Faszination Psyche (Wissen & Leben) - Fred Christmann - E-Book

Faszination Psyche (Wissen & Leben) E-Book

Fred Christmann

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Beschreibung

Wie unsere Psyche funktioniert. Wer sich selbst und andere besser versteht, hat es ein ganzes Stück weit leichter im Leben. Das neue Buch des bekannten Verhaltenstherapeuten Dr. Christmann öffnet die Türen zu den faszinierenden Facetten unserer Psyche. Sie werden feststellen: Nichts ist bloße Wissenschaft, alles betrifft Sie persönlich. Zunehmend suchen Menschen Hilfe in Psychotherapien, um für sich zu klären, was ein gutes Leben ausmacht und wie dieses gelingen könnte. Meist ist selbst in einer Psychotherapie die Zeit zu knapp, um alle wichtigen Punkte anzusprechen. Denn alles hängt mit allem zusammen. Dieses Buch schafft die Grundlage für mehr Orientierung und einen besseren Umgang mit sich und anderen. Es stellt anhand wissenschaftlicher Experimente und der Praxiserfahrung des Autors ein großes Spektrum psychologischer Themen unseres Alltags dar: vom Umgang mit Gefühlen wie Angst und Glück über Kreativität bis hin zu Selbstwertstärkung, Persönlichkeit und Veränderungsmöglichkeiten. Die 60-minütige Onlineübung und konkrete Anregungen helfen, die gewonnene Erkenntnis in neues Verhalten umzusetzen. Dieses Buch richtet sich an: - Alle, die sich und andere besser verstehen möchten - Psychologie-Interessierte - Psychologie-Studentinnen und -Studenten Aus dem Inhalt Psychologische Experimente – Experimente am Menschen? | Wie unsere Psyche funktioniert | Das Ich und sein Selbstwert | Unsere Konstruktion der Welt | Persönlichkeit – Was uns als Mensch ausmacht | Gut oder böse? – Die Macht der Situation | Konformität – Möchten Sie mal aus der Reihe tanzen? | Verantwortungsdiffusion und Gewalt – Die dunkle Seite des Menschen | Kreativität – Zwischen Genie und Wahnsinn | Entscheidend sind die Gefühle | Gesund, krank, verrückt oder nur anders? | Stress – Weshalb schöne Augenblicke immer so schnell vergehen | Keine Angst vor Ängsten | Sucht – Der Himmel auf Erden oder Teufelszeug? | Das Glück liegt in Ihrer Hand | Geschlechter – ziemlich beste Freunde |Aufmerksamkeit – Mehr als nur anwesend sein | Motivation – Nur nicht schwach werden | Möglichkeiten der Veränderung | Resilienz – Was die Seele stark macht | Unsere Psyche zwischen Faszination und Wissenschaft

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Seitenzahl: 401

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Fred Christmann

Faszination Psyche

Sich selbst und andere besser verstehen

Dipl.-Psych. Dr. Fred Christmann

Stiftung Psyche

Am Hohengeren 9, 70188 Stuttgart

[email protected]

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besonderer Hinweis:

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Schattauer

www.klett-cotta.de

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: unter Verwendung einer Abbildung von shutterstock.com © angkrit

Lektorat: Maren Klingelhöfer

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-43292-3

E-Book: ISBN 978-3-608-19130-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-29126-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Woran sollen wir uns heute orientieren, wenn Traditionen überholt sind und permanenter Wandel die Gegenwart prägt? Früher gab die Religion den Menschen Orientierung. Die Sicherheit, die man der religiösen Ordnung verdankte, ging häufig mit Schuldgefühlen einher, denn diese Ordnung war in der Regel mit Drohungen und Strafen bei Verfehlungen verbunden. Doch wer ist schon frei von Fehlern?

Heute hat die rationale Wissenschaft die Deutungshoheit über unser Leben übernommen. Erklärungen ersetzen Vorschriften, dennoch befriedigen die Antworten angesichts psychischer Abgründe manchmal nicht. Wir suchen mehr denn je nach Sinn und Glück. Immer mehr Menschen nehmen die Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch, um für sich zu klären, wie ein gutes Leben aussieht und wie dieses gelingen könnte. Meist ist selbst in einer Psychotherapie die Zeit zu knapp, um alle wichtigen Punkte anzusprechen. Denn alles hängt mit allem zusammen. Dieses Buch versucht, eine Grundlage für die Beantwortung dieser Fragestellungen zu schaffen, Orientierung zu geben. Ein großes Spektrum psychologischer Themen, die unseren Alltag betreffen – von Angst über Glück und Persönlichkeit bis hin zu Veränderungsmöglichkeiten –, soll hier anhand wissenschaftlicher Experimente dargestellt werden. Denn es ist faszinierend, sich mit unserer Psyche und der Wissenschaft vom Verhalten und Erleben auseinanderzusetzen. Nichts ist graue Theorie, alles betrifft einen persönlich.

Sie erfahren in diesem Buch viel über sich, das Leben und den Umgang mit anderen. Als erfahrener Psychotherapeut, der zudem seit vielen Jahren psychologische Inhalte in Ausstellungsführungen und Stadtrundgängen vermittelt, weiß ich, dass viele Menschen an der Psychologie und ihrer Anwendung interessiert sind. Dieses Buch soll das bestehende Interesse befriedigen.

Zudem bietet es konkrete Tipps und online zwei 30-minütige Audioübungen, die dabei helfen, die gewonnenen Erkenntnisse in neues Verhalten zu überführen.

Die digitalen Zusatzmaterialien zu diesem Buch haben wir Ihnen zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt.

Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM43292

So gelangen Sie zur Download-Seite, wo Sie die Materialien herunterladen können.

Wer sich und andere besser versteht, wird eher ein gutes Leben führen können und auch mehr von einer Psychotherapie profitieren.

Fred Christmann

Durch das Verstehen lösen wir uns von der Beherrschung durch das Unbewusste.

(Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie)

Inhalt

1 Psychologische Experimente – objektiver Erkenntnisgewinn?

2 Wie unsere Psyche »funktioniert« – Lernen und Verhalten

3 Ich und mein Selbstwert – sich des eigenen Wertes bewusst sein

4 Unsere Konstruktion der Welt – nur keine Widersprüche!

5 Persönlichkeit – was uns als Mensch ausmacht

6 Gut oder Böse? – Die Macht der Situation

7 Konformität – möchten Sie einmal aus der Reihe tanzen?

8 Verantwortungsdiffusion und Gewalt – die dunkle Seite des Menschen

9 Kreativität – zwischen Genie und Wahnsinn

10 Gefühle – sie sind entscheidend

11 Gesund, krank, verrückt – oder nur anders?

12 Stress – schädlich für unsere Gesundheit

13 Ängste – weglaufen zwecklos

14 Sucht – wie kommt Abhängigkeit zustande?

15 Glück – es liegt in unseren Händen

16 Geschlechter – ziemlich beste Freunde

17 Aufmerksamkeit – mehr als nur anwesend sein

18 Motivation – nur nicht schwach werden

19 Verhaltensänderung – wie wird sie möglich?

20 Wohlbefinden und Zufriedenheit – nur keine zu hohen Erwartungen!

21 Psychologie – Richtschnur für ein gutes Leben

Weiterführende Literatur

Sachverzeichnis

Online-Material: www.klett-cotta.de (hier OM43292 ins Suchfeld eingeben)

1 Psychologische Experimente – objektiver Erkenntnisgewinn?

Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten. Sie gewinnt ihre Erkenntnisse meist durch Befragung oder Beobachtung der Menschen. Beiden Methoden sind Grenzen gesetzt. Viele Menschen können über ihr Inneres nur sehr schlecht Auskunft geben, und über ein mögliches Verhalten in einer noch nie erlebten Situation täuschen sie sich in der Regel sehr. Beobachtung führt oft zu verfälschten Ergebnissen, weil sich dadurch das Erleben und Verhalten der beobachteten Personen verändert. Beim Sex ist es offensichtlich, dass ein beobachtender Versuchsleiter oder auch eine Kameraaufzeichnung für die anschließende wissenschaftliche Analyse die Intimität beeinflussen würde. Befragungen sind jedoch wenig zuverlässig. So sinken die Angaben zur Häufigkeit sexueller Aktivität unter Partnern, wenn nach einer Befragung mittels Fragebogen später noch einmal dieselbe Frage im Rahmen eines Lügendetektorexperiments wiederholt wird. Die Neigung zu sozial erwünschtem Verhalten lässt sich meist nur durch trickreiche Experimente verhindern, wie durch die angebliche Ableitung objektiver Messwerte mittels Lügendetektor.

Der Wahrheit über unsere Psyche kommt man in wissenschaftlichen Experimenten oft näher als mittels anderer Methoden. Viele klassische Experimente haben selbst ihre Versuchsleiter überrascht! Manches Rätsel um die Seele konnte experimentell gelöst werden, z.B. die Frage, warum wir anderen in Notlagen nicht helfen, wenn gleichzeitig viele weitere Personen anwesend sind. Trotz großen Erkenntnisgewinns gibt es aber Kritik an vielen Experimenten.

Kritik an psychologischen Experimenten

Ethische Bedenken. Einige Experimente dürften heute sogar wegen ethischer Bedenken nicht mehr durchgeführt werden. Ein besonders schlimmes Beispiel dafür ist das sogenannte Monsterexperiment: Der angesehene US-amerikanische Psychologe Wendell Johnson startete 1939 ein Experiment zur Klärung der Ursache des Stotterns. Johnson, der selbst stotterte, wollte beweisen, dass Kinder anfangen zu stottern, wenn Eltern und Lehrer auf harmlose Sprachfehler des Kindes reagieren und es dadurch verunsichern. Doch die Universität von Iowa veröffentlichte dieses Experiment nicht, weil Johnson einfach zu weit gegangen war. Es wurde erst 2001 von einem Journalisten wiederentdeckt und als Monsterexperiment bekannt, obwohl es aus Sicht des Forschers erfolgreich war: 22 Waisenkinder, die unter Sprachfehlern litten, wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Den Kindern beider Gruppen wurde mitgeteilt, dass man ihre Sprachfehler therapieren wolle. Die Kinder der einen Gruppe erhielten viel positives Feedback, sie wurden gelobt und ermutigt. Die Kinder der anderen Gruppe wurden hingegen wegen ihrer Sprachfehler getadelt und gehänselt. Durch diese mehr als zweifelhafte Behandlung verschlimmerten sich ihre Sprachfehler. Obwohl man den Kindern nach den Experimenten erklärte, dass mit ihrer Sprache alles in Ordnung sei, ließ sich der Schaden nicht mehr rückgängig machen. Viele Versuchsteilnehmer litten noch im Erwachsenenalter unter der Behandlung. Eines der Kinder lernte sogar nie wieder richtig sprechen. 2007 bekamen sechs der Teilnehmer vom Bundesstaat Iowa Schadensersatz zugesprochen.

Methodische Schwächen. Häufiger Anlass zur Kritik sind auch methodische Schwächen. Oft sei die Anzahl der Versuchspersonen eines Experiments zu klein, um repräsentative Aussagen ableiten zu können. Experimente müssten zudem von anderen Wissenschaftlern wiederholt werden, um den Versuchsleitereffekt, also den Einfluss der Erwartungen der beteiligten Forscher auf die Ergebnisse der Untersuchung, auszuschließen. In einem Laborexperiment, das Robert Rosenthal und Kermit L. Fode 1963 durchführten, wurden zwölf Studenten jeweils fünf Laborratten gegeben. Der einen Hälfte der Studenten wurde mitgeteilt, dass »ihre« Ratten so gezüchtet seien, dass sie einen Irrgarten besonders schnell durchlaufen konnten. Der anderen Hälfte der Studenten wurde gesagt, dass »ihre« Ratten dumm seien. Obwohl die Ratten in Wirklichkeit alle vom gleichen genetischen Stamm kamen, zeigten die angeblich intelligenten Ratten deutlich bessere Leistungen als die vermeintlich dummen Ratten der Kontrollgruppe. Die Erwartungen der studentischen Versuchsleiter hatten die Leistung der Ratten beeinflusst. Dieses als Rosenthal-Effekt bekannte Phänomen lässt sich ausschließen, wenn man ein Experiment von anderen Wissenschaftlern wiederholen lässt. Dies ist jedoch für Wissenschaftler wenig attraktiv, weil sie für ein solches Wiederholungsexperiment meistens keinen Ruhm ernten.

Halo-Effekt. Menschen sind nicht objektiv. Sie lassen sich von vielen Äußerlichkeiten beeindrucken. Das zeigte schon 1920 ein klassisches Experiment des Psychologen Edward Lee Thorndike: Er untersuchte, wie Vorgesetzte in der Armee ihre Untergebenen beurteilten, z.B. in Bezug auf Kondition, Charakter, Führungsqualitäten und Intelligenz. Dabei fiel ihm folgender Zusammenhang auf: Soldaten mit hübschem Gesicht und guter Körperhaltung erhielten in fast allen Bereichen hervorragende Noten. Soldaten mit einem weniger einnehmenden Äußeren wurden in fast allen Bereichen schlechter beurteilt. Diese Ergebnisse wurden in ähnlichen Experimenten vielfach bestätigt. So gelten Brillenträger als klug, Dicke als gemütlich und schöne Menschen als sympathisch. Diese Tendenz wird als Halo- Effekt bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Überstrahlungsfehler: Eine einzelne Eigenschaft kann so stark auf den Beurteiler wirken, dass sie alle anderen Merkmale überstrahlt.

Probanden. Nicht zuletzt sind die Ergebnisse psychologischer Experimente zu relativieren, weil diese meist mit weißen Studenten durchgeführt werden. Studenten sind zwar schnell zu rekrutieren, und der Aufwand für ein Experiment lässt sich somit in Grenzen halten, die Aussagekraft ist dann jedoch nicht sehr hoch.

Nutzen psychologischer Experimente

Nichtsdestotrotz geben die meisten psychologischen Experimente wichtige Aufschlüsse über Erleben, Denken und Verhalten. Gerade die berühmten Experimente wurden nach einer ersten studentischen Untersuchung auch mit Personen anderer Alters- und Berufsgruppen sowie in verschiedenen Ländern durchgeführt, sodass wir daraus wertvolle Hinweise für ein gutes Leben in unserem westlichen Kulturkreis ableiten können. Ein gutes Leben meint, dass wir angemessene Ziele für uns finden und sie im Einklang mit unseren persönlichen Bedürfnissen, aber auch mit anderen Menschen, realisieren.

Da wir zunächst von der eigenen Familie und dann von Kindergarten und Schule geprägt werden, beziehen sich unsere Erwartungen auch später immer auf diese Erfahrungen. Deshalb besteht die Gefahr, dass wir unsere Erfahrungen in dem uns gebotenen Kontext unzulässig verallgemeinern. Wir bewerten dann z.B. eine Meinungsverschiedenheit nicht als Gedankenaustausch, sondern als bedrohlichen Streit und wittern unter Umständen Bedrohungen, wo gar keine sind. Oder wir vermuten etwa Hilflosigkeit und bieten Hilfe an, wo Selbstständigkeit gewährt werden sollte. Die Wissenschaft vom Verhalten kann unser Leben bereichern, psychologische Experimente geben uns Hinweise. Welche Schlüsse wir daraus für unser Leben ziehen, bleibt uns selbst überlassen.

Ablauf eines psychologischen Experiments

Wie ein Experiment heute im Allgemeinen durchgeführt wird, sehen Sie in Abb. 1-1: Es muss eine ausreichend große Anzahl von Versuchspersonen rekrutiert werden, um Zufallseffekte ausschließen zu können. Ausgehend von einer Hypothese werden meist zwei Gruppen von Versuchsteilnehmern gebildet. Eine Gruppe erfährt dann eine bestimmte Behandlung, die andere Gruppe eine davon abweichende. Ergeben sich in den beiden Gruppen unterschiedliche Reaktionen, wird dieser Unterschied auf die Behandlung zurückgeführt.

Abb.1-1   Ablauf eines einfachen psychologischen Experiments

Als eines der ersten Experimente der Psychologie gilt die Kraftmessstudie von Max Ringelmann aus dem Jahr 1883. Ringelmann ließ 20 Studenten allein und in Gruppen an einem fünf Meter langen Seil ziehen, dessen anderes Ende mit einem Kraftmessgerät verbunden war. Je mehr Leute am Seil zogen, desto geringer war die Leistung des Einzelnen. So bot bei einer Gruppe von acht Personen jeder durchschnittlich nur noch die Hälfte seiner Maximalleistung auf. Dieses Phänomen, den sogenannten »Ringelmann-Effekt«, kann man durch die menschliche Neigung erklären, es sich bequemer zu machen, wenn es auf die eigene Leistung nicht so sehr ankommt oder diese nicht so deutlich in Erscheinung tritt. Oder waren etwa Koordinationsprobleme am Seil für die nachlassende Zugkraft verantwortlich? Durch die Wiederholung des Experiments 1974 an der University of Washington in variierter Form konnte diese Erklärung ausgeschlossen werden: Nur die Leistung einer der Teilnehmer wurde gemessen, die anderen simulierten lediglich ihre Anstrengung. Dabei wurden der uneingeweihten Versuchsperson die Augen verbunden, sodass sie nichts von der Untätigkeit der anderen bemerken konnte. Tatsächlich ließ die Motivation wie beim Ringelmann-Experiment nach, die Leistung sank wieder entsprechend der Gruppengröße. Kein gutes Ergebnis für den Teamgedanken!

Heutige Experimente sind meist viel aufwendiger als bei Ringelmann, wie auch schon die Versuchsanordnung des Wiederholungsexperiments zeigt. Oft werden ganze Serien von Experimenten mit kleinen Variationen der Fragestellung über mehrere Jahre hinweg durchgeführt.

2 Wie unsere Psyche »funktioniert« – Lernen und Verhalten

Unsere Psyche – unser Erleben, Denken und Handeln – ist oft widersprüchlich. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution entstanden ist – sozusagen im laufenden Betrieb. So entwickelten sich nach und nach verschiedene Bereiche für ähnliche Funktionen. Unter anderem verfügt unser Gehirn über zweiInformationsverarbeitungssysteme, diese sind – vereinfacht dargestellt – dem »alten« und dem »neuen« Gehirn zuzuordnen: Das »alte« Gehirn ist sehr schnell, undifferenziert, lebensrettend und produziert dafür auch hin und wieder einen Fehlalarm. Das »neue« Gehirn ist etwas langsamer, differenzierter, vermeidet Fehlalarme und ist damit auch in der Lage, Erklärungen für das Verhalten des ersten Systems zu finden (Abb. 2-1).

Stammesgeschichtlich hat sich also zunächst das Überlebensprogrammentwickelt. Gefühle sichern das Überleben, denn sie lassen uns schnell reagieren. Darum, dass wir uns wohlfühlen, geht es erst in zweiter Linie. Auch durch angeborene Neugier zeichnet sich jedes Lebewesen aus. Das junge Individuum soll und muss die Welt erkunden. Wenn es etwas älter wird, kennt es seine Welt, und die Neugier legt sich. Wachsen Lebewesen in einer für sie untypischen Umwelt auf, können sie neue Verhaltensweisen zeigen: Ein Hund, der bei einem Menschen aufwächst, springt eventuell durch einen Reifen. Solches Verhalten ist nicht angeboren, es wurde in der neuen Umwelt erworben. Welche Faktoren tragen nun dazu bei, dass Verhalten erworben, also gelernt wird? Welche Mechanismen erklären das Lernen von Verhaltensweisen?

Abb.2-1   „Altes“ (hell) und „neues“ (dunkel) Gehirn ermöglichen eine zweifache Informationsverarbeitung

Lernmechanismen des »alten« Gehirns

Nachahmung. Viele komplexe Verhaltensweisen lernen wir ganz einfach durch Beobachtung. Ohne dass uns jemand etwas erklärt oder für etwas lobt, lernen wir neues Verhalten. Durch Beobachtung lernen wir nicht nur das Verhalten, sondern erkennen auch die darauf folgenden Konsequenzen. So werden sogar komplexe Werte wie Friedfertigkeit oder Hilfsbereitschaft von Kindern durch Beobachtung der engen Bezugspersonen übernommen. Sehr beeindruckend ist auch, wie Ängste übertragen werden: Wenn Affen, die im Labor ohne Angst vor Schlangen aufgewachsen sind, nur ein einziges Mal mitbekommen, wie ihre Artgenossen angesichts einer Schlange in Panik geraten, zeigen auch sie von nun an panische Angst vor Schlangen.

Die meisten menschlichen Verhaltensweisen werden über Modelle erlernt.

(Albert Bandura, Lernpsychologe)

Klassische Konditionierung. Der russische Forscher Iwan P. Pawlow hat bereits 1905 in Experimenten mit Hunden herausgefunden, wie Verhalten erlernt wird. Wenn der Hund Futter bekommt, löst dies Speichelfluss aus – eine angeborene Reaktion. Wenn eine Glocke klingelt, reagiert der Hund zunächst nicht mit Speichelfluss. Wird einige Male die Fütterung mit dem Klingeln einer Glocke gekoppelt, folgt der Speichelfluss bald allein aufgrund des Klingelns – ein gelerntes Verhalten.

Dieses Prinzip der Gleichzeitigkeit ist ganz elementar für Lernvorgänge, wenn auch ohne bewusstes Verstehen. So können z.B. auch Ängste erzeugt werden, wie der Psychologe John B. Watson von der Johns Hopkins University in Baltimore 1920 in ethisch bedenklichen Versuchen gezeigt hat: Er führte den kleinen Albert, den Sohn einer in der Klinik angestellten Amme, in einen Raum mit verschiedenen Tieren, darunter eine weiße Ratte. Zunächst reagierte Albert neugierig auf die Ratte und spielte mit ihr. Als jedoch ein lauter Knall durch das Aufeinanderschlagen von Metallstangen hinter Alberts Rücken erklang, erschrak er und begann zu weinen. Im weiteren Verlauf wurde der Knall mit dem Anblick der Ratte gekoppelt. Wie bei Pawlows Hunden reichten wenige Reiz-Reaktions-Verknüpfungen, und schon hatte Albert die Angst vor dem Knall auf die Ratte übertragen: Er fing an zu weinen, allein wenn er die Ratte sah. Später hatte er sogar vor weißem Fell und Ähnlichem Angst.

Schon Pawlow hatte entdeckt, dass mittels Reizgeneralisierung die Speichelsekretion auch durch einen Reiz ausgelöst wird, der dem Klingelzeichen ähnelte, z.B. auch durch das Ertönen eines Gongs oder Flötentons. Diese Generalisierung bedarf keiner zusätzlichen Konditionierung für die ähnlichen Reize.

Die Angstreaktion selbst musste Albert nicht lernen, sie war schon in ihm angelegt, aber die Angst vor bestimmten Objekten hatte er gelernt. Viele Menschen haben vor harmlosen Situationen Angst, z.B. vor Prüfungen, obwohl dabei noch niemand verletzt wurde oder gar zu Tode kam. Auch dies ist eine gelernte Angst, wie wir sie von Albert kennen.

Pawlows Konditionierungsexperimente haben gezeigt, dass man gelernte Ängste durch mehrmalige Konfrontation ohne den unkonditionierten Reiz – beim kleinen Albert wäre das der erschreckende Knall – wieder »löschen« kann. Bevor Watson die Löschung bei Albert jedoch durchführen konnte, zog seine Mutter mit ihm in eine andere Stadt. Es ist nicht bekannt, wie stark die Experimente das Leben von Albert prägten. Doch ist davon auszugehen, dass er die gelernten Ängste nicht ohne Weiteres wieder verlernte.

So unglücklich die Versuche mit dem kleinen Albert waren, haben sie doch zur Entwicklung einer damals völlig neuen Therapierichtung, der Verhaltenstherapie, beigetragen. Profitiert haben davon bis heute viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Ängsten.

Besonders beeindruckend war die Therapie bei Marion, einer Studentin am Ende ihres Studiums. Sie war von klein auf unsicher gewesen und hatte in der Schule zunehmend Ängste vor Prüfungen entwickelt. Dennoch schaffte sie es irgendwie bis zum Studienende. Im Examen versagte sie jedoch mit einem klassischen Blackout. Und danach ging bei ihr in Prüfungen nichts mehr – totales Versagen, über Jahre. Sie baute in der Folge körperlich ab und wurde chronisch krank. Als sie endlich eine Verhaltenstherapie begann, war sie völlig deprimiert. Sie hatte keinerlei Hoffnung mehr und wollte sogar den angestrebten Beruf nicht mehr ausüben. Es ging ihr nur noch darum, nicht als totale Versagerin dazustehen, vor allem nicht vor den verzweifelten Eltern.

Trotz dieser bereits mehrere Jahre anhaltenden Misserfolgsgeschichte gelang in nur zweieinhalb Monaten Therapie der Durchbruch. Marion meisterte die gefürchtete Prüfung und danach auch alle weiteren Prüfungen. So hatte sie doch noch den Abschluss ihres Studiums geschafft. Auch danach ging es weiter aufwärts, sie erholte sich körperlich und psychisch. Ein wahrer Albtraum war zu Ende.

Operante Konditionierung. Für die Entwicklung der Verhaltenstherapie waren die Experimente von Burrhus Skinner von herausragender Bedeutung. Der US-amerikanische Psychologe ging noch weiter als Pawlow. Er wollte zeigen, wie neuartiges Verhalten erlernt werden kann. Dafür entwickelte er 1930 eine nach ihm benannte Apparatur, mit deren Hilfe er experimentelle Verhaltensstudien an Tieren durchführen konnte: Bei der Skinner-Box handelte es sich um einen Käfig mit glatten Wänden, in dem sich ein Hebel befand. Wenn man diesen drückte, fiel aus einem Schacht ein Futterstückchen. Wurde eine Ratte in die Box gesetzt, untersuchte sie diese zunächst genau, da sie Hunger hatte. Stieß sie dabei zufällig gegen den Hebel, bekam sie Futter. Nach einigen Glückstreffern lernte die Ratte recht schnell, den Hebeldruck mit der Futterausgabe in Verbindung zu bringen. Die Belohnung bestärkte die Ratte in ihrem Verhalten. Schließlich betätigte sie den Hebel in immer kürzeren Zeitabständen.

www.youtube.com/watch?v=TtfQlkGwE2U

Skinner demonstriert die operante Konditionierung.

Allein durch die Erwartung, Futter als Belohnung zu bekommen, wenn sie ein bestimmtes Verhalten zeigten, lernten Tiere bei Skinner die seltsamsten Verhaltensweisen. So drehten sich Tauben im Kreis, weil sie fälschlicherweise glaubten, dieses Verhalten löse die Futtergabe aus, und Hunde fuhren sich auf ein gelerntes Signal hin mit der Pfote durchs Gesicht, als ob sie sich schämten.

Auch wir Menschen lernen sehr viel durch Belohnung, d.h. durch die Aktivierung eines Hirnareals, das als Belohnungszentrum bezeichnet wird. Es reagiert nicht nur auf Essen, sondern auch auf soziale Anerkennung, Lob und Gruppenzugehörigkeit. Wird uns die soziale Anerkennung verweigert, ist dies für uns Menschen sogar eine der härtesten Strafen überhaupt.

Verhalten wird durch positive und negative Verstärkung geformt.

(Burrhus F. Skinner, Behaviorist)

Am schnellsten lernen wir, wenn wir regelmäßig und zeitnah für ein gezeigtes Verhalten belohnt werden. Haben wir hingegen Angst vor negativen Konsequenzen, so versuchen wir stattdessen, die Situation zu vermeiden.

Um eigene Ängste zu überwinden, sollten wir Schritt für Schritt kleine Erfolgserlebnisse suchen (positive Verstärkung), anstatt den angsteinflößenden Situationen immer wieder auszuweichen. Denn wird eine angsterzeugende Situation vermieden, also ein unangenehmer Reiz entfernt, so verstärkt das Nachlassen der Angst das Vermeidungsverhalten (negative Verstärkung).

Durch die Konditionierungsexperimente von Pawlow und Skinner kann die Psychologie die Entstehung und Aufrechterhaltung von Ängsten und psychosomatischen Erkrankungen heute gut erklären. Dies hat wesentlich zur Entwicklung einer effektiven Behandlungsform bei Angst- und Traumaerkrankungen, der Expositionstherapie, beigetragen.

Lernmechanismen des »neuen« Gehirns

Mit der Weiterentwicklung des Gehirns wurde bewusstes Denken und somit auch bewusstes Lernen möglich. Doch auch das Lernen des »neuen« Gehirns läuft überwiegend un- oder halbbewusst ab. Aufgrund der Fähigkeit zur Reflexion können wir sogar Erklärungen für Reaktionen unseres »alten« Gehirns finden. Damit hängen auch unsere Konstruktionen von uns und der Welt zusammen (s. Kap. 4). Auch wenn das »neue« Gehirn für die Erklärungen zuständig ist, die zugrunde liegenden Motive entstammen dem »alten« Gehirn. Deshalb sagt man auch: Der Verstand ist nicht die Regierung des Menschen, sondern eher so etwas wie der Regierungssprecher. Er erfährt als Letzter, was beschlossen wurde, muss es aber nach außen vertreten und rechtfertigen. Die echten Entscheidungen fallen woanders, so machen die verschiedenen Regionen des »alten« Gehirns Lobbyarbeit für ihre Bedürfnisse.

Hinter dieser »Lobbyarbeit« im Gehirn stecken u.a. die Neurotransmitter, wichtige Botenstoffe zur Übertragung von Signalen. Wegen seiner Wirkung auf das Belohnungszentrum im Gehirn wird Dopamin auch als Glückshormon bezeichnet. Genauer gesagt, es aktiviert und motiviert (s. Kap. 15).

Der freie Wille

Ein Experiment des US-amerikanischen Physiologen Benjamin Libet von der University of California in San Francisco hat im Jahr 1979 für große Irritationen gesorgt. Noch heute wird angeregt diskutiert, was es im Hinblick auf unseren freien Willen bedeutet. Die Versuchspersonen sollten, wann immer sie wollten, die Hand heben und mitteilen, wann sie die bewusste Entscheidung dazu trafen. Dabei wurde mittels EEG-Ableitungen gemessen, wann in ihrem motorischen Cortex (Hirnrinde) die einleitende Nervenaktivität erfolgte. Das Ergebnis: Der Zeitpunkt, zu dem die Handlungsabsicht bewusst wurde, war deutlich später als der Zeitpunkt, zu dem der motorische Cortex die Bewegung vorzubereiten begann. Das Experiment wurde später von anderen Forschern mit ähnlichen Resultaten wiederholt. Libet interpretierte das Ergebnis so, dass unbewusste Gehirnprozesse Handlungen beschließen und die bewussten Hirnareale davon erst später in Kenntnis setzen. Daraus lässt sich folgern, dass wir keinen freien Willen haben. Wäre dies der Fall, hätte es erhebliche Auswirkungen auf unser Rechtssystem. Einige Hirnforscher schlossen sich dieser Auffassung an, andere sind der Ansicht, die Ergebnisse seien zu weitgehend interpretiert worden.

Zumindest spielen unbewusste Prozesse eine größere Rolle für das Funktionieren der Psyche, als wir uns das meist zugestehen. Zu gern möchten wir glauben, dass unsere Handlungen von vernünftigem Denken und bewussten Entscheidungen geleitet sind. Damit wären wir jedoch nicht sehr leistungsfähig. Wir Menschen sind so erstaunlich produktiv, weil unser Gehirn sich in seinen verschiedenen Bereichen selbst organisiert und uns mit seinen Automatisierungen die meiste Arbeit abnimmt.

Erfüllung unserer Grundbedürfnisse

Menschen streben nach Selbstbestätigung, was uns von anderen eher isoliert. Wir sind aber auch soziale Wesen mit einem Bindungsbedürfnis. So fühlen wir uns hin- und hergerissen zwischen Individualität und Anpassung, zwischen eigener Überzeugung und dem Erwartungsdruck durch Mitmenschen. Wir wollen dazugehören und sind doch anders. Jede Persönlichkeit hat unterschiedliche Bedürfnisse. Wer gesprächig ist, braucht mehr Kommunikationspartner als jemand, der schüchtern ist und sich mehr allein beschäftigt. Wer offen und kreativ ist, sucht mehr intellektuelle Stimulation als ein Mensch, der am Bewährten festhält.

Aufbauend auf den Forschungen zu inneren Konflikten von Seymour Epstein und eigenen Untersuchungen formulierte der deutsche Psychologe und Therapieforscher Klaus Grawe die Konsistenztheorie für das psychische Funktionieren.

Grawe geht davon aus, dass bei uns Menschen vier Grundbedürfnisse gleichberechtigt evolutionär angelegt sind und nach Befriedigung streben:

Bindung,

Orientierung und Kontrolle,

Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz,

Lustgewinn und Unlustvermeidung.

Der Organismus ist bestrebt, diese Grundbedürfnisse auszugleichen und zu befriedigen. Diesen Zustand nennt man Konsistenz. Je höher und dauerhafter die Konsistenz, umso gesünder ist der Organismus. Es besteht Harmonie, man ist mit sich und der Welt eins.

Im Laufe des Lebens entwickelt das Individuum bestimmte Schemata oder Verhaltensstile, um die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse zu erreichen. Eine frühkindliche Frustration einzelner Grundbedürfnisse bewirkt Inkonsistenz in Form einer Überwertigkeit des bedrohten Bedürfnisses. Diese Überwertigkeit eines Bedürfnisses stört die Befriedigung der anderen – seelisches Leid entsteht. So ist z.B. bei »klammernden« Personen das Bindungsbedürfnis überwertig. Bei sehr dominanten Personen ist hingegen das Kontrollbedürfnis stark ausgeprägt. Diese Menschen versuchen, in sozialen Situationen immer die Kontrolle zu behalten, indem sie Interaktionen und Gespräche beherrschen.

Balance hört sich leicht an – aber eine Balance der Grundbedürfnisse zu erreichen ist nicht einfach. Zu oft wohnen zwei Seelen in unserer Brust. Wir können uns dann nicht entscheiden, bleiben gefangen in Ambivalenz. Eventuell ist dies ein Anlass für eine Psychotherapie. Ihr Ziel wäre, dass der Betroffene sich selbst besser zu verstehen lernt, damit er Entscheidungen treffen kann, hinter denen er wirklich steht. Erst eine eindeutige Entscheidung ermöglicht nämlich eine Veränderung, indem beständig auf ein Ziel hingearbeitet wird. Ist ein Dilemma gelöst, wird das Ich gestärkt. Im Laufe des Lebens warten jedoch immer wieder neue Entwicklungsaufgaben auf uns. Wer z.B. als junger Mensch einen Partner gefunden hat, kann eine solche Herausforderung als alter Mensch trotzdem als schwierig empfinden. Auch ein starkes Ich kann ängstlich und mutlos werden, wenn die Situation es überfordert. Unsere Psyche funktioniert dann gut, wenn sie einen Ausgleich der vielfältigen Anforderungen schafft, wie es die folgenden Kapitel zeigen werden.

Das Streben nach Konsistenz bzw. nach Reduktion von Inkonsistenz stellt das Grundprinzip des psychischen Geschehens dar.

(Klaus Grawe, Klinischer Psychologe und Therapieforscher)

3 Ich und mein Selbstwert – sich des eigenen Wertes bewusst sein

Heute bestehen hohe Anforderungen an jeden von uns, das Beste aus sich zu machen. Kinder werden schon als Babys gefördert. Alle Kinder gehen zur Schule, viele wechseln auf das Gymnasium und wollen danach studieren. Gedacht ist Schule als Ort der Bestätigung. Für etliche Schüler ist sie jedoch eher ein Ort der Verunsicherung. Sie fragen sich: Schaffe ich das? Bin ich gut genug? Für manche Kinder und Jugendliche wird die Schule sogar zum Ort der Demütigung. Nicht wenige entwickeln eine Sozialangst. Sie haben Angst, nicht zu genügen, nicht dazuzugehören. Manche leiden unter Mobbing, werden ausgegrenzt.

Für viele Menschen beginnt in der Schule eine negative Entwicklung: Daraus, dass sie schlechtere Noten bekommen als einige andere oder dass sie zufällig von einer kleinen Gruppe abgelehnt werden, ziehen sie den verallgemeinernden Schluss »Ich bin dumm« oder »Keiner mag mich«. Später prüfen sie dann gar nicht mehr, ob die negativen Erfahrungen noch relevant sind, sondern es fehlt ihnen nun generell an Selbstvertrauen.

So können Sie das Selbstwertgefühl eines Kindes stärken

Ein Kind sollte in einer verlässlichen Umgebung mit klaren Strukturen aufwachsen. Von klein auf sollte ihm Vertrauen entgegengebracht werden, und es sollte zur Selbstständigkeit ermuntert werden. Überbehütung ist Gift! Wenn Schäden und Blessuren keine Katastrophen, sondern wertvolle Erfahrungen darstellen, können sich im Kind Selbstwirksamkeitserwartungen ausbilden. Es wird dann positiv und mutig auf die Welt zugehen. Bleiben Überforderungen aus, wird sich das Kind als wertvoll erleben.

Zurückweisung bedroht den Selbstwert

Wie Verunsicherung im Kindes- und Jugendalter unterschwellig wirkt, veranschaulicht ein Experiment von Geraldine Downey von der Columbia University, New York aus dem Jahr 2004: Normal sensible und besonders sensible Versuchspersonen wurden je zwei Serien von Gemälden gezeigt – eine von Edward Hopper und eine von Auguste Renoire. In Hoppers Bildern geht es um Einsamkeit und Isolation. Die Bilder Renoirs vermitteln dem Betrachter hingegen Wärme und Zugewandtheit. Nach jeder Bildbetrachtung ertönte jeweils ein lauter Knall. Dieser löste bei allen Teilnehmern eine kurze Schreckreaktion aus. Die Heftigkeit des Reflexes wurde mit einem Augenlidsensor erfasst. Die besonders Sensiblen reagierten wie ein Seismograf bei Erderschütterungen mit intensiverem und längerem Lidflattern bei den Bildern von Hopper. Sie erlebten überschießende körperliche Reaktionen beim bloßen Gedanken an Ablehnung oder Zurückweisung. Die Bilder stießen sie auf die Möglichkeit der sozialen Isolation hin. Die weniger Sensiblen reagierten unbeeindruckt nach beiden Bildserien mit je gleichstarkem Reflex.

Der Mensch als soziales Wesen empfindet regelrecht Schmerzen, wenn andere ihn ausschließen. Durch soziale Zurückweisung besteht lebenslang ein hohes Erkrankungsrisiko. Zurückweisungsempfindlichkeit kann zum Persönlichkeitsmerkmal werden. Diese Menschen gehen in sozialen Situationen dann generell davon aus, von den anderen zurückgewiesen zu werden. Sie nehmen Zurückweisung vorschnell wahr und reagieren extrem darauf. Menschen mit dieser Eigenschaft sollten an sich arbeiten, indem sie die scheinbare Gewissheit einer Zurückweisung immer wieder infrage stellen und sich nicht einfach gekränkt zurückziehen (s. Kap. 19).

Realistisches Selbstbild und positiven Selbstwert entwickeln

Wir glauben, uns selbst zu kennen, aber wenn es um unsere Eigenschaften und Kompetenzen geht, neigen wir dazu, uns entweder zu unter- oder zu überschätzen. Wie können wir zu einer besseren Selbstwahrnehmung gelangen? Dafür müssen wir Situationen und Erfahrungen der Vergangenheit reell auswerten und für uns nutzbar machen. Andere Menschen kennen uns meist besser, also sollten wir um ein Feedback aus dem Freundes- oder dem Kollegenkreis bitten. Und nicht zuletzt geht es darum, dass wir relevante Vergleichsmaßstäbe wählen. Was ist relevant? Die Medien liefern uns ständig Vergleichsobjekte, häufig Superreiche oder Superhelden. Von ihnen dürfen wir uns nicht verunsichern lassen. Denn relevant ist nur, was unseren eigenen Bedürfnissen und persönlichen Zielen entspricht.

Wer angemessene Vergleiche zieht, kann eher ein realistisches Selbstbild und einen positiven Selbstwert entwickeln. Selbstvertrauen erlaubt, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu beachten, sich entsprechend zu entscheiden, auch eigene Fehler zu erkennen und anzunehmen. Ohne Selbstvertrauen fällt es schwer, anderen etwas abzuschlagen und sich abzugrenzen. Viele Menschen fürchten, von anderen abgelehnt zu werden, wenn sie ihnen nicht jeden Gefallen tun. Sie scheuen Konflikte, weil sie darin nicht den fairen Ausgleich der Interessen sehen, sondern Streit, der in Sieg oder Niederlage endet und Trennung zur Folge hat. Doch niemand ist auf der Welt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen, es ist unser gutes Recht, uns und unsere Bedürfnisse und Gefühle ernst zu nehmen. In einem Selbstsicherheitstraining können wir lernen, Nein zu sagen und eigene Bedürfnisse durchzusetzen, ohne andere zu verletzen.

Allerdings sind wir auch soziale Wesen und haben ein Bedürfnis nach Bindung. Insofern müssen wir uns selbst immer wieder klar werden, welchem Bedürfnis wir in welchem Maß Raum verschaffen wollen. Geben und Nehmen gehören zusammen, es muss für alle stimmen, nicht in jedem Augenblick, aber aufs Ganze gesehen.

Nein sagen lernen

Die Fähigkeit, Nein zu sagen, untersuchte die Psychologin Ellen Langer von der Harvard University 1978. Ihre Versuchspersonen standen vor einem Kopierer und wollten Kopien anfertigen. Eine Person trat mit der Bitte an die Probanden heran, fünf Kopien machen zu dürfen, eine Begründung wurde nicht geliefert. 60 Prozent waren so freundlich und ließen der Person den Vortritt oder konnten nicht Nein sagen. An eine zweite Gruppe von Probanden wurde die gleiche Bitte gerichtet und durch die Begründung »weil ich es eilig habe« ergänzt. Nun taten fast alle (94 Prozent) der Person den Gefallen und ließen ihr den Vortritt. Im dritten Versuch wurde wieder die gleiche Bitte vorgebracht, aber eigentlich ohne Begründung: »Entschuldigen Sie, ich habe fünf Kopien. Darf ich bitte den Kopierer benutzen, weil ich Kopien machen muss?« 93 Prozent gewährten der Person den Vortritt. Das Wörtchen »weil« deutete eine Begründung an, und schon gaben fast alle nach. Es folgte zwar keine wirkliche Begründung, aber die Versuchspersonen achteten wohl nicht darauf. Diese Gedankenlosigkeit war weniger ausgeprägt, wenn es um das Anfertigen von 20 Kopien ging, was bei den damaligen Kopierern einige Zeit in Anspruch nahm. Wenn es um fast nichts geht, kann man ja auch einmal großzügig sein. Trotzdem sollte man aufpassen, nicht Opfer der Fuß-in-der-Tür-Technik zu werden.

Deren Effekt bewiesen 1966 Jonathan Freedman und Scott Fraser von der Stanford University in einer viel beachteten Untersuchung: Sie gaben sich gegenüber Besitzern von Einfamilienhäusern als Arbeiter aus, die ein großes Plakat mit der Aufschrift »Fahre vorsichtig« in einem Garten aufstellen sollten. Immerhin 17 Prozent der Hausbesitzer waren dazu bereit. Wesentlich mehr, nämlich 76 Prozent, konnten dafür gewonnen werden, wenn sie zwei Wochen vorher gebeten worden waren, ein kleines Schild (8 mal 8cm) mit dieser Aufschrift anbringen zu lassen. So gut wie alle Grundstücksbesitzer waren damit einverstanden. Als dann später die Arbeiter mit dem großen Plakat kamen, konnten die wenigsten die Bitte abschlagen. Erklärt wird dieses Phänomen mit der Dissonanztheorie (s. Kap. 4): Niemand gerät gern mit sich selbst in Widerspruch. Nur wer bewusst und bestimmt Nein sagen kann, wird durch die Fuß-in-der-Tür-Technik nicht übertölpelt.

Übung

Nein sagen und sich abgrenzen

Eine Übung, um zu lernen, sich abzugrenzen, könnte so aussehen, dass man sich für zwei Tage wie ein Kleinkind benimmt und zu allem Nein sagt. Man trifft gar keine Auswahl (von beruflichen Entscheidungen abgesehen), sondern lehnt jede Bitte ab. Man sagt einfach, dass es einem leidtut, abzulehnen, aber es gehe einfach nicht, passe jetzt nicht usw. Der Sinn der Übung ist, konsequent zu sein und sich als selbstbewusst zu erleben. Wenn man dies eine Zeit lang geübt hat, kann man entscheiden, wo und wann man Ja bzw. Nein sagen möchte. Etwas abzulehnen, was man nicht gut findet, sich angemessen abzugrenzen, bedeutet, dass man zu sich selbst steht. Die Unfähigkeit, Nein sagen zu können, ist die Ursache für viele psychosomatische Krankheiten. Für sich selbst einzutreten tut gut. Lassen Sie nicht zu, dass man Sie demütigt oder respektlos behandelt. Das wäre ein negatives Signal an Ihr Selbstbewusstsein.

Stärkt positives Denken das Selbstwertgefühl?

Vertreter des positiven Denkens fordern uns immer wieder auf, positive Selbstgespräche zu führen, wie: »Ich bin ein liebenswerter Mensch.« In Experimenten von Joanne Wood, Elaine Perunovic und John Lee von den Universitäten Waterloo und New Brunswick wurde 2009 Folgendes überprüft: Was passiert, wenn Personen mit niedrigem bzw. hohem Selbstwertgefühl sich den Satz »Ich bin ein liebenswerter Mensch« vorsagen? Bei Menschen, die bereits ein hohes Selbstwertgefühl hatten, stieg dieses noch gering an. Bei Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl wirkte dieser Satz hingegen stärker – nur in die falsche Richtung. Sie fühlten sich schlechter, nachdem sie den Satz ausgesprochen hatten. Vermutlich suchten sie nach Beweisen für die Richtigkeit dieser Behauptung. Dabei kamen ihnen jedoch Gegenbeispiele in den Sinn, und sie fühlten sich umso schlechter.

In einem weiteren Experiment sollten die Versuchsteilnehmer darüber nachdenken, ob dieser Satz auf sie zutrifft oder nicht – auf diese Weise wurde suggeriert, dass beides in Ordnung ist. Tatsächlich fühlten sich diese Teilnehmer anschließend besser als diejenigen, die sich nur auf das Positive konzentriert hatten. Moderat positive Selbstaussagen, die noch nahe an der Realität sind, helfen uns also besser als übertrieben positives Denken.

Bin ich gut genug?

Zweifel und Unsicherheit gehören zum Leben. Nehmen wir diese Herausforderungen an, können sie uns zu immer besseren Lösungen inspirieren. Der verbreiteten Angst, nicht gut genug zu sein, müssen wir die Stirn bieten. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie uns klein macht. »Ich bin nicht gut genug« ist nur ein Satz, sonst nichts. Nur wenn man daran glaubt, bekommt er Macht. Wenn wir keine übertriebenen Vergleiche anstellen und uns nicht unangemessene Ziele setzen, dann stimmt folgende Aussage: »Ich bin okay, und ich bin gut genug!« Immer wenn sich Zweifel aufdrängen, sollten wir daran denken, wie wir als kleines Kind der Welt begegnet sind: für alles offen und mit uns zufrieden. Wer immer wieder zweifelt, kann z.B. eine Collage der eigenen Stärken und Erfolge anfertigen – einen »Altar« der Wertschätzung für sich selbst.

Gedanken können uns in ihren Bann ziehen. Der Satz »Ich bin ein Versager« ist nichts anderes als ein Gedanke, aber wer ihn auf sich anwendet, tut so, als sei es die Wirklichkeit. Wie aber kann dieser Satz die Wirklichkeit sein, wenn ein Mensch im Allgemeinen zurechtkommt und in seinem Leben schon vieles richtig gemacht hat? Das ist die Grundsatzfrage beim sogenannten Hochstaplerphänomen. Hierbei handelt es sich um überdurchschnittlich erfolgreiche Menschen, die sich, auch wenn sie über eindeutige Hinweise auf ihren Erfolg verfügen, dennoch für unzulänglich halten. Sie erklären ihren Erfolg mit Glück, Zufall usw. und befürchten, als Betrüger entlarvt zu werden. Ein derartig negatives Selbstwertgefühl macht trotz Erfolg unglücklich und verhindert zudem, dass das eigene Potenzial voll entfaltet wird. Anders als allgemein angenommen bestimmt unser Selbstwertgefühl stärker, wie wir mit den äußeren Gegebenheiten umgehen, als dass es selbst durch äußere Ereignisse beeinflusst wird.

Eine 2015 veröffentlichte Längsschnittstudie der Psychologen Eva Luciano und Ulrich Orth von der Universität Bern mit 700 jungen Probanden kam zu dem Ergebnis, dass die Teilnehmer mit niedrigem Selbstwertgefühl im 18-monatigen Untersuchungszeitraum öfter von schweren Krankheiten, Unfällen, Scheidung, Studienabbruch oder Arbeitsplatzverlust betroffen waren als die Teilnehmer mit hohem Selbstwertgefühl.

Fehler sind menschlich

Auf unserem Lebensweg ist es unvermeidlich, Fehler zu begehen, und wir werden auch Fehler der anderen ertragen müssen. Daher gehört es zu den Lebenskompetenzen,

eigene

Fehler korrigieren

zu können – damit man nicht unter Schuldgefühlen leidet.

anderen ihre

Fehler vergeben

zu können – damit man nicht verbittert die möglichen Chancen des Lebens auslässt.

»Ich bin schuld« – ein kurzer Satz, den vielen Menschen nur schwer aussprechen können. Wie Adam und Eva einst im Paradies nicht die Verantwortung für das eigene Fehlverhalten übernahmen, so versuchen auch wir, uns herauszureden. Oft ist es unser Stolz, der die anderen oder die Umstände verantwortlich machen will. Wir sollten akzeptieren, dass Menschsein nicht ohne Schuld möglich ist. Sie steht in direktem Zusammenhang mit unserem freien Willen. Freiheit bedeutet, selbst zu entscheiden – und dabei auch zu irren. Erst wer Fehler eingestehen kann, wird als Mensch wirklich frei, nämlich souverän.

Mensch sein heißt, sich minderwertig fühlen.

(Alfred Adler, Individualpsychologe)

Ich und Identitätsfindung

Das Ich ist nach heutigem Verständnis eine Illusion, eine nützliche Konstruktion des Gehirns. So empfinden wir uns als unveränderbare autonome Persönlichkeit und zerbrechen nicht an Widersprüchen, die sich immer wieder auftun. Wir haben nämlich nicht nur eine Identität, sondern mehrere Identitäten. Und weil wir unsere Widersprüche selbst beobachten, sind wir leicht zu verunsichern und immer auf der Suche nach dem passenden Lebensweg. Dabei sind es häufig die Umstände, die bestimmen, welche Identität zum Vorschein kommt. Ob wir hilfsbereit sind, hängt z.B. wesentlich davon ab, ob wir unter Zeitdruck stehen oder ob andere Personen anwesend sind (s. Kap. 8).

Auch durch den Kauf von Markenprodukten versuchen wir, unser Ich zu festigen. Mit einem Markenartikel bezahlen wir nicht nur dessen reale Eigenschaften, sondern auch solche, die wir selbst dem Produkt zuschreiben. Marken sind in unserer Konsumgesellschaft zu einer eigenen Sprache geworden, mittels der man schneller und klarer kommuniziert, wer man ist und wem man sich zugehörig fühlt, als mittels jeder anderen Sprache. Starke Marken geben Orientierungshilfe in einer komplexen Welt und tragen zur Stabilisierung unserer Identität bei. Daher überrascht es nicht, dass die Markenabhängigkeit laut Befragungen bei den 16- bis 29-Jährigen mit 61 Prozent wesentlich höher ist als bei den über 60-Jährigen mit nur 18 Prozent. Da sie sich noch in der Entwicklung befinden, müssen die Jugendlichen noch stärker Bedürfnisse befriedigen, die über den reinen Gebrauch des Produkts, seien es Zigaretten, Turnschuhe oder Smartphones, hinausgehen.

Dass Kleider Leute machen, ist eine auch in Experimenten bestätigte Erfahrung. Unsere Kleidung wirkt jedoch nicht nur auf andere und deren Meinung über uns, sondern sie beeinflusst auch unser eigenes Denken, Erleben und Verhalten. Wer eher förmlich gekleidet ist, wirkt selbstsicherer und verhandelt erfolgreicher. Wer z.B. eine Polizeiuniform trägt, übernimmt damit auch etwas von dem Verhalten, das allgemein von Polizisten erwartet wird. Kleidung beeinflusst also tatsächlich das Ich. Somit ist es nur allzu verständlich, dass wir besonderen Wert auf unser Äußeres legen, wenn wir nach draußen gehen, uns der Welt stellen und vor allem, wenn es dabei um wichtige Termine geht. Ebenso naheliegend ist die besondere Bedeutung von spezieller Kleidung für Jugendliche, da sie ihren Trägern Zugehörigkeit und Identität vermittelt.

Immer mehr Apps erfassen unsere Schritte, unseren Puls, unsere Stimmungen oder unsere Kalorienaufnahme. Wird uns das moderne Daten-Ich zukünftig bei der Identitätsfindung helfen? Lernen wir uns durch diese Daten wirklich besser kennen? Ob wir wollen oder nicht, wir können uns dieser Entwicklung nicht entziehen: Wir erhalten personifizierte Werbung, und immer mehr Menschen vertrauen sogar einem Algorithmus bei der Partnersuche. Allerdings werden Zufallsentdeckungen dadurch seltener, was Einfluss auf unser Glücksempfinden hat, denn dieses hängt wesentlich mit Unerwartetem zusammen. Durch Selfies können wir unsere Sucht nach Anerkennung bedienen. Indem sie gepostet werden, erzielen wir bei anderen eine Wirkung. Dies ist eine moderne und fragliche Methode, die an uns gestellte Lebensaufgabe zu lösen, über die der Maler Max Beckmann schrieb: »Ich habe mein Leben lang versucht, ein Ich zu werden.« Dass wir nie fertig sind, ermöglicht uns eine große Anpassungsfähigkeit. Allerdings führt es auch dazu, dass wir ständig auf der Suche sind.

Sich ins Rampenlicht stellen

Die Wertschätzung, die uns in kleineren Gemeinschaften auf natürliche Weise zukommt, in der modernen Stadtgesellschaft aber nicht, versuchen wir zu gewinnen, indem wir uns beispielsweise durch Leistung Respekt im Kollegenkreis verschaffen. Darüber hinaus können wir der Welt unseren Wert durch Statussymbole demonstrieren. Wenn uns dies nicht ausreicht, können wir versuchen, es zu einer gewissen Prominenz zu bringen, um im Rampenlicht Beachtung zu erfahren.

In unserer eigenen Wahrnehmung stehen wir selbst stets im Mittelpunkt und gehen davon aus, dass auch andere immerzu registrieren, wie wir uns verhalten – als wäre ein Scheinwerfer auf uns gerichtet. Diesen Spotlighteffekt haben die Psychologen der Northwestern University Thomas Gilovich, Kenneth Savitsky und Victoria H. Medvec im Jahr 2000 untersucht. Nach einer Umfrage unter Studenten zur Ermittlung eines maximalen Blamagewerts ließen die Psychologen T-Shirts mit einem Bild von Barry Manilow bedrucken. Damit bekleidet mussten die jungen Probanden sich kurz in ein Seminar zu ihren Kommilitonen setzen. Hinterher sollten sie einschätzen, wie viele der anderen wohl Notiz von diesem Shirt genommen hatten. Dabei lagen sie gehörig daneben. Gingen die Probanden von 50 Prozent aus, konnte von den Anwesenden nicht einmal jeder Vierte sagen, wer auf dem Shirt abgebildet war. Die meisten hatten die vermeintliche Peinlichkeit also gar nicht bemerkt.

Auch unsere Glanzmomente entgehen der Umwelt öfter, als wir denken. Ein Folgeexperiment ergab, dass Menschen in einer Diskussion ihre eigenen Beiträge für bedeutsamer halten als andere Leute.

Ob uns ein Missgeschick passiert oder wir uns positiv in Szene setzen, wir sind für andere einfach nicht so wichtig wie für uns selbst. Die anderen sind mit ihrer Wahrnehmung eben auch eher bei sich selbst. Das kann frustrierend sein, aber besonders für sozialängstliche Personen auch sehr befreiend. Sie brauchen sich gar nicht so sehr zu verstecken. Wir stehen eben nicht im Rampenlicht und fallen kaum auf.

Entwicklung des Selbstwertgefühls über die Lebensspanne

Auch die typische Entwicklung des Selbstwertgefühls über die gesamte Lebensspanne hat etwas Entlastendes. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die große Verunsicherung in der Jugendzeit von einem stetigen Anstieg des Selbstwertgefühls abgelöst wird. Der Höhepunkt liegt im Allgemeinen zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr. Danach wird es zwar wieder etwas geringer, bleibt jedoch auf hohem Niveau. Spätestens in diesem Alter weiß man dann aber auch, dass für den Selbstwert wie für fast alles andere gilt: Zu viel davon macht unsympathisch.

Eine starke Persönlichkeit hat ein positives Selbstbild und ist sich ihres Wertes bewusst!

So können Sie sich Ihres eigenen Wertes bewusst werden
Nennen Sie drei Merkmale, die für Sie sprechen.Lassen Sie zu jedem Merkmal ein Erlebnis und ein Gefühl lebendig werden.Erinnern Sie sich jedes Mal daran, wenn Sie Ihre Wohnung verlassen.

Selbstmitgefühl statt Selbstsabotage

Selbstkritik treibt uns an, kostet uns allerdings auch viel Energie und untergräbt unser Wohlbefinden. Nimmt sie überhand, können Ängste und Depressionen ausgelöst werden. Innere Antreiber führen nicht selten zu psychosomatischen Störungen und Burnout. Wer versucht, diese und weitere »Meckerer« im Kopf zu ignorieren, trägt eher dazu bei, dass sie sich vermehrt melden. Besser ist es, sie zu kennen und wohlwollend anzunehmen:

Unser

innerer Kritiker

bewertet uns ständig, führt Protokoll über jeden Fehler und reibt ihn uns unter die Nase. Er will uns vor Überheblichkeit bewahren und merkt gar nicht, wie wir leiden.

Der

innere Antreiber

erwartet von uns, perfekt zu sein. Auch wenn wir uns gehetzt fühlen, tun wir alles, um anerkannt und geschätzt zu werden.

Der

Katastrophisierer

ermahnt uns. Wir machen uns Sorgen um alles und jeden. Wir erwarten ein fürchterliches Ende und gehen kein Risiko ein.

Der

innere Vermeider

sucht uns zu schützen, will uns verschonen, vor allem vor Konflikten. Er verhindert, dass wir Nein sagen und uns abgrenzen. Stattdessen lassen wir uns ausnutzen, ohne die ersehnte Anerkennung zu erhalten. Je mehr wir unangenehmen Gefühlen aus dem Weg gehen, desto mehr bedrängen uns Gedanken und Gefühle des eigenen Ungenügens.

Wenn der Erwachsene in uns diese Miesmacher im Kopf erkennt, kann er steuernd eingreifen. Mit Verboten erreicht man nichts. Man sollte gelassen auf seine inneren Kritiker und Antreiber zugehen. Es geht darum, sich konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Lassen wir die negativen Gedanken und Gefühle zu, lernen wir, freundlich mit ihnen umzugehen, sie zu akzeptieren, denn auch sie sind ein Teil von uns. Auch der härteste innere Meckerer verfolgt aufs Ganze gesehen gute Absichten. Es gibt keine Feinde in unserem Kopf: Wenn wir versuchen, unsere Meckerer zu verstehen, ihre gute Absicht zu erkennen, dann gewinnt der innere Erwachsene die Kontrolle und kann die Führung übernehmen. Wir gewinnen die Freiheit, unser Leben selbst zu gestalten und gut für uns zu sorgen.

Wie kann das Selbstwertgefühl wieder aufgebaut werden?

Unsere Erinnerungen sind nicht stabil. Auch negative Erfahrungen müssen den eigenen Selbstwert nicht ein Leben lang untergraben. Wenn man Erniedrigungen in eine neue Geschichte verpackt, die das Geschehen verständlich erscheinen lässt und neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, verliert die frühere Erfahrung ihren Schrecken. Diese neue Sichtweise sollte man sich in einem entspannten Rahmen öfter ins Gedächtnis rufen. In gewisser Weise lässt sich durch diese Methode die eigene Lebensgeschichte korrigieren, wodurch (wieder) ein besseres Selbstwertgefühl entstehen kann.

Als Jugendlicher wollte Arko seine kindliche Schüchternheit überwinden und sich anlässlich einer Party an ein Mädchen heranmachen. Eigentlich war er auf der Party seiner älteren Schwester nur geduldet, aber umso wichtiger war es ihm, mit Begleitung zu erscheinen. Tagelang malte er sich schon aus, wie er mit der neuen Freundin seine Familie überraschen und beeindrucken würde. Nur, er musste endlich einmal ein Mädchen auftun. Er hatte eine Schülerin mit toller Erscheinung, wie er meinte, im Auge, der er jeden Tag auf dem Schulweg begegnete. Aber nur vom Schauen kam der Kontakt nicht zustande. Die Tage verstrichen, Arko traute sich nicht, sie anzusprechen, wusste nicht, wie er es anfangen sollte. Und andere um Hilfe zu fragen – das kam überhaupt nicht infrage. Am Tag der Party blieb ihm nichts anderes übrig, er musste jetzt handeln. Also ging er unvermittelt auf sie zu und lud sie ein. Anders als Arko war sie bereits erfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Der ungeschickte und überfallartige Kontaktversuch hatte etwas Komisches. Die Auserkorene fing tatsächlich an zu lachen und wies ihn ab. Der Tag war damit noch nicht zu Ende. Am Abend auf der Party meinte Arko, seinen Augen nicht zu trauen: Sie stand plötzlich vor ihm, zusammen mit ihrem einige Jahre älteren Freund. Arko – als Einziger ohne Begleitung – wurde rot und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Die Party war für ihn gelaufen, er verzog sich in sein Zimmer und verbot sich bis auf Weiteres jede Kontaktaufnahme zu hübschen Mädchen.

Es hat lange gedauert, bis Arko diese Schmach überwunden hatte. Seine Ungeschicklichkeit in der Kontaktanbahnung blieb unverändert bestehen. Als ein Tanzkurs anstand, überwand er sich und suchte eine psychologische Beratung auf. Dort fokussierte man zunächst aktuelle Gelegenheiten und ermutigte Arko, seine Niederlage, wie er es nannte, früherer Unerfahrenheit zuzuschreiben. Arko sollte sich nun allerdings nicht mehr mit Träumereien vor einem Date begnügen, sondern sich aufgrund seiner Vorerfahrung mental detailliert auf zu erwartende aufregende Situationen und neue Begegnungen vorbereiten. Und siehe da, andere Erfahrungen ergaben sich. Mit diesen neuen Erfahrungen erwarb Arko Kompetenzen und hatte schließlich auch Erfolge. Lange Zeit spürte er ein starkes Bedürfnis, sich durch seine »Eroberungen« selbst zu bestätigen. Aber allmählich war die alte Erniedrigung dann doch neutralisiert.

Übung

Berechtigte Forderungen durchsetzen

Stellen Sie sich ein Gespräch vor, in dem Sie eine berechtigte Forderung nicht durchsetzen konnten und sich klein gefühlt haben: Nehmen Sie sich Zeit, eine solche Situation auszuwählen. Sehen Sie sich nun in dieser Situation? Welches Körperempfinden haben Sie? Wie fühlen Sie sich? Welche Selbstaussage trifft hier für Sie zu?

Halten Sie diese Vorstellung für etwa 30 Sekunden aufrecht. Dann lassen Sie die Bilder verblassen und entspannen Sie sich, indem Sie tief atmen und die Muskeln lockern.

Machen Sie noch drei solche Durchgänge, indem Sie sich diese Situation vorstellen, diese kurz aufrechterhalten, die Gefühle und Gedanken dabei beachten und danach eine kleine Pause zur Entspannung einlegen.

Ergeben sich nach diesen Durchgängen Änderungen?

Wie es auch sei, lassen Sie diese Vorstellung nun als eine Erinnerung stehen und wenden Sie sich von ihr ab.

Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie führen z.B. dieses Gespräch noch einmal. Doch dieses Mal verläuft es anders: Sie bleiben locker und standhaft. Sie lassen sich gar nicht auf die ablehnenden Aussagen ein. Unbeirrt bringen Sie immer wieder aufs Neue Ihr Anliegen vor. Einmal mit rationaler Begründung, dann aus emotionaler Perspektive, einmal argumentieren Sie vonseiten nicht betroffener Dritter, einmal loben Sie Ihr Gegenüber, aber immer wieder bringen Sie unbeirrt und beharrlich Ihren Wunsch vor.