sind sie, wie Perlen auf einer Schnur, wie Stationen einer weiteren Bahn, die er gebaut haben könnte. Nur ins Wasser, das zu Land wurde, nicht durch den Sand, der zum Weg wurde: Elisabethbay, Lüderitzbucht, Kolmannskuppe, Seeheim, Grasplatz, Keetmannshoop, Kalkfontain.

Und eine weitere Laune des Herrn Nissen sollte weithin leuchten und tut dies bis heute: Die Dächer, verfügte er, die Dächer sollten alle in der Farbe des Dachs des Hamburger Michels gestrichen werden, in hellem Grün. Ludwig erzählte, dass zwei Handwerksmeister, der eine Maler, der andere Tischler, von dem noch zu sprechen sein wird, eigens nach Hamburg fuhren und auf den Kirchturm des Michels stiegen, um den richtigen Farbton des angelaufenen Kupferdaches zu bekommen.

Bevor noch der Koog fertig eingedeicht worden war, vor gut 20 Jahren, war Herr Nissen gestorben. Ludwig hatte er uns dagelassen. Ob mein Vater wohl einen guten Knecht brauchen könne? »Arbeit gibt’s genug«, hatte mein Vater geantwortet.

Wir lebten auf unserem Hof wie auf unserem eigenen. Die Pacht wurde pünktlich bezahlt. Die Besitzerin, die Witwe Sönke Nissens, ließ sich nur selten sehen. Sie hatte wohl noch anderswo Besitz.

Immer wenn ich Angst bekam, hatte ich das Gefühl, meine Ohren wüchsen. Als ob mein Kopf ein wenig schrumpfte und die Ohren weiter ausgefahren würden. Wenn ich dann ganz stillhielt, konnte ich sie gut spüren, die Angst. Wenn es dunkel war, das machte mir nichts aus. Wenn der Sturm kam, die Flut hoch stieg, das schreckte mich nicht. Es war eher ein Sonntagmittagsgefühl von Einsamkeit. Wenn alle, auch Irene und Ludwig, meine Eltern, meine große Schwester, als sie noch bei uns lebte, zu Mittag schliefen. Wenn die Sonne die gute Stube warm machte, der Wind die Gardinen bewegte, dann konnte ich Angst kriegen. War ich als Einziger übrig? Waren die anderen tot?

Ich summte, singen wäre zu laut gewesen. Ich summte, schaffte es aber nicht, ein Lied oder nur eine Melodie zu fangen. Bis ich eine der drei Katzen sah, die auf ihrem Rundgang vorbeikam. Oder Scharik, den Hund, hörte, der sich von Fliegen ärgern ließ.

Manchmal träumte ich davon, dass ein Zug bei uns hielt. Ein dampfendes, rauchendes, rasselndes Ding, das am besten auch noch wahnwitzig laut pfiff. Es holte mich ab und fuhr auf gerader Strecke parallel zum Meer zum nächsten Hof, zur nächsten Station. Nach der siebten, Kalkfontain, pfiff der Zug erneut, ich beugte mich zum Fenster hinaus und hielt meinen Kopf in den Wind, sah drei, vier der Höfe noch hinter uns. Vor der Lokomotive aber lag leere, sandig-gelbe Strecke, von grauen Steinen bekörntes Land, die Luft war heiß, sie flimmerte. Und dann fuhr die Eisenbahn an.

Unser Koogsland war grün. Ich stellte mir manchmal vor, wie es von einem Flugzeug aus aussehen müsste. Grün, entschied ich. Natürlich. Auch die Dächer. Sie sollten wahrscheinlich wie Kupfer aussehen, das schon viele Jahre auf den wuchtigen weißen Häusern lag.

Sönke Nissen hatte diesem Ort nicht nur seine Erlebnisse mitgeben wollen durch die Bauweise der Häuser und die Namen, die in großen, schwarzen Buchstaben über den Eingangstüren standen. Er hatte ihnen auch eine Vergangenheit geben wollen. Ein bisschen Patina und Grünspan.

Und noch etwas ging mir mit den Jahren auf. Wir wohnten an einem Ort, der kein Punkt, sei er noch so groß, sondern eine Fläche war. Sönke-Nissen-Koog, das war unsere Adresse, aber es war eben doch nur die Summe der Höfe an den Feldern, ab und zu ein Haus an geradem Weg. Wie eine Gruppe von Inseln, die einen gemeinsamen Namen hatten.