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Während die Psyche in der Medizin lange kaum eine Rolle gespielt hat, wird heute die Diagnose "psychosomatisch" inflationär gebraucht. Bei Symptomen wie chronischer Müdigkeit, Infektanfälligkeit, Verdauungsbeschwerden, diffusen Schmerzen, "Brainfog" oder Chemikaliensensitivität landen Patienten vorschnell in der Schublade "psychosomatisch". Mit ganzheitlicher Labordiagnostik kann man jedoch zahlreiche Ursachen körperlicher Beschwerden aufdecken, bei denen die Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende ist. Dazu gehören Ursachen wie Mikronährstoffmängel, stille Entzündungen, toxische Belastungen, gestörte Immunbalance, genetische Polymorphismen, Nebennierenschwäche, Dysbiosen des Mikrobioms und viele mehr.
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Seitenzahl: 373
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Fehldiagnose „psychosomatisch“
Vielen Dank an meine Patienten, die mir jeden Tag das Vertrauen schenken, mich um etwas sehr kostbares kümmern zu dürfen: ihre Gesundheit.
Einen ganz besonderen Dank an all jene, deren persönliche Geschichte ich in diesem Buch erzählen darf.
Einen großen Dank auch an diejenigen, die mich bei der Erstellung und Herausgabe dieses Buches unterstützt haben.
Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die sich in ihren Krankengeschichten allein gelassen und nicht gesehen fühlen. Denjenigen, die in unserem Gesundheitssystem die Hilfe vermissen, die sie brauchen. Denjenigen, die nicht aufgeben und sich auf den Weg zur ganzheitlichen Gesundheit begeben haben.
Reinhard Clemens
Fehldiagnose „psychosomatisch“
Wenn Ärzte nicht weiter wissen
Wie man mit ganzheitlicher Labordiagnostik Ursachen findet und natürlich therapiert
© 2024 Reinhard Clemens
Umschlag: Kathi Pistorius und Reinhard Clemens
Lektorat, Korrektorat: Elvira Wysniewski
Druck und Distribution im Auftrag von Reinhard Clemens:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
ISBN 978-3-384-18210-4
e-Book
ISBN 978-3-384-18211-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Reinhard Clemens verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors. Zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Halbe Titelseite
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1: Fehldiagnose „psychosomatisch“ – Was steckt dahinter?
1.1. Verlegenheitsdiagnose „psychosomatisch"
1.2. Zeitmangel der Kassenärzte
1.3. Symptombezogene Diagnostik der Fachärzte
1.4. Mangelnde fachübergreifende Diagnostik und Therapie
1.5. Begrenzte ICD-10 Normen und Leitlinien-orientierte Medizin
1.6. Wirtschaftlicher Druck der Krankenkassen und Zwang zur Diagnosestellung
1.7. Geringes Laborbudget der Kassenärzte
1.8. Herunterspielen von Medikamentennebenwirkungen
1.9. Konservative Hochschulmedizin
Kapitel 2: Ganzheitliches Konzept von Diagnostik und Therapie
2.1. Was ist Ganzheitliche Diagnostik und Therapie?
2.2. Warum ist ein ganzheitlicher Ansatz wichtig?
2.3. Psychosomatische Medizin versus Ganzheitlichkeit - geschichtliche Entwicklung
2.4. Funktionelle und integrative Medizin – Synthese von Medizin und Naturheilkunde
2.5. Ganzheitliche Labordiagnostik
2.5.1. Labordiagnostik auf höchstem Niveau
2.5.2. Labordiagnostik hat ihren Wert
2.5.3. Ein „großes Blutbild” reicht nicht aus
Kapitel 3: Ursachen von Beschwerden, die dein Arzt nicht ernst nimmt
3.1. Stille Entzündungsprozesse – das unsichtbare Feuer der Chronizität
3.1.1. Wie entstehen stille Entzündungen?
3.1.2. Mit welchen Tests kann man stille Entzündungen aufdecken?
3.1.3. Wie behandelt man stille Entzündungen?
3.2. Mangel an Mikronährstoffen - Orthomolekulare Medizin
3.2.1. Spurenelemente - wichtige Co-Faktoren für den Stoffwechsel
3.2.2. Mineralstoffe (Makro-/Mengenelemente) - Wichtige Bausteine für Körper und Gesundheit
3.2.3. Vitamine in der orthomolekularen Medizin
3.2.4. Omega-3 und Omega-6 Fettsäuren - Die Schlüsselrolle essentieller Fette für die Gesundheit
3.2.5. Aminosäuren - Die Bausteine des Lebens und ihre vielfältige Bedeutung
3.3. Nahrungsunverträglichkeiten, Allergien, Histaminintoleranz, Multiple Chemikaliensensitivität und Mastzellaktivierungssyndrom
3.3.1. Nahrungsunverträglichkeiten, Histaminintoleranz und Allergien
3.3.2. Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS)
3.3.3.Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS)
3.3.4. Der Reizdarm - Irrtum
3.4. Darmdysbiosen – Störung im Ökosystem Mensch
3.5. Toxische Exposition durch Schwermetalle und Co – Voranschreitende Präsenz von Umweltgiften
3.5.1 HPU/ KPU und Entgiftungsstörungen
3.5.2. Mangel an Entgiftungsenzymen - Entgiftungsstörungen
3.6. Dysregulation des Immunsystems – Allergien und Autoimmunkrankheiten
3.6.1. TH1 – TH2- Immunbalance - die Kraft der Mitte
3.7. Mitochondriopathie - oxidativer und nitrosativer Stress
3.7.1 Sekundäre Mitochondriopathie - Diagnose und Therapie
3.7.2 Nitrosativer Stress - Diagnose und Therapie
3.7.3. Oxidativer Stress - Diagnose und Therapie
3.8. Genetik und Epigenetik - Schicksal versus Potential
3.9. Nebennierenschwäche, Burnout und Chronisches Fatigue Syndrom
3.9.1. Nebennierenschwäche (Adrenal fatigue)
3.9.2. Burnout - ausgebrannt im Kopf oder in der Körperzelle?
3.9.3. Das Chronische Müdigkeitssyndrom: Ursachen, Symptome und Behandlungsansätze
3.10. Medikamentennebenwirkungen
3.10.1. Fluorchinolone: Antibiotika mit riskanten Nebenwirkungen
3.10.2. Isotretinoin - Vitamin A-Derivat mit toxischer Wirkung
3.10.3 Gadolinium - giftiges Schwermetall als MRT-Kontrastmittel
3.11. Chronische Infektionen mit Viren, Pilzen und Bakterien
3.11.1 Epstein-Barr-Virus - wichtigster Auslöser des Chronischen Fatigue Syndroms
3.11.2. Candida albicans - der unsichtbare Gast
3.11.3. Borreliose - das Chamäleon unter den Infektionskrankheiten
Kapitel 4: Jetzt aber doch - Psychosomatische versus somatopsychische Beschwerden
4.1. Was sind eigentlich somatopsychische Beschwerden?
4.2. Check-Liste: Sind meine Beschwerden psychosomatisch oder somatisch bedingt?
4.3. Auswertung der Check-Liste
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Vorwort
„Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher und fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: „Meinen Schlüssel.“ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: „Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.“
Diese oft zitierte Passage aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschreibt sehr passend das hochaktuelle Thema, das Heilpraktiker Reinhard Clemens in seinem Buch „Fehldiagnose: psychosomatisch“ behandelt.
Auch mir selbst wurde schon mehrfach in meinem Leben diese Diagnose bescheinigt und nach über 20 Jahren täglicher Beschäftigung mit Patientenschicksalen kann ich sagen, dass unzählige Patienten mit chronischen, vor allem seltenen Erkrankungen eher eben beim Psychiater oder in einer psychiatrischen Klinik landen, als dass sie eine wirkliche Diagnostik und ursachenbezogene Therapie erfahren.
Warum dies so ist, zeigt Reinhard Clemens sehr dezidiert auf. Er legt die Finger in die Wunden unseres sehr kranken Gesundheitssystems, das gerade für chronisch Kranke keinen wirklichen Platz hat. Denn chronisch Kranke benötigen Zeit und Engagement, beides wird in unserem Gesundheitssystem nicht honoriert und steht daher kaum dem Patienten zur Verfügung. Und so kommt es, häufig auch aus Zeitmangel, der eine wirkliche Ursachensuche verhindert, zur Fehldiagnose „psychosomatisch“. Es bedarf eines Therapeuten mit detektivischem Spürsinn, der gemeinsam mit dem Patienten die Herausforderung „Ursachenforschung“ angeht. Chronische Krankheit ist ein multifaktorielles Geschehen, daher kann dieser Prozess mitunter sehr langwierig sein und erfordert auch vom Patienten eine aktive Mitarbeit.
Das Buch von Reinhard Clemens füllt insofern eine große Lücke auf dem deutschen Buchmarkt, denn es klärt auf, beleuchtet Hintergründe und zeigt vor allem für Patienten und Therapeuten effektive Lösungen auf.
Kyra Kauffmann
Düsseldorf, im April 2024
Einleitung
Die moderne Medizin hat zweifelsohne beeindruckende Fortschritte erzielt und zahlreiche Krankheiten besiegt, die einst als unheilbar galten. Doch inmitten dieser Erfolgsgeschichte klaffen weiterhin Lücken, die sowohl Ärzte als auch Patienten vor Herausforderungen stellen. Ein solches Dilemma ist die Fehldiagnose „psychosomatisch".
Im Kontext einer komplexen und immer spezialisierteren medi-zinischen Landschaft wird dieses Etikett häufig Patienten angeheftet, deren Leiden nicht eindeutig einem bestimmten Organsystem zugeordnet werden kann. Dadurch werden eine zielführende Diag-nostik der eigentlichen Ursachen und damit auch eine hilfreiche Thera-pie verhindert. Ist man erst mal in der Schublade „psychosomatisch“ gelandet, ist es schwer, sich wieder daraus zu befreien. Weiter-behandelnde Ärzte nehmen die Patienten mit ihren Beschwerden häufig nicht mehr ernst. Die Folge ist, dass unentdeckte körperliche Ursachen unbehandelt bleiben und die Betroffenen unverstanden und ohne die notwendige medizinische Hilfe zurückbleiben.
In diesem Buch werden wir tiefer in die Problematik eintauchen, die zu der Fehldiagnose „psychosomatisch" führt. Wir werden die Geschichte sowie die strukturellen Probleme unseres Gesundheitssystems beleuchten, um zu verstehen, warum Ärzte immer wieder wichtige und therapierbare Ursachen von Krankheiten übersehen. Wir werden herausfinden, warum die moderne Medizin trotz ihrer vielen Er-rungenschaften immer noch mit der Frage ringt, wie sie mit komplexen Symptomen umgehen soll, die nicht in das traditionelle medizinische Schema passen.
Doch wir werden nicht nur die Probleme aufzeigen. In den folgenden Kapiteln werden wir eine alternative Perspektive erkunden, die sich auf ganzheitliche Diagnose- und Therapiekonzepte konzentriert. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, wie eine medizinische Praxis aussieht, die nicht nur Symptome bekämpft, sondern den Organismus als Einheit betrachtet. Dabei werden wir auf wissenschaftliche Forschung zurückgreifen, die uns eine die Organsysteme übergreifende ganzheitliche Diagnostik und Therapie ermöglicht.
Dieses Buch möchte eine Brücke zwischen den Welten der etablierten Medizin und ganzheitlichen Ansätzen schlagen. Es möchte aufklären, informieren und den Blick öffnen für neue Wege der medizinischen Betrachtung und Behandlung. Es soll Behandlern und Patienten gleichermaßen als Leitfaden dienen, um die Tücken der Fehldiagnose „psychosomatisch" zu überwinden und eine umfassende, ganzheitliche Herangehensweise an Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern.
In diesem Buch werde ich auch von Fällen aus meiner Praxis erzählen. Dabei ist es mir wichtig, authentische Fälle zu schildern und keine perfekten Erfolgsgeschichten zu liefern. Einfache Fälle kommen vor und man freut sich als Behandler, wenn man einen Fall schnell lösen kann. Die Patienten freuen sich umso mehr. Der Patient schildert einen chronischen Reizdarm, man findet eine Glutenintoleranz. Das Meiden von Gluten beseitigt die Beschwerden. Super. Jemand hat eine Infektanfälligkeit und man findet einen Zink- und Vitamin D-Mangel. Nach der Einnahme treten Infekte nur noch selten auf. Großartig.
Diese einfachen Fälle gibt es sicherlich in jeder Praxis. Interessanter sind jedoch die komplizierten Fälle, die wie ein Rätsel erscheinen und uns auf Umwege führen. Dabei finden wir einzelne Puzzlestücke, die wir zu einem größeren Ganzen zusammensetzen müssen. Auch zeigen uns komplexe Fälle aus der Praxis, dass Patienten und Behandler gemeinsam auf Spurensuche gehen müssen, um Lösungen zu finden.
Während wir alle von Kind auf gelernt haben, mit unserer Versichertenkarte vorne am Tresen auch unsere Verantwortung abzugeben, sind wir auf einem ganzheitlichen Weg gefragt, Verant-wortung zu übernehmen. Verantwortung für unseren Lebensstil, Verantwortung dafür, welche Lebensmittel und Medikamente wir unserem Körper zuführen, Verantwortung für unsere mentale Verfassung, Verantwortung für unsere Gesundheit. Bei all diesen Dingen ist es normal und schlau, sich Hilfe und Unterstützung von außen zu holen. Dabei ist es wichtig, dass wir denjenigen, die uns helfen, auch vertrauen. Gleichzeitig sollten wir nicht blind vertrauen, sondern prüfen, was uns angeboten wird. Jeder muss für sich selbst herausfinden, in welchen Bereichen des Lebens und der Gesundheit er vertrauensvoll Verantwortung abgeben kann und wo es wichtig ist, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Wenn du also von deinem Arzt die Diagnose „psychosomatisch” bekommen hast, du aber überzeugt davon bist, dass deine Beschwerden eine körperliche Ursache haben, dann kann dir dieses Buch wertvolle Puzzleteile liefern, um dein Rätsel zu lösen. Sei dabei aufmerksam und ehrlich mit dir selbst. In welchen Bereichen kannst du mehr Verantwortung für dein körperliches und seelisches Wohl-befinden übernehmen und beides verbessern? Und in welchen Bereichen wünschst du dir und brauchst du Hilfe von außen?
Kapitel 1: Fehldiagnose „psychosomatisch“ – Was steckt dahinter?
Nahezu täglich suchen Patienten meine Praxis mit der Diagnose „psychosomatisch" auf. Die meisten von ihnen haben bereits einen Ärztemarathon hinter sich, jedoch konnte kein Mediziner eine physische Erkrankung feststellen. Schlussendlich werden die teils intensiven Symptome als psychosomatisch eingestuft, oft ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich ein psychisches Problem vorliegt. Viele Patienten fühlen sich missverstanden, als psychisch krank abge-stempelt und sind überzeugt, dass eine unentdeckte körperliche Krankheit vorhanden ist. Aus meiner Erfahrung heraus haben diese Patienten oft Recht. Da sie nicht in das Schema der schulmedizinischen Diagnostik passen, wird von Ärzten letztendlich die Verlegen-heitsdiagnose „psychosomatisch" gestellt. Doch wie kommt es zu solchen Fehldiagnosen? Welche Ursachen liegen dahinter?
Ein Zitat einer Patientin verdeutlicht das Problem: „Wenn Ärzte nichts finden, ist es immer mal ganz schnell die Psyche.”
1.1. Verlegenheitsdiagnose „psychosomatisch"
Wie ist es paradoxerweise dazu gekommen, dass die Diagnose „psychosomatisch" in der heutigen Schulmedizin beinahe inflationär verwendet wird? Viele Jahrzehnte lang hat die Schulmedizin gebraucht, um überhaupt seelische Ursachen für körperliche Be-schwerden anzuerkennen. Doch warum neigt sie jetzt dazu, psycho-somatische Beschwerden zu diagnostizieren, wo sie vielleicht gar nicht vorliegen?
Solange psychosomatische Beschwerden nicht in den medizinischen Leitlinien aufgeführt waren, galten sie schlichtweg als nicht existent. Jetzt, da die Leitlinien besagen, dass zum Beispiel Reizdarm eine psychosomatische Erkrankung ist, muss es also auch so sein. Wenn bei einer Darmspiegelung keine krankhaften Veränderungen der Darm-schleimhaut nachgewiesen werden können, werden auch starke Bauchkrämpfe rein psychischen Ursachen zugeschrieben. Egal, ob der Patient tatsächlich seelische Probleme hat oder nicht. Nahrungsmittel als Auslöser kommen nicht infrage, da bereits alle möglichen (bisher anerkannten) Ursachen ausgeschlossen wurden. Weder Zöliakie, noch Fruktose- oder Laktoseintoleranz liegen vor. Alles andere ist unbe-kannt, also wird es als undenkbar betrachtet. Da jedoch eine Diagnose für die Abrechnung nach ICD-10 Norm notwendig ist, bleibt oft nur die Diagnose „psychosomatisch“ als letzter Ausweg.(1) Hierfür gibt es Pillen (Psychopharmaka) oder eine Überweisung zum Psychologen. Fall abgeschlossen.
Da Heilpraktiker nicht generell nach ICD-10 Norm oder leitlinien-konform handeln müssen, sind sie von Hause aus offener für „alternative“ Ideen. Da Heilpraktiker auch lesen können1) und dank Internet medizinische Fachinformationen für jeden zugänglich gewor-den sind, beschäftigen sie sich mit neuesten medizinischen Forschun-gen. Während wir bis vor ein paar Jahren noch ausschließlich teils Jahrhunderte alte Heilweisen angewandt hatten (wie Akupunktur oder Ayurveda), bedienen wir uns mittlerweile auch modernem medi-zinischem Forschungswissen. Wenn man dann die X-te Studie über den Zusammenhang der Darmflora mit chronischen Darmproblemen gelesen hat, fühlt man sich bestätigt darin, den Darm zu „sanieren“, um einen Reizdarm zu behandeln. Unsere Patienten haben einfach nicht die Zeit, auf irgendwelche neuen Leitlinien zu warten.
1) Ich bitte um Verzeihung für den zynisch klingenden Ton meiner Aussage, dass Heilpraktiker auch lesen können. Leider gibt es ein weitverbreitetes Heilpraktiker-Bashing, das von bestimmten Gruppen sowohl über Nischenmedien als auch über Mainstream-Medien betrieben wird. Dieses Thema ist meiner Meinung nach so bedeutend, dass es problemlos ein eigenes Buch füllen könnte. Ein Medizinstudium ist zweifellos von großer fachlicher Tiefe geprägt. Dennoch sollte man betonen, dass die Erlangung der Heilpraktiker-Erlaubnis keineswegs ein Spaziergang ist, entgegen gegenteiliger Behauptungen. Das aus diesem Prozess gewonnene medi-zinische Wissen erweist sich als äußerst wertvoll und von breit gefächerter Bedeutung. Meine Erfahrung lehrt mich, dass es dazu befähigt, medizinische Zusammenhänge zu durchdringen. Mittels spezifischer Fachfortbildungen und Eigenstudium kann man sein Wissen in speziellen Fach-gebieten vertiefen. Es sollte jedoch betont werden, dass ein und dasselbe medizinische Wissen, sei es durch ein Universi-tätsstudium oder anderswo erworben, nicht automatisch zu größerer Klugheit führt. Im digitalen Zeitalter ist Wissen frei zugänglich. Die wahre Kunst besteht darin, das erworbene Wissen im medizinischen Kontext richtig einordnen zu können.
Somatoforme Störungen - Somatisierungsstörung - psychosomatische Störung
Im ICD-10 werden psychosomatische Erkrankungen unter dem Oberbegriff „Somatoforme Störungen” (ICD-10, F45) katalogisiert. Als Unterbegriff wird „Somatisierungsstörung” (F45.0) weitestgehend als Synonym für (multiple) psychosomatische Störung verwendet. Während diese Begriffe auch im Sprachgebrauch der Ärzte meist als gleichbedeutend verwendet werden, können sie im engeren Sinne differenziert werden.
Mit somatoformer Störung oder Somatisierungsstörung meint man körperlich wahrgenommene Symptome, die trotz aufwändiger Diag-nostik keinerlei körperliche Befunde ergeben. Das heißt, es kann aus Sicht der Mediziner wirklich nichts gemessen werden. Typisch hierfür ist, dass es sich um multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome handelt, die mindestens zwei Jahre bestehen. Die Patienten stellen körperliche Symptome wiederholt bei den Ärzten vor und fordern hartnäckig nach medizinischen Unter-suchungen, obwohl die Befunde wiederholt unauffällig sind und die Ärzte versichern, dass die Symptome nicht körperlich begründbar seien. Kurz gesagt, handelt es sich um eine psychische Erkrankung, sofern die Störung korrekt als solche diagnostiziert wird. Bekanntestes Beispiel für eine somatoforme Störung ist die Hypochondrische Störung (F45.2).
Im Gegensatz dazu kann im engeren Sinne mit einer psycho-somatischen Erkrankung eine wirklich messbare und diagnostizierbare körperliche Symptomatik gemeint sein. Zum Beispiel ein stress-bedingtes Magengeschwür, ein Tinnitus (indirekt messbar), Bluthoch-druck oder Hautausschläge, die ebenso stressbedingt sein können. Im Übrigen sind auch nach dieser Definition stressbedingte Erkrankungen nicht allein von der Psyche abhängig. Denn Stress führt zur messbaren Veränderung der Stresshormone und Neurotransmitter und löst im Körper subtile Entzündungsprozesse (-> 3.1. Stille Entzündungs-prozesse) und andere Probleme aus, die dann die eigentlichen körperlichen Beschwerden erzeugen. Mehr dazu in späteren Kapiteln. Die individuelle Stressresistenz und Funktion der Nebennieren sowie die Fähgigkeit des Körpers, Entzündungsprozesse und (oxidativen, nitrosativen) Zellstress zu regulieren, ist entscheidend. Wenn wir diese physiologischen Funktionen verbessern, steigt unsere Stressresistenz und sinkt unser Risiko für stressbedingte Erkrankungen.
Das heißt, man kann vereinfacht gesagt bei somatoformen und psychosomatischen Störungen zwischen psychischen Erkrankungen und stressbedingten Erkrankungen unterscheiden. Da diese Unterscheidung in der Praxis häufig nicht oder eben nicht korrekt getroffen wird, nutze ich in diesem Buch den landläufigen Begriff „psychosomatisch“. Damit schließe ich fälschlicherweise als somatoform fehldiagnostizierte Störungen mit ein. Natürlich kommt es auch in meiner Praxis vor, dass ich Patienten vor mir habe, bei denen ich eine somatoforme Störung vermute. Logischerweise können auch solche Patieten irgendwann mal in einer Naturheilpraxis landen.
In diesem Buch geht es um Patienten, die vorschnell in dieser Schublade landen und bei denen aus diesem Grund körperliche Symptome unbehandelt bleiben. In der Praxis sind die Grenzen nicht selten fließend. „Man kann auch Läuse und Flöhe zugleich haben.“ Das betrifft verschiedene körperliche Probleme sowie das Nebeneinander von körperlichen und seelischen Problemen. Häufig sind die Bereiche eng miteinander verwoben. Zur Lösung der Problematik muss ich aber auf alle Themen eingehen und da können voreilig benutzte Schublade kontraproduktiv sein.
Meiner Beobachtung nach spielt die Compliance der Patienten eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung zwischen somatoformen, psychosomatischen und körperlich bedingten Problemen. Patienten mit körperlichen Problemen und stressbedingten psychosomatischen Erkrankungen haben meist eine gut Compliance, das heißt, „sie machen gut mit“. Bei wirklich psychisch bedingten Somatisierungsstörungen ist die Compliance oft gering. Wenn beispielsweise immer weitere, teils beliebige Tests eingefordert werden, ohne dass ein Therapieplan zumindest ausprobiert wird, dann denke ich auch an Schwerpunkte im seelischen Bereich. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung für mich als Therapeut, immer offen zu bleiben und mein eigenes Nicht-Wissen zu akzeptieren. Ich habe viel durch meine Patienten gelernt und lerne weiterhin. So kann es sein, dass mein Patient unter einer körperlichen Problematik leidet, die ich noch nicht kenne oder für die ich noch kein geeignetes diagnostisches Instrument gefunden habe. Es ist meine Aufgabe, jeden Patienten ernst zu nehmen und gemeinsam auf die Suche nach Lösungen zu gehen.
1.2. Zeitmangel der Kassenärzte
Es ist allseits bekannt, dass der durchschnittliche Patient selten länger als 5 Minuten Zeit hat, um mit seinem behandelnden Arzt zu sprechen.(2,3) Nach oft stundenlangem Warten im Gedränge des Warte-zimmers, wo man Zeitschriften durchblätterte oder gelangweilt am Handy spielte, ist es endlich so weit. Dann muss eine mitunter jahrelange Krankengeschichte in diese kurze Zeitspanne gepresst werden. Keine einfache Aufgabe, weder für den Erzählenden noch für den Zuhörenden. In nur 5 Minuten lässt sich keine Geschichte ange-messen erzählen. Im Vergleich dazu dauert ein guter Film 90 Minuten (ähnlich wie die durchschnittliche Dauer einer Erstanamnese beim Heilpraktiker); in 5 Minuten kann man gerade mal den Trailer zeigen. Viele Patienten beklagen den Zeitmangel in den Arztpraxen. Nur rund ein Drittel der Patienten zeigt sich laut Umfragen noch rundum zufrieden mit der ärztlichen Behandlung.(4)
Aufgrund des Drucks von Zeit und Kosten bleibt dem Arzt oft nichts anderes übrig, als zumindest eine vorläufige Verdachtsdiagnose zu stellen. Diese führt zu tausenden Behandlungsfehlern jedes Jahr.(5) Ähnlich wie bei Quizshows wie „Wer wird Millionär?" fragt er sich: Werden die Beschwerden des Patienten von alleine abklingen? Soll ich ein Rezept für Medikamente ausstellen? Soll ich ihn wieder einbestellen, nachdem ein Blutbild erstellt wurde? Soll ich ihn an einen Facharzt überweisen? Wie werde ich den Patienten los, bevor er mir seine gesamte Lebensgeschichte, bzw. die XXL-Version seiner Kranken-geschichte, erzählt? Hierbei sind rollbare Hocker besonders nützlich. Der Arzt rollt auf den Patienten zu, misst den Blutdruck und führt ein kurzes Gespräch. Nach 3 Minuten rollt er demonstrativ wieder zurück und fragt: „Gibt es sonst noch etwas?" Der Patient stammelt, „Ähm ja, eigentlich wollte ich…" Was wollte er eigentlich? Das fällt ihm wieder ein, wenn er vorne am Empfangstresen steht, um seine Überweisung oder sein Rezept abzuholen.
Ich behaupte, dass eine beträchtliche Anzahl von Patienten, die als psychisch krank eingestuft werden, eigentlich nicht unter psychischen Störungen leiden, sondern sich schlicht unverstanden fühlen. Ja, sich chronisch unverstanden zu fühlen, kann auch eine Neurose sein. Und jeder sollte sich selbstkritisch prüfen, ob dies auf ihn zutrifft. Doch aufgrund mangelnder Zeit und fehlendem Verständnis sollte es nicht zu Fehldiagnosen und überflüssigen Verschreibungen von Anti-depressiva und Co. kommen.
1.3. Symptombezogene Diagnostik der Fachärzte
Eine große Errungenschaft der Medizin ist zugleich ihre größte Crux. Die moderne Medizin hat sich enorm professionalisiert und speziali-siert. Labormedizinische und vor allem apparative Untersuch-ungsverfahren können selbst kleinste Anomalien in jedem Organsys-tem aufdecken. Dadurch können gefährliche Erkrankungen wie Arter-ienverschlüsse oder bösartige Tumore äußerst präzise erkannt und be-handelt werden. Zweifellos rettet die moderne Medizin täglich Leben.
Allerdings neigt die moderne Medizin aufgrund ihrer Spezialisierung dazu, den Mensch wie einen Flickenteppich aus Organen zu behandeln. Der ganzheitliche Blick auf den menschlichen Organismus bleibt dabei außen vor. Vereinfacht ausgedrückt gibt es für jedes Organsystem ein spezifisches Fachgebiet. Ein Gastroenterologe für das Verdauungs-system, ein Neurologe für das Nervensystem, ein Orthopäde für den Bewegungsapparat, ein Dermatologe für die Haut, usw. Das Problem ist nur, dass keines dieser Systeme unabhängig von den anderen funktionieren kann.
Wenn Hautkrankheiten nur oberflächlich mit Cremes behandelt oder Gelenkschmerzen lediglich mit Schmerzmitteln unterdrückt werden, geht der umfassende Blick auf das Gesamtbild verloren. Es ist keine Seltenheit, dass man als Patient hier in Berlin Fachärzte in verschiedenen Stadtvierteln aufsucht. Mein Herzspezialist befindet sich dann vielleicht in Charlottenburg, mein Gastroenterologe in Schöne-berg und mein Endokrinologe in Kreuzberg. Als wären meine Organe über die gesamte Stadt verteilt. Diese Fragmentierung mag absurd erscheinen, entspricht jedoch oft der Realität. Die Kommunikation der Fachärzte untereinander beschränkt sich meist auf Stichworte auf dem Überweisungsschein. Zusammenhängende Behandlungspläne und aufeinander abgestimmte Therapien und Medikamentengaben - Fehlanzeige.
1.4. Mangelnde fachübergreifende Diagnostik und Therapie
In einem idealen Gesundheitssystem würden verschiedene Fachärzte in engem Austausch stehen, ihre Erkenntnisse miteinander teilen und gemeinsam eine umfassende Behandlungsstrategie erarbeiten. Doch leider denken viel zu wenige Hausärzte darüber nach, dass beispiels-weise Verdauungsbeschwerden und Hautprobleme miteinander ver-bunden sein können. Stattdessen neigen sie dazu, Probleme auf psychosomatische Ursachen zu schieben, wenn zum Beispiel eine Darmspiegelung beim Gastroenterologen unauffällig war und der Prick-Test beim Hautarzt keine Allergien zeigte. Die logische Konse-quenz ist dann die nächste Überweisung – diesmal zum Nervenarzt oder Psychologen.
1.5. Begrenzte ICD-10 Normen und Leitlinien-orientierte Medizin
Die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ist eine medizinische Klassi-fikationsliste der WHO. Sie ordnet medizinischen Problemen, Symptomen und Krankheiten spezifische Codes zu, die international anerkannt sind. Seit dem 01. Januar 2022 gilt offiziell die elfte Version, die ICD-11.(6) Allerdings ist diese in Deutschland noch nicht im Einsatz (Stand März 2024). Es ist zudem unwahrscheinlich, dass die neue Version etwas an den hier beschriebenen Problemen ändern wird.
Denn die Einschränkungen der ICD resultieren weniger aus ihrem Umfang und ihrer fachlichen Tiefe, sondern vielmehr aus einem veralteten, eingeschränkten Denkmuster im medizinischen System. Die ICD-Normen spiegeln die Vor- und Nachteile der symptombezogenen Diagnostik der Fachärzte wider, die ich bereits beschrieben habe. Sie sind eng mit der leitlinienorientierten Medizin verbunden.
Medizinische Leitlinien fungieren sozusagen als Handbuch für Ärzte, nach dem sie agieren. Sie bieten klare Anweisungen für Diagnose und Therapie. Sie sind Wegweiser für eine fachgerechte Medizin. Wenn ein Arzt nach den festgelegten „Regeln der Kunst" arbeitet, liegt er meist richtig und minimiert Fehler. Zwar ist ein Arzt nicht immer an Leitlinien gebunden, doch wenn er von ihnen abweicht, begibt er sich auf unsicheres Terrain und muss seine Entscheidung gut begründen.
An dieser Stelle spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, insbe-sondere das Dogma der symptombezogenen Herangehensweise und der Zeitmangel. Wenn Gesundheit als das Fehlen von Symptomen betrachtet wird, mag die Behandlung eines Schmerzes mit Schmerzmitteln vorübergehend ausreichend sein. Oder eine bakterielle Infektion wird durch die Gabe eines passenden Antibiotikums geheilt. In solchen Fällen können Leitlinien durchaus hilfreich sein, da sie dem Arzt vorgeben, welche Antibiotika beispielsweise bei einer Streptokokken-Infektion und welche bei einer Chlamydien-Infektion verwendet werden sollten.
Hierbei treten zwei Probleme auf, bei denen sich ein Arzt mithilfe von Leitlinien und der ICD-Codes absichern kann. So wird er kaum kritisiert, wenn er bei einer Mandelentzündung vorsorglich Penicillin verschreibt, um eine vermutete Streptokokken-Infektion zu behandeln. Aufgrund von Zeitmangel führt er möglicherweise keinen Abstrich und kein Antibiogramm durch und übersieht dabei vielleicht, dass es sich um eine virale Tonsillitis handelt, die nicht auf Antibiotika anspricht. Dies wird ihm nicht als fehlerhafte Behandlung angekreidet, da er im Wesentlichen im Einklang mit den Leitlinien gehandelt hat. Falls es jedoch tatsächlich eine Streptokokken-Infektion war und diese eine seltene, aber ernsthafte Komplikation wie eine Endokarditis verursacht, wird er sich verteidigen müssen, wenn er kein Penicillin verordnet hat.
Soweit, so gut und so richtig. Doch wie steht es mit den Ursachen möglicher wiederkehrender Mandelentzündungen und den Folgen unnötiger Antibiotika-Gaben? Zwar gibt es Codes in der ICD-10 für das Thema Infektanfälligkeit (Z86.1) und Veränderungen der Darmflora (Dysbiose, sonstige Krankheiten des Darms K63.8), jedoch fehlt der Kontext, in dem diese sinnvoll eingesetzt werden können. Denn was haben Halsprobleme mit dem Darm zu tun? Der HNO-Arzt interessiert sich für das eine Organ, der Gastroenterologe für das andere. Doch pflegen diese beiden Fachärzte einen intensiven Austausch oder beraten sich in einer Telefonkonferenz über den gemeinsamen Patienten? Wohl kaum.
Positiv ist anzumerken, dass zumindest bei Privatärzten und vereinzelt auch bei Kassenärzten ein Umdenken stattfindet. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihres Behandlungskonzepts wagen immer mehr Ärzte den Blick über den Tellerrand. Wie frustrierend muss es auch sein, wenn Patienten mit denselben Beschwerden immer wieder auftauchen oder sich Probleme nach der eigenen Behandlung inklusive Medikamentennebenwirkungen chronifizieren? Die Ideen für integrative Behandlungsansätze sind vorhanden, doch das System ist noch nicht bereit dafür.
Exkurs Leitlinien: Die Idee ist gut, doch Lobbyismus ist besser
Die Idee der Leitlinien ist eine sehr gute. Sie soll Ärzten eine klare Orientierung in ihrem Handeln auf Basis der evidenzbasierten Medizin geben. Leitlinien werden in medizinischen Fachgremien erarbeitet, beziehen evidenzbasierte Wissenschaft und das Wissen von Experten mit ein.
Das BMG beschreibt Leitlinien wie folgt: „Leitlinien sind systematisch entwickelte Handlungsempfehlungen, die Ärzte und Patienten bei der Entscheidungsfindung über die angemessene Behandlung einer Krankheit unterstützen. Als wichtiges Instrument der evidenzbasierten Medizin geben sie den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der in der Praxis bewährten Verfahren wieder. … Leitlinien werden in der Regel von den Vertretern der Berufsgruppen, beispielsweise den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesell-schaften, erarbeitet. Leitlinien leisten einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung. Die Bewertung von Leitlinien für wichtige Versorgungsbereiche gehört zu den wesent-lichen Aufgaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).”(7)
Das IQWiG wiederum sagt in seiner Selbstbeschreibung: „Das IQWiG ist ein fachlich unabhängiges wissenschaftliches Institut. Das heißt, keine Interessengruppe kann die Ergebnisse der vom Institut erstellten Gut-achten beeinflussen. … Aufträge darf das IQWiG ausschließlich vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) annehmen. Der G-BA ist das oberste Beschlussgremium der sogenannten Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und entscheidet zum Beispiel darüber, welche medizinischen Leistungen von den gesetzlichenKrankenkassen übernommen werden.”(8)
Also eigentlich alles super. Wissenschaft und medizinische Experten hier, unabhängige Entscheidungsfindung der Politik dort. Wäre alles noch besser, wenn es keinen Lobbyismus gäbe, der mitunter massiv auf die genannten Akteure einwirkt.
In einem Artikel des Senders Deutschlandfunk Kultur mit dem Titel „Leitlinien in der Medizin - Goldstandard oder Goldesel” heißt es, „Es wird fast nicht möglich sein, eine Leitlinie zu erstellen mit Experten aus dem jeweiligen Fachgebiet, ohne dass man da viele Autoren findet, die Gelder der Pharmaindustrie bekommen haben, sagt der Allgemein-mediziner Thomas Rosemann.”(9)
Aufgrund dieser Problematik wurde die Seite leitlinienwatch.de gegründet, auf der Leitlinien bewertet und mögliche Interessenkonflikte aufgezeigt werden. Sie wurde von dem Berliner Neurologen Prof. Dr. Thomas Lempert gemeinsam mit Gleichgesinnten ins Leben gerufen.
Dort erklärt man: „Die ärztlichen Autoren medizinischer Leitlinien sind jedoch häufig mit der Industrie verflochten, beispielsweise durch Beraterverträge, Vortragshonorare und Industrie-finanzierte Studien. Dadurch entstehen Interessenkonflikte, die nicht nur offengelegt, sondern in ihren Auswirkungen minimiert werden müssen.” In insgesamt 156 bewerteten Leitlinien (Stand November 2023) werden von Leitlinienwatch nur 30% als gut bezeichnet. Bei den restlichen wurden mögliche Interessenkonflikte dokumentiert.(10)
Kommen wir zur Politik und damit zu den „unabhängigen” Entscheidungsfindern, die dafür sorgen, dass die leitlinienorientierte Medizin auch von den Krankenkassen (besser gesagt den Beitragszahlern) finanziert wird. Auf der Seite abgeordnetenwatch.de findet sich ein Artikel mit der Überschrift „Zugang zu Abgeordneten: Pharmalobby verpflichtet enge Mitarbeiter von Gesundheits-politikern”.(11) Der Titel spricht bereits Bände und Bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterungen. Vertieft man sich in den Bericht, so kann man daraus lesen, dass es sich hier nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass dieses Vorgehen gang und gäbe ist. Es werden „Scharen von Lobbyisten in Bewegung gesetzt”, die ganz gezielt Politiker in Schlüsselpositionen adressieren und für die Pharmaindustrie unter Vertrag nehmen. Auch die Krankenkassen spielen hier mit. So lud die AOK gezielt Mitglieder des Gesundheitsausschusses zum gemeinsamen Essen ein. Also genau die politischen Akteure, deren Abstimmungs-verhalten im Ausschuss unmittelbar die Finanzen der Krankenkassen beeinflusst.
Trotz all den Interessenkonflikten und der wirtschaftlichen Einfluss-nahme haben medizinische Leitlinien sicherlich ihren berechtigten Nutzen. Es wäre jedoch falsch, ja fast schon grotesk, sie mit einem Idealbild der Wissenschaft gleichzusetzen. Sie sind quasi das Beste, was alle Beteiligten, von den Forschern über die Ärzte bis hin zu den Krankenkassen, an genormter Schulmedizin ermöglichen können, unter Berücksichtigung ihrer eigenen wirtschaftlichen Wünsche und Zwänge.
1.6. Wirtschaftlicher Druck der Krankenkassen und Zwang zur Diagnosestellung
Ein bedeutsamer Einflussfaktor auf das heutige medizinische Ge-schehen ist der wirtschaftliche Druck, dem die Krankenkassen und das Gesundheitssystem insgesamt ausgesetzt sind. In diesem komplexen Geflecht können Ärzte nicht einfach unbeirrt ihren Weg gehen. Der finanzielle Druck führt dazu, dass viele Prozesse in der medizinischen Praxis standardisiert und ökonomisch optimiert werden müssen. Hierbei spielt die Diagnosestellung eine entscheidende Rolle, denn sie ist nicht nur die Grundlage für die Therapieentscheidungen, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf die Abrechnung mit den Kranken-kassen.
Ärzte sehen sich gezwungen, innerhalb knapper Zeitfenster eine Diagnose zu erstellen, die nicht nur den tatsächlichen Zustand des Patienten widerspiegelt, sondern auch den strengen Vorgaben der medizinischen Klassifikation, der ICD-10, entspricht. Die ICD-Codes sind nicht nur für die Behandlung, sondern auch für die Abrechnung mit den Krankenkassen von entscheidender Bedeutung.(12,13) Dieser wirtschaftliche Aspekt kann dazu führen, dass Ärzte unter Druck geraten, eine Diagnose zu stellen, selbst wenn der klinische Zustand des Patienten nicht eindeutig ist oder die Symptome vielschichtig sind.
In dieser Situation wirken die symptombezogene Diagnostik der Fachärzte, die begrenzten ICD-10 Normen und die leitlinienorientierte Medizin zusammen, um eine möglichst schnelle und präzise Diagnose zu erzwingen. Dies kann in manchen Fällen zu einer Oberflächlichkeit der Untersuchungen führen, bei der der Fokus auf der Identifizierung eines Codes liegt, der die erbrachten Leistungen am besten abbildet. Der ganzheitliche Blick auf den Patienten und die umfassende Analyse möglicher Zusammenhänge geraten dabei in den Hintergrund.
Letztendlich kann der Zwang zur raschen Diagnosestellung unter dem wirtschaftlichen Druck dazu führen, dass Patienten mit komplexen oder schwer zu fassenden Beschwerden in eine Schublade gesteckt werden, die nicht unbedingt zu ihrer tatsächlichen Situation passt. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind oft jene Patienten, deren Symptome nicht eindeutig einer organischen Ursache zuge-ordnet werden können oder deren Leiden sich über verschiedene Organsysteme erstrecken. Die Einordnung in eine passende ICD-Kategorie wird dabei zur Herausforderung, die mitunter den Patienten selbst und seine individuelle Situation aus den Augen verliert.
Die Kombination aus wirtschaftlichem Druck, begrenzten ICD-Codes und leitlinienorientierter Medizin kann daher zu einem Teufelskreis führen, in dem die Diagnosestellung immer mehr an Bedeutung gewinnt und der ganzheitliche Blick auf den Patienten abnimmt. Es wird deutlich, dass eine Veränderung dieses Systems nicht nur auf individueller ärztlicher Ebene, sondern auch auf gesundheitspolitischer und struktureller Ebene dringend erforderlich ist, um eine um-fassendere und menschenzentrierte medizinische Versorgung zu gewährleisten.
1.7. Geringes Laborbudget der Kassenärzte
In vielen Fällen höre ich von Patienten, dass ihre Ärzte ein „großes Blutbild" durchgeführt haben und dabei nichts Auffälliges festgestellt wurde. Oft wird dann gesagt, dass alles in Ordnung sei und man sich nicht zu viele Gedanken machen solle. Diese Aussage impliziert, dass sämtliche Untersuchungen durchgeführt und dabei keine Anomalien gefunden wurden. Daher wird oft eine psychosomatische Ursache der Beschwerden als einzige Erklärung angeführt.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie der Arzt ein „großes Blutbild" definiert. Es gibt eine objektive und eine subjektive Antwort darauf. Objektiv betrachtet umfasst ein großes Blutbild nach medizinischer Definition die Zählung der Blutzellen einschließlich der Differenzierung der weißen Blutzellen, der Leukozyten. Dies ist zweifellos ein grund-legender Teil der Labordiagnostik, aber auch ein recht begrenzter. Mithilfe dieser Untersuchung können zum Beispiel Anämien oder Blutgerinnungsstörungen erkannt werden, ebenso wie Anzeichen für ein geschwächtes Immunsystem, eine Infektion oder sogar Hinweise auf eine Leukämie. Das sind wichtige Informationen, jedoch nur Puzzleteile des Gesamtbildes.
Reicht ein großes Blutbild also aus, um bei komplexen Beschwerden eine umfassende Antwort zu bekommen? In den meisten Fällen sicherlich nicht. Das würde auch kaum ein Arzt behaupten. Allerdings liegen die Kosten für ein solches Blutbild bei etwa 4 Euro und damit ungefähr in Höhe des Laborbudgets, das ein Hausarzt pro Quartal für jeden seiner Patienten abrechnen kann. Wenn er dieses Budget überzieht, kann es zu finanziellen Einbußen für seine Praxis kommen. Wenn er die Ausgaben für Laboranalysen unter sein Gesamtbudget drückt, erhält er einen sogenannten Wirtschaftlichkeitsbonus (auch „Laborbonus” genannt).(14, 15)
Daher ordnet ein Kassenarzt nicht für jeden Patienten in jedem Quartal ein umfangreiches Blutbild an. Das wäre schlicht unwirtschaftlich.
Aus subjektiver Sicht werden zu einem „großen Blutbild" gerne auch Leber- und Nierenwerte, der TSH-Wert der Schilddrüse, die Blutfettwerte sowie das CRP als Entzündungsmarker gezählt. Die Kosten für diese Untersuchungen können zwischen 60 und 80 Euro betragen. Das bedeutet, dass ein Arzt bereits erhebliche Laborausgaben auf einen einzigen Patienten verbucht, welche er bei anderen Patienten im betreffenden Quartal einsparen muss.
Ein größeres Blutbild erstellen häufig Endokrinologen. Sie können pro Fall und Quartal Blutwerte von rund 70,- beauftragen. Aber auch hier gilt der Wirtschaftlichkeitsbonus, weshalb der Endo bestrebt sein wird, nicht bei jedem Patient sein Budget auszureizen.
Die höheren Laborpauschalen der Fachärzte können übrigens eine simple Erklärung für einen aufwändigen Ärztemarathon sein. Bittet man seinen Hausarzt eindringlich um bestimmte Laborwerte, mag dieser zur Schonung seines eigenen Budgets lieber zu diversen Fachärzten überweisen. Natürlich kann eine Abklärung oder Weiter-behandlung bei Fachärzten aus verschiedenen Gründen sinnvoll sein, allerdings ist sie zeitintensiv und eigentlich unnötig, wenn es vorrangig um weitere Laborwerte geht. Als Patient verliert man Zeit und muss vielleicht Urlaubstage für Arzttermine opfern.
Da es keine einheitliche Festlegung darüber gibt, welche Werte zu einem subjektiven „großen Blutbild" gehören, kann der Umfang je nach Arzt variieren. Ich behaupte, dass dies auch mit dem individuellen Laborbudget des Arztes und seiner Einschätzung der Patienten-beschwerden zusammenhängt. Es ist vielleicht sogar von Bedeutung, wie ernst der Arzt die Situation des Patienten nimmt und wie viel Zeit und Geld er bereit ist, für zusätzliche Untersuchungen zu investieren. Dieses Dilemma kann dazu führen, dass bestimmte Gesundheits-probleme nicht erkannt werden und somit ungelöst bleiben.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass die meisten Patienten bei einer Erstanamnese in meiner Praxis zwischen 300,- und 500,- Euro für Laborwerte ausgeben. Diese Kosten können im Einzelfall auch deutlich variieren. Die aufgeworfene Frage ist, ob ein standardmäßiges „richtig großes Blutbild" beim Hausarzt tatsächlich sämtliche Fragen beant-worten kann. Es ist wichtig anzumerken, dass kein Hausarzt behaupten würde, mit seinem großen Blutbild sei alles gesagt. Tatsächlich gibt es zahlreiche weitere Diagnosemöglichkeiten, die gemäß den Leitlinien häufig in Betracht gezogen werden. In solchen Fällen überweist der behandelnde Arzt je nach betroffenem Körperteil zur weiteren Abklärung an entsprechende Fachärzte, sei es für Röntgen-untersuchungen, CTs, MRTs, Magen-Darm-Spiegelungen, EKGs und vieles mehr. Die entscheidende Frage ist jedoch, welche Botschaft der Patient aus der Praxis mitnimmt. Es ist meine subjektive Beobachtung, die sich anekdotisch anhört, aber dennoch alltäglich ist. Patienten verlassen die Arztpraxis oft mit der Suggestion, dass das „große Blutbild“ bereits ausreicht, um alle Fragen zu klären. Dadurch vermitteln Ärzte zu häufig die implizite Annahme, dass die Beschwer-den nur psychosomatisch bedingt sein könnten.
Übrigens habe ich durchaus Verständnis für die Situation der Kassenärzte. Ich schätze mich glücklich, nicht denselben Einschränk-ungen unterworfen zu sein. Sollte ich meine Patienten nach lediglich 5 Minuten Gesprächszeit hinausdrängen und sie nur mit den mini-malsten Laborergebnissen abspeisen müssen, würde dies sicherlich keine befriedigende Situation darstellen.
1.8. Herunterspielen von Medikamentennebenwirkungen
Ein besorgniserregendes Phänomen in der medizinischen Praxis ist das Herunterspielen von Medikamentennebenwirkungen. Trotz der bedeutenden Fortschritte in der Pharmakologie und der Entwicklung neuer Therapeutika bleiben Nebenwirkungen eine unvermeidbare Realität. Doch allzu oft werden diese unerwünschten Effekte nicht angemessen berücksichtigt oder ernst genommen. Patienten, die über gesundheitliche Beschwerden im Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten berichten, werden häufig nicht ausreichend unter-stützt.
Todesfälle in Deutschland aufgrund von Medikamentenneben-wirkungen gehen jährlich in die Zehntausende.(16) Die Zahl der Krankenhauseinweisungen aufgrund „vermeidbarer Medikamenten-fehler" gehen derweil in die Hunderttausende.(17) Zu den nicht diagnos-tizierten Medikamentennebenwirkungen gibt es hingegen keine verlässlichen Zahlen oder Schätzungen. Schließlich bleiben sie unent-deckt und werden somit nicht erfasst.
Ein bemerkenswertes Beispiel ist Isotretinoin, ein Medikament zur Behandlung schwerer Akne. Obwohl es sich als effektiv erwiesen hat, sind chronische Magen-Darm-Probleme eine häufige Nebenwirkung. Bedauerlicherweise werden diese oft heruntergespielt, als geringfügig abgetan und häufig gar nicht erst als solche erkannt. Dabei kann die Lebensqualität der betroffenen Patienten erheblich eingeschränkt sein. Ein hochsensibler Magen-Darm-Trakt wird dann in zahlreichen Fällen als psychosomatisch bedingter Reizdarm fehldiagnostiziert.
Ein weiteres Beispiel sind Fluorchinolone, eine Klasse von Antibiotika, die nur bei schweren bakteriellen Infektionen eingesetzt werden sollte. Leider wurden und werden diese zu häufig bei eher harmlosen Infekten, wie Blasenentzündungen, eingesetzt. Vorteil für den Arzt ist, dass der Patient meist nur einmal in die Sprechstunde kommt, weil das Breitbandantibiotikum alle Bakterien platt macht. Mittlerweile gibt es Warnhinweise, die zu einer restriktiveren Verschreibungspraxis führen sollen. Leider kommen immer wieder „gefloxte” Patienten in meine Praxis, die unter schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Neuro-pathien, Schmerzen und Sehnenerkrankungen leiden. Trotz dieser Risiken werden mögliche Nebenwirkungen von ärztlicher Seite selten angemessen kommuniziert oder ernst genommen, was zu einem beträchtlichen Leidensdruck bei den Patienten führen kann.
Im Kapitel 3.10. gehe ich auf das Thema Medikamentenneben-wirkungen genauer ein. Isotretinoin und Fluorchinolone werden dabei umfassender beleuchtet. Als weiteres Medikament mit oft über-sehenen Nebenwirkungen wird das Röntgenkontrastmittel Gadolinium unter die Lupe genommen.
Das Nicht-Ernstnehmen von Medikamentennebenwirkungen führt häufig dazu, dass die Fehldiagnose „psychosomatisch” gestellt wird. Wenn Patienten über unerwünschte Effekte berichten, die auf die Einnahme von Medikamenten zurückzuführen sind, und diese Sorgen heruntergespielt oder nicht ausreichend untersucht werden, kann dies zu einem frustrierenden Teufelskreis führen. Die Patienten fühlen sich nicht ernst genommen und möglicherweise als psychisch krank abgestempelt. Dies kann zu chronischem Unbehagen, Verunsicherung und einem Vertrauensverlust in die ärztliche Versorgung führen. Außerdem löst es das Problem der betroffenen Patienten nicht. Im schlimmsten Fall werden die schädigenden Medikamente wiederholt verordnet und die Nebenwirkungen chronifizieren.
1.9. Konservative Hochschulmedizin
Elon Musk brachte es in einem Videointerview auf den Punkt: „You can learn anything you want for free. It is not a question of learning. I think colleges are basically for fun and to prove you can do your chores. But, they're not for learning." Dieses Zitat beschreibt auf eindringliche Weise die Rolle eines Hochschulstudiums. Ich beziehe mich darauf, weil es meine persönliche Meinung und Erfahrung widerspiegelt.
Ich habe Abitur gemacht und ein Hochschulstudium absolviert (Pädagogik BA). Beides hat viele Jahre meines Lebens beansprucht. Ein Universitätsstudium macht nicht dümmer, doch es ist eine ineffiziente Art des Lernens. Es vermittelt Struktur, ermöglicht soziale Interaktion und vermittelt Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten – wertvolle Aspekte zweifellos. Inhaltlich betrachtet sind allgemeinbildende Schulen und Universitäten jedoch Zeitfresser. Schülern und Studenten wird enormes Wissen vermittelt, von dem sie etwa 80% wieder vergessen, nachdem sie ihre Prüfungen absolviert haben.
Schulen und Universitäten setzen auf Struktur und Reproduzierbarkeit. Sie formen Schüler und Studenten nach bestimmten Qualitäts-standards. Wer das Examen besteht, demonstriert seine Fähigkeiten. Doch dieser Erfolg erfordert nicht nur einen enormen Zeitaufwand, sondern kann auch die Fähigkeit zum eigenständigen Denken, zur Offenheit und Kreativität beeinträchtigen.
Die konservative Natur der Hochschulmedizin geht oft mit dem Ausblenden neuer interdisziplinärer Forschung und des Potentials fächerübergreifenden Wissens einher. Traditionell etablierte medi-zinische Disziplinen neigen dazu, sich auf ihre eigenen Spezialgebiete zu konzentrieren und weniger auf Erkenntnisse aus benachbarten Fachgebieten einzugehen. Dies kann die Entwicklung innovativer Ansätze behindern, die auf einem breiten Verständnis verschiedener medizinischer Bereiche basieren. Daher haben es ganzheitliche Ansätze schwer, in das starre Gerüst der Hochschulmedizin integriert zu werden.
Exkurs in die Soziologie und die Bedeutung eigenständigen Forschens
Während meiner Studienzeit habe ich mehrere Kurse in Soziologie besucht, und ein Buch, über das ich damals referiert habe, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: „Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt" von den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron.(18) In ihrem Werk setzen sie sich mit dem Konzept der symbolischen Gewalt auseinander, die hinter staatlicher und weltlicher Macht verborgen liegt. Symbolische Gewalt bezieht sich auf jede Form von Macht, die es vermag, Bedeutungen und Normen durchzusetzen.
Diese Ideen lassen sich auf unser Bildungs- und Gesundheitssystem übertragen, in denen gut gemeinte Institutionen die Machtstrukturen des Staates reproduzieren. Während direkte Verstöße gegen Regeln und Gesetze unmittelbare Konsequenzen haben, zeigt sich symbolische Gewalt subtiler im Bildungssystem und im Gesundheitswesen. Diese Form der Gewalt wird oft als gegebene Realität hingenommen, ohne in Frage gestellt zu werden. Konservative Strukturen in der Lehre und in beruflichen Praktiken können Innovationen erschweren. Im medi-zinischen Kontext wird die Autorität der Universität und der praktizierenden Ärzte zu selten hinterfragt.