Glaube ja, Kirche nein? - Julian Sengelmann - E-Book

Glaube ja, Kirche nein? E-Book

Julian Sengelmann

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Beschreibung

Eine überfällige Auseinandersetzung mit dem hochaktuellen Thema Kirchenkritik – und gleichzeitig der Liebesbrief eines modernen Theologen, der keine Angst davor hat, unangenehme Fragen zu stellen. Denn was ist eigentlich los mit der Kirche? Warum wenden sich immer mehr Menschen von ihr ab, und das in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach Orientierung größer denn je zu sein scheint? Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Und was kann die Kirche tun? Julian Sengelmann geht mit kritischem Blick diesen Fragen nach und zeigt, warum es die Kirche heute so schwer hat. Er fordert einen Perspektivwechsel, liefert Denkanstöße, aber kehrt der Kirche nicht den Rücken. Im Gegenteil.

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Julian Sengelmann

Glaube ja, Kirche nein?

Warum sich Kirche verändern muss

Über dieses Buch

Eine überfällige Auseinandersetzung mit dem hochaktuellen Thema Kirchenkritik – und gleichzeitig der Liebesbrief eines modernen Theologen, der keine Angst davor hat, unangenehme Fragen zu stellen. Denn was ist eigentlich los mit der Kirche? Warum wenden sich immer mehr Menschen von ihr ab, und das in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach Orientierung größer denn je zu sein scheint? Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Und was kann die Kirche tun? Julian Sengelmann geht mit kritischem Blick diesen Fragen nach und zeigt, warum es die Kirche heute so schwer hat. Er fordert einen Perspektivwechsel, liefert Denkanstöße, aber kehrt der Kirche nicht den Rücken. Im Gegenteil.

Vita

Julian Sengelmann, geboren 1982 in Hamburg, ist ein deutscher Schauspieler, Musiker, Moderator, Sprecher und – vor allem – Theologe. Sengelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie in Hamburg, wo er derzeit promoviert.

Für Maxi & Leni

und meine Eltern

Prolog

Die Luft über den heißen, staubigen Steinen flimmert wie in alten Spaghettiwestern aus den 1960er Jahren, kurz bevor es zum dramatischen Showdown kommt. Es hat schon seit Tagen nicht geregnet, und die Hitze ist so drückend, dass man sich vor ihr einfach nicht in Sicherheit bringen kann – Duschen oder Schwitzen, man ist gleichermaßen nass.

Vor sieben Wochen ist mein Vater gestorben, vor drei Tagen wäre sein Geburtstag gewesen, und ich verspüre genau in diesem Moment, in dem ich durchnässt aufs Meer starre, ein Gefühl, das ich in dieser mich geradezu anschreienden Intensität schon jahrelang nicht mehr gefühlt habe und das mich überrascht: Ich will in die Kirche gehen. Ich habe wirklich in diesem Moment den tiefen, unbändigen Drang, sofort in eine Kirche zu gehen und Gottesdienst zu feiern. Dabei habe ich – göttliches Zeichen oder nicht – doppelt Glück: Zum einen bin ich auf einer beliebten Urlaubsinsel und weiß, dass es in der Nähe eine Kirche gibt, in der auch eine deutsche Gemeinde gelegentlich Gottesdienste feiert. Ich kann also zumindest auf der Ebene der Feiersprache die Worte verstehen, die da gesprochen werden. Und zum anderen ist Sonntag. Gottesdiensttag.

Bingo!

 

Es ist der 15. Juli 2018, und während ich mich in verklärte, überemotionale Kirchenspiritualität flüchten will, sitzt der Rest der Welt einen anderen Gott anbetend vor Handys, Tablets, Fernsehern, Beamerleinwänden und Weltempfängern und starrt gebannt nach Russland. Denn genau jetzt wird mal kämpferisch, mal ekstatisch und unter Beobachtung der gesamten Weltöffentlichkeit das Finale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Frankreich und Kroatien ausgetragen. Irgendwie feiern jetzt alle gerade ihre ganz persönliche Form von Gottesdienst, denke ich, und mache mich auf den Weg in besagtes Touristendorf zur deutschen Gemeinde.

Während ich in dem klapprigen Daewoo Matiz sitze, den wir jahraus, jahrein mieten, weil er nur einen Spottpreis kostet und an entscheidenden Stellen von Gaffertape zusammengehalten wird, frage ich mich, was ich eigentlich von meinem spontanen Besuch in der Kirche erwarte. Das plötzliche Verlangen, dieser mich beinahe übermannende Wunsch, mischt sich mit einer Art undefinierbarem Ressentiment; einer Ambivalenz zwischen dem ehrlichen Wunsch, endlich wieder in die Kirche zu gehen, und der Angst, dass das ein unglaublich miserables und enttäuschendes Erlebnis sein könnte, das mir vielleicht meine gerade wiederentdeckte Lust wieder nehmen könnte. Vielleicht ist es eher eine unbestimmte Angst vor der Angst? Aber warum eigentlich? Woher kommen die Kirchenbilder, die ich gerade vor meinem geistigen Auge durchdekliniere?

Notiz an mich selber: Das muss ich weiter beobachten.

 

Die Straßen auf dem Weg sind wie leergefegt, was zum einen apokalyptisch wirkt und zum anderen vortrefflich zu meinem Gemütszustand passt. Der heiße Teer ist so weich, dass er das abgefahrene Reifenprofil meines türkisfarbenen Teufelsflitzers wie Matrizenpapier abpaust. Die Landschaft um mich herum flimmert, als wäre sie Teil des bombastischen «Mad Max»-Remakes, das vor einigen Jahren in die Kinos kam. Weit entfernt hört man kollektive Kommentare zum aktuell laufenden WM-Finale – tonal versetztes Fluchen, Jubeln und das gemeinsame und irgendwie rituell heilsame Wegatmen aufgestauter Anspannung.

Der Weg vom Parkplatz zum Gotteshaus ist menschenleer. Weil ich wie immer spät dran bin, gucke ich instinktiv in den Himmel nach einem Kirchturm, der mir einen Anhaltspunkt für meinen weiteren Weg geben kann, und muss bei dieser geradezu pathetisch-poetischen Suchbewegung laut lachen. Den Menschenströmen, die in den deutschsprachigen 17-Uhr-Gottesdienst wollen, kann ich auch nicht folgen, denn die gibt es natürlich nicht. Und dass jetzt gerade das Fußballweltmeisterschaftsfinale läuft, hilft auch nicht.

Als ich endlich bei der völlig unscheinbaren und schlicht-schönen Kirche ankomme, tropft mir der Schweiß von den Augenbrauen auf meine beschlagene Sonnenbrille. Ich zupfe mich vorm Betreten noch mal zurecht, streiche mir durchs Haar und ordne meine Kleidung, weil ich das irgendwann mal so gelernt habe, obwohl wir in meiner Familie gar keine regelmäßigen Kirchgänger*innen waren.

Dann betrete ich das Gotteshaus.

 

Das Eintreten in eine Kirche ist jedes Mal ein ganz eigenartiger Moment – und das meine ich gar nicht wertend. Man übertritt buchstäblich eine Schwelle, macht den Schritt in eine ‹fremde› Welt, deren Regeln man häufig nur (noch) rudimentär kennt, in deren Raum für die Dauer des Rituals, das darin abgehalten wird, aber alle Teilnehmenden gleichberechtigt sind. Zumindest theoretisch. Das hat erst mal inhaltlich nichts mit Glauben oder dem Christentum zu tun, sondern ist eine viel allgemeinere phänomenologische und ritualtheoretische Erkenntnis, die von Anthropologen wie Arnold van Gennep und später Victor Turner gemacht wurde.[1] Dieser besondere Übergangsmoment ist also einer der Gründe, weshalb bei vielen Menschen der Schritt in eine Kirche ein so intensives und erst mal schwer zuzuordnendes Gefühl erzeugt. Nicht der einzige, aber ein nicht ganz unwesentlicher.

Ein beachtliches rhythmisches Rattern reißt mich aus meinen Gedanken. Die Realität des iberischen Hochsommers ist auch hier in der heiligen Mehrzweckhalle angekommen, denn in dem großen, marmorgetäfelten Kirchraum stehen ein gutes Dutzend Ventilatoren, die ihre besten Tage hinter sich haben und wacker für ein bisschen Zirkulation sorgen. Das ist nicht zu überhören. Beim Eintritt werde ich freundlich willkommen geheißen und gleichzeitig gemustert und beäugt – klar, ich war noch nie hier und gehöre nicht zum Inventar. Ein bisschen ist es wie mit diesem merkwürdigen U-Bahn-Phänomen: Wenn man selbst dazusteigt, wird man von allen, die schon drinnen sitzen, irritierend kritisch beäugt, fühlt sich eine Station lang völlig unberechtigt minderwertig, nur um dann beim nächsten Halt selbst überkritisch auf die einsteigenden ‹Neuankömmlinge› zu starren. Schwellenüberschreitung.

 

Die Kirche ist erwartungsgemäß leer. Auf den obligatorischen Holzbänken sitzen versprengt ein paar Menschen – ich zähle neun. Überraschend ist aber der Blick nach vorne zum Altar, denn dort sitzen ganz zentral zwei, sagen wir, festlich angezogene Menschen. Sie trägt einen roten Schleier und eines dieser Flamencokleider, die es an spanischen Straßenständen in Kindergrößen gibt, mit Bommeln und Zotteln – allerdings in Erwachsenengröße. Er trägt eine Caprihose und eine Weste, dazu ein rotes Hemd, das er, was soll er auch machen, schon vor Beginn des Gottesdienstes durchgeschwitzt hat. Offensichtlich wird hier heute geheiratet. Schön!

Die anderen Menschen scheinen zur Gemeinde zu gehören, denn sie verhalten sich, allen voran drei grau melierte Männer, als hätten sie hier Hausrecht. Das wird vor allem deutlich, als in letzter Minute noch drei junge Männer in die Kirche hetzen, die sich offensichtlich nicht ganz so zu Hause fühlen, sich aber augenscheinlich aufgeregt für das Brautpaar freuen. Sie tragen kurze Hosen, Blümchenhemden, Sonnenbrillen in den Haaren und Flipflops, sind braun gebrannt und durchtrainiert und winken dem Ehrenpaar euphorisch zu, während sie mit den Händen kleine Herzchen formen, um der Braut zu signalisieren, wie lieb sie einander haben und wie wunderbar sie aussieht. Auch schön.

Diese Kommunikation wird aber sofort unterbunden, als einer der grau melierten Männer sich in überraschender Schnelligkeit umdreht und die drei mit empörtem Blick und geblähten Nüstern abkanzelt, als seien sie unmündige Kinder. «Tz!», macht er und schüttelt langsam den Kopf, in seinem Blick eine Melange aus Empörung und Enttäuschung, so als habe sich gerade jemand gotteslästerlich auf dem Altar erleichtert. Wahnsinn. Alle bekommen es mit, alle sind verstört.

Der Gottesdienst beginnt. An einer elektrischen, nicht mehr ganz funktionstüchtigen Orgel spielt eine rüstige Dame, die die 80 schon überschritten hat, so gut sie kann. Mit Seele, Herz und Hand. Und Luftzirkulation – denn das Dutzend rostiger Ventilatoren, die sich im Übrigen auch klanglich mit der antiken E-Orgel duellieren, pusten ihr in allerbester Slapstickmanier alle 30 Sekunden die Noten vom Instrument. Sie kann nichts machen. Was soll sie auch tun? Die ersten Male hebt einer der hier heimischen Männer die Noten auf, dann gibt er auf, und die Organistin resigniert.

Eine Pastorin, die – so vermute ich – auch schon im Ruhestand ist, begrüßt die Gemeinde. Mit sonorer und getragener Vortragsstimme heißt sie in einer Art sakralem Singsang alle anwesenden Menschen willkommen. Natürlich vor allem das Ehrenpaar: Sabine und Richard, den alle aber Ricardo nennen. Die drei Freunde winken und freuen sich, nur um sich sofort wieder eine peinlich berührende Ermahnung einzufangen: Stichwort Hausrecht, weil – wahrscheinlich – Kirchengemeinderat. Der erste der drei läuft gekränkt raus. Die Pastorin guckt irritiert, spricht dann weiter. Kurz darauf kommt er wieder rein und setzt sich unter Protest zurück zu seinen Freunden. In diesem Moment drehen sich alle drei grau melierten Männer vorwurfsvoll und fast synchron um, woraufhin ein Zweiter die Kirche verlässt. Vorne hält sich die Gottesdienstleiterin hilfesuchend an einem spackigen schwarzen Vortragsordner mit Kinderaufklebern fest, während sie versucht, einzufangen, was hier gerade passiert. Sie will niemanden düpieren, also lächelt sie in einer Art Schockstarre und spricht daraufhin das Brautpaar mit falschen Namen an, was die beiden wiederum ziemlich kränkt. Der junge Mann, der eben rausgestürmt war, steht mittlerweile demonstrativ an der Kirchentür, raucht eine E-Zigarette und guckt zur Beruhigung eine Liveübertragung des WM-Finales auf seinem Smartphone. Gottesdienst ist ja überall. Die Pastorin singsangt daraufhin das nächste Lied an. Und dann folgt ein bemerkenswertes Ballett der Skurrilität: Junger Mann Nummer zwei steht auf, entschuldigt sich dafür wild gestikulierend bei allen, und holt sein Telefon aus der Tasche. Vier ältere Männer drehen sich zornesrot um und können kaum an sich halten. Eine der dazugehörigen Partnerinnen zischt viel zu laut: «Nicht schon wieder, Günther, nun lass es doch mal!» – «Nein!», ruft Günther. Das Ganze wird untermalt von der stockenden Musik der rüstigen Organistin, deren Noten in rasantem Rhythmus von ihrem alten Instrument gepustet werden. Die Pastorin: verzweifelt.

Ricardo versucht, die Situation zu retten, nimmt sein schweißnasses Einstecktuch, mit dem er sich minütlich den Schweiß aus dem Gesicht gewischt hat, und will nun die Tränen seiner Braut trocknen. Freudentränen sind das nicht, und das Gegenteil von gut ist eben gut gemeint, denn sie ruft laut: «Gott, Ricardo, du bist so peinlich!»

Wow. Herzlich willkommen.

Ciao, Kirche! Und alles Gute für Dich

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin Teil einer Kirche. Genauer: Ich bin Teil genau dieser Kirche. Oder um ganz präzise zu sein: Ich bin Christ, getauft und konfirmiert, Mitglied in der Evangelischen Kirche in Deutschland und Teil einer sogenannten Landeskirche. In meinem Fall der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, kurz: Nordkirche. Aber mehr noch als das: Ich habe ein siebenjähriges Studium der evangelischen Theologie auf Pfarramt hinter mich gebracht, danach ein Promotionsprojekt durchgeführt, Theologie an der Uni unterrichtet und ein fast vierjähriges Vikariat im Ehrenamt absolviert, in dem ich zwischen Kirchengemeinde, Predigerseminar und meinen hauptamtlichen Jobs hin und her getänzelt bin. Alles, damit ich später die Möglichkeit habe, Pastor in ebendieser Kirche zu werden. Und, um niemanden an dieser Stelle schon zu verlieren oder zu beschämen: Das Vikariat ist bei Theolog*innen wie das Referendariat bei Jurist*innen – ein langer praktischer Block, bevor es dann ernst wird. Ich bin also tatsächlich Theologe und arbeite auch als solcher. Ich erlebe all die wunderbaren Momente, die das mit sich bringt, und stehe manchmal zur sprichwörtlich biblischen Salzsäule erstarrt im Angesicht von wirklich hanebüchenem Unsinn, den man in meiner Kirche eben auch erlebt.

Das ist der eine Teil der Geschichte. Der andere ist der: Ich habe viele andere Berufe. Ich bin Musiker, Schauspieler, Sprecher, Autor und als Fernsehmacher und -moderator für viele große und kleine Sender häufig auf der Suche nach den Geschichten, die Menschen mit Glauben erleben. Oder mit Gott. Oder der Kirche. Oder eben nicht.

Ich erzähle das nicht, weil ich mit allem, was ich so mache, angeben möchte – möchte ich natürlich auch, klingt ja super –, sondern weil beide Perspektiven wichtig sind für die Suche, von der ich in diesem Buch erzähle.

Denn das ist es: eine Suche. Eine nach einer Kirche für Gegenwart und Zukunft. Dafür bin ich lange unterwegs gewesen. In eben all den Bereichen, die ich so vollmundig aufgezählt habe und die – hoffentlich – den vielleicht etwas anderen Blick ermöglichen. Anders als die vielen bunten Thesenbücher, die in den letzten Jahren erschienen sind und die viele der Kollegen und Kolleginnen in der Kirche gerade bis ins Mark erschüttern.

Wenn Sie also in einem klugen und kompetenten Kolloquium ausgetüftelte Thesen in kirchenaffiner Insidersprache präsentiert erwarten oder auf einen populistisch-programmatischen 10-Punkte-Plan zur einzig möglichen Rettung ‹der Kirche› hoffen, dann muss ich Sie leider schon jetzt enttäuschen. Aber Enttäuschung ist vielleicht ein Gefühl, das Ihnen nicht ganz fremd ist, wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen.

Wenn Sie aber mit mir auf die Suche kommen möchten und sich hoffentlich in meinen Erlebnissen, Erfahrungen und Abenteuern wiederfinden, dann können wir vielleicht zusammen schlussfolgern, was sich bei Kirche dringend mal ändern müsste, was da eigentlich los ist und warum die Hoffnung trotzdem nicht verloren ist. Herzlich willkommen in meiner kleinen Cuvée aus Tagebuch, Reisebericht, Praxiserfahrung, Insiderblick und Vogelperspektive, meinem Kuriositätenkabinett mit Absurdem, Hanebüchenem und Herzzerreißendem. Denn das hier ist ein hoffnungsvoll kritischer Liebesbrief an Kirche und Glauben. Und, um das an dieser Stelle schon einmal deutlich zu sagen: Nichts von dem, was ich schreibe, hat Anspruch auf Vollständigkeit – im Gegenteil: Zu jedem der Themen könnte man überbordende und kluge Werke verfassen. Aber vielleicht regen meine Anekdötchen und Glückskeks-Weisheiten zum Nachdenken, Schmunzeln, Aufregen oder Widerspruch an. Das reicht.

 

Lassen Sie uns als Erstes über den rosa Elefanten im Raum sprechen: «Warum sich Kirche verändern muss». Das ist der Untertitel dieses Buches. Ich sehe schon pochende Halsschlagadern und schweißnasse Handflächen von Menschen, die ein Leben in, mit, für und durch ihren ganz eigenen Kirchenbezug führen. Und das ist auch gut so. Beides – dass Menschen ihr eigenes Leben im Kontext von Kirche führen und auch, dass manche Menschen beim Aufruf zu Veränderung nervös werden. Denn das bedeutet erst einmal, dass noch Herzen an dem alten Kahn Kirche hängen. Allerdings ist die Krux mitunter, dass die Menschen, die sich zugehörig fühlen, nicht unbedingt das Gefühl haben, dass sich etwas ändern müsse – denn sie haben es sich ja ganz bequem eingerichtet. Ein klassisches Dilemma. Daher habe ich auch im Vorfeld zu diesem Buch durchaus empörten und etwas verängstigten Gegenwind gespürt, weil ebendiese Menschen glauben, man würde ihnen etwas wegnehmen wollen. Und das stimmt in gewisser Weise auch. Denn wir müssen ganz dringend etwas wegnehmen: die Exklusivität. Auch denen, die (noch) da sind. Damit meine ich nicht die Exklusivität, die man mit Hochglanz und Luxus assoziiert, sondern die tatsächliche Bedeutung dieses Wortes, die wir im kirchlichen Kontext – leider Gottes – geradezu perfektioniert haben. Denn das lateinische Wort ‹excludere› heißt übersetzt «ausschließen, aussperren, abweisen, trennen, absondern, ab- und fernhalten»[1]. Die Kirche ist exklusiv geworden. Und damit genau das Gegenteil dessen, was sie eigentlich sein möchte, sollte und könnte.

Ich glaube: Das muss sich ändern. Manche derer, die es sich bequem gemacht haben – ob als Mitarbeitende oder Gemeindeglieder –, mögen das anders sehen, weil es am einfachsten ist, genauso weiterzumachen. Aber die, die noch dabei sind, haben vielleicht – und da bin ich jetzt ganz unwissenschaftlich sehr pauschal – eine andere Perspektive auf die Korrelation von Kirchenmitgliedschaft und demographischen, kulturellen und soziologischen Veränderungen. Es gibt eine ansteigende Diversität in aktuellen Lebenskonzepten. Es gibt – auch durch das Zusammenwachsen der Welt im digitalen Kontext – alternative Sinndeutungsangebote. Wir leben in sich verändernden Kommunikationsstrukturen, in postaufgeklärten, individualisierten und subjektorientierten Lebenswelten. Wir haben eine sich verändernde ästhetische Wahrnehmung. Und natürlich ist es patriarchaler und chauvinistischer Quatsch zu denken, Frauen könnten kein Priesteramt bekleiden.

Menschen treten unter anderem aus der Kirche aus, weil sie das Gefühl haben, dass diese Kirche mit ihrem Lebensentwurf nichts anfangen kann oder – noch schlimmer – diesen Lebensentwurf be- und verurteilt. Oder sie treten aus der Kirche aus, weil sie mit den biblischen Erzählungen von einer mythologischen Gottheit, Weltuntergangsszenarien, Regenbogen, Engeln und auferstandenen Gottmenschen einfach nichts anfangen können – und das ist vollkommen in Ordnung. Oder weil sie sich in Gottesdiensten so fremd fühlen, dass sie am liebsten im Boden versinken wollen, angesichts des ‹Hokuspokus›[2], der da stattfindet. Oder weil sie sich am meisten ausgeladen fühlen, wenn wir in unserer exklusiven klerikalen Sprache mal wieder von ‹herzlicher Einladung› sprechen. Oder weil der Blick in einen verstaubten Gemeindeschaukasten voller Spinnweben so sehr abturnt, dass man von vornherein keine Lust hat, sich genauer damit auseinanderzusetzen. Oder weil die Kirchensteuer vor allem dann weh tut, wenn man gar nicht weiß, was damit eigentlich gemacht wird. Oder weil sie das Gefühl haben, dass das weltfremde Salbadern ‹da vorne› einfach nichts mit ihrem Leben zu tun hat. Oder, oder, oder …

Aber wie kann sich all das ändern?

 

Lassen Sie uns realistisch sein: Veränderungen tun häufig weh. Sie sind geprägt von Anstrengung, Kurskorrektur, Verlustangst, Hinterfragen, Abschied und ehrlicher, konstruktiver Selbsteinschätzung. Sie machen selten von Anfang an Spaß, kosten Überwindung, brauchen Durchhaltevermögen, sind mitnichten immer von Erfolg gekrönt und dürfen niemals Selbstzweck sein. Denn natürlich ist Veränderung nur um der Veränderung willen genauso unsinnig, wie etwas beizubehalten, nur um es beizubehalten. Aber in Sachen Kirche muss Veränderung sein – weil den Kirchen die Mitglieder abhandenkommen.

Und das merken mittlerweile sogar die Kirchen.

 

Vor einigen Wochen fanden mehrere Jahre aufmerksamen Forschens, Austarierens und endloser Stunden Gremiensitzungen mit vermutlich staubigen Waffelkeksen und lauwarmem Kaffee einen lauten medialen Abschluss: Die beiden mitgliederstärksten Kirchen des Landes, die Evangelische und die Katholische Kirche in Deutschland, veröffentlichten die Studie «Kirche im Umbruch – Projektion 2060»[3]. Darin beschäftigte sich das ‹Forschungszentrum Generationenverträge› der Freiburger Albert-Ludwig-Universität mit einer hypothetischen Projektion einer koordinierten Mitglieder- und Kirchensteuervorausberechnung für die evangelische und die katholische Kirche. Hypothetisch natürlich, weil keiner von uns die Zukunft voraussagen kann, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Ergebnisse dieser Studie eintreten, ist zumindest nicht gering.

Sie besagt, dass sich die Mitgliederzahlen und damit auch die finanziellen Möglichkeiten beider sogenannter Geschwisterkirchen, der katholischen und evangelischen, bis 2060 etwa halbieren werden.

Lassen wir das mal sacken: Die Prognose besagt, dass in gut 40 Jahren nur noch die Hälfte der jetzt in irgendeiner Form zugehörigen Menschen Mitglied einer dieser beiden Kirchen sein werden. Zumindest unter den jetzigen Voraussetzungen.

Das ist wirklich eine überraschend ehrliche, ungeschönte und auch irgendwie bittere Prognose, die man erst mal verdauen muss.

 

Die Untersuchung wurde von einem Team um den Freiburger Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen geleitet, als eine koordinierte Mitglieder- und Kirchensteuervorausberechnung für die Evangelische und Katholische Kirche in Deutschland. Das heißt konkret, dass für die 20 sogenannten evangelischen Landeskirchen und die 27 römisch-katholischen (Erz-)Diözesen in Deutschland erforscht wurde, wie sich Kirchenmitgliedschaftszahlen und Kirchensteueraufkommen bis zum Jahr 2060 entwickeln werden beziehungsweise unter den gegebenen Tendenzen entwickeln könnten. Raffelhüschen und sein Team haben primär zwei Parameter im Blick, die ihnen eine Projektion auf die Zukunft ermöglichen: einerseits die demographische Entwicklung – also die Frage, wie sich Geburten-, Sterberate und Migration in Deutschland zukünftig verhalten werden. Andererseits die ‹kirchenspezifischen Einflüsse›, also das Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten von Kirchenmitgliedern, das aus den letzten Jahren auch repräsentativ für die Zukunft gesehen wird. So viel zu den ganz grundsätzlichen Faktoren.

Das Interessante und vor allem Problematische an dieser Erkenntnis ist nun, dass aus dem projizierten Rückgang um die Hälfte wiederum nur die Hälfte durch den demographischen Wandel begründet ist – also dem Überhang von Sterbefällen über die Geburten sowie dem ‹Wanderungssaldo›, also der Differenz zwischen den Zuzügen nach Deutschland und den Fortzügen ins Ausland. Die andere Hälfte des Mitgliederrückgangs beruht auf Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten.

 

Aus diesen düsteren Prognosen ergeben sich logischerweise eine ganze Reihe von Folgefragen auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die nicht ganz unwichtig sind.

Zum Beispiel: Wie viele Menschen sind denn jetzt gerade Mitglieder in Kirchen? Und wie viele dann nur noch in 2060? Wie definieren sich die beiden Kirchen, die in der Analyse verhandelt werden – und gibt es noch andere? Welche Formen von Zugehörigkeiten gibt es zu diesen? Und: Kann sich da etwas ändern? Woher kommen die finanziellen Mittel der Kirchen, wenn Finanzen in der Untersuchung ein so großes Thema sind? Welche Korrelation von Finanzkraft und Zugehörigkeit der Kirchenmitglieder gibt es? Ergeben sich aus der gesamten Analyse nicht eventuell auch Chancen? Oder werden aus solchen vermeintlichen Abgesängen nicht automatisch self fulfilling prophecies? Wie konnte es zu diesem Status quo überhaupt kommen? Und, nicht ganz unwichtig: Von welcher Ausgangssituation geht diese Projektion aus?

Wir zäumen das Pferd mal von hinten auf, aber ich verspreche Ihnen, es wird in diesem Buch noch um all diese Fragen gehen.

 

Also: Von welcher Ausgangssituation geht diese Projektion aus?

Lassen Sie uns zunächst mal auf die Studie, die zugehörigen Statements und ein paar Zahlen schauen. Ist ja immer hilfreich.

 

Die demographischen Faktoren beziehen sich zunächst mal auf drei unterschiedliche Generationen: Die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1965 – also die sogenannten Babyboomer, die 2017, im Jahr des Beginns der Untersuchung, um die 50 Jahre alt waren. Dann die Geburtsjahrgänge vor 1940 – also die Eltern der Babyboomer, die 2017 um die 75 Jahre alt waren. Und schließlich die Geburtsjahrgänge Mitte der 1980er – also die Kinder der Babyboomer, die 2017 um die 30 Jahre alt waren.

Die Jahrgänge zwischen den Babyboomern und deren Kindern sind generell kleiner, was an den geringeren Geburtenstärken dieser Jahrgänge liegt.

Die prognostizierten Sterbefälle übersteigen die angenommene Zahl der kirchenzugehörigen Zuwanderer aus dem Ausland. Das gilt auch für die angenommene Zahl der Kinder, die von kirchenzugehörigen Müttern zur Welt gebracht werden. Dieser Überhang an Sterbefällen über Geburten und Zuwanderung führt dazu, dass sich die Mitgliederzahlen bis 2060 so drastisch verringern werden. Das ist also – grob gesagt – die demographische Seite der Projektion.

Die andere Seite wird als ‹kirchenspezifisch› bezeichnet. Darunter fällt alles, was ausschließlich mit der Frage nach Zugehörigkeitsmerkmalen zu einer der beiden großen Geschwisterkirchen zu tun hat: also Taufe, Aus- und Eintritte. Die evangelische Kirche sagt in der Studie über ihre eigene Situation: «Es werden nämlich nicht alle Kinder von evangelischen Müttern evangelisch getauft. Zusätzlich treten mehr Menschen aus der Kirche aus als in die Kirche ein. Setzt sich diese Entwicklung weiter fort, vergrößert sich der Mitgliederrückgang um weitere 28 Prozentpunkte. In der Summe bedeutet dies, dass die evangelische Kirche bis 2060 52 Prozent ihres Mitgliederstandes von 2017 verloren haben wird.»[4]

Dazu gibt es die drei bezeichneten Merkmale – und wir nehmen als Beispiel für alle drei der Einfachheit halber mal die evangelische Kirche, weil ich mich darin besser auskenne.

Vor allem bei der Taufe ist es so, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind getauft wird, abhängig von der Konfession der Eltern ist. Zwar werden im Verhältnis zu den evangelischen Müttern relativ konstant immer noch 80 Prozent der Kinder auf evangelischer Seite auch evangelisch getauft, aber gemessen an den absoluten Geburten in Deutschland ist die Zahl der Taufen rückläufig.

Mit den Austritten verhält es sich so, dass die Menschen, die aus der Kirche austreten, vorwiegend zwischen 25 und 35 Jahre alt und häufiger männlich sind. Ein Hauptgrund dafür ist die Korrelation von Austritt aus der Kirche und Eintritt ins Berufsleben. Gerade die Berufseinsteiger haben das Gefühl, dass es doch irgendwie weh tut, wenn man von seinem ersten richtigen Gehalt gleich wieder einen Teil als Kirchensteuer abgeben muss. Dazu kommt das Gefühl, dass besonders in dieser Lebensphase das kirchliche Angebot für das eigene Leben und die gewählte Lebensstruktur, sagen wir mal, uninteressant ist und daher nicht in Anspruch genommen wird. Daraus resultiert, dass in der Zeit bis zum 31. Lebensjahr rund 30 Prozent der getauften Männer und 22 Prozent der getauften Frauen aus der evangelischen Kirche austreten. Das hat wieder Rückwirkung auf die Taufzahlen, weil das ja, wie wir schon festgestellt haben, im Verhältnis von eigener Konfessionszugehörigkeit und der Konfession der Kinder steht.

Halten Sie noch durch, denn es gibt auch etwas (vielleicht) Überraschendes: Jedes Jahr treten über 45000 Menschen in die evangelische Kirche ein. Na so was. Wiederaufnahme, Erwachsenentaufe oder die Aufnahme aus anderen Konfessionen kompensieren zwar bei weitem nicht die Austritte, aber sie zeigen zumindest, dass es eine statistische Relevanz von Wiedereintritten und Bindung gibt.

Was heißt das denn nun alles ganz konkret? Allein im Jahr 2018 haben haargenau 216078 Katholiken ‹ihre› Kirche verlassen. Das sind circa 29 Prozent mehr als im Vorjahr und etwa 0,9 Prozent aller Katholiken im Land.[5] Bei den evangelischen Christinnen und Christen waren es sogar noch mehr: 220000 Menschen traten aus. Das sind, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, verdammt viele Menschen, die aus irgendwelchen Gründen gesagt haben, dass sie ab jetzt tatsächlich nicht mehr zu dem Club gehören wollen, der eine ganze Zeit lang auf irgendeine Art und Weise ‹ihrer› war. Das ist bitter für den Club. Zumal es nicht ganz einfach ist, auszutreten – man muss sich proaktiv darum kümmern, denn die Mitgliedschaft läuft nicht einfach aus. Außerdem steht besagter Club jetzt ganz kurz vor der Auflösung. Er hat nämlich nur noch 44,14 Millionen Menschen, die dazugehören. Also fast niemanden mehr …

Verzeihen Sie meinen vielleicht überraschenden Sarkasmus an dieser Stelle, aber ich glaube fest daran, dass es – bei aller Notwendigkeit von Veränderungen – nicht ganz unwichtig ist, angesichts der Horrorprognosen und Weltuntergangsszenarien hin und wieder auf die Relationen zu schauen. Denn auch wenn eine große Reformationsfigur unserer Zeit, Greta Thunberg, natürlich in Teilen recht hat, wenn sie sagt: «Ich will, dass ihr in Panik geratet»[6], gilt die Regel: Wenn Panik einfach Panik bleibt und nicht wachrüttelt und anstachelt, damit sich etwas verändert, ist am Ende niemandem geholfen. Denn heute – und das ist vielleicht doch ein gar nicht so schlechter Ausgangspunkt für Veränderung – sind noch 53,2 Prozent der Bundesbürger*innen Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Das sind gar nicht mal so wenige.

Also: durchatmen und nicht in die verzweifelten Jammergesänge angesichts der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit der Kirchen einstimmen. Das ist doch eigentlich eine gute Ausgangsbasis, um mal herauszufinden, warum diese 440000 Menschen ausgetreten sind. Vielleicht hat es ja mit Gott und der Welt und Gott und dem Geld zu tun, der Kirchensteuer, den Gottesdiensten, den Strukturen, der Sprache, der Relevanz, den Kirchenbildern oder der medialen Wahrnehmung? Und mit einem generellen Wissen (oder Nichtwissen) über das, was da eigentlich passiert in dieser komischen Kirche? Letzteres scheint mir ein großes Problem zu sein. Das wurde mir auf meiner Suche deutlich.

 

2017 war das Jahr des ‹Reformationsjubiläums›. Die evangelische Kirche feierte den fünfhundertsten Jahrestag eines Ereignisses, das man sich als Symbol für den Beginn der Reformation ausgesucht hatte: Martin Luther schlägt – so die Legende – 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg. Ein Ereignis mit damals ungeahnten, revolutionären und verändernden Folgen. Das geschah 1517 und gilt seitdem als symbolischer Beginn der Reformation und auch als Geburtsstunde der evangelischen Kirche. So weit, so gut. Was hat das mit uns und der heutigen Situation zu tun? Nun: ziemlich viel. Denn was wollte Luther damals eigentlich, als er sich dazu durchrang, etwas zu verändern? Er wollte die katholische Kirche reformieren – aber keine neue Kirche gründen, auch wenn das gerne immer noch behauptet wird. Luther hatte den inneren Drang, ‹seiner› Kirche auf die Finger zu schauen und zu ergründen, wo sich fundamentale und existenzielle Fehler eingeschlichen hatten. Wo gab es Machtmissbrauch? Wo behinderten die Strukturen und die Korruption der Institution das, worum es eigentlich gehen sollte: die Beziehung von Menschen zu ihrem Glauben und ihrem Gott.

Luther wollte, dass die Menschen verstehen, was sie allsonntäglich nachbeteten, und war der Meinung, dass es hilfreich wäre, eine Sprache zu finden, in der sich Menschen ausdrücken können – auch in Glaubensfragen. Er erkannte damals sehr clever, welche Kommunikationsmittel die Menschen verstehen und benutzen, suchte sich die besten Leute und trat eine Medienrevolution los. Auf vielen Ebenen. Dabei ging es ihm grundsätzlich immer um die persönliche Gottesbeziehung. Nur wenn Menschen verstehen, dass Glaube immer etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hat, kann dieser Glaube wachsen und – entschuldigen Sie meine Kirchensprache – lebendig sein.

Ich möchte hier keine Lutherforschung und mit Sicherheit auch keine Lutherlobhudelei betreiben, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Luther ein Stolperstein sein muss. Aber diese kurzen Blitzlichter auf die Ausgangssituation der Reformation scheinen mir heute genauso aktuell zu sein wie damals. Natürlich in anderen demographischen Kontexten – aber thematisch könnte Luthers Denkbewegung doch nicht existenzieller und aktueller sein.

500 Jahre seit der letzten Reformation sind eine lange Zeit. Ein nicht ganz kleiner Teil des Wesens zumindest der protestantischen Kirche ist also, dass sie grundsätzlich reformatorisch ist, sich also nicht scheut, die Frage nach Veränderungen zu stellen – weil sie selbst erst aus dem dringenden Wunsch nach Veränderung entstanden ist.

 

In besagtem Jubiläumsjahr hatte ich – und das meine ich nicht sarkastisch – die Freude (und ein kleines bisschen auch die Ehre), einer von 18 ‹Reformationsbotschafter*innen› zu sein.

Meine Aufgabe war es, das ganze Jahr über immer wieder unterwegs zu sein und mal im Kleinen, mal im Großen über die Reformation zu sprechen und mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Manche, mit denen ich auf großen Podien saß, waren mir ganz eindeutig zu clever, und manche Formate habe ich nicht verstanden, aber es waren tatsächlich viele schöne Begegnungen dabei. Ich durfte beispielsweise bei Barack Obamas Besuch in Berlin in der ersten Reihe sitzen und zusehen, wie der atmosphärische Unterschied mit Händen greifbar ist, wenn dieser Mann zu erzählen anfängt. Was für ein übercharismatischer Vollprofi! Keine besonders überraschende, aber umso eindrücklichere Erkenntnis.

Mit der BBC ein Radiospecial in Wittenberg zu machen, war ein echtes Erlebnis. Ich durfte vor 100000 Menschen auf dem Kirchentag singen und erzählen und wurde an vielen Orten, von denen ich nie dachte, dass ich sie jemals sehen würde (und das sage ich als Musiker, der jahrelang durch die winzigsten Dörfer getingelt ist …), herzlich und interessiert empfangen. Vielleicht auch einfach nur, weil ich mich überhaupt auf den Weg gemacht hatte.

Meine schönste Begegnung war aber eine, die nicht in den Medien stattfand. Und, um ehrlich zu sein, auch eine, auf die ich nur wenig Lust hatte, als ich in den Zug stieg. Ein Kasseler Gymnasium hatte eine – wahrscheinlich preisgekrönte – Ausstellung zum Thema «Luther und Europa» auf die Beine gestellt, und ich glaube, sie hatten mich in meiner Funktion ‹gewonnen›. Natürlich hatte ich, wie erbeten, einen Vortrag in dieser eigentümlichen Vortragssprache erarbeitet, den ich mit mehr oder weniger klugen Zitaten gespickt und wissenschaftlich zweimal kritisch durchleuchtet hatte. Ich hatte mir ein Plädoyer für irgendeinen mir selber wahrscheinlich unschlüssigen Zusammenhang zwischen Luther und Europa überlegt (à la «Hätte er bestimmt irgendwie auch ganz gut gefunden») und mich auf eine Aula voller Schüler*innen mit verschränkten Armen eingestellt – ganz genau so wie ich damals da saß, wenn ich zu einer Pflichtveranstaltung gezwungen wurde, die mich überhaupt nicht interessierte, weil sie rein gar nichts mit mir, meinem jungen Leben, meinen Hoffnungen, Ängsten und Perspektiven zu tun hatte.

Es kam, wie es kommen musste: Natürlich hatten die Schüler*innen ein gewisses Bild von einem ‹Reformationsbotschafter›, der zu einer Veranstaltung kommt, die verpflichtend ist. Und natürlich kann ihnen das keiner verübeln, dafür gab es zu wenige Berührungspunkte zwischen Kirche, geschweige denn Reformation und ihrem eigenen Leben.

Das hatte ich mir schon im Vorfeld gedacht und deshalb auf meinen Anzug verzichtet und meine Gitarre eingepackt. Ich konnte also das Überraschungsmoment nutzen und die Anspannung im Raum durch den ersten Eindruck und zwei kleine Liedchen von der Aulabühne ein wenig nehmen. Trotzdem Notiz an mich selber: Kirchenklischees und Bilder von Menschen, die für die Kirche arbeiten und Kirche repräsentieren noch viel mehr auf dem Schirm zu haben. Ist wichtiger, als ich wahrhaben wollte.

Da ich nun ein bisschen Sympathie und Aufmerksamkeit auf meiner Seite hatte, ich vollmundig und sehr herzlich begrüßt und vorgestellt wurde und ein paar Menschen mich tatsächlich aus dem Fernsehen kannten, ging es an meinen Vortrag. Also stand ich an einem Plastikstehtisch vor jungen Menschen, klappte mein iPad auf und blickte auf 16 Seiten Vortrag. Und irgendwie passte das alles hinten und vorne nicht zusammen.

Das Schöne war, dass wir alle das in diesem Moment merkten. Es blieb mir also gar nichts anderes übrig, als direkt zu fragen: «Wisst ihr, ich hab hier einen 16-seitigen Vortrag, den ich euch halten kann. Ist bestimmt gut. Oder … Ihr könnt mir einfach mal all die Fragen zu Reformation, Glaube und Kirche stellen, die ihr euch nie getraut habt zu fragen. Auch und vor allem ganz persönlich. Was meint ihr?»

Es ist keine große Überraschung, dass es auch so kam. Der Vortrag blieb ungelesen, und das gut 90-minütige Gespräch wurde eines, das ich als wirklich besonders in Erinnerung habe. Denn natürlich lautete die erste Frage, was ich ganz persönlich und ganz ehrlich mit Kirche zu tun hätte. Und warum ich gläubig bin und ob es für mich einen Unterschied zwischen Kirche und Glauben gäbe. Vor allem aber ging es um die Frage nach der Aktualität reformatorischer Kerngedanken, die im Umkehrschluss – für viele Schüler*innen überraschend – auch Kirche repräsentieren. Besonders das Charakteristikum, dass sich die Kirche verändern muss, weil sie aus einem Wunsch nach Veränderung überhaupt erst entstanden ist, schien die unfreiwillige Aulagemeinde so zu überraschen, dass sie fast ein bisschen perplex war. Was aber wirklich hängengeblieben ist, sind drei Dinge: Reformation und Kirche als Vertreter der Reformation haben unbedingt mit Freiheit zu tun. Luther hat ein neues Verständnis von Freiheit der Einzelnen erdacht und laut postuliert, und das gilt heute noch. Denn Freiheit ist ein fragiles Gut. Das wird nicht erst in Zeiten deutlich, in denen ein orangefarbener Mann mit schlechtsitzendem Toupet wieder Fan von Wettrüsten ist und der Spiegel «Die Atomwaffen-Angst ist zurück» titelt.[7] «Was bedeutet Freiheit heute?» wurde zu einer Art kollektivem Schlachtruf, den die Schüler*innen wild diskutierten. Glaubensfreiheit, geistige und räumliche Unabhängigkeit des Einzelnen gehören unbedingt dazu. Aber auch «unser aller Verantwortung für die Freiheit anderer»[8] – eine Verantwortung, die heute angesichts weltweiten Terrors und politischer Verfolgung besonders schwer wiegt und der sich natürlich auch «die Institution Kirche stellen muss»[9]. Und das weiß die Kirche auch …

Dann: Reformation hat mit der sehr lebensnahen Erfahrung zu tun, dass wir alle irgendwann scheitern, aber eben nicht gescheitert bleiben müssen. Oder wie es eine meiner Lieblingsbands Coldplay singt: «Just because I’m losing doesn’t mean I’m lost.»

Und: Reformation braucht Zweifel, Skepsis, Kritik, Hinterfragen. Das Prüfen von Institutionen, seiner selbst und dem, woran man glaubt.

Damit hatte irgendwie keiner so richtig gerechnet.

 

Nach dem Vortrag saß ich noch mit dem Schulleiter bei einer Bratwurst in der Cafeteria und hatte dieses merkwürdige Wieder-Schüler-sein-Gefühl, so als hätte ich etwas ausgefressen. Dabei wurde mir klar: In dieser Begegnung mit den Schüler*innen, die mich sehr berührt hatte, hatten sich so viele der grundsätzlichen Probleme offenbart, die Kirchen heute haben: Vorurteile, Klischees, fehlende Trennschärfe zwischen den unterschiedlichen Kirchen, fehlende Verbindung zwischen Botschaft und Überzeugung und dem eigenen Leben. Merkwürdige Erwartungen an Sprache und Ansprache. Die Frage, wie und ob Menschen eigentlich gehört, gesehen, wahr- und ernst genommen werden. Vor allem aber die irgendwie erschütternde Erkenntnis, dass am Ende wieder mal festgestellt wurde: «Ach so … Wenn das so ist, finde ich Kirche vielleicht gar nicht so doof.»

Kirche muss sich verändern, weil sie – manchmal – eine ganze Menge mit dem Leben von Menschen zu tun hat. Und Menschen das zumindest wissen sollten.

Erkenntnis des Tages:

Kirche wird und muss sich verändern. An den demographischen Parametern, die in der Projektion 2060 beschrieben werden, können die Kirchen wahrscheinlich relativ wenig ändern. Bleiben also die ‹kirchenspezifischen Faktoren›. Und da würden mir sofort eine Handvoll einfallen. Aber lassen Sie uns erst einmal herausfinden, warum wir uns in der Kirche eigentlich so schwer tun mit Veränderungen. Und das, obwohl wir (zumindest die Protestanten) doch aus einer reformatorischen Tradition stammen? Zeit für einen Blick auf eine Wesensbeschreibung der Kirchen, die deutlich machen soll, dass in beiden Geschwisterkirchen Veränderungsprozesse immer schon dazugehören. Und wenn wir verstehen, dass Veränderung zum Grundsatz von Kirche gehört, haben wir vielleicht perspektivisch weniger Angst davor. Los geht’s.

Drei kleine Worte

Wenn Sie das lesen und selbst eine Art Kirchenprofi sind, scharren Sie sicherlich schon mit den Füßen. Wann sagt er es denn endlich? Sie wissen natürlich Bescheid und haben vermutlich genauso viel Spaß am Bullshit-Bingo wie ich. Vielleicht schmeißen Sie auch gern klug klingende Blendgranaten in den Raum und hoffen, dass die Zuhörenden teils ehrfürchtig, teils beschämt angesichts Ihrer Klugheit verstummen. Und ein bisschen erblassen. Und ja, natürlich schreibe ich gleich, worauf Sie warten. Für alle anderen hole ich aber ein wenig aus.

Es gibt eine kurze Parole, die immer irgendwann auftaucht, wenn man sich intensiver mit Kirche beschäftigt – ein Slogan oder eine Art Mantra. Oder schlicht ein ‹Leitsatz›. Der hat ein kurioses Eigenleben entwickelt. Ihm wurden mittlerweile so viele Ursprungs- und Entstehungsgeschichten zugeschrieben, dass es sich lohnt, mal genau hinzuschauen. Neudeutsch würde man wahrscheinlich von ‹urban myth› sprechen. Der Leitsatz lautet – und ja, da ist er endlich: ‹Ecclesia semper reformanda›.

Diese drei lateinischen Worte eröffnen einen ganzen Kosmos an Entfaltungsmöglichkeiten und Deutungen. Übersetzt heißen sie ungefähr: ‹Die Kirche muss immer reformiert werden›.

Damit rechnet man als Laie nicht unbedingt. Lassen Sie uns zuerst mal genauer schauen, woher dieser Leitsatz eigentlich stammt, denn das ist wirklich spannend – dafür muss ich ein bisschen ausholen.

Vielleicht kennen Sie Internet-Memes mit klug klingenden Zitaten, die inspirieren sollen; darunter steht, um dem Ganzen mehr Gewicht zu verleihen, meist der Name eines berühmten Autors oder Staatsmanns. Man nickt das Gelesene also ehrfürchtig ab, nur um dann doch peinlich berührt innezuhalten, weil man erkennt, dass Abraham Lincoln mit großer Wahrscheinlichkeit nichts über ethische Grundsätze von Internetpiraterie gesagt hat. Wahrscheinlich ist das die gerechte Strafe dafür, dass man nach ‹kluges Zitat Aristoteles› gegoogelt hat.

Mit ‹Ecclesia semper reformanda› ist es ähnlich. Eine kurze Netzrecherche ergibt, dass diese Worte ungefähr jedem kirchengeschichtsrelevanten Menschen in den Mund gelegt werden – besonders gerne einem der bekanntesten ‹Kirchenväter›, nämlich Augustinus.

Er heißt bei vielen katholischen Menschen nicht umsonst der ‹heilige Augustinus› – einer der vier großen Kirchenväter, bis heute bedeutsamer Theologe und Philosoph und einflussreicher Bischof. ‹Ecclesia semper reformanda› bei ihm zu verorten, macht also die Wichtigkeit dieses Leitsatzes deutlich.

Leider stammen diese Worte jedoch nicht von ihm, wie auch sehr streng katholische Theologenmenschen mittlerweile zugeben müssen.

 

Andere Quellen schreiben die Formel der calvinistischen Theologie des beginnenden 17. Jahrhunderts zu. Das ist erst einmal sehr pauschal. Manche sind genauer und nennen einen calvinistischen Theologen, der gelegentlich Jodocus van Lodenstein und manchmal auch Jodocus van Lobenstein heißt und von 1620 bis 1677 gelebt hat.

Und noch viele andere werden als Erfinder dieser so wichtigen und überraschenden Formel gehandelt.

Leider sind das alles Fake News.[1]

Der 2011 verstorbene Marburger Systematiker und Kirchengeschichtler Theodor Mahlmann hatte sich auch auf die Suche nach dem Ursprung dieser bedeutenden Redewendung gemacht und sich dafür penibel durch alle Quellen gekämpft, nur um überrascht festzustellen, dass der Ausspruch in genau dieser Formulierung nicht etwa aus dem 4. Jahrhundert stammt, wie einige annahmen, sondern ein kleines bisschen jünger ist. Um genau zu sein: gute 1600 Jahre jünger.

Und wer hat’s erfunden? Die Schweizer.

Mahlmann konnte darstellen, dass die berühmten Worte das erste Mal 1947 von einem der bekanntesten Theologen der Neuzeit gesprochen wurden: von Karl Barth (1886 bis 1968). Barth war ein Schweizer evangelisch-reformierter Theologe, der als Begründer der ‹dialektischen Theologie› gilt, einer theologischen Schule, die bis heute kontrovers diskutiert wird. Darum soll es an dieser Stelle nicht gehen, sondern um den Kontext und den Geist, in dem Barth diese Worte gesagt hat.

Dazu muss man verstehen, was Barth vor 1947 gemacht hat – bevor er den Vortrag hielt, in dem ‹ecclesia semper reformanda› das erste Mal vorkam.

 

Karl Barth war einer der Menschen und Theologen*innen, die Hitlers Machtergreifung 1933 mit großer Sorge beobachteten. Ein Mann wie Hitler, der sich selbst übermenschlich stilisieren ließ und das wiederum in menschenverachtenden und im wahrsten Wortsinn ‹entmenschlichenden› Narrationen zu begründen versuchte, kam in Deutschland an die Macht, und die