Felix Somary, Erinnerungen aus meinem Leben - Felix Somary - E-Book

Felix Somary, Erinnerungen aus meinem Leben E-Book

Felix Somary

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Beschreibung

Seine präzisen Prognosen zur Zukunft der Weltwirtschaft waren schon zeit seines Lebens legendär und sind in der aktuellen Krise relevanter denn je. Felix Somary war ein aussergewöhnlicher Mensch in einer aussergewöhnlichen Zeit. Seine glänzend geschriebenen Erinnerungen, die unmittelbar nach seinem Tod 1956 zum ersten Mal erschienen sind, legen ein eindrückliches Zeugnis davon ab. Felix Somary beschreibt in seinen Erinnerungen sein bewegtes Leben als Bankier, Ökonom und politischer Berater. 1881 in Wien geboren, erlebte er die grossen Katastrophen der europäischen Geschichte zwischen 1914 und 1945 nicht nur als passiver Beobachter, sondern als aktiver Berater und geheimer Vermittler. Dank seiner Gabe, politische und wirtschaftliche Krisen frühzeitig zu erkennen, erlangte er Zutritt zu den höchsten Stellen und vermochte immer wieder den Gang der Geschichte zu beeinflussen. Mit einer Einführung von Tobias Straumann und einem Nachwort von Wolfgang Somary.

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FELIX SOMARY

ERINNERUNGEN AUS MEINEM LEBEN

Mit einer Einführung von

Tobias Straumann

und einem Nachwort von

Wolfgang Somary

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Buchtitel «Erinnerungen aus meinem Leben» folgt der Originalausgabe

von Manesse Verlag, Zürich 1956.

Der Text von Felix Somary «Erinnerungen eines politischen Meteorologen» folgt der Ausgabe von Mathes & Seitz Verlag GmbH, München 1994.

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.

Alle Abbildungen stammen aus dem Familienarchiv Wolfgang Somary, Meilen.

© 1956 und 2013 Felix Somary Erben und 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten Auflage 2013 (ISBN 978-3-03823-824-9).

Titelgestaltung: unfolded, Zürich

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03823-980-2

www.nzz-libro.ch

TOBIAS STRAUMANN[1]

Einführung

Als mir ein Kollege vor einigen Jahren die Erinnerungen von Felix Somary empfahl, reagierte ich mit grosser Zurückhaltung. Zu oft hatte ich die Erfahrung gemacht, dass die Memoirenliteratur nur der Beschönigung der eigenen Leistung und nicht der historischen Wahrheit dient. Zudem hatte ich den Namen Somary noch nie gehört.

Es sollte aber ganz anders kommen. Selten habe ich eine Autobiografie so gern gelesen und mit Erfolg weiterempfohlen wie diese. Obwohl vor mehr als 50Jahren geschrieben, haben Felix Somarys Erinnerungen an mein Leben nach wie vor eine ungewöhnlich starke Wirkung.

Was macht sein Buch so lesenswert? Warum lohnt es sich, seine Erinnerungen wieder einem breiteren Publikum zugänglich zu machen?

I

«Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Weiter nichts», erwiderte Oscar Wilde, als er gefragt wurde, welche Bücher er gerne lese. Somarys Erinnerungen erfüllen dieses Kriterium mühelos. Die Sprache ist präzis, lebendig und anschaulich, die Lektüre könnte nicht kurzweiliger sein. Wenn alle Bankiers so gut schreiben könnten wie er, wäre die Schweiz längst ein Literatur-Paradies.

Somarys Memoiren bieten aber weit mehr. Sie schildern das Leben eines ausserordentlichen Menschen in einer ausserordentlichen Zeit auf eine so bewegende Art und Weise, dass man die Welt danach mit anderen Augen betrachtet. Somary besass die seltene Gabe, die grossen Katastrophen seiner Zeit frühzeitig zu erkennen und verfügte über den nötigen Einfluss, um in den Kreisen der hohen Politik gehört zu werden. Wenn man das Buch weglegt, fühlt man sich, wie wenn man nach einem mitreissenden Film das Kino verlässt: Man ist noch leicht benommen, nimmt aber die Umgebung viel intensiver wahr.

Beim Lesen fragt man sich bisweilen, ob das alles wahr sei, was hier erzählt wird, denn Somary kommt in keiner der offiziellen Darstellungen jener Zeit vor. Gab es wirklich diesen grossen Unbekannten, der frühzeitig warnte, Ratschläge erteilte und welthistorische Entscheidungen beeinflusste, ohne Spuren in den amtlichen Dokumenten zu hinterlassen? Daran besteht jedoch kein Zweifel, nicht nur weil die Erinnerungen glaubhaft scheinen, sondern weil es auch eine Reihe von prominenten Zeugen gibt, die sein Wirken überliefert haben. So schrieb zum Beispiel der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt im Oktober 1922 an den deutschen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal: «Da ist ein sehr merkwürdiger Mann, den Sie auch kennen, dieser Somary. (…). Er gehört zu dem Typus, der die Krisen voraussieht; auch auf politischem Gebiet ist er äusserst hellsichtig. Alle Voraussagen, die ich ihn machen hörte, sind eingetroffen, einige in ganz erstaunlicher Weise.»[2]

Tief beeindruckt war auch der Bankier Siegmund Warburg, einer der überragenden Figuren der Londoner City nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach einem Besuch in Zürich Anfang der 1950er-Jahre schrieb er an Somary: «Having returned to London after my recent business trip to the Continent, I want to thank you once more for the evening which I had the opportunity of spending at your home. I enjoyed every minute of it and was so happy that I had the chance after an interval of far too many years to have a thorough talk with you. If I may say so, I am full of admiration for the way in which you achieve a really comprehensive view of our world of to-day from its cultural, political and economic aspects.»[3]

Die Reihe liesse sich beliebig fortsetzen. Somary war in der Tat eine merkwürdige Figur, wie Burckhardt schreibt, und er war sich dessen durchaus bewusst. In der Vorrede zu seinen Erinnerungen schreibt er über sich in der dritten Person: «Sein Schicksal war ungewöhnlich; denn es war ihm bestimmt, an den wichtigsten Wendepunkten dieser Zeit von verschiedenen Staaten herangezogen zu werden – von zwei Kaiserreichen und zwei Demokratien, als ‹Fachmann für Krieg und Krise›, wie ihn die Amerikaner nannten –, und gerade diese beiden beherrschten die ganze Periode. Er übersprang jeweils alle Ränge der Diplomatie und Bürokratie, agierte im entscheidenden Moment und verschwand aus dem politischen Feld ebenso schnell, wie er gekommen war.»[4] An anderer Stelle selber bezeichnet er sich als «politischen Meteorologen».[5]

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor sechs Jahren ist die Nachfrage nach zuverlässigen Prognosen sprunghaft angestiegen. Wird der Euro die nächsten Jahre überleben? Werden die Amerikaner ihren Staatshaushalt wieder in Ordnung bringen? Wird es der chinesischen Führung gelingen, ein neues Wachstumsmodell zu entwickeln? Selten war die Zukunft der Weltwirtschaft so stark abhängig von den Entscheidungen einzelner Politiker. Die Erinnerungen eines intimen Kenners von Politik und Wirtschaft in einer turbulenten Zeit sind deshalb in der heutigen Zeit besonders anregend. Es gibt keinen besseren Moment für eine Neuauflage der Erinnerungen eines erprobten politischen Meteorologen.

II

Felix Somary wurde am 20.November 1881 als Sohn von Simon Somary und Fanny Margulies in Wien geboren. Sein Vater arbeitete als Hof- und Gerichtsadvokat, seine Mutter sorgte sich um den Haushalt und zog die Kinder gross. Felix war das sechste von sieben Kindern, von denen aber die ersten vier in frühem Alter an Diphtherie starben. Er absolvierte die Schulen in Wien und studierte an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, unterbrochen von einem Aufenthalt in Berlin. Ab 1904 arbeitete er vier Jahre als Präsidialsekretär der Anglo-Österreichischen Bank («Anglobank») in Wien, bevor er 1909 nach Berlin zog, um als Bankier, Berater und Professor zu wirken. 1919 übersiedelte er in die Schweiz und wurde Partner der Privatbank Blankart & Cie. in Zürich. 1930 heiratete er May Gräfin Demblin de Ville, zwei Jahre später liess er sich in der neuen Heimat einbürgern. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Felix Somary starb am 11.Juli 1956 in Zürich.

Wie kam es nun dazu, dass Somary zum einflussreichen Berater der Grossen und Mächtigen aufstieg? Seine analytische Begabung zeigte sich früh. Kurz nach Abschluss des Gymnasiums veröffentlichte er eine längere Arbeit über die historische Entwicklung der Aktiengesellschaft in Österreich, die ihm noch vor Beginn des Studiums eine Assistentenstelle an der Universität Wien einbrachte. Der Professor, der ihn berief, war kein Geringerer als Carl Menger, einer der bedeutendsten Nationalökonomen des 19.Jahrhunderts. Der Entschluss, seine prognostischen Fähigkeiten in den Dienst einer höheren Sache zu stellen, reifte aber erst während seiner dreijährigen Tätigkeit bei der Anglobank. Sie war 1864 von Exponenten der Londoner City in Wien gegründet worden und auf die Finanzierung des internationalen Warenhandels spezialisiert. Unter Präsident Carl Morawitz weitete sie ihre Tätigkeit erfolgreich auf weitere Geschäftsbereiche aus, insbesondere auf die Industriefinanzierung in Osteuropa.

Das Ereignis, das Somarys Lebensweg in eine neue Richtung lenkte, war die internationale Krise von 1908, die wegen der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn ausgebrochen war. Somary erkannte bald, dass sich auf dem Balkan ein Weltkrieg anbahnen könnte und entwickelte einen Plan, um die diplomatischen Spannungen in Europa abzubauen. Überzeugt, dass ein bewaffneter Konflikt nur verhindert werden konnte, wenn sich die beiden dominierenden Mächte Deutschland und Grossbritannien annäherten, suchte er Kontakt zu den höchsten Stellen in Berlin und London, um zwei Streitpunkte zu beenden: die Grösse der Kriegsflotten und den Bau der Bagdad-Bahn. Das Vorhaben war äusserst ehrgeizig, zumal für einen 27-Jährigen, aber es gelang. Mithilfe des Londoner Bankiers Sir Ernest Cassel, der im Aufsichtsrat der Anglo-Bank sass und enge Verbindungen zum britischen Königshaus hatte, vermochte er das Misstrauen zwischen Deutschland und Grossbritannien abzubauen. Im Frühsommer 1914 schien die Gefahr eines grösseren europäischen Konflikts gebannt. Es fehlten nur noch die Unterschriften der beiden Regierungen.

Doch dann machte die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.Juni 1914 alles zunichte. In seinen Erinnerungen zeigt Somary sich vollkommen überzeugt, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs alles andere als unvermeidlich war:

«Nur vierzehn Tage trennten die Unterzeichnung des Bagdadabkommens von dem Mord in Sarajewo. Ohne ihn wäre es nicht zu der großen Katastrophe gekommen; denn alle Ursachen des deutsch-englischen Konfliktes waren weggeräumt. Man möge es mir nicht als Anmaßung anrechnen: Unter den heute Lebenden ist niemand mehr berechtigt zu solcher Feststellung als ich. Denn ich hatte die geistige Vorarbeit zur Entgiftung der Situation geleistet und hatte den Erfolg auf den scheinbar schwierigsten Gebieten errungen. Wer an das Fatum der Griechen glaubt, möge annehmen, dass der Zusammenstoß auch sonst erfolgt wäre. Aus voller Kenntnis der Situation und der handelnden Menschen aber halte ich diese Ansicht für völlig unbegründet.»[6]

Noch während Somary die deutsch-britische Annährung einfädelte, sprach sich Somarys ausserordentliche Kompetenz in wirtschaftlichen und diplomatischen Fragen herum. 1913 erhielt er die ehrenvolle Anfrage, ob er im Auftrag der Grossmächte das chinesische Geldwesen reorganisieren wolle. Da er zu jener Zeit noch voll und ganz mit seiner geheimen Mission in Europa beschäftigt war, lehnte er dankend ab, schrieb aber ein Memorandum, das grossen Einfluss auf die chinesische Währungsreform haben würde. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs fragte ihn die Reichsbank in Berlin, ob er die Gründung und Leitung der Notenbank im besetzten Belgien übernehmen wolle. Somary sagte zu, organisierte aber die Sache ganz anders, als es die deutsche Heeresleitung wünschte, indem er Einheimische an die Spitze des neu gegründeten Bankinstituts setzte. Die involvierten Belgier blieben Somary stets in grosser Dankbarkeit verbunden. Als im Frühling 1915 die Notenbank dazu gezwungen wurde, belgische Industriearbeiter nach Deutschland zu deportieren, trat er unter Protest zurück.

Im März 1916 verfasste Somary zusammen mit einem langjährigen Freund, dem deutschen Soziologen Max Weber, eine Denkschrift zuhanden des deutschen Kaisers, um auf die grossen Gefahren eines unbeschränkten U-Boot-Kriegs hinzuweisen. Kaiser Franz Joseph war von diesem Memorandum so beeindruckt, dass er ihn nach Schönbrunn zur Privataudienz einlud. Das deutsche Oberkommando liess sich aber nicht belehren und ging bald zum unbeschränkten U-Boot-Krieg über, was die USA im April 1917 zum Kriegseintritt veranlasste. Für Somary war damit die Niederlage Deutschlands besiegelt. Zu seinem Erstaunen musste er aber feststellen, dass General Ludendorff, der ihn im Frühsommer 1917 zu einer Unterredung einlud, die Amerikaner vollkommen unterschätzte. «Der Eintritt Amerikas in den Krieg war ihm eine bloße Episode.»[7]

Ungefähr zur selben Zeit warnte er die österreichischen Behörden erstmals vor einer Hyperinflation, bald darauf auch die deutsche Regierung. Er drang mit seinen Warnungen nicht durch, aber wiederum sollte er recht behalten. Zu Beginn der 1920er-Jahre brach in Mitteleuropa ein monetäres Chaos aus, das die politische und wirtschaftliche Stabilität Deutschlands, Österreichs und Ungarns nachhaltig erschütterte.

III

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs siedelte Somary in die Schweiz über und wurde Miteigentümer der Zürcher Privatbank Blankart & Cie. «Mir schien die Schweiz das gegebene Finanzzentrum Europas zu sein, da sie inmitten von vier durch den Krieg mehr oder minder betroffenen Großmächten ihre ökonomische Stabilität bewahrt hatte.»[8] Felix Somary, Erinnerungen eines politischen Meteorologen, München: Matthes & Seitz 1994, S.169. Unter grossem persönlichen Einsatz gelang es ihm, das Vermögen der österreichischen Rothschilds zu retten und in Zürich unterzubringen. Dass die neutrale Schweiz nach einem Weltkrieg als Hort der Stabilität gelten würde, war ihm schon seit längerer Zeit klar. Als er 1908 Ernest Cassel zum ersten Mal in dessen Schweizer Feriendomizil auf der Riederfurka besuchte, um seinen Plan zur Verhinderung eines bewaffneten Konflikts in Europa zu erklären, kam es kurz vor dem Abschied zu einem denkwürdigen Gespräch. Cassel fragte: «Wo würden Sie heute vorziehen, Vermögen zu investieren, in Berlin oder in London?» Somary antwortete: «Wenn mein Plan scheitern sollte, in keinem von beiden. Sie werden sich dann gegenseitig ruinieren.» Hierauf Cassel: «Und wo würden Sie es anlegen?» Somary: «In Amerika oder hier.» Cassel verstand die Welt nicht mehr: «Hier? Ich komme seit vielen Jahren hieher, habe aber dieses kleine Alpenland nie anders als einen Sommeraufenthalt angesehen.» [Felix Somary, Erinnerungen eines politischen Meteorologen, München: Matthes & Seitz 1994, S.90.]

Somary bekam einmal mehr recht. Die Schweiz und die Niederlande stiegen in den 1920er-Jahren zu internationalen Finanzzentren auf, weil sie inmitten von Inflation und politischem Chaos einen sicheren Hafen boten. Richtig lag er auch mit seiner kritischen Analyse der Weltwirtschaft, die er bereits 1926 in einem Vortrag in schroffem Gegensatz zur damaligen Zeitströmung vornahm. Er erkannte bereits damals, dass bald eine grosse Weltwirtschaftskrise ausbrechen würde. Nur wenige liessen sich überzeugen. In den angelsächsischen Ländern trug ihm diese düstere Prognose den abschätzigen Übernamen «The Raven of Zurich» ein.[9] 1928 wiederholte er seine Warnung an einem wissenschaftlichen Kongress in Zürich. Auch damals wollten viele die Fragilität des Aufschwungs noch nicht wahrhaben.

Selbst John Maynard Keynes, den Somary im Juni 1926 in Berlin traf, glaubte ihm nicht. Es komme keine Krise mehr in unserer Zeit, entgegnete er und fragte Somary nach den günstigen Aktien auf dem europäischen Kontinent. Somarys Bilanz der Begegnung mit Keynes ist ernüchternd: «Mir machte der schon damals vielgepriesene Mann einen merkwürdigen Eindruck. Er äußerte sich mir gegenüber geringschätzig über die Wissenschaft der Ökonomie und ihre Lehrer, wobei er ironisch auch sich nicht ausnahm, während er seinen Spekulationssinn mit sichtlichem Stolz hervorhob.»[10]

In den 1920er-Jahren half Somary zweimal der verletzlichen Weimarer Republik, durch die Vermittlung eines Kredits finanzielle Engpässe zu überwinden. Im Dezember 1930 warnte er die britischen Politiker in einem Vortrag in London vor der politischen Radikalisierung in Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg. «Großbritanniens Aufgabe ist es, Deutschland und Frankreich wieder zusammenzuführen. Hat England hiezu nicht den Willen oder die Kraft, so wird die Krise nur Vorspiel einer dunklen Periode werden, der der Geschichtsschreiber künftiger Zeit den Namen geben wird ‹Zwischen zwei Kriegen›.»[11]

Vollkommen verblüffend war Somarys präzise Voraussage, die er im März 1931 im kleinen Kreis im deutschen Finanzministerium in Berlin machte. Unterstaatssekretär Graf Schwerin von Krosigk schrieb später in seinen Erinnerungen, die auf Tagebuchaufzeichnungen beruhten: «Auf die Frage, wie lange die Weltmarktkrise dauern werde, antwortete Somary, es müssten erst drei Ereignisse eintreten, ehe an eine Aufwärtsbewegung zu denken sei: das Bankwesen in Wien und Berlin müsste durch eine Krise saniert werden, das englische Pfund müsse sich vom Golde lösen, der Zündholzkonzern des Schweden Ivar Kreuger müsste zusammenbrechen. Im Frühsommer 1931 krachten die Banken, im Spätsommer wurde das Pfund abgewertet. Als Somary im Frühjahr 1932 erneut in Berlin war, empfing ihn die Frage, ob man wirklich noch auf das dritte Ereignis warten müsse. Somary nahm nichts zurück, gab vielmehr die Versicherung, der Kreuger-Konzern werde in kurzer Zeit am Ende sein. Vier Wochen später erschoss sich Kreuger in Paris.»[12]

Als Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde und wenig später Somarys Freund Hjalmar Schacht in die Regierung eintrat, schrieb er: «Ich kann es nicht verstehen, dass Du in diese Regierung eingetreten bist. Mir ist es klar, dass diese Situation durch eine neue Völkerschlacht bei Leipzig entschieden werden wird, wo sich die Russen mit Engländern, Franzosen und Amerikanern zum gemeinsamen Kampf gegen Deutschland treffen werden – und was wird dann das Schicksal Deutschlands und was das von Europa sein?» Schacht antwortete beschwichtigend, er hoffe, dass sich der Zusammenstoss ausserhalb Deutschlands vollziehen werde.

Unmittelbar vor Kriegsausbruch leistete Somary der Schweiz, seinem neuen Heimatland, dessen Staatsbürgerschaft er 1932 erworben hatte, einen grossen Dienst. Beauftragt von Bundesrat Hermann Obrecht reiste er im März 1939 nach Washington, um der Schweiz die Versorgung mit Rohstoffen und Lebensmitteln zu sichern. Bereits im Mai waren die Verhandlungen abgeschlossen. Obrecht war ihm für die geheime Mission äusserst dankbar. Im Frühjahr 1940 reiste Somary erneut nach Washington, diesmal, um die Lieferungen in die Schweiz sicherzustellen. Im Herbst 1940 reisten seine Schwestern, seine Frau und seine drei kleinen Kinder nach. Von 1941 bis 1943 beriet er das amerikanische Verteidigungsministerium in Finanz- und Währungsfragen.

Im Spätsommer 1945 reiste Somary allein wieder in die Schweiz zurück, während die Familie in Washington blieb, damit die Kinder ihre Schulen zu Ende führen konnten. Er setzte seine Tätigkeit als Bankier fort und äusserte sich weiterhin zu den drängendsten politischen Fragen, zog sich aber immer mehr zurück, vor allem nach dem frühen Tod seiner Frau im Oktober 1949. Sieben Jahre später starb er im Alter von 75Jahren.

IV

Woher hatte Felix Somary die Begabung, politische und wirtschaftliche Krisen frühzeitig zu erfassen? Die Frage lässt sich nicht wirklich beantworten. Als sein Sohn Wolfgang wissen wollte, wie er die Ereignisse so klar und deutlich kommen sehe, antwortete er: «Ich spüre das Kommende in meinen Knochen; es hat nicht allein mit Wissen zu tun. Es meldet sich nicht im Kopf, sondern im Knochenmark.»[13]

Doch es gilt auch das Sprichwort, dass noch nie ein Meister vom Himmel gefallen sei, und so liefert Somarys Lebensgeschichte eine Reihe von Anhaltspunkten, warum er anders als viele seiner Zeitgenossen stets den Blick für das Wesentliche behielt. Natürlich spielte die familiäre Herkunft eine grosse Rolle. Bei den Somarys wurde immer eifrig diskutiert. «Die Eltern haben sich täglich über alles erkundigt, was wir gesehen haben, und mit ihrem weiten Wissen uns vieles mitgeteilt, was uns für das Leben geblieben ist.»[14] Die Atmosphäre zu Hause war äusserst anregend. Die Mutter war eine begabte Pianistin, der Vater ein angesehener Rechtsanwalt. Mit dem Vater unternahm der junge Felix viele Ausflüge in den nahe gelegenen Wiener Wald oder in die Berge, was Gelegenheit zu langen Gesprächen über Politik, Literatur und Geschichte gab.

Das Elternhaus war sehr liberal eingestellt. Der Vater hatte mit allen möglichen und unmöglichen Klienten zu tun, aber bewahrte stets seine Unabhängigkeit und sein Ansehen. Sohn Felix blieb dem väterlichen Grundsatz treu, immer mit Vertretern unterschiedlicher politischer Richtungen im Gespräch zu bleiben. Seine beiden engsten Freunde während des Studiums waren Joseph Schumpeter und Otto Bauer, «von denen der eine der äußersten Rechten und der andere der äußersten Linken angehörte», wie sich Somary erinnert.[15] Später hielt er immer Kontakt zu den sozialistischen Kreisen, obwohl er ihre Ziele ablehnte. Im letzten Abschnitt seiner Memoiren hält er es für unerlässlich, dass die «Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft» geschlossen werde.[16]

Im Sommersemester 1928 hielt er an der Universität Heidelberg eine Vortragsreihe über die «Wandlungen der Weltwirtschaft seit dem Kriege».[17] Anschliessend trafen sich interessierte Zuhörer zu einem gemeinsamen Abendessen und einer Diskussion. Auch hier zeigte sich Somarys Fähigkeit zum respektvollen Umgang mit Vertretern anderer ideologischer Richtungen: «Zum erstenmal trafen sich in diesen Abendaussprachen Mitglieder der verschiedensten Parteien – von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken –, zur allgemeinen Überraschung der Fakultät, aber ohne dass es je zu einem Konflikt gekommen wäre, obwohl schon mein Einleitungsvortrag über den Wandel des Liberalismus und des Sozialismus sie alle hätte vor den Kopf stoßen müssen.»[18]

Der regelmässige Austausch mit Andersdenkenden bewahrte Somary davor, engstirnig zu werden. Seine Grundüberzeugungen, die auf dem Liberalismus des 19.Jahrhunderts fussten, kamen aber deswegen nichts in Wanken. Er stand ein für den Schutz des Privateigentums, das Einhalten der Verträge, einen ausgleichenden Staat und eine freie Wirtschaft, er lehnte Nationalismus und Sozialismus gleichermassen ab. Als grösste Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden sah er die Inflation an, weswegen er den Aufstieg des Keynesianismus nach dem Zweiten Weltkrieg mit grosser Sorge beobachtete. Die Vorstellung, dass eine Feinsteuerung der Konjunktur mittels geeigneter Geld- und Finanzpolitik möglich sei, hielt er für gefährlich.

Ebenso prägend wie die familiäre Herkunft war die hervorragende Ausbildung, die er im Wien der Jahrhundertwende erhielt. Das von den Benediktinern geführte Schottengymnasium, das er bis zu seinem 17.Lebensjahr besuchte, galt wie das jesuitische Wiener Theresianum als eine der besten Schulen im deutschsprachigen Raum. Die Wiener Universität hatte Weltruf, insbesondere die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät: Mit Carl Menger und dessen Schülern Eugen Böhm von Bawerk und Friedrich Wieser waren um die Jahrhundertwende alle wichtigen Vertreter der bahnbrechenden Grenznutzenlehre an der Universität Wien tätig.[19]

Durch die universitäre Ausbildung erlangte Somary nicht nur eine hohe fachliche Kompetenz in Ökonomie und Jurisprudenz, sondern durchlief auch eine gründliche Schulung im historischen Denken. Entscheidende Anstösse hatte bereits der Vater gegeben, aber im Studium hatte die Rechts- und Wirtschaftsgeschichte einen hohen Stellenwert. Im bereits zitierten Brief von 1922 schrieb Burckhardt: «Er hat sehr große und sehr originelle historische Kenntnisse. Er hat Konversation aus einem phantasiereichen Gedächtnis heraus. Wenn er von Kardinal Consalvi oder von Attila I. spricht, so ist es immer, wie wenn er mit ihnen in der größten Intimität längere Zeit gelebt hätte. ‹Geflunker› sagen die Leute, aber diese Intimität besteht wirklich auf eine mysteriöse Weise (…)»[20] Die langfristige Perspektive, die er durch seine Lektüre beständig erweiterte, half Somary, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Er erkannte insbesondere, von welchen Interessen die grossen Nationen geleitet waren und welche Kompromisse sie eingehen konnten, ohne das Gesicht zu verlieren. Gerade in der Balkanpolitik vor dem Ersten Weltkrieg war es von entscheidender Bedeutung zu wissen, wie sich Österreich-Ungarn, Russland und das Osmanische Reich in den vergangenen Jahrhunderten zueinander verhalten hatten.

Ein drittes Element, das zu seinem sicheren Urteil beitrug, war die praktische Banktätigkeit. Somary kannte die Welt der Wirtschaft und Politik nicht nur aus den Büchern, sondern war tagtäglich damit konfrontiert, wenn er Kredite vergab, Anleihen zeichnete oder Aktien abstiess. Die Tätigkeit bei der Anglobank mit ihrer Verbindung zur Londoner City und den unterschiedlichen Kreditnehmern in Osteuropa zwang ihn stets, mehrere Faktoren gleichzeitig zu beachten und Entscheidungen inmitten von grosser Unsicherheit zu treffen. Aufgrund dieser Erfahrung machte er sich keine Illusionen über die Rationalität menschlichen Verhaltens. Es war ihm klar, dass Aktien- und Anleihenkurse kurzfristig von Stimmungen getrieben waren und nicht als objektives Abbild aller verfügbaren Informationen interpretiert werden durften. Er lehrte früh, dass unberechenbare politische Parameter von entscheidender Bedeutung waren.

Dank seiner Bankpraxis beging Somary vor allem nie den Fehler, den Finanzsektor aus den makroökonomischen Betrachtungen auszuschliessen, wie es viele Ökonomen vor der jüngsten Finanzkrise getan haben. 1915 publizierte er das Lehrbuch Bankpolitik, das in der damaligen Zeit ein völlig neues Feld eröffnete.[21] Seine Analyse von 1926, dass der Aufschwung auf tönernen Füssen stand und bald von einer grossen Krise abgelöst werden würde, fusste auf der Kenntnis der internationalen Kreditbeziehungen. Es brauchte keine Intuition, um zu erkennen, dass der Boom nicht lange tragen würde. Für einen Bankier war es selbstverständlich, dass die Verschuldungsquoten von Banken, Unternehmen, Staaten und privaten Haushalten entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Konjunktur haben. Volkswirtschaftliche Wachstumsraten alleine sind unzuverlässige Indikatoren.

Die Berücksichtigung der Verschuldungsverhältnisse veranlasste ihn auch, die richtige Diagnose in Bezug auf die Krisenüberwindung vorzunehmen. In seinem Büchlein Krisenwende?, das 1932 beim renommierten S.Fischer Verlag erschien und auf grosse Resonanz stiess, schrieb er, dass die Krise nur durch eine markante Reduktion der internationalen Schulden überwunden werden könne. So kam es dann auch. Erst als die Vereinigten Staaten und die New Yorker Gläubigerbanken bereit waren, den europäischen Schuldnern entgegenzukommen, war der Weg frei für die Erholung der Wirtschaft. «Ja, es ist Bankrott, kein Zweifel. Aber sagen wir besser: es ist auch Schluss des Bankrotts; denn was heute sich abspielt, ist nur ein Konkurs ohne Ende. (…). Will man Vertrauen schaffen, gehortetes Geld in die Wirtschaft zurückbringen, die internationalen Kreditbeziehungen wiederherstellen, so muss man endlich die Wahrheit sagen.»[22]

Gerade dieser letzte Punkt machen Somarys Analysen heute wieder äusserst relevant. Nur wenn die europäischen Politiker sich eingestehen, dass viele Kredite abgeschrieben werden müssen, wird sich die Wirtschaft erholen können. Seit 2010 sind die internationalen Kapitalflüsse in die südeuropäischen Länder versiegt, und ohne die Europäische Zentralbank (EZB) wären viele europäische Geschäftsbanken längst bankrott. Zur Wiederherstellung des Kapitalflusses braucht es umfangreiche Abschreibungen. Es braucht den Mut zum Schuldenschnitt – wie in den 1930er-Jahren.

Seine Ausführungen zur Krisenwende schloss Somary mit folgenden Worten: «Viel wird der Krise zum Opfer bleiben, am schwersten wird die Neuaufrichtung der internationalen Kreditorganisation werden. Aber die Aufgaben werden gemeistert werden, wenn einmal das Vertrauen wiederhergestellt ist; dafür aber ist die erste und allerwichtigste Vorbedingung, dass man die Probleme nicht fortschiebt, sondern anpackt und löst. Man mache nicht das Fehlen politischer Voraussetzungen verantwortlich für den Mangel an Führungspersönlichkeiten und an volkswirtschaftlicher Kenntnis. Kapital und Kredit für Neuaufbau ist zur Genüge da, nur wartend auf Gesundung von Staats- und Privatwirtschaft. Die Operation, die dazu nötig ist, ist nicht neu, sie ist nur seit Großväterzeit in Europa nicht mehr durchgeführt worden, und darum scheuen unsere allmächtigen Herren Routiniers davor zurück und warten auf ein Wunder.»[23]

Diese Zeilen wurden vor 80Jahren geschrieben, aber könnten nicht aktueller sein. Felix Somary war nicht nur ein aussergewöhnlicher Mensch in einer aussergewöhnlichen Zeit, sondern verdient es auch, als unbestechlicher Beobachter des Weltgeschehens von den Nachgeborenen in Erinnerung behalten zu werden. Er ist für uns bis heute ein inspirierender Beobachter und Denker.

FELIX SOMARY

Erinnerungen eines politischen Meteorologen

VORWORT

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1956 sagte mein Vater: «Du wirst das Ende des Kommunismus erleben; er ist nur Episode. Die grösseren Krankheiten des Jahrhunderts sind aber der Nationalismus auf der einen, die kulturelle Gleichschaltung auf der anderen Seite.» Worauf ein russischer Emigrant und Journalist entgegnete: «Aber ausgerechnet der Nationalismus bietet dem Kommunismus Einhalt.» Darauf mein Vater: «Der Kommunismus stirbt auch ohne solche Hilfe; und fünf Minuten später geht der Kapitalismus ebenfalls dem Ende entgegen.» «Was folgt darauf?», wurde gefragt. «Wir werden uns irgendwo in der Mitte die Hand reichen.» Sind wir uns dessen bewusst oder glauben wir noch, Glückskinder der zweiten Jahrhunderthälfte, unser Denksystem habe den Sieg davongetragen und wir hätten nichts zu lernen?

Felix Somary war ein Staatsmann, der sich frei von parteipolitischen Schranken bewegte. Auf meine Frage, wie er die Ereignisse so klar und deutlich kommen sehe, antwortete er: «Ich spüre das Kommende in meinen Knochen; es hat nicht allein mit Wissen zu tun. Es meldet sich nicht im Kopf, sondern im Knochenmark.» Als vorzüglicher Kenner von Revolutionen und von Bürgerkriegen, von Wirtschaftszyklen und von ideologischen und religiösen Umwälzungen mit ihrer Dynamik, waren seine Voraussagen, die Reihenfolge von deren Ablauf, die kühle Konsequenz seiner Schlussfolgerungen und Handlung unheimlich präzis und machten ihn als Ratgeber begehrt, aber persönlich nicht immer beliebt. Klarsicht zu erlangen und zu vermitteln war seine Aufgabe; in diesem Sinn wirkte er als Prophet, freilich auf Kosten aller persönlichen Interessen als Bankier. Die Wahlverwandtschaft umschloss Tocqueville und Ibn Khaldoun, Jacob Burckhardt und Swift sowie die internationalen Staatsmänner früherer Jahrhunderte; seine Leitbilder waren Jeremias und Johannes der Täufer: Stimmen in der Wüste. Auf dem Arbeitstisch lag Plutarchs Moralia, ausführliches Kompendium praktischer Verhaltensnormen Alt-Griechenlands und Roms. Hirt, Schafhund und Leithammel standen ihm nah; wie der umsichtige Herrscher Harun al Raschid schätzte er die Meinungsbildung auf der Marktgasse höher als die Pandorabüchse der Experten.

Mit seinem scharfen Sinn für die Wertung historischer Ereignisse betrachtete er seinen Beruf als priesterliches Amt: kulturelle und finanzielle Werterhaltung, um sich die Freiheit für höhere Aufgaben leisten zu können, vor allem die Freiheit, Machthabern entgegenzutreten. Aus Unaufmerksamkeit Geld fallen zu lassen oder mit Kredit zu spekulieren hielt er für unverzeihlich; von Milliarden zu sprechen wirklichkeitsfremd. Schweigend vertrat er die Einsicht: Geld sei durch den Geist zu weihen, die Entfaltung des Geistes durch Geld zu ermöglichen.

Als Wegweiser für junge Studenten war er in seinem Element. Sie kamen zu ihm, nicht um ein Stück Zukunft zu erhaschen, sondern um, dank ihrer unvoreingenommenen Aufnahmefähigkeit, Feuer zu zünden. Möge in diesem Sinn dieses Buch ebenfalls als Wegweiser dienen.

In dieser Neuauflage wurden Teile vom Originalmanuskript eingeflochten, die bisher nicht veröffentlicht wurden. Der Ablauf diplomatischer Schonfristen, das zunehmende Interesse für psychologische Hintergründe, die sich in brisanten Begebenheiten und Verhaltensweisen widerspiegeln, und auch die Offenbarung persönlicher Gefühle, die heute nicht nur zugelassen, sondern auch gefordert werden, billigen dem Leser mehr Einsicht zu als vor 35Jahren. Darüber hinaus gewinnen gewisse Themen wieder an Aktualität: etwa die Nationalitätenfrage Zentraleuropas, die Vereinbarung regionaler Unionen, die Wiederherstellung des Kredites wirtschaftlich benachteiligter Länder sowie lauernde Gefahren im internationalen Bankwesen.

Das unvollendete Manuskript lag offen auf der Seite, beginnend: «Warum bleibst Du noch aktiv im Leben», als Felix Somary starb. Das erklärt die zeitweise fragmentarische Wirkung einiger Kapitel. Nichtsdestoweniger hat dieses Buch in seinen vier Auflagen eine erstaunlich breite Leserschaft erreicht und des Öfteren auch beeinflusst. Viele fanden darin die kraftvolle Vermittlung eines kostbaren immateriellen Gutes: die Erwachung zur eigenen Geschichte.

Zürich, am 1.November 1993

Wolfgang Somary

VORREDE

Die Geschehnisse der letzten fünf Dezennien werden wohl die Welt noch in fernen Jahren beeinflußen, sehr lange, nachdem der letzte aktive Zeitgenosse verschwunden sein wird. Eine historische Wende vollzog sich in unglaublicher Schnelligkeit. Der erdbeherrschende Kontinent wurde zum Glacis. Auf engem Raume zusammengepreßt, blicken die Nachkommen der Weltentdecker und -eroberer hilfesuchend über den Ozean, da ihnen selbst die Kraft zur eigenen Verteidigung fehlt. Schon erstrebt eine ostasiatische Nation, zu deren Beherrschung bei Beginn der Periode der Einmarsch von wenigen Schiffsmannschaften genügt hatte, selbst auf innere Fragen Europas Einfluß zu üben.

Mit jäher Schnelligkeit vollzieht sich das Schicksal. Die gleiche Parole, die den Osten organisiert, droht den Westen zu zersplittern. Für Gibbon und Condorcet schien die europäische Kultur für die Ewigkeit vor Barbareneinfällen gesichert. Wie rasch ist diese Illusion verflogen!

Große Reiche und ihre Zivilisationen sind gefallen. Oft treffen wir in der Geschichte den Übergang von Frieden zu Krieg, von ökonomischen zu politischen Zeiten. Aber noch nie hat eine Umwälzung so weltweite Folgen gehabt.

So gewiß die Menschheit dieser Periode noch lange gedenken wird, es wird sich daran wohl kaum die Erinnerung an mehrere oder selbst an eine Persönlichkeit knüpfen. Wie die Schrift einer Kugelfeder, so sind schon heute die führenden Namen dieser Ära verlöscht. Von den beiden Tyrannen, um die noch vor kurzem das Schicksal der Erde zu kreisen schien, kennen wir nicht einmal das wirkliche Ende, und es interessiert sich auch niemand dafür. Fast scheint es, daß diese gigantische Umwälzung Elementar- und nicht Menschenwerk war.

Nicht einem einzigen Staatsmann war in diesem Zeitraum Lebenserfolg beschieden. Wer von ihnen hatte wohl bei seinem Abgang sein Land so stark zurückgelassen, wie er es bei seinem Eintritt vorgefunden hatte? Ein paar Abenteurer schienen Ausnahmen zu sein; ihnen gelangen erstaunliche Anfangserfolge, aber die Rückschläge waren dann um so härter. Das ganze Leben der Diktatoren des Ostens wie des Westens erschöpfte sich im Kampf um die Wahrung ihrer persönlichen Position. Aber auch der konservative Staatsmann war ohne Unterbrechung in Verteidigungsstellung – für sein Land, die Gesellschaft und die Grundlage der Wirtschaftsorganisation und permanente Defensive zermürbt. Kaum je war die Distanz zwischen den offiziellen Nekrologen und der Wirklichkeit so groß. Das Wagnersche Wort «Müh ohne Zweck» kann als Devise für die Politik einer Zeit gelten, die in der Zerstörung viel leistete, im Aufbau aber versagte.

Will nun hier ein verbitterter Mensch die Mißerfolge seines Lebens auf die Zeitumstände zurückführen? Will nicht jede Autobiographie eines Mannes, der an Staatsgeschäften regsten Anteil genommen hat, Rechtfertigung sein?

Nichts von beidem würde für den Autor dieses Buches zutreffen. Sein Schicksal war ungewöhnlich; denn es war ihm bestimmt, an den wichtigsten Wendepunkten dieser Zeit von verschiedenen Staaten herangezogen zu werden – von zwei Kaiserreichen und zwei Demokratien, als «Fachmann für Krieg und Krise», wie ihn die Amerikaner nannten –, und gerade diese beiden beherrschten die ganze Periode. Er übersprang jeweils alle Ränge der Diplomatie und Bürokratie, agierte im entscheidenden Moment und verschwand aus dem politischen Feld ebenso schnell, wie er gekommen war.

Die Welt hat ihn sehr verschieden beurteilt. Man gab ihm den Spitznamen des «Ahnherren», weil er wie die Grillparzersche Ahnfrau stets erscheine, wenn Unheil drohe; er könne nicht in der Gegenwart, nur in der Zukunft leben, verdüstere durch seine Voraussagen den andern das Dasein und führe gerade durch die Exaktheit seiner Prophezeiungen das Unheil herbei, das er abwenden wolle. Sein Ultrapessimismus lasse den Lebensmut einfrieren. Dabei bleibe er, um sich vor Verantwortung zu drücken, geflissentlich im Hintergrund.

Warum, sagten einige, mische er sich fortwährend in die Angelegenheiten anderer, die ihn gar nichts angingen, sogar in die heikelsten Belange fremder Staaten, ohne von irgendeiner Partei beauftragt zu sein. Er könne doch seine Positionen nicht ohne stärkste Einflüße erlangt haben, aber niemand wisse, wer hinter ihm stünde. Auch hätte er in die delikatesten Fragen von Staaten eingegriffen, zu deren Bürgern er gar nicht gehört habe, ein Kuriosum in einer Periode des extremen Nationalismus.

Wieder andere tadelten an ihm den Dünkel, über der Zeit stehen zu wollen, mit den Völkergeschicken zu spielen, ohne tiefe eigene Überzeugung – Gourmet des Lebens, «der einzig Glückliche der Abendrunde».

Vermutlich liegt in jedem dieser Urteile ein Gran Wahrheit, aber kaum mehr; denn sonst könnten sie sich nicht so sehr widersprechen. Staatsmann und Gourmet – der Epikureer soll sich ja bekanntlich von Politik fernhalten.

Geben wir jetzt dem so vielfach kritisierten Mann das Wort zur Eigencharakteristik.

Die großen Katastrophen meiner Zeit haben mich nicht überrascht. Da ich ihre beiden extremsten politischen Richtungen, Nationalismus und Kommunismus, ablehnte, konnte ich ruhiger urteilen als meine Umgebung.

Die Bedeutung von Macht und Geld auf dieser Erde war mir bekannt. Ich habe keines von beiden um seiner selbst willen angestrebt, da mir der Preis hiefür zu hoch schien. Politische Funktionen habe ich nur für Augenblicke, zur Durchführung einer begrenzten Aufgabe, übernommen und sie sofort danach aufgegeben. Nie ließ ich mich zu Kompromissen zwingen.

Dank dieser Haltung habe ich keine Erinnerungen, die mich stören.

Meine Tätigkeit als Bankier sollte mir die volle Unabhängigkeit sichern. Daneben bot es mir Befriedigung, meine Freunde über Krieg und Krise heil hinwegzuführen. Diese Beschäftigung war mir nur Mittel, nie Zweck. Das haben nur sehr wenige verstanden.

Denn Unabhängigkeit wurde eine Rarität in diesen Tagen. Noch in meiner Jugendzeit saßen im Zuschauerraum des politischen Theaters viele, die sich ihre Plätze gekauft hatten; aber sie wurden immer mehr verdrängt durch die Claque des Siegers, die nicht das Verdienst mit reifem Urteil würdigte, sondern dem Mann auf der Bühne applaudierte, der sie bezahlte. An diesem Jubel nicht teilzunehmen, beginnt schon gefährlich zu werden.

Mich schreckt es nicht, alleinzustehen, da ich daran gewöhnt bin wie jeder, der Gefahren voraussieht, die die träge Menge nicht wahrhaben will. Wie gut verstehe ich des großen jüdischen Propheten Bitte zu Gott, ihm die Fähigkeit der Weissagung zu nehmen. Das Gefühl der Isolierung gerade im Augenblick klarster Voraussicht ist nicht leicht zu ertragen. Über Depressionen in solchen Lebensmomenten half mir ein hohes Glück hinweg. Wie in den Jugendjahren die Eltern, so umgaben mich später meine so früh dahingegangene Frau und meine beiden Schwestern mit nie versiegender Liebe. Keinen höheren Segen kann ich meinen Kindern spenden als den eines gleichen Glückes in ihrer Familie.

Wer diese Sturmzeit durchlebt hat, dem fällt es schwer, an Kinder und Enkel ohne tiefe Sorge zu denken. Vor zweieinhalb Jahrzehnten, in ähnlich kritischer Zeit wie der heutigen, fragte bei einem Symposium in meinem Haus am Sonnenberg in Zürich einer meiner Freunde. «Wer wird der Boethius sein, der unserm Europa das Abendlied singt?» Hugo von Hofmannsthal war durch diese Frage innerlich tief betroffen und wollte für einige Zeit nach Ravenna gehen, um dort ein Buch zu schreiben, dem er den Titel gab: Das letzte Europäische Haus. Er kam nicht mehr dazu, seine Absicht zu verwirklichen. Er sah wohl damals – am Vorabend der Krise – um einen Grad zu düster. Ein gutes Stück meines Lebens habe ich dafür verwendet, das «Europäische Haus» zu verteidigen:

Wie kämpfte ich, um den Ausbruch des ersten Weltkrieges zu verhindern, mit dem der Brudermord auf unserem Kontinent begann, und wie nahe war ich dem Erfolg. Gemeinsam mit einem großen Freund focht ich gegen die Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges, der einen wirklichen Friedensschluß unmöglich machte.

Zu zwei Malen half ich dann der deutschen Republik durch finanzielle Stützung in schwersten Augenblicken, im Zeitraum zwischen der Wertlosigkeit der Währung und der Durchsetzung des Dawesplanes und während der Verhandlungen über den Youngplan. Meine Warnrufe vor dem Kommen der Krise zu Ende des zweiten Jahrzehnts waren frühzeitig und nachdrücklich. Das Kommen Hitlers – als Folge dieser Krise – und damit des zweiten Weltkrieges hatte ich England vor allen andern in die Ohren gerufen. Die wirtschaftlichen Kriegsverträge zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten habe ich sechs Monate vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges abgeschlossen. In seinem Verlauf und nach seiner Beendigung habe ich von Washington aus geholfen, zur Entgiftung der Lage beizutragen; und ich bemühe mich im gegenwärtigen Augenblick, Amerika die Gefahren der Inflationspest vor Augen zu führen, die die Grundlagen der westlichen Wirtschaft und die Verteidigungskraft gegen den Osten zu zerstören droht.

Der Voraussicht und den Anstrengungen entsprachen die Resultate nicht immer. Unheil wurde öfter aufgeschoben als verhindert.

Durch all diese scheinbar so verschiedenen Aktionen geht eine gemeinsame Grundidee: der Kampf gegen die Auflösung der europäischen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsorganisation. Er ist furchtbar schwer; denn wir leben im fünften Akt der Französischen Revolution. Aber er kann noch gewonnen werden.

Zürich, 1955

Felix Somary

DIE JUGENDJAHRE

Ich kam in Wien am 20.November 1881 zur Welt als Sohn des Hof- und Gerichtsadvokaten Dr.Simon Somary und seiner Frau Fanny. Ich war ihr sechstes Kind – die vier älteren waren an der damals unheilbaren Diphtherie gestorben; das fünfte, meine Schwester Ella, und später das siebente, meine Schwester Paula, blieben mit mir zeitlebens in innigster Freundschaft verbunden. Sie hatten von unseren Eltern gelernt, was Familie wirklich bedeuten kann. Die Selbstverständlichkeit, in jedem der Wechselfälle des Schicksals zuerst an den andern und dann erst an sich zu denken, ist etwas der echten Familie Eigentümliches. Wohl dem, dem dieses durch nichts zu ersetzende Lebensglück zuteil wird.

Advokaturbüro und Wohnung waren damals zumeist verbunden. Der Anteil der Familienmitglieder am Berufsleben des Vaters und derjenige des Vaters am Leben und den Studien der Kinder, der Zusammenhalt der Familie war ungleich stärker als in den Großstädten der Gegenwart. Schon als kleine Kinder lernten wir die Achtung vor dem Beruf des Vaters, wenn unsere Mutter den Finger auf den Mund legte, um uns zur Ruhe zu mahnen, weil im Nebenzimmer Klienten verhandelt oder der Vater in seiner Arbeit nicht gestört werden sollte. Uns war die Tätigkeit des Vaters fast etwas Heiliges, und wir hielten den Begriff des «Berufes» so hoch, daß später das Wort «job» uns als Beleidigung zurückstieß.

«Die innere Stadt», das erste, noch bis zum dritten Viertel des 19.Jahrhunderts vom Glacis umgebene Zentrum Wiens, hatte in meiner Kinderzeit kaum sechzigtausend Einwohner; aber sie umfaßte die Gebäude der Zentralregierung des großen Reiches, die höheren Gerichte, die Universität und die führenden Kunstinstitute. Alles außerhalb des Zentrums hieß «Vorstadt», was ungefähr soviel wie Provinz bedeutete. Von einzelnen Villenvierteln abgesehen, war die «Vorstadt» der Sitz von Handel und Industrie und die Wohnstätte der Arbeiterschaft. Kunst, Wissenschaft, Intelligenzberufe und Bürokratie waren im Zentrum organisiert. Fast ein Viertel des Areals nahm die Kaiserburg mit ihren Höfen, Gärten und großen Kunsthallen ein. Als wir Kinder waren, waren der Vorplatz der Burg und der anschließende Volksgarten unsere Lieblingsspielplätze. Noch ehe ich das zehnte Lebensjahr erreichte, wurde meiner Schwestern und mein Interesse an dem rege, was die andern Bauten enthielten.

Das Areal der Hofburg umfaßte eine Reihe von Anstalten der Kunst und Wissenschaft, die in der Höhe ihres Kunstwertes, ihrer historischen Bedeutung oder der Qualität ihrer Leistungen kaum irgendwo auf Erden ihresgleichen hatten. Da war die Schatzkammer mit der Krone des Heiligen Römischen Reiches. Links weiter die Hofkapelle, in der am Sonntag die schönste Kirchenmusik ertönte, die mir noch heute in den Ohren klingt. Weiter die Spanische Hofreitschule, die wohl zu den Kunstinstituten gezählt werden mochte; denn hier war ein Sport zur Kunst ausgebildet worden. Am daran anschließenden Josefsplatz steht Fischer von Erlachs Meisterwerk, das großartige Bibliotheksgebäude mit dem wunderbaren Büchersaal und der gewählten Bücherei. Weiter die Albertina, die einzigartige Handzeichnungs- und Kupferstichsammlung; den Abschluß bildete das Opernhaus, das damals unter Hans Richters, dem Mitarbeiter von Richard Wagner, und sodann unter Gustav Mahlers Leitung Aufführungen von beispielloser Schönheit bot. Am südlichen Flügel des Areals waren die kunst- und naturwissenschaftlichen Sammlungen, am Westflügel das Schauspielhaus, das Burgtheater, dessen Shakespeare-Aufführungen zwei Generationen unvergeßlich geblieben sind. Von unserem zehnten Jahr an waren wir drei Geschwister mindestens dreimal in der Woche «angestellt», das heißt auf einem Stehplatz in einem der beiden Theater, und sahen die Meisterwerke aller Nationen in hervorragendsten Aufführungen an uns vorbeiziehen. Nie wieder habe ich ein begeisterteres, aber auch kritischeres Publikum gefunden.

Uns schienen all diese wundersamen Einrichtungen zu gehören, denn sie waren in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung. Überall hatten uns unsere Eltern erst eingeführt und dann unsere Aufmerksamkeit frühzeitig auf das Wesentliche gelenkt. Dank ihrer Intervention wurde uns in der Albertina selbst Dürers «Grüne Passion» im Original und nicht, wie den andern Besuchern, in der Kopie gezeigt. «Wenn man dies sehen darf, sollte man eigentlich niederknien», sagte mein Vater mir dabei – und wir lernten früh die Qualität würdigen. Wir konnten all dies Herrliche aus dem vollen genießen, an den meisten Orten fast allein – denn mit Ausnahme des Theaters kümmerten sich die Wiener wenig um die wunderbaren Schätze, die sie so mühelos hätten genießen können.

Die Eltern haben sich täglich über alles erkundigt, was wir gesehen haben, und mit ihrem weiten Wissen uns vieles mitgeteilt, was uns für das Leben geblieben ist. Im Frühling und Herbst machte ich am Sonntag mit meinem Vater Ausflüge in den Wiener Wald und manchmal in die Alpen. Es war die Zeit des sommerlichen Bergsteigens, und mein Vater liebte es leidenschaftlich; «kann keinen Berg sehen, ohne hinaufzuklettern», lächelte meine eher seßhafte Mutter liebevoll. Die Berge, durch so viele Jahrhunderte der Schrecken der Wanderer, waren seit nicht länger als zwei Menschenaltern zum größten Sommer- und Sportvergnügen geworden.

Wie kurz war doch diese Periode der Alpinistik! Sie dauerte im Grunde kaum zwei Generationen; denn schon um 1900 begann der Skisport – in Lilienfeld bei Wien, von Zdarsky zuerst aus Norwegen gebracht. Damit traten die sommerlichen Bergfreuden in den Hintergrund. Mir pochte das Herz, wenn der Vater mit strahlendem Gesicht am Samstagnachmittag mir zurief: «Wir gehen auf die Rax!»

Fünfzig Jahre später sah ich junge amerikanische Soldaten, auf Urlaub nach dem zweiten Weltkrieg, am Urnersee gleichgültig vorbeifahren, ohne auch nur einen Blick hinauszuwerfen.

Die Ferienzeit verbrachten wir in meiner frühesten Kindheit in der unmittelbaren Umgebung von Wien und später im Salzkammergut, dem seen- und waldreichen Teil von Oberösterreich. Gerichtsferien gab es damals noch nicht, und unser Vater kam nur am Wochenende zu uns mit dem Spätnachmittagszug am Samstag von Wien mit Ankunft gegen Mitternacht. In der Nacht vom Sonntag kehrte er nach Wien zurück. Schlafwagen gab es nur auf den internationalen Strecken, und sie galten als Luxus. Der Luxus aber war nur für wenige Festtage reserviert.

In der kommunistischen Literatur unserer Zeit erscheint der Bürger regelmäßig als Ausbeuter, als Müßiggänger mit der einzigen Tätigkeit, «Coupons abzuschneiden» (was ich in Wirklichkeit einen Privatmann niemals habe tun sehen); der übrigen Welt gilt der Österreicher als Bonvivant, der an nichts anderes als an Essen denkt; vollends das Zeitalter Franz Josephs wird unter dem Einfluß Hollywoods als «Schlaraffenzeit» angesehen, in welcher der Bürger seine Jugend im Tanzsaal, seine Lebensmitte im Kaffeehaus und seinen Lebensabend beim Heurigen verbracht habe, während die Mädchen und Frauen bis ins höchste Alter aus permanenter Verliebtheit nicht herausgekommen seien. Wie lächerlich oder infam sind diese so oft wiederholten Märchen.

Man hat heute vergessen, daß die Theorie vom Arbeitswert vom Bürgertum ausging und daß für dieses – im Gegensatz zu den Industriearbeitern – die zeitliche Unbegrenztheit der Arbeit charakteristisch war.

«Winkt der Sterne Licht,

ledig seiner Pflicht

Hört der Bursch die Vesper schlagen –

Meister muß sich immer plagen!»

Und das war auch zwei Generationen nach Schiller wahr. Für den Bürger gab es keine Arbeitsbegrenzung. Wie oft hat unser Vater nach dem Abendessen gearbeitet – wie lange, das haben wir Kinder merken können, wenn sich unsere Eltern über die Betten beugten; und wenn es auch Mitternacht und später wurde, stets waren Vater und Mutter wieder wach, uns um sieben Uhr früh zu wecken.

Der Lebensstil war von äußerster Einfachheit: Zum Frühstück gab es Milchkaffee und ein Stück Gebäck; zu Mittag an fünf Wochentagen Suppe, Rindfleisch und Gemüse, manchmal Mehlspeise auf Wienerart; nachmittags Kaffee und abends Butterbrot (Schwarzbrot) und Obst. Braten gab es nur am Sonntag. Als Getränk diente das ausgezeichnete Wiener Quellwasser. Ich habe meine Eltern ein einziges Mal Wein trinken sehen, am Tage der silbernen Hochzeit.

Meine Mutter besaß ein ungewöhnliches musikalisches Talent, und ihr Klavierspiel hatte die hohe Aufmerksamkeit von Anton Rubinstein erregt. Unter ihrem Einfluß lernte meine Schwester Ella und wurde besonders ausgebildet in der Meisterklasse von Leschetitzky. Meine Schwester Paula debütierte mit fünfzehn Jahren am Deutschen Volkstheater in Wien und spielte später mit großem Erfolg in Berlin am Königlichen Schauspielhaus und am Lessingtheater in einem reichen Repertoire.

Ich bezog nach Beendigung der vier Volksschulklassen – die fünfte wurde mir erlassen – das Schottengymnasium in Wien, eine mit Recht sehr berühmte Lehranstalt der Benediktiner, die als das beste österreichische Gymnasium galt. Der Lehrplan war weit gestreckt; auf Latein, Griechisch, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften wurde besonderes Gewicht gelegt. Wir haben teils in der Schule, teils zu Hause so gut wie alle römischen und griechischen Klassiker gelesen und in der Germanistik die mittelhochdeutsche Literatur durchgenommen. Die Ergänzung für die englische, französische und spanische Literatur leisteten das Burgtheater und das Volkstheater.

Da ich meinen Eltern finanziell nicht ganz zur Last fallen wollte, gab ich von meinem vierzehnten Jahr an Nachhilfeunterricht in Griechisch, Mathematik und Geschichte – so daß ich jetzt auf sechzig Arbeitsjahre zurückblicken kann. Die Studenten hatte ich, wie es damals üblich war, in ihrem Heim aufzusuchen. Dieser Unterricht fand an den beiden freien Nachmittagen – Mittwoch und Samstag – statt. Mein Honorar von einer Krone für die Stunde (gleich einem Schweizer Franken, aber mit mehrfacher Kaufkraft) war bescheiden; aber auch das Schulgeld war niedrig.

In der inneren Stadt in Wien gab es damals außer einigen wenigen Pferdeomnibuswagen und den außerordentlich teuren Fiakern kein Beförderungsmittel. Der reguläre Verkehr vollzog sich zu Fuß, auch für die rasche Nachrichtenübermittlung. Erst während meiner Gymnasialzeit wurde das Telephon eingeführt; als ich nahe vor dem Abschluß stand, kamen einzelne Linien der elektrischen Trams und die ersten Velos. Die Häuser, vier- bis fünfstöckig, hatten keine Aufzüge. Ich bin täglich mindestens 12Kilometer zu Fuß und zahllose Male treppauf und treppab gewandelt, eine weit gesündere Übung als der oft zwecklos konzentrierte Sport. Der damalige Schulsport beschränkte sich auf Turnen, Schwimmen, Fußball, Schlittschuhlauf und etwas Tennis. Dazu kam vom Frühjahr an die Alpinistik – der Skisport fiel erst in meine Universitätszeit. Reiten, Fechten und Jagen waren de facto dem Adel und dem Reichtum Vorbehalten und wurden in diesen Kreisen mit Liebe und Begabung gepflegt. Da ich nach dreistündiger täglicher Bewegung abends meist ebensolange im Theater stand, hatte ich nicht eigentlich eine «sitzende Lebensweise». Das Gehen war uns viel natürlicher, das Fahren eine Ausnahme. Wir kamen nicht so weit wie in der Zeit des Autos, aber wir sahen mehr. Die Augen schärften sich und sahen tiefer. Ich kann auch heute vielstündig wandern und ohne Brille lesen.

Mein Vater nahm an all meinen Studien Anteil, soweit es seine Zeit erlaubte, und durch ihn wurden mir Geschichte und die alten Klassiker lebendig. Noch erinnere ich mich an seine einzigartigen Erläuterungen zu Catilina; und wenn ich heute mit dem Wagen bei Terni vorbeikomme, fahre ich gern nach Amelia hinauf, um dort in der herrlichen Landschaft an Ciceros Verteidigung des Roscius Amerinus und an den Kommentar meines Vaters zu denken. Wie wenige Studenten verstehen dieses Buch. Die meisten plagen sich gelangweilt mit den Vokabeln. Ich sprach beim Abendessen zu Hause von Ciceros Worten: «Wenn mein Klient verurteilt wird, wäre es besser, zu den wilden Bestien zu gehen, als in diesem Sumpf des Romulus weiterzuleben», und bezeichnete sie als unerträgliche Phrase. Da antwortete mir mein Vater: «Weißt du auch, um was es sich gehandelt hat? Als Sulla die Proskriptionen der Demokratenpartei vornahm und jedem Denunzianten die Güter seines Gegners zugesprochen werden konnten, ermordete einer seiner Anhänger einen Grundbesitzer in Amelia und denunzierte dessen eigenen Sohn als Täter; und ohne Ciceros Verteidigung wäre der unschuldige Sohn verurteilt worden. Nichts in den Worten ist übertrieben; die Sprache war der Ruchlosigkeit der Zeit gegenüber notwendig und zeugt von dem seltenen Mut des Verteidigers, dem man sonst meist Mangel daran vorwirft.»– «So etwas ist heute in der ganzen Welt unmöglich», meinte meine Mutter. «Sag das nicht», erwiderte mein Vater, «was in der hohen römischen Zivilisation geschah, kann sich auch bei uns wiederholen. Der Kampf zwischen Macht und Recht ist noch lange nicht entschieden.»

Wie steht mir alles aus dem Elternhaus so deutlich vor Augen, als wäre es heute erlebt! Wie hat selbst harte Mahnung und scharfer Tadel meinen Charakter geformt. Ich zählte schon etwa zwölf Jahre. Unser alter Schuster Crejoy nahm mir nach der Sitte der Maßschuster, auf dem Boden kniend, das Maß, sprach zu mir in seinem Tschechisch-Deutsch, und ich ahmte ihn ironisch in der gleichen Tonart nach. Mein Vater hatte das an der offenen Tür gehört, rief mich in sein Zimmer und gab mir zum ersten und einzigen Mal eine Ohrfeige. «Wie wagst Du es, den Mann nachzuäffen, ihn in seiner Sprache zu beleidigen, dem Heiligsten, das er auf Erden hat? Kannst Du seine Sprache sprechen? Sprichst Du irgendeine fremde Sprache ohne Akzent? Was würdest Du empfinden, wenn Dich in einem anderen Land ein Heimischer wegen Deines Akzentes verhöhnte? Überlaß doch solche Niedertracht dem Pöbel. Um Dich von ihm zu unterscheiden, gehst Du ins Gymnasium.»

Tief beschämt entschuldigte ich mich beim Schuster. Von diesem Moment an war ich für das Leben gegen jeden Nationalismus gefeit.

Nicht etwa, daß mein Vater national gleichgültig war – gerade weil er seine Sprache heiß liebte, duldete er die Herabsetzung einer anderen nicht. Unser ausgezeichneter Germanist Pater Hugo Mareta arbeitete im Geheimen an einem Wörterbuch des österreichischen Dialekts, und mein Vater gab ihm manche Anhaltspunkte für Dialektunterschiede der österreichischen Provinzen. Eines von uns drei Geschwistern las eines Abends – wohl für ein bevorstehendes Examen – den Schluß des Nibelungenliedes vor, und unsere Mutter fand die Gestalt der Kriemhild empörend – eine Frau erschlägt mit dem Schwert den gefesselten Gegner: «So etwas sollte den Kampf der christlichen Burgunder gegen die Hunnen verherrlichen? – da konnten die Hunnen nicht barbarischer sein.»– «Du fühlst ja recht wie immer», sagte mein Vater, «aber höre die Worte über das Schwert: ‹Das trug mein trauter Friedel›, – das klingt so herzenstief, wie schade, daß das Wort ‹traut› aus unserer Sprache verschwunden ist.»

Unter seinen Kollegen galt mein Vater als weiser Anwalt. Oft kamen sie zu ihm, um Rat zu holen, und er gab sein Wissen mit vollen Händen. Sie gingen hin und prahlten mit seinen Gedanken. Er nahm es nicht übel; denn er war innerlich reich genug. Die Angelegenheiten seiner Klienten erregten ihn mehr als die eigenen, und wenn er noch angespannt zum Essen kam, sah ihn meine Mutter mit ihren lieben Augen an und erzählte etwas Heiteres von den Kindern oder vom Hause. Wir Kinder haben gesehen, was eine Ehe sein kann, und wir waren, so glaube ich, dafür dankbar.

Im Sommer 1899 beendigte ich mit der Matura das Studium am Schottengymnasium und bezog bald darauf die Universität in Wien.

DIE STURMJAHRE DER UNIVERSITÄTSZEIT, 1899–1904

Mit siebzehn Jahren kam ich an die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Wiener Universität. Manch einer in Amerika wird das für übertriebene Schnelligkeit halten. Denn das Gymnasium entsprach der dortigen High School und dem College. Aber trotz der geistigen Konzentration des Studiums konnte dessen Gründlichkeit anderswo kaum übertroffen werden. Wir haben hiefür in der Gegenwart drei repräsentative amerikanische Zeugen. Der frühere Dean von Yale und Präsident der Universität von Chicago, Hutchins, rühmt die Gymnasien des deutschen Sprachgebietes in Europa um die Jahrhundertwende: ihre Absolventen seien den College-Absolventen weit voraus gewesen. Expräsident Herbert Hoover preist die damalige große österreichische ökonomische Schule, und die Harvard-Universität lobt im Nachruf für einen ihrer Professoren mit Bewunderung das hohe Niveau der Seminarien jener Zeit. Das Studium des Rechtes ist jetzt von dem der Staatswissenschaften und der Ökonomie meist getrennt. Das ist meines Erachtens ein Rückschritt, dessen Folgen immer fühlbarer werden. Mehr als je zuvor wird das politische Leben unsrer Tage von Juristen beherrscht. Die Mehrzahl der Parlamentarier in Frankreich und Amerika ist aus dem Anwaltsstand hervorgegangen, und für sie und für den Richterberuf ist Kenntnis der Nationalökonomie unerläßlich. Ohne wirtschaftliche Kenntnis bleibt der Rechtsgelehrte ein Formalist; ohne juristisches Training wird der Ökonom zum Mann des Details.

Es waren vierundachtzig Jahre seit dem Wiener Kongreß, und Europa und Amerika genossen den langen Frieden in vollen Zügen und sahen auf die Österreicher von oben herab als auf unfähige, den einfachsten Dingen nicht gewachsene Menschen, die sich unter ein Tyrannenjoch geduldig beugten. Die Wirklichkeit war ganz anders.

Denn die Fragen, um die in Österreich gerungen wurde, waren nicht etwa in den anderen Staaten bereits überwunden worden, sondern dort noch gar nicht zur Reife gekommen. Der Nationalismus, der politische Antisemitismus, ja selbst der Kommunismus waren schon zum Kampfruf geworden, während in der übrigen Welt das merkwürdige Zweigespann von Liberalismus und Imperialismus triumphierte.

Und während alle andern in satter Friedensruhe auf die österreichischen Wirren wie auf ein Kuriosum hinblickten, fühlten wir jungen Menschen uns als das Zentrum des politischen Geschehens. Denn unsere Welt war viel realer als die übrige. Hier wurde nicht diskutiert, sondern gekämpft, nicht, wie man außerhalb wähnte, um die Fragen von vorgestern, sondern um die von übermorgen. Wenn in späteren Dekaden der neu einbrechende Barbarismus den Westen überraschte, uns war er seit früher Jugendzeit ein bekanntes Phänomen. In der Mitte einer höchst entwickelten und raffinierten Kultur tobte er mit wildem und nie unterbrochenem Getöse. Ich sage «uns» und meine damit die ganze intellektuelle Jugend Wiens jener Tage. Wir standen an einer Zeitwende und fühlten es durch und durch.

Die Wiener Universität in jenen Jahren bot den Eindruck eines Kampfplatzes. Am Eingang des Monumentalgebäudes ist die breiträumige Aula, und dort fanden fast täglich Faust- und Stockkämpfe wildester Art zwischen den Studenten der verschiedenen Nationen und Parteien statt; die unterliegenden wurden aus der Aula hinausgedrängt, und der Kampf setzte sich auf den auf die Straße hinabführenden beiden Rampen fort, bis die Steinbalustraden brachen und die heulenden Horden am Straßenrand anlangten. Dort aber griff die Polizei hemmend ein. Die Universität genoß seit dem Mittelalter volle Freiheit vor jedem staatlichen Eingriff, und die Regierung respektierte dieses Recht in peinlichster Weise; aber unmittelbar dort, wo die Universitätsgrenzen endigten, wurde auf strengste Ordnung geachtet. Österreich war auf seine Universitätsfreiheit – es hatte mit Prag und Wien die beiden ältesten deutschen Universitäten – mit Recht stolz. Oh, diese hehren mittelalterlichen Freiheiten, wie haben wir sie achten gelernt, seitdem wir erfahren mußten, wie der Versuch der allgemeinen Freiheit in totaler Versklavung endigte!

Es war ein dauernder Kampf zwischen den Pangermanisten und Österreichdeutschen, zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Antisemiten und Juden; daneben ging der scharfe Konflikt zwischen Anhängern der Christlich-Sozialen Partei, der Koalition von Kleinbürgern und Bauern, und den Sozialisten.

Jede von den acht Nationen der Monarchie behauptete, für die Freiheit zu kämpfen, und verstand darunter das Recht, die Nachbarnation zu unterwerfen oder zu vernichten – wie dies ja nach Österreichs Untergang die Deutschen in den Sudetenländern mit den Tschechen und darnach die Tschechen mit den Deutschen getan haben. Hier trat die Regierung aller Anmaßung scharf entgegen. Sie erzwang gegen allen Fanatismus ein geordnetes Zusammenleben und sicherte der jeweiligen Minderheit politische und persönliche Freiheit. «Selbstbestimmung» bedeutete in Österreich stets Knechtung des Nachbarn; Freiheit – ebenso wie Ordnung – konnte nie durch, mußte ausnahmslos gegen die Volksmeinung durchgezwungen werden. Daß dies so lange geschehen konnte, war das historische Verdienst der Dynastie. Weder England noch Amerika haben dies verstanden, ebensowenig wie die hohe politische Bedeutung der Eingliederung der Westslawen in ein katholisches Kaiserreich.

Und noch weniger verstand der Westen die sozialen Kämpfe. Das liberale Bürgertum, das damals noch in Frankreich, England und Amerika allein herrschte, war in Österreich aus dem Parlament verdrängt worden. Neben den nationalen Parteien und den Sozialdemokraten war eine spezifisch österreichische Partei entstanden, die sich «Christlich-Sozial» nannte.

Der Führer der Christlich-Sozialen, Dr.Karl Lueger, hatte seine juristische Laufbahn in der Advokatenkanzlei, die damals mein Vater mit Dr.Obermayer gemeinsam leitete, begonnen, war dann früh in das politische Leben gegangen. Sein Hauptgedanke war, der aufsteigenden Sozialdemokratie die beiden stärksten Schlagworte – den Antikapitalismus und die Verstaatlichungsformel – zu entreißen, indem er sie seiner Partei aneignete und popularisierte. Sein Kampfruf ging gegen das ausländische Kapital – vornehmlich gegen die Engländer – und gegen die Juden. Zum erstenmal wurde hier der uralte Antisemitismus offen zur Grundlage eines politischen Programms erklärt und entschied für den Erfolg. Die Vereinigung von Bauern, gewerblichem Mittelstand und niederer Geistlichkeit in dieser Partei war damals neu: Sie hat seither vielfach – besonders in Frankreich und Italien – Nachahmung gefunden. Während anderswo der Kampf zwischen Kapital und Arbeit ging, war in Österreich der Hauptkonflikt zwischen der Industriearbeiterschaft auf der einen und der Koalition von Bauern und Kleingewerbe auf der andern Seite. Da Christlich-Soziale wie Sozialisten dem Unternehmertum feindlich gegenüberstanden, trat merkwürdigerweise der Kampf gegen den Kapitalismus in Österreich in die zweite Linie gegenüber demjenigen zwischen Land und Industrie, zwischen Kleinbürgern und Arbeitern.

Und da ist nun eine Tatsache ungewöhnlich. Das Kraftverhältnis zwischen diesen beiden Parteien, den Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten, ist in mehr als einem halben Jahrhundert nicht geändert worden, in einer Periode, in der über Österreich mehr hinwegging als anderwärts in zehn Generationen.

Die Sozialdemokratie in Österreich war nach der in Deutschland die größte marxistische Partei und das Zentrum der doktrinären Kämpfe. Ihr Führer, Victor Adler, war mit Engels in enger Fühlung gewesen. Sie war noch in ihren Jugendjahren, voll Radikalismus und Idealismus, und ein guter Teil der jungen Intelligenz gehörte der Bewegung an, darunter mehrere reiche Männer, die ihr Vermögen der Partei opferten. Die Sozialisten waren schon damals die stärkste Gruppe in Österreich, während in England und Amerika noch nicht ein einziger Abgeordneter dieser Richtung im Parlament war.

Der Liberalismus war stark im Wirtschaftsleben, in der führenden Bürokratie und an der juristischen Fakultät, aber ohne Stütze in der Wählerschaft. Er arbeitete gemeinsam mit dem katholischen Konservativismus an der Durchführung der Sozialreform, die eine weitgehende Sozialversicherung in sich schloß; man ging darin weiter als Amerika unter Roosevelt vierzig Jahre später. Beamtenschaft und Richtertum waren auf einer geistigen und sittlichen Höhe, wie sie weder damals noch seither in irgendeinem anderen Staat auch nur annähernd erreicht wurde. Respekt, nicht Furcht einzuflößen war das Leitwort; dies ist der österreichischen Regierung besser gelungen als irgendeinem andern Land, außer der Schweiz. Die vorhandene Macht wurde nur ganz ausnahmsweise und mit größter Mäßigung eingesetzt. Denn man kannte die Gefahren des Bodens, auf dem man stand, und die Ahnung eines nahenden großen Unheils durchdrang tief die Regierung und die heranwachsende Intelligenz. Die beiden alten Pöbelforderungen, Antisemitismus und Kommunismus, waren zum Rang oberster Parteimaximen erhoben worden; wohin sie, wohin der Nationalismus führen würde, mochte mancher ahnen und fast jeder fürchten.

Mein Vater hatte um diese Zeit als Advokat einige politische Strafprozesse zu führen, die damals große Sensation erregten: Er hatte für Persönlichkeiten, die von der Demagogie scharf angegriffen waren, Klage geführt, wobei die Geschworenen trotz der Haltlosigkeit der Anwürfe die Angeklagten zumeist freisprachen, während die richterliche Revisionsinstanz dem Recht zum Durchbruch verhalf. Am Abend seines größten Prozeßerfolges sagte mir mein Vater: «Dieses Reich ist ganz anders als die übrige Welt. Denke dir den Kaiser und seine Regierung auch nur für ein Jahr fort, und die Nationen werden übereinander herfallen. Die Regierung formt das Gitter, das den Zoo der wilden Tiere von der Außenwelt abtrennt, und es gibt nirgendwo anders so viele und so gefährliche politische Bestien wie bei uns.»

In diesen Worten war keine Übertreibung, es war scharfe Diagnose eines erfahrenen Anwaltes. Ich stand stark unter diesem Eindruck. Ungleich meinen Altersgenossen blieb ich von der Massenverehrung frei, die damals ihre Herrschaft antrat.