Feiertag! - Julian Sengelmann - E-Book

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Julian Sengelmann

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Beschreibung

Pfingsten, Fronleichnam, Christi Himmelfahrt, Ostern – freie Tage, toll! Aber welchen Sinn haben diese Feste wirklich? Julian Sengelmann ist Theologe und will's wissen. Er forscht nach den Ursprüngen und der Bedeutung religiöser Feste und macht sich auf eine Reise von Norddeutschland nach Israel, sucht Antworten bei Rabbinern, Archäologen und Theologen, erlebt Mystisches und Verrücktes, entdeckt skurrile Geschichten und spannende Menschen – ein spielerischer Mix aus hautnaher Reportage und kluger Information.

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Julian Sengelmann

Feiertag!

Die Bedeutung unserer christlichen Feste

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Pfingsten, Fronleichnam, Christi Himmelfahrt, Ostern – freie Tage, toll!

Aber welchen Sinn haben diese Feste wirklich? Julian Sengelmann ist Theologe und will’s wissen. Er forscht nach den Ursprüngen und der Bedeutung religiöser Feste und macht sich auf eine Reise von Norddeutschland nach Israel, sucht Antworten bei Rabbinern, Archäologen und Theologen, erlebt Mystisches und Verrücktes, entdeckt skurrile Geschichten und spannende Menschen – ein spielerischer Mix aus hautnaher Reportage und kluger Information.

Über Julian Sengelmann

Julian Sengelmann, geboren 1982 in Hamburg, ist ein deutscher Schauspieler, Musiker, Moderator, Sprecher und – vor allem – Theologe. Sengelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie in Hamburg, wo er derzeit promoviert.

Für Maxi & Leni.

 

Für Rainer, Matze, Max und Anja

und all die wunderbaren Abenteuer, die wir

zusammen erleben durften.

Vorwort

Als knapp 100 Meter von uns entfernt auf einer Anhöhe am Ölberg die ersten Schüsse fallen, wir uns panisch hinter ein kleines Stück uralter Jerusalemer Mauer rollen und ernsthaft denken, dass unser Leben hier und jetzt, am ersten Tag in Israel mit großer Sicherheit vorbei ist, wird mir dreierlei schlagartig klar. Erstens: Wenn ich um mein Leben fürchte, kreische ich ziemlich genau wie meine sieben Monate alte Tochter, wenn sie nicht schlafen will.

Zweitens: Noch nie ist mir dieser schon ewig andauernde Konflikt, den verschiedene Religionsgemeinschaften blutig und verheerend miteinander austragen und den wir als vermeintlich kluge und «zivilisierte» Menschen mit dieser merkwürdigen Mischung aus Sorge, Mitgefühl, Unverständnis, Ratlosigkeit und einem gewissen Maß an Aufgeklärtheit aus der Ferne betrachten, noch nie ist mir die Realität und Brutalität dieses Konflikts so deutlich geworden, wie hier, im Dreck kauernd hinter dem kleinen Mauerstück auf dem Ölberg. Und das trifft mich überraschend hart.

Und drittens: Wir sind ganz offensichtlich weit und breit die Einzigen, die hier im Alarmstufe-Rot-Modus sind. Außer uns hat sich auch niemand schutzsuchend in den Staub geschmissen und das nahende Ende erwartet. Und diese Erkenntnis gleicht ein bisschen einer Achtziger-Jahre-Slapstick-Nummer à la «Die nackte Kanone».

Neben uns steht unser Producer, ein wunderbarer Palästinenser mit großem Herz, einem neunjährigen Studienaufenthalt in Würzburg, einem ganz besonderen bayerisch-arabischen Dialekt und jungenhaften, sehr wachen Augen. Mit diesen begutachtet er meinen Regisseur und mich, wie wir da vor ihm kauern, während der Rest der Welt völlig unbeeindruckt von der kleinen Schießerei 100 Meter entfernt ihrem Tagesgeschäft nachgeht. Und die Mischung aus Unglauben, Irritation und dem unbändigen Wunsch, einfach nur loszulachen, hat ein wirklich faszinierendes Mienenspiel zur Folge.

Wir sind in Jerusalem, um im Auftrag des NDR eine neue Reihe zu drehen. «FEIERtag! Sengelmann sucht …» soll sie heißen und die Ursprünge der christlichen Feiertage ausfindig machen. Warum feiern wir eigentlich all diese alten Feiertage, die jeder gerne als Freizeit annimmt? Diese Tage, auf die man sich freut, weil endlich mal die Arbeit liegenbleiben kann, die jeder mit seinen eigenen Ritualen, Gewohnheiten, Experimenten und Erwartungen füllt und von denen tatsächlich die meisten Menschen vergessen haben, warum wir sie immer wieder begehen. Was feiern wir da ursprünglich? Und warum haben wir das vergessen? Und: Ist das überhaupt noch wichtig? Oder sind die Gründe nicht völlig egal, solange wir überhaupt noch feiern? So generell?

Mit diesen Fragen im Gepäck beginnen wir unsere Reise und damit auch die erste Folge unseres neuen Formats. Standesgemäß starten wir mit der Suche da, wo vermeintlich alles angefangen hat, nämlich in … Und genau da geht es schon los. Denn wer jetzt vorschnell losreisen will und genau weiß, wohin, der weiß mehr als die meisten Menschen.

Das fragmentarische und höchst minimalistische Restwissen, das der Ottonormalsterbliche über die Ursprünge «unserer» Feiertage hat, tendiert nämlich so stark Richtung null, dass im Regelfall nicht mal klar ist, wo man eigentlich mit seiner Suche beginnen soll.

Das ist keine moralintriefende Feststellung mit erhobenem Zeigefinger, sondern eine Tatsache, die uns, die wir diese Sendung auf den Weg bringen sollten, überhaupt nicht bewusst war, bevor wir uns auf dieses Abenteuer einließen. Und auch mir als evangelischem Theologen war nicht klar, dass die meisten Menschen, die wir auf unserer Reise treffen sollten, sensationell wenig über die Feiertage wissen, die sie selbst so gerne feiern.

Viel erstaunlicher und vor allem auch viel peinlicher war allerdings die Erkenntnis, dass auch ich (mit einem Hang dazu, mich eher für eine der helleren Kerzen am Leuchter zu halten) nur herzlich schwammig Auskunft über all das geben konnte, was wir da nun eigentlich feiern. Es treibt mir nach wie vor ein bisschen Schamesröte ins Gesicht. Selbstverständlich konnte ich immer sofort zumindest irgendetwas grob Umschreibendes zu den vermeintlichen Feiertagen erzählen, aber das können die meisten Theologen. Denn erstmal irgendetwas sagen, um währenddessen heimlich über das nachzudenken, was eigentlich die Frage war, ist eine altbekannte Theologenkrankheit. Nur was diese alten Feiertage eigentlich mit uns heute zu tun haben, was sie tatsächlich bedeuten, wo sie herkommen, wie ihre Ursprungsgeschichte war – da haperte es auch bei mir beachtlich und beängstigend.

Aus dem zufälligen Zusammenfallen dieser unterschiedlichen Geschichten entsteht also diese Geschichte. Oder besser: diese Geschichten. Denn genau darum soll es in diesem kleinen Büchlein gehen: Was sind die Geschichten zu den Feiertagen? Was feiern wir da eigentlich, und was hat das denn bitte heute noch mit uns zu tun? Wo steht der Weihnachtsmann in der Bibel, wie viele Osterhasen hatte Maria, und war Jesus ein guter Christ? Und weil wir alle gerne feiern – und eben auch die christlichen Feiertage gerne mitnehmen –, ist das der kleinste gemeinsame Nenner, um auf die Suche nach etwas Großem zu gehen. Dabei sollen drei Grundsätze gelten. Erstens: Man muss nicht alles glauben, man kann aber alles wissen. Zweitens: Die Auswahl der Feiertage in diesem Buch ist völlig unwissenschaftlich abgelaufen: Ich habe in verschiedenen Internetforen und unterschiedlichen Browsern nach den am meisten gesuchten Feiertagen geguckt und mich für diese entschieden. Ganz einfach, weil diese am meisten nachgefragt wurden. Und drittens: keine Angst! Oder noch viel besser: keine Scham! Sie sind nicht allein mit Ihrem rudimentären Wissen. Und das hier ist keine wissenschaftliche Abhandlung für eine eingeweihte Schar von Theologenmenschen in irgendeinem Forschungselfenbeinturm. Also lassen Sie uns alle pseudointellektuellen Ansprüche erstmal beiseitelegen und ganz von vorne anfangen. Das hilft ja manchmal. Los geht’s.

Alles hat seine Zeit. Das Kirchenjahr

Einige Dinge lassen sich in Kategorien einteilen. Die meisten nicht, und das In-Schubladen-Stecken bringt durch seine Pauschalisierung meistens viel mehr Probleme mit sich, als dass es irgendwas vereinfachen würde. Aber in einigen wenigen Momenten muss man sich zumindest für ein Entweder/Oder entscheiden und passt dann mit der getroffenen Wahl auch in eine Kategorie. In meiner Familie musste man beispielsweise – warum auch immer – die unmögliche Wahl zwischen den Beatles und den Rolling Stones treffen. Ich habe das bis heute nicht ganz verstanden, aber es war nun mal so. In diesem Fall gab es also nur diese beiden Kategorien, und man gehörte entweder zu dieser oder jener Fraktion. Ganz genauso ist es mit einem anderen kulturellen Phänomen, das sich Jahr für Jahr wiederholt – es geht um die große Frage, wie man sich zu den ersten Schokoweihnachtsmännern im Supermarktregal und dem ersten Hören des WHAM!-Klassikers «Last Christmas» verhält. Das klingt nun erstmal irgendwie banal, aber kaum sind die ersten Lebkuchen und Dominosteine doch zufällig in den Einkaufswagen geplumpst, kaum hat die Radiomoderatorin im Autoradio die Zuhörerdiskussion eröffnet, ob dieses erste «Last Christmas» im Jahr nun doch zu früh kam, gehen die Debatten los. «Also, in diesem Jahr find ich das nun wirklich zu früh mit den Weihnachtsmännern!» und: «Muss man dann nicht auch Schokobuddhas in die Regale stellen – also wegen multikulti?»

Völlig unabhängig davon, dass ich bekennender «Last-Christmas»-Fan bin, wird deutlich, dass das im Jahr scheinbar immer frühere Auftauchen dieser Symbole, die so klar mit dem – zumindest nominell – allgemein bekannten Fest Weihnachten konnotiert sind, eine Form von Irritation hervorruft. Einige Menschen würden mit Sicherheit gerne das ganze Jahr über Schokoweihnachtsmänner kaufen und ihnen die Köpfe abbeißen, aber es scheint viele zu stören, dass diese Symbole, die einer ganz bestimmten Zeit zugeordnet sind, plötzlich zu einer anderen, unpassenden Zeit erscheinen. Da kommt – ganz unbewusst – der innere Kompass aus dem Lot. Man kann das, wie gesagt, gut oder schlecht finden. Fest steht aber, dass wir Menschen ein sehr instinktives Verhältnis zu und Verständnis von Zeit haben – Zeitgefühl eben. Ein Wort, das wie so viele im alltäglichen Gebrauch an Differenziertheit verloren hat, obwohl es ganz prägnant ist. Zeitgefühl. Das subjektive Gefühl hängt untrennbar mit einem halbwegs allgemeinen Verständnis von Zeit zusammen, weil es ja schon per definitionem einschließt, dass Zeitgefühl eine relative, eine subjektive Gleichung und Größe ist. Aber: Diese Erkenntnis hilft uns bei der Suche nach den Feiertagen, die in kirchlichen Zusammenhängen – ganz egal, ob evangelisch oder katholisch – eine besondere Anordnung und eine festgelegte Reihenfolge haben, die man allgemeingültig das «Kirchenjahr» nennt. Und im Kirchenjahr geht es genau darum: um das Verständnis, wie bestimmte Zeiten mit bestimmten Gefühlen zusammenhängen. Mit Sehnsüchten, Hoffnungen, Instinkten, tribalen Bräuchen, Rhythmus und natürlich den Festen.[1] Und bevor man anfängt, nach den Feiertagen zu suchen, muss man verstehen, warum es diese ganz eigenwillige Anordnung überhaupt gibt.

 

Fangen wir mit der Zeit an.

Mein Vater hat früher, wenn erst meine Freunde und dann irgendwann junge Damen noch spät auf unserem Festnetztelefon anriefen, oft gesagt: «Wer ruft denn jetzt noch an? Zu dieser Unzeit?!» Natürlich meinte er damit, dass diese ganzen jungen Leute nicht so spät anrufen sollten, weil ihn das in seinem Feierabend störte – und Handys gab es noch nicht. Ich war dann immer gleichermaßen sauer und ein bisschen peinlich berührt, weil er das den Anrufern auch gerne mitteilte. Aber zweierlei daran ist für unsere Überlegung zur Zeit und zum Zeitgefühl hilfreich.

Erstens: Mein Vater hatte ein ganz klares Verständnis von Feierabend. Und mehr als das: Wie die meisten Menschen auch hatte er ein Gefühl dafür, wann es Zeit war, sich auszuruhen. Und selbst wenn die allabendlichen Anrufer keine beruflichen Anliegen an ihn richten wollten, sondern über Pubertätsbelange mit seinem jüngsten Sohn sprechen wollten, wusste mein Vater sehr genau, wann mal Zeit für Ruhe war. Anders als heute waren damals Arbeit und Freizeit klarer voneinander getrennt, und zu dieser Tages- beziehungsweise Nachtzeit war eben Feierabend angesagt.

Und zweitens brachte mein Vater mit seinem durchaus vorwurfsvollen Ausruf «Wer ruft denn jetzt noch an? Zu dieser Unzeit?!» einen Teil unserer Suche auf den Punkt. Unzeit! Wir leben in einer Unzeit – und wir merken das. Das ist nicht als Wertung zu verstehen. Unser Verhältnis zur Zeit hat sich in jeder Dimension verändert. Wir leben – im Verhältnis zu all dem, mit dem wir bis zu einem bestimmten Jahrgang noch groß geworden sind – in einer Unzeit. Was es früher nur zeitweise gab, ist heute immer verfügbar. Wir können das ganze Jahr über Mangos essen und sind selbst nachts so in Arbeit eingespannt (wenn wir noch mal kurz auf unser Handy gucken), dass in jeder Hinsicht keine klaren Zeitstrukturen mehr gelten. Das macht etwas mit uns, und nach gut zwanzig Jahren, in denen wir gesellschaftlich darauf hingearbeitet haben, alles immer und überall zu haben und zu sein, in denen wir die Jahreszeiten überdehnt und ausgeleiert haben, in denen wir den Reiz der Unzeit und die Vorteile, die ständige Verfügbarkeit mit sich bringt, geliebt, gelebt, genossen und nun doch satthaben, ändern sich die Zeiten. Wieder. Zumindest langsam und in Teilen. Denn in der Generation, die nach der berühmt-berüchtigten Generation Y kommt, scheint vorerst und zumindest zeitweise das Ende dessen erreicht zu sein, was Soziologen die «ökonomische Individualisierung» nennen. Oder anders gesagt: Als ich neulich beim Frühstück mit einem Freund saß, der fünf Jahre jünger ist, und ihn – wie meine eigenen Eltern mich bis heute immer mal wieder – fragte, was er denn nach seinem Studium machen wolle und wovon er plane, seine Miete zu zahlen, konterte er sehr leichtfüßig und vor allem bewundernswert glaubwürdig: «Ich will nur halbtags arbeiten. Ich möchte nicht immer bis nachts im Büro sitzen und in die gleiche Falle wie meine Eltern tappen.»

Wir leben in einer Unzeit. Wir leben in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

 

Das Kirchenjahr sucht, wie wir schon herausgefunden haben, nach dem Verhältnis von Zeit, Rhythmus und eigenen Gefühlen. Es versucht, eine Struktur zu geben. Was ist das eigentlich gerade für eine Zeit? Das ist nicht nur eine Frage, die sich auf das sogenannte Kirchenjahr bezieht, sondern eine, die auf die Leben der meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, zutrifft und an der die meisten dieser Menschen verzweifeln: Was ist eigentlich gerade dran? In diesen Zeiten der überbordenden Informationen, der vermeintlichen Heilsversprechen, angesichts unendlicher Möglichkeiten. Wir sind so getrieben von der Angst, etwas zu verpassen, dass wir gar nicht hinterherkommen können. Wir sind so unendlich gehetzt, dass wir nur noch auf die in den sozialen Netzwerken perfekt inszenierten Leben der anderen gucken – staunend, ein kleines bisschen neidisch und vor allem mit schlechtem Gewissen, weil man selber ja auch mal wieder mehr von alledem machen müsste, was da so hübsch präsentiert wird. Mehr Sport, mehr Freizeit, mehr Arbeit, mehr schaffen, mehr … einfach mehr. Was machen die denn besser als ich, dass die so ein Leben führen?

Und dann schämt man sich, weil man seine Zeit damit verschwendet hat, sich diese Bilder anzugucken, sich damit zu vergleichen, zu identifizieren, sich klein zu machen. Und wegen dieser blödsinnigen Kopfkapriolen ist man plötzlich im Stress, um mit dem fertig werden zu können, was man ursprünglich auf dem Zettel hatte und nun fast schon vergessen hat.

Was ist eigentlich wirklich gerade dran? Was ist wirklich wichtig und was nur buntes Blendwerk?

In haltlosen Zeiten, wie wir sie gerade erleben, ist der Wunsch nach Geregeltem, nach Struktur, die Halt gibt, omnipräsent und auch verständlich.

 

Wir wissen und fühlen sehr intuitiv, wenn wir einmal kurz innehalten, dass es für alles einen klaren, von mir aus auch einen «guten» Moment gibt. Auch wenn wir das ganze Jahr über Mangos und Blaubeeren bekommen, spüren wir instinktiv, was an der Zeit ist. Wir sind wetterfühlig und an den Jahreszyklus unseres Lebensmittelpunkts gewöhnt. Wir haben, selbst wenn wir nicht damit arbeiten, ein Gefühl dafür, dass es eine Zeit gibt, in der man sät, eine, in der man wachsen lässt und eine, in der man erntet. Wir sind also, um darauf zurückzukommen, mit Zeitgefühl ausgestattet.

In der Bibel wird diese Erkenntnis im sogenannten Buch Kohelet im Alten Testament ganz einfach zusammengefasst: «Alles hat seine Zeit.» Und dann geht es weiter, in dieser schönen, alten Bibelsprache, die bei vielen Menschen sofort ein Gefühl der Fremdheit, des Unbehagens auslöst, dabei aber oft ganz wunderbar poetisch Weisheiten und Wahrheiten auftischt:

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.[2]

Alles hat seine Zeit. Und das ist auch eine Weisheit und Wahrheit des Kirchenjahres.

 

Und die Feste?

In «Alice im Wunderland», dem wunderbaren und hyperbunten Disney-Film aus den sechziger Jahren, den ich gerade neulich wieder gesehen habe (und bei dem ich, wie so oft, wenn man Kinderfilme von früher guckt, staunend feststellte, dass er vollgestopft ist mit Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll, mit Gewalt und bitterbösem Humor – möglicherweise hatten die Macher gerade LSD für sich entdeckt), gibt es eine sensationelle Szene: Der verrückte Hutmacher, der März-Hase und Alice feiern völlig überdreht in ekstatischer Rage ein Fest. Sie springen durch die Gegend, tanzen torkelnd über Tische, zaubern bunte, explodierende Kuchen aus den Hüten und singen mit weit aufgerissenen Augen ein schrilles Lied. Sie singen mantramäßig von dem Anlass ihres Festes: «Viel Glück zum Nicht-Geburtstag, viel Glück!», «Für mich?», «Für Dich!»

Am Ende zündet eine Kerze auf dem Kuchen ein Feuerwerk und eine sehr, sehr betrunkene Maus fliegt an einem Regenschirm in einen – hoffentlich leeren – Teepott und lallt dabei einen Knittelreim. So weit, so gut.

Weil Alice gerade erst im Wunderland angekommen ist und sie das ganze Procedere mit dem Nicht-Geburtstag noch nicht kennt, kann man sie aus folgender Rechnung rausnehmen. Aber für die anderen gilt: Sie feiern jeden Tag diesen ganz besonderen Feiertag. Bis auf den einen Tag, an dem dann tatsächlich Geburtstag ist. Und weil diese drei, also Hutmacher, Maus und März-Hase, nun relativ viel Zeit miteinander verbringen und sie nicht unbedingt wie eineiige Drillinge aussehen, stehen die Chancen, dass sie alle auch am selben Tag Geburtstag haben, es also einen «feierfreien» Tag gibt, eher schlecht. Man weiß nicht, ob es bei diesen lustigen Gesellen eine Sehnsucht danach gibt, diesen einen besonderen, feierfreien Tag zu haben, und Kinder, für die dieser Film ja gemacht wurde, wünschen sich natürlich auch, dass es jeden Tag Geschenke gebe. Sie können ja noch nicht abstrahieren, dass die Reizüberflutung, der sie dann ausgesetzt wären, die Sensation ganz schnell ausstechen würde. Wer aber mal darüber nachdenkt, wie es eigentlich wäre, jeden Tag Geburtstag oder eben Nicht-Geburtstag zu haben, also zu feiern, sich Dinge zu wünschen, im Mittelpunkt zu stehen, ans Älterwerden erinnert zu sein und danach das Schlachtfeld wieder aufzuräumen, das die Gäste hinterlassen – der weiß, dass das wirklich unangenehm und vor allem anstrengend wäre.

Dazu kommt noch der inhaltliche Aspekt, der wahrscheinlich wichtiger ist und an dem Beispiel von Alice und ihren Freunden deutlich wird, und das gilt für jede Art von Feiertag, ganz gleich, ob religiös geprägt oder kulturell gewachsen: Wenn alles immer schon da ist, gibt es nichts mehr, auf das man noch hoffen kann. Nichts, auf das man sich noch freuen könnte. Nichts, das noch irgendwie besonders ist. Das gilt für Geburtstage ganz genau wie für kirchliche Feiertage. Oder um die versteckte Weisheit eines Ballermann-Philosophen zu bemühen: Malle ist nur einmal im Jahr.

 

Ein besonderes Verständnis von Zeit und eines von Festen oder Tagen, an denen gefeiert wird – das ist das «Kirchenjahr».

Das Kirchenjahr unterscheidet sich vom Kalenderjahr. Es beginnt nicht mit dem kalendarischen Neujahr und endet mit Feuerwerk, guten Vorsätzen und Silvesterekstase, sondern hat seinen eigenen Start- und Endpunkt. Erst einmal ist den beiden Jahren also nur gemein, dass es Anfang und Ende gibt und sich dann alles wiederholt.

Der Begriff «Kirchenjahr» ist in vielerlei Hinsicht ein etwas schwieriger und differenziert zu betrachtender, denn zum einen steht er so gar nicht in der Bibel, zum anderen taucht er geschichtlich erst relativ spät auf und zu guter Letzt macht er in seiner namentlichen Unterscheidung vom Kalenderjahr immer schon eine Abgrenzung deutlich.

Schauen wir uns das alles mal genauer an: Dass der Begriff «Kirchenjahr» nicht in der Bibel steht, ist der erste Stolperstein. Denn die Christen berufen sich auf die Bibel und wenn das nicht da drinsteht, muss man gar nicht erst anfangen, sich auf die Suche zu machen, oder? Wie so oft: ja und nein. Denn die Festzeiten und die regelmäßig gefeierten Feiertage sind Phänomene, die erst im Laufe der Jahrhunderte zu Traditionen wurden. So findet man in der Bibel zwar ein einmaliges Weihnachts-, Himmelfahrts- oder Pfingstereignis, nicht aber das dann jährlich folgende Feiern ebendieser. Das generelle Feiern von christlichen Feiertagen in geregelten Abständen und zu verabredeten Zeiten ist die Vergegenwärtigung der biblischen Ereignisse. Es sind zum einen Erinnerungsformen des christlichen Glaubens, die auf biblischen Geschichten fußen. Zum anderen – und das ist vielleicht das Wichtigste – wird durch die geregelte Wiederholung der Feiertage und Festzeiten der Inhalt des Glaubens jedes Mal neu lebendig. Wiederholung verleiht der Tradition Aktualität. Oder, wie es die Theologen sagen: Das Feiern der Feiertage ist ein sogenannter «performativer Akt».

Darum werden all diese Feste seit Jahrhunderten immer wieder gefeiert.

Der Begriff «Kirchenjahr» taucht erst im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert auf, also zu der Zeit, in der sich die Kirche in zwei große Lager spaltet, und findet sich in Schriften des lutherischen Pastors Johannes Pomarius 1589 das erste Mal. Das soll natürlich nicht heißen, dass die Katholiken nicht auch vor der Reformation und der Kirchenspaltung kirchliche Zeiten und Feste gekannt hätten, aber der Begriff wird erst zu dieser Zeit erwähnt. Allerdings kommt das Phänomen, das dann «Kirchenjahr» genannt wird, nicht einfach aus dem Nichts, sondern ist bis zu seiner jetzigen Form gewachsen. Es nimmt also in sich ganz unterschiedliche Quellen und Traditionen auf und verbindet sie zu einem neuen Zusammenspiel von Zeit und Sinn. Das klingt erst einmal etwas hochtrabend, macht aber eigentlich nur deutlich, dass sich zur Zusammenstellung des Kirchenjahres bei ganz unterschiedlichen Festen und schon vorhandenen Ereignissen bedient wurde. So zum Beispiel dem jüdischen Festkalender, dem Naturjahr, dem bürgerlichen, also römischen Kalender und den beliebtesten Festen der sogenannten «paganen» Religion, also dem, was man heute im Volksmund als «heidnisch» bezeichnen würde.

Wir haben uns heute alle so daran gewöhnt, dass wir den kalendarischen Jahresrhythmus als völlig selbstverständlich hinnehmen. Dabei vergessen wir aber, dass auch diese Einteilung sich über Jahrhunderte, über Jahrtausende entwickelt hat und aus kulturellen, religiösen, natürlichen und politischen Phänomenen gewachsen ist. Dass unser Jahr mit dem 1. Januar beginnt, liegt beispielsweise daran, dass am 1. Januar im alten Rom – nach dem sogenannten julianischen Kalender – die politischen Ämter wechselten und diese Tatsache für das Volk offensichtlich so bedeutend war, dass damit das neue Jahr eingeläutet wurde.

Das Kirchenjahr ist also aus verschiedenen und vielfältigen Traditionen gewachsen und hat erst in der Reformationszeit seinen Namen bekommen.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte wurden das «kirchliche» und «weltliche» Jahr voneinander unterschieden. Wahrscheinlich ist, dass diese Unterscheidung mit der Entwicklung des Handels zusammenhängt. Der französische Historiker Jacques Le Goff wies auf die im 13. und 14. Jahrhundert immer komplexer werdenden Handelsbeziehungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten hin und machte daran deutlich, dass es zu dieser Zeit eben zu einer wachsenden Unterscheidung zwischen «Zeit der Kirche» und «Zeit des Händlers»[3] gekommen sei. Anders gesagt: Handel und dessen Organisation werden komplizierter und müssen präziser geplant werden, und dafür braucht man eben präzisere, für alle Menschen gültige Messgeräte. Also gelten ab dem 14. Jahrhundert die Turmuhren in Dörfern und Städten als allgemeingültige Zeitmesser. Damit manifestiert sich die Spaltung zwischen «kirchlicher» und «weltlicher» Zeit endgültig. Man richtet sich in wirtschaftlichen Fragen also nicht mehr nach Tagzeitengebeten, Gottesdienstzeiten oder Glockenläuten, sondern zunehmend nach der «anderen» Zeit. Der Begriff des Kirchenjahres macht also auch immer diese Trennung deutlich – die kirchliche Zeit stellt nicht mehr die alleinige Rhythmisierung von Lebenswirklichkeiten dar. Auf einmal werden die Tage und Leben der Menschen nicht nur von der Kirche und ihrer Zeit getaktet, sondern zunehmend auch von der Wirtschaft.

Diese Erkenntnis hat noch zwei nicht ganz unwichtige Dinge zur Folge: Zum einen wird mit dem Wissen, dass der Begriff «Kirchenjahr» aus der Reformationszeit kommt, also der Zeit, in der sich die Kirche gespalten hat, verständlich, dass Martin Luther im Zuge seiner Kirchenreform versuchte, die Anzahl der Feiertage zu minimieren und damit zu konzentrieren. Das ging so weit, dass sich das Feiern immer mehr auf den Sonntag verlagerte und so religiöse Praxis zusehends vom wöchentlichen Alltag getrennt wurde. Deshalb hat man bei Protestanten bis heute hin und wieder den Eindruck, dass Glaube sich nur noch auf den sonntäglichen Gottesdienst konzentriert. Und das erklärt auch die große Frage, warum es eigentlich in den unterschiedlichen Konfessionen, also bei Katholiken und Protestanten, unterschiedliche Feiertage gibt (und die evangelischen Christen sich beschweren, dass sie so viel seltener frei haben als die Katholiken).

Zum anderen machte Luther mit seiner radikalen Reduzierung der Feiertage und dem Versuch, den Glauben wieder näher ans Volk zu bringen auch einen, sagen wir mal, etwas unglücklichen und kontraproduktiven Griff: Mit der Verschlankung der Feste schmiss er kurzerhand besonders viele der populären «volksfrömmigen» Feiertage aus dem Kirchenkalender. Ein nicht zu unterschätzendes Problem, weil viele der damals üblichen Feste beim Volk beliebt waren und so die Trennung zwischen kirchlich religiöser Praxis und populärer Volksspiritualität noch größer wurde. Sprich: Die klare Trennung sorgte für große Distanz zwischen Volk und Kirchenobrigkeit.

 

Während wir im Kalenderjahr von vier Jahreszeiten sprechen, in die wir das Jahr ganz grob unterteilen, gibt es im Kirchenjahr keine Jahreszeiten, dafür aber drei sogenannte «Festkreise», die eine Struktur schaffen. Und obwohl man immer ganz genau hingucken muss, was katholisch und was evangelisch ist, was das eigentlich heißt und wie es in der Lebenspraxis aussieht, kann man grob sagen, dass die meisten großen Kirchenfeste von beiden Konfessionen gefeiert werden. Einen Weihnachts- und einen Osterkreis finden wir in beiden Religionen. Der dritte Festkreis ist dann ein bisschen unterschiedlich und so zusammenzufassen: Während man in der katholischen Kirche den Zeitraum nach Pfingsten bis zum Christkönigssonntag die «Zeit des Jahreskreises» nennt, heißt er in der evangelischen Kirche die «Trinitatiszeit».

 

Und weil die Unterscheidung aller christlichen Denominationen ja unglaublich schwierig ist und unsere gemeinsame Suche keine Habilitation in systematischer Theologie, sondern eher eine Art Abenteuerrundreise ist, beschränken wir uns bei unserer Feiertagssuche auf die volkskirchlichen Feiertage der katholischen und evangelischen Tradition in Deutschland.

Und genau mit dem Fragezeichen, das viele jetzt auf der Stirn haben, beginnen wir unsere Reise – keine Angst, wir schaffen das.

Advent

Wer feiert?

Katholische und evangelische Christen.

Was wird gefeiert?

Die vorbereitende Ankunft Christi.

Vier Meter Luftlinie von mir entfernt ist er tatsächlich. Und vor allem leibhaftig: der Weihnachtsmann …

Da hängt er. Er trägt einen seiner traditionellen roten Lederstringtangas und ist fast schon absurd muskulös. Jede Vene zeichnet sich auf seinem Körper ab. Mit mehreren Litern Babyöl eingeschmiert, hängt er triefend kopfüber an einer Poledancestange und zeigt den Menschen seinen knackigen Weihnachtsmannhintern. Und natürlich hat er einen langen Bart – nur nicht im Gesicht.

Ich bin auf dem Weihnachtsmarkt «Santa Pauli» auf Hamburgs berühmt-berüchtigter Vergnügungsmeile, der Reeperbahn. Das Zelt, in dem der Weihnachtsmann seinen traditionellen Weihnachtsstrip performt, ist gerammelt voll. Genau wie die meisten Besucher hier. Postbeamte, Krankenschwestern, Soziologiestudierende und andere Interessen- und Milieugruppen versammeln sich zu dieser sehr eigensinnigen Melange aus Ballermann, Oktoberfest und dabei doch irgendwie weihnachtlicher Seligkeit in einem Festzelt, das in diesem Moment ein bisschen wie ein Tempel wirkt, in dem eine heilige Messe stattfindet. Das Pfeifen und Pfandbechereinsammeln gehört zur heiligen Handlung dazu. Und selbstverständlich wundert sich niemand der Anwesenden über dieses Szenario, denn: Es ist Advent.

Nach der beeindruckenden Vorführung lasse ich den Weihnachtsmann in seinem Zelt zurück und flaniere über den Weihnachtsmarkt, auf dem es all die adventlichen Dinge zu kaufen gibt, die man noch aus seiner Kindheit kennt. Klassiker wie nackte Weihnachtsfrauen mit riesigen Brüsten, die mechanisch abwechselnd bedeckt und enthüllt werden, traditionelle Lebkuchendildos, Schokobananen (beides zähle ich nur zufällig nacheinander auf), Keramiken von Weihnachtszombies und dem altbewährten Festschmaus Weihnachtsnachos.

Wer jetzt denkt, dass es auf der Reeperbahn selbstverständlich ganz eigene Adventsbräuche gibt, hat nur bedingt recht. Die Hamburger Innenstadt ist auf einer relativ kleinen Fläche mit ziemlich vielen sogenannten «Hauptkirchen» ausgestattet. Man mag also meinen, dass es in der repräsentativen City traditioneller zuginge. In eine dieser Hauptkirchen, St. Petri, um genau zu sein, verirre ich mich, weil auch hier eine große Adventsfeier stattfindet: Die Hamburger Feuerwehr feiert die Weihnachtszeit. Traditionell in einer proppenvollen und mit unendlich vielen Kerzen geschmückten Kirche, mit Schottenröcken und Dudelsäcken, auf denen Weihnachtslieder in, sagen wir, besonderer Schönheit gespielt werden. Auch interessant. Die Adventszeit ist also eine ganz besondere Zeit, in der der Phantasie, wie man sie feiern möchte, fast keine Grenzen gesetzt sind.

 

Etwas weniger drastisch sind wahrscheinlich die Weihnachtsmarktbesuche, die jeder von uns kennt. Die, auf denen man mit den Kollegen aus dem Büro aufläuft, um dieses Mal wirklich nur einen Glühwein zu trinken, in diesem Jahr auch «bitte, echt jetzt» ohne Schuss und nach dem man dann auf jeden Fall nach Hause muss, weil man noch so wahnsinnig viel Weihnachtsstress hat. Nur um sich dann sechs Becher später sagen zu hören, dass jetzt dringend noch der Apfelpunsch mit Stroh-Rum getestet werden müsse und man doch lieber den «Winzer-Glühwein» (was das eigentlich sein soll …?) hätte nehmen sollen, weil der morgige Sensationskater jetzt schon im Kopf sturmklingelt. Solche Weihnachtsmärkte, auf denen man dann – Glühweinrausch sei Dank – die besonders gute Idee hat, für die Schwiegermutter einen unglaublich teuren, muntgepöteten Batikschal zu kaufen («Der ist total weich und super gewebt!») und ein sehr teures Stück krümeliger, dafür aber handgeschöpfter Seife. Kennen wir alle.

 

Die Adventszeit ist eine Zeit der Vorbereitung. Und das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner all der bunten und kuriosen Arten, auf die der Advent heute begangen wird. Denn mit dem Advent beginnt das Kirchenjahr. Das ist insofern interessant, weil das Kirchenjahr da beginnt, wo das Kalenderjahr fast am Ende ist. Spannend ist, dass Anfang und Ende, nämlich nach der jeweiligen Kalenderart, sich hier überschneiden. Denn während die Adventszeit kirchlich gesprochen die Vorbereitungszeit auf die Ankunft Jesu Geburt an Weihnachten ist, beinhaltet sie, als Zielgerade des Kalenderjahres, beides: Rückblick und Ausblick. Man schaut noch einmal zurück auf das ganze Jahr und hat dieses völlig irrationale Gefühl, man müsse dies und jenes unbedingt «noch vor Weihnachten» fertig machen und abwickeln, weil … ja, weil man das eben so macht. Und natürlich lässt man auf den Weihnachtsmarktorgien im Dunst der Glühweinkessel das Jahr noch mal Revue passieren, nur um festzustellen, dass es dieses Mal nun wirklich noch viel schneller vergangen ist, man mehr Sport hätte machen müssen und weniger Zeit mit Quatsch, ganz egal welcher Art, hätte verschwenden müssen. Advent als Zeit des Rückblicks. Aber eben auch: Advent als Zeit des Ausblicks. Nicht nur, dass sich – befeuert durch den Rückblick – die ersten Vorsätze in Kopf und Herz formen, die man dann Silvester ausspricht und drei Tage lang einhält. In der Adventszeit bereiten wir uns alle auf Weihnachten vor. Ganz egal, ob nun als Christen oder nicht, und auch ganz gleich, wie man Weihnachten feiert und versteht.

In dieser kleinen Beobachtung liegt vielleicht noch eine Besonderheit, die eine Bedeutungsverschiebung deutlich macht: Oft sprechen wir gar nicht von der «Adventszeit», sondern viel eher von der «Vorweihnachtszeit», die für viele Menschen eigentlich genau so «zu Weihnachten» gehört. Weihnachten dehnt sich von den ursprünglichen drei Tagen auf die gesamte «Vorweihnachtszeit» aus, in der durch all die klassischen Weihnachtsmotive, die sich kulturell durchgesetzt haben, vor allem die eigene Nostalgie befeuert wird. Advent, Vorweihnachtszeit und dann natürlich Weihnachten selbst sind vor allem mit Sehnsucht verknüpft. Nach dem unbestimmten «Gefühl von früher», nach einer Form von Kontakt zum eigenen Glauben, nach Ruhe, nach Licht, nach … wonach auch immer. Aber diese Sehnsucht bringt beide Auffassungen von Advent, also der «klassischen» aus dem Kirchenjahr und der «neuzeitlichen» aus dem Kalenderjahr, wieder zusammen: In der Adventszeit bereitet man sich – sehnsuchtsvoll – vor. Kirchlich gesprochen auf die Geburt Christi, kulturell und zivilreligiös auf Jahresende und -anfang und auf die Feiertage.

 

Der Name Advent kommt von dem lateinischen Wort «adventus», was einfach erstmal nur «Ankunft» bedeutet. Ursprünglich hieß die lange Form «Adventus Domini», also «Die Ankunft des Herrn», aber im Laufe der Zeit hat sich die kürzere Variante im Volksmund durchgesetzt. Die Christen verstehen diese Zeit als die Vorbereitungszeit auf Weihnachten, das Fest der Geburt Christi.