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Maria Pourchet

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Beschreibung

Der Bestseller aus Frankreich - eine verhängnisvolle Affäre in Paris. »Ein Lesevergnügen.« Brigitte Woman

»Auf unsere Liebe. Auf die Kriege, die wir im Innern, in aller Stille führen. Bis aufs Messer.« Laure ist Dozentin an einer Pariser Universität, verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Mit vierzig ist sie im Leben angekommen und hat doch das Gefühl, in der Summe zu vieler Kompromisse zu erstarren. Sie beneidet ihre älteste Tochter Véra um deren Glühen, deren feministische Wut. Clément, Single, fünfzig Jahre alt, joggt morgens an der Seine und spricht abends mit seinem Hund. Er hat einen gutdotierten Job in der Finanzwelt und angesichts des ständig drohenden Crashs an der Börse jeglichen Glauben an die Welt verloren. Die eine erwartet vom Leben die Überraschung. Der andere, unfähig zur Illusion, wartet darauf, dass es zu Ende geht. Kurzum, beide wünschen sich, dass ihnen endlich etwas passiert. Doch dann entfacht ihre Begegnung ein Feuer, das schnell außer Kontrolle gerät.

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Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Zum Buch

»Auf unsere Liebe. Auf die Kriege, die wir im Innern, in aller Stille führen. Bis aufs Messer.«

Frech, provokant, hemmungslos: Maria Pourchet erzählt von einer verhängnisvollen Liebe in Paris, von einer Frau und einem Mann, die in einer leidenschaftlichen Affäre aus den vorgezeichneten Bahnen ihres Lebens ausbrechen. Ein faszinierender Roman über die Komplexität der Liebe und die großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit.

Laure ist Dozentin an einer Pariser Universität, verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Mit vierzig ist sie im Leben angekommen und hat doch das Gefühl, in der Summe zu vieler Kompromisse zu erstarren. Sie beneidet ihre älteste Tochter Véra um deren Glühen, deren feministische Wut. Clément, Single, fünfzig Jahre alt, joggt morgens an der Seine und spricht abends mit seinem Hund. Er hat einen gutdotierten Job in der Finanzwelt und angesichts des ständig drohenden Crashs an der Börse jeglichen Glauben an die Welt verloren. Die eine erwartet vom Leben die Überraschung. Der andere, unfähig zur Illusion, wartet darauf, dass es zu Ende geht. Kurzum, beide wünschen sich, dass ihnen endlich etwas passiert. Doch dann entfacht ihre Begegnung ein Feuer, das außer Kontrolle gerät.

»Ein fulminanter, aufrüttelnder Roman über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe.«

Le Figaro

»Brillant, kraftvoll, mitreißend. Maria Pourchet ist einzigartig.«

Leïla Slimani

Zur Autorin

Maria Pourchet, 1980 in Lothringen geboren, gilt als eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Frankreichs. Sie machte insbesondere mit ihrem feministischen Text »Toutes les femmes sauf une« von sich reden. Mit »Feuer« war sie für mehrere wichtige literarische Preise nominiert. u.a. dem Prix Goncourt. Die promovierte Soziologin lebt heute als Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Paris.

Maria Pourchet

Feuer

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Marquardt

Luchterhand

Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Feu« bei Éditions Fayard, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert

Copyright © 2021 Librairie Arthème Fayard, Paris

Copyright © der deutschen Ausgabe 2023 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign I München unter Verwendung eines Entwurfs von ©Ruth Botzenhardt

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-29381-9V003

www.luchterhand-literaturverlag.de

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Du staunst über diese Mädchenhände, die fälschlicherweise an den Körper eines Mannes geraten sind. Schlanke Finger, zierliche Handgelenke, feine Knöchel, und unter der Haut, die zu dünn ist, um deren Farbe zu verbergen, treten geschwollene Adern hervor. Seine Rechte schwebt über den Oliven und dem Brot, du siehst, wie sich ein zarter Muskel regt und zu zittern beginnt, als er die Karaffe anhebt. Das alles wirkt sehr fragil; eine schwungvollere Geste – und schon könnte es schiefgehen. Du denkst, dass er nicht in der Lage wäre, dich zu erwürgen. Dir fallen die kurz gefeilten Nägel auf, der Ringfinger ohne Ring und ohne eine Spur davon, die weißen, blutleeren, blasslila Fingerkuppen. Spricht für schwache Venen und einen schlechten Blutrückstrom zum Herzen. Zwischen Handgelenk und schwarzem Anzugstoff fallen dir zwei Zentimeter makelloser, edler Baumwolle ins Auge. Du tippst auf ein schmal geschnittenes Hemd, einmal gewaschen, zweimal getragen. Höchstens.

Plötzlich willst du unbedingt sehen, was sich sonst noch unter dem kühlen Stoff verbirgt.

Guck halt woanders hin, regt sich deine Mutter auf, in ihrem Grab bei den anständigen und enthaltsamen Frauen.

Du ahnst, da ist williges, aber müdes, nicht durch die Liebe ermattetes Fleisch, nur wodurch dann? Schläge, Bequemlichkeit oder Alkohol – kommt auf die Gewohnheiten an. Dein Blick schafft es, weiter nach oben zu wandern, von der Hand zum Ellbogen, vom Hals zu den Lippen. Du suchst unwillkürlich nach dem Ursprung der Traurigkeit, die ihm senkrecht über den Mund tätowiert ist. Eine Frau, ein Todesfall oder Selbstüberdruss – hängt ganz von den Lebensumständen ab. Bestimmt geht er wie alle am Seine-Ufer joggen, das würde die gebräunte Haut auf Stirn und Nase erklären. Was es mit dem glattrasierten Schädel auf sich hat, überlegst du noch.

Frag ihn einfach, schlägt die Mutter deiner Mutter aus dem Paradies der Arbeitsbienen frei heraus vor.

Natürlich könntest du ihn fragen, wer, welcher Schmerz, welches Ereignis hat Sie denn so getroffen, hat Ihnen diese Fratze verpasst, die aussieht wie das zerschlagene Spiegelbild eines früheren Gesichts, und für diese kraftlosen Hände gesorgt – aber das ist heikel. Du kennst ihn nicht. Du sollst ihn dir als Referenten für ein zeitgeschichtliches Kolloquium anschauen, nicht als Landschaft, du musst ihm eine Zusage entlocken. Nicht seine Geschichte.

Seine Stimme, die anscheinend irgendwo geschult wurde, wo man lernt, kernig zu reden und das Publikum im Saal zu erobern, steht in keinem Zusammenhang mit dem Rest. Er wiederholt einen Satz, bei dem du nicht zugehört hast, er wird denken, dass er dich langweilt, dabei reißt er dich mit. Er will wissen, warum ausgerechnet er. Warum soll ein Banker bei einem Spitzentreffen der Geisteswissenschaften einen Vortrag halten, warum holt man sich bei der Auswahl an Forschern, Linguisten und Schriftstellern ausgerechnet die Teufelsbrut, für die er steht, ins Haus?

Du sagst, wegen des Kontrasts. Er sagt, er sei dein Mann. Keiner sei besser darin, nicht dazuzugehören, als er.

Dann schweigt er, scheint für eine Sekunde woanders zu sein, sein mandelförmiges Gesicht bietet sich fahrlässig der Betrachtung an. Wieder siehst du etwas Kümmerliches und Beschädigtes vom Grund aufsteigen, wie das Teil eines Wracks. Du möchtest wissen, zu welchem Schiff es gehört. Du findest ihn schön, obwohl er fad wirkte, als er ankam, nicht besonders markant.

Halt den Mund und arbeite, wettert deine Mutter aus der Grube der Unbezahlten, der nützlichen und strengen Frauen.

Du setzt deine Brille ohne Sehstärke auf, reiner modischer Schnickschnack mit Fensterglas, der, je nach Situation, deine Augenringe verdeckt oder das, was dir gerade durch den Kopf geht. Du sagst danke. Ein Dank an die Empfehlungskette, deren Quelle zwar nicht mehr zu ermitteln ist, die dich aber über den Umweg diverser Flaschenpost, randvoller Mailboxen und kategorischer Absagen zu ihm geführt hat. Seltsamerweise bringt ein Gratisauftritt ohne Medienrummel auf dem Podium einer glanzlosen Universität niemanden mehr sonderlich in Wallung.

Spotte nur, das gefällt mir schon besser, gibt deine Mutter unter ihrem Granitstein grünes Licht, wenigstens wissen wir, warum wir dir das Studium bezahlt haben.

Und außerdem bist du ihm für diese Stunde am Mittag dankbar, dafür, dass ihr telefonisch dieses Vorabtreffen vereinbart habt.

Der Kellner fragt, ob ihr gewählt habt, nein, immer noch nicht.

Dein Tischgenosse dankt dem Zufall und sonst niemandem. Was das Telefonieren angeht, gerne so wenig wie möglich. Seitdem das Ansteckungsrisiko so hoch ist, nutzt er jede Gelegenheit, um jemanden persönlich zu treffen, damit die Chancen steigen, dass ihm endlich etwas zustößt. Er sagt das so dahin. Du denkst, heute bin ich sein Risiko, und weil es dich irritiert, dass du die Idee ziemlich reizvoll findest, beeilst du dich, ihm mit nervigen Einzelheiten zu kommen, du erklärst, worum es bei dieser Tagung in Cerisy geht, an zwei Tagen im Dezember soll die Epoche, in der wir leben, näher beleuchtet werden, eine Epoche, die man noch nicht oder doch schon als Krise bezeichnet, allerdings hast du keine Zeit auszureden, denn gleich wirft er ein, diese Epoche sei ein Skandal.

Kinder, so sagt er, werden derzeit mit 40 000 Euro Schulden pro Kopf geboren, weil die Großeltern ihr Scheißleben auf Kredit finanziert haben. Ein Einfamilienhaus, ein Peugeot, dann zwei, ein Fernseher pro Zimmer, Flugzeugträger, französische Streitkräfte in Afghanistan und, als Krönung des Ganzen, ein ewig langes Leben. Der Skandal ist die offene Rechnung, diese Epoche ist eine einzige offene Rechnung, aber egal, wie man es nennt, unsere Kinder werden dafür nicht geradestehen wollen, sie werden den Stecker ziehen und die Beatmungsgeräte in den Krankenhäusern lahmlegen. Dann wird es keine Epoche mehr geben, sondern Krieg, wollen wir nicht etwas zu trinken bestellen, einen Aperitif.

Du fragst, ob er Kinder hat.

Er antwortet, einen Hund, nur einen.

Hör auf, Laure, stöhnt deine Mutter, die unter der Erde alles mitansieht, hör auf, diesen Idioten anzustarren, als ob du ihn malen wolltest, und betrachte die Dinge, wie sie sind.

In einem großspurigen Restaurant, das wie ein Gewächshaus angelegt ist, wachsen Clematis bis zur gläsernen Decke hinauf. Ein weißer Mann im Anzug, schätzungsweise einem Lanvin-Anzug, schildert dir beim Essen das Ausmaß der Katastrophe und hört sich selbst zu, wie er die brutalen Kämpfe vorhersagt, die ihm erspart bleiben werden. Du trägst Marineblau, weil es das neue Schwarz in diesem Jahr ist, er trägt es, seit er denken kann. Und schon bist du glücklich.

Der Kellner fragt, diesmal recht nachdrücklich, ob ihr inzwischen gewählt habt.

Du suchst die Speisekarte, sie liegt vor dir. Ein großer, fleckiger Spiegel, auf dem mit Filzstift die Vorspeisen, Hauptgerichte und Käsesorten aufgelistet sind. Zwischen der Seezunge für 38 Euro und den rohen Pilzen, erkennst du deine Föhnwelle von vorgestern, staunst über deine Hand, die wie eine Muschel an deinem Ohr liegt, über deine leicht geweiteten Pupillen, und mit Überraschung nimmst du dein Mona-Lisa-Lächeln zur Kenntnis. Er bestellt die Seezunge, du das Tartar.

Du kaust eifrig Brot, um dein unangebrachtes Grinsen zu unterdrücken. Und du bemerkst laut, wie lächerlich kurz diese Speisekarte ist, wie winzig klein die Portionen auf den Tischen sind. Klar, in dem Moment, wo Überfluss ein Traum von Armen ist, profitieren nur die, die keinen Geschmack haben, von einer großen Auswahl. Einstweilen gibt es zwanzig Gramm aufgetauten Fisch für 40 Euro, wenn die Epoche ein Skandal ist, dann in der Tat hier. Du sprichst absichtlich mit vollem Mund, im Namen derjenigen, die hart kämpfen, die wirklich etwas wert sind, und zwar nicht in Dollar gerechnet. Damit muss endlich Schluss sein.

Er rückt seinen Stuhl instinktiv ein Stück zurück, verdeutlicht den Abstand, den du zwischen euch suggerierst, das wird dir eine Lehre sein. Er spricht, wie du isst, ohne Luft zu holen. Heute Morgen, sagt er, haben die Märkte auf fallende Kurse gewettet, ein Signal, das bekanntermaßen dem Schlimmsten vorausgeht. In welchem zeitlichen Rahmen und in welcher Form, das weiß man natürlich nicht, man wartet ab, daher diese unerträgliche Spannung, die jede Epoche zu einem Moratorium macht. Er könnte ebenso gut das Gegenteil behaupten, es wäre genauso wahr und genauso sinnlos. Denn es gibt keine Epochen mehr, sondern nur noch verschiedene Versionen und Narrative. Jedenfalls kommt er zu dem Schluss, dass er bereit ist für dein akademisches Dingsbums. Skandal, offene Rechnung, Moratorium, verschiedene Versionen, vier Aspekte, das ist gut, was denken Sie, Laure?

Du denkst, was für Gemeinplätze, was für eine Sprücheklopferei. Du denkst, dass sich zwischen einem Restaurant und einem Kolloquium eine Kluft auftut, die man Reflexion nennt, aber du sagst, großartig. Du möchtest nun deinerseits ein paar geniale, halbgare Phrasen über den Tisch springen lassen, in deinem Kopf formt sich jedoch nichts außer einem Bild. Wenn du diesen Mann malen müsstest, dann mit Öl auf Holz, nach Art der Florentiner, deren Märtyrergesichter den inneren Kampf zwischen Engel und Versuchung widerspiegeln. Ja, genau so.

So ein Quatsch, spukt deine Mutter ungeduldig herüber. Als ob du einen Pinsel halten und mit deinen zehn Fingern irgendetwas zustande bringen könntest.

Die Tür des Restaurants schwingt auf, lässt frische Luft herein und fällt wieder zu, immer wenn ein Zweier- oder Dreiergrüppchen von Führungskräften aus dem Dienstleistungssektor den Laden mit 60 Euro Spesen pro Nase verlässt. Du weißt nicht, wie dein Essen geschmeckt hat, du hast nicht darauf geachtet. Plötzlich rückt er seinen Stuhl wieder heran, schiebt seinen Teller beiseite, löst diese Hände voneinander, die dir einfach keine Ruhe lassen, und du verstehst. In der ungefilterten Sprache des Körpers heißt das, er kommt auf dich zu.

Oder er hat einen Krampf, hörst du deine Mutter sehr tief aufseufzen.

Du bestellst einen Kaffee, er auch. Er stützt seine Ellbogen auf den Tisch, seine blassen Hände suchen und umklammern einander. Du möchtest sie ergreifen, aber du weißt aus Erfahrung, dass man Vögel, die man fängt, dabei auch töten kann.

Mach dich vom Acker, krakeelt deine Mutter unter ihrer Steinplatte als Stimme der Frauen, die zwar tot sind, aber Bescheid wissen.

Du sammelst ziemlich unvermittelt deine Siebensachen ein. Einen Bleistift, deine Poserbrille, dein Telefon, das acht verpasste Anrufe der Schule deiner Tochter meldet, nichts Außergewöhnliches. Du stehst auf und schraubst deine 1,73 Meter, die ihn zu verblüffen scheinen, Richtung gläserne Decke. Er ist zu spät gekommen, hat dich bisher nur im Sitzen gesehen. Du sagst, ich muss gehen, wartest eine Sekunde, bis er aufsteht, um dir zu folgen, wie es sich gehört. Er macht keinerlei Anstalten.

Der Schuft, bedauert die Mutter deiner Mutter im Himmel der glühendsten Fans von Prinz Philip.

Er sieht dich an, ohne etwas zu sagen, als wäre er erstaunt. Es entsteht eine Stille, in der du dich den ganzen Nachmittag einrichten könntest, um Kaffee zu trinken, unanständige Fragen zu stellen, Holzmalerei zu lernen.

Sofort bringst du deine Truppen um dich herum in Aufstellung, du hast ein Diplom und einen Lehrstuhl inne, und zwar als ordentliche Professorin. Du entschuldigst dich, Pardon, ich habe wirklich noch zu tun.

Warum wirklich, warum Pardon, wiederholt deine Mutter, den Mund voll Erde. Du hast noch zu tun, Punkt.

Das Sekretariat des Forschungslabors wird sich bei ihm melden, es tut dir leid, aber in einer Stunde musst du weg sein; was?, sagt er. Du stellst klar, ein Versprecher. Da sein, nicht weg sein. Da sein, um eine Vorlesung an der Universität zu halten, zu der es jedes Jahr mehr Material gibt. Die Geschichte der Angst in Europa.

»Und Sie?«, fragt er.

»Ich, was?«

Ob du Angst hast, das weißt du ganz genau.

Als du dich zum Gehen wendest, lässt du deine Jacke fallen, keiner versteht, was du sagst, als du danke vor dich hin murmelst, du gibst in jeder Hinsicht ein schwaches Bild ab, das mag er zurückführen, worauf er will, du gehst jetzt und verschwindest bald unter der Stadt, ein Zug wird dich forttragen.

Epoche, Substantiv, weiblich, von griechisch epoché, Halt.

2. Juni, 14:30, KT 37,5°, AF 15/min, HF 80/min, BD 150

Nach La Défense, sage ich, während ich mich in das Taxi zwänge, zum Nordturm, auf der Seite von Puteaux, und zwar schnell, solange er noch steht, nehmen Sie die D9, man wartet bereits auf mich. Dann frage ich mein Handy, als wäre ich ein bisschen irre, wie geht es dir, Carrie?, und sogleich leuchtet in einem beruhigenden Blass-, keinesfalls Schweinchen-, eher Kinderkrankenschwesterrosa die Care-App auf. Damit sie die Vitalwerte anzeigt, fragt man einfach, wie geht es dir heute, Carrie?, und zack, alles da. Ja, es ist ein bisschen entwürdigend, aber da kenne ich ganz andere Dinge. Körpertemperatur 37,5, kein Wunder, man ist ja beinah erstickt in dieser Orangerie, Blutdruck auf 150, auch nicht verwunderlich, ich bin total fertig. Ich habe so viel geredet wie sonst in zwei Wochen. 15 Atemzüge pro Minute, Herzfrequenz bei 80 Schlägen. Mehr nicht? Eigenartig. Ich hätte schwören können, dass sie mich mühelos auf 90 hochgetrieben hat, so wie sie mit ihren nackten Lippen über das Steak hergefallen ist, als säße es dem Tier noch auf der Hüfte. Oder die App spielt verrückt. Soll’s geben, kommt aus China. 14 Uhr 45. Sie hat mich seit mindestens zwanzig Minuten vergessen. Ich habe mich so unauffällig wie möglich verhalten, das kann ich, wirklich, dezenter geht es nicht. Am Anfang interessierte sie sich vor allem für die Deko, am Ende hat sie vor Langeweile gegähnt, zwischendurch zur Tür gestarrt, als säße sie im Knast, und meine Visitenkarte hat sie genommen, ohne hinzusehen, um die Tischdecke damit abzubürsten. Eine solche Karte, mit abgeschrägten Kanten, 120 Gramm stark, die mit Head of beginnt, als Krümelfänger zu recyceln! Diese Epoche ist ein Rotz.

»Wir sind da«, sagt der Fahrer, während eine SMS des CEO mir auf Englisch mitteilt, dass man nur noch auf mich wartet.

Esplanade, Polygone, Drehtür, im rappelvollen Fahrstuhl geht es nach oben, zwischen zweitem und fünftem Stockwerk (Sicherheit und Wartung) steigen lächelnde Angestellte mit Ringen unter den Augen aus, die Luft ist schwer von aufgewärmter Hausmannskost, über das zehnte bis zum zwanzigsten Stockwerk (Forschung und Entwicklung) verteilt sich eine schlecht gekleidete, unfreundliche Belegschaft, es riecht nach Essen zum Mitnehmen. Und schließlich bin nur noch ich übrig, Vertreter des sportiven Personals mit hoher, nicht operativer Verantwortung, der sich ganz allein in den fünfunddreißigsten Stock aufschwingt und dabei jedes Mal aufs Neue ein Kribbeln im Unterleib spürt, nichts zu machen. Der Rausch der gläsernen Gipfel. Der sanfte Brechreiz des schlichten Gemüts, das auch nach zehn Jahren Firmenzugehörigkeit den Schub eines im Keller installierten Motors für seinen eigenen Auftrieb hält.

Ein seltsames, nicht unangenehmes Gefühl, das mich in der Regel bis in den Empfangsbereich hinein begleitet. Dann hört es auf. Mir ist nicht zum ersten Mal zum Heulen zumute, als ich auf dem roten Teppich mit den braunen Streifen zur Landung aufsetze. Aber ich gehe weiter. Ich spüre keinen Boden mehr unter den Füßen. Zwischen mir und der Erde liegen vierunddreißig Stockwerke, zwölf Parkhäuser, zwanzig Meter Klimakanäle, und nicht zu vergessen, die U-Bahn. Ich bewege mich in Zeitlupe durch einen fünfzehn Meter langen Korridor, der mit künstlicher Angorawolle zu 1000 Euro den Meter auf Zementplatten zu 20 000 Euro den Meter ausgelegt ist. Nein, 25, ab dem dreißigsten Stock steigen die Preise. Je höher die Zahl, desto beruhigender die Wirkung. Noch zehn Meter, ich verlangsame meinen Schritt, bis ich quasi gelähmt den Konferenzraum erreiche, wo der rote Teppichboden wie Unkraut weitersprießt und die Stimme des Meisters ertönt:

»Da ist er ja endlich, Clément«, verkündet Oliver, der CEO, und wenn ich klar denken könnte, würde ich einen Anflug von Gereiztheit heraushören. Er kühlt mich bis auf die Knochen ab mit seinem Blick aus eisblauen Augen, die von feinen geplatzten Äderchen durchzogen sind. Was farblich übrigens viel besser zum Teppich passen würde.

Jeder, der hier sitzt, hat normalerweise schlechte Laune, denn dies ist der Ort dafür: eine mitten am Tag einberufene Sondersitzung auf nahezu höchster Ebene einer Investmentbank, die seit zwei Jahren an der Börse schlecht gehandelt wird. Ein Lächeln hätte in diesem Raum den Effekt von Bermudashorts. Hier sitzen die CEOs, CFOs, CROs und CDOs versammelt, wichtige Posten, die sich nicht besonders klangvoll in eine andere Sprache übersetzen lassen. Sagen wir einfach, da sitzen Oliver, der oberste Chef, Safia, die Finanzdirektorin, und Grette, die Risikomanagerin. Was Amin, der Chief Data Officer, den lieben langen Tag macht, weiß ich nicht genau, und wenn er ehrlich wäre, müsste er zugeben, dass er es auch nicht weiß. Sie sind offenbar schon mittendrin im Thema, und natürlich sollte ich auf dem Laufenden sein, was Sache ist. Es ging bestimmt eine E-Mail dazu herum, während ich damit beschäftigt war, die Form der Brüste unter der APC-Bluse der Professorin zu erahnen.

»Clément, was sagst du zu diesem Scheißdreck?«

Wenn ich jetzt nachfrage, zu welchem, werde ich als das entlarvt, was ich bin: Ballast, unfähig, die Sprünge zu vollziehen, die das Agile-Handeln-in-der-wirtschaftlichen-Post-Covid-Transformation erfordert. Ich entscheide mich für eine Grimasse, die meine Haltung irgendwo ansiedelt zwischen Lustlosigkeit, weil klar war, was da auf einen zurollt, und Abwarten, weil nicht so klar ist, ob es einen treffen wird. Na bitte. Safia pflichtet mir bei und ist der Meinung, dass ohne den Chef der Marktaktivitäten ohnehin nichts entschieden werden kann. Dabei streichelt sie einen langen Pferdeschwanz, der sich wie ein schwarzer, glänzender Ölstrahl über ihre Schulter ergießt und mich auf Ideen bringen könnte. Aber ich denke immer noch an die Hochschullehrerin. An ihren Appetit im Gewächshaus.

»Hast du dir das Arschloch schon zur Brust genommen?«, fragt mich Oliver, bestimmt meint er denjenigen, der das aktuelle Drama zu verantworten hat.

Ich sage nein, die Chancen stehen fifty-fifty.

»Umso besser. Den mach ich fertig.«

Bingo.

Im Innenhof eines öffentlichen Gymnasiums stehen etwa fünfzig Mädchen erstaunlich ruhig zum Gefecht bereit. Auf die Mauern rund um das sogenannte Atrium haben sie mit Farbe ihre Parolen gepinselt, je nach Botschaft nimmt der Pazifismus ab und schwillt die Schrift an. Lüftet die Umkleidekabinen. Es stinkt wie die Pest. Macht Platz, oder wir räumen auf.

Und da sitzt du nun vor Fabienne Mertens, der runden, brünetten Schulleiterin, die dir gerade erläutern will, was es mit diesem Manöver auf sich hat, das fatalerweise von deiner Tochter, dieser Knallcharge, angezettelt wurde. Ihr schaut beide auf das stille Häufchen aus Jeans und Sweatshirtstoff neben dir, auf deine Tochter also, sie hat sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, ohne Entschuldigung und mit reichlich Vorrat an Schießpulver. Eine lange schwarze Strähne ragt unter ihrer Kapuze hervor, ein untrügliches Zeichen, dass sich das Tier in seinem Gehäuse befindet. Véra, siebzehn Jahre alt. Bleichgesichtige Vertreterin einer klapperdürren und wütenden Generation, in der die Mittelschicht, darauf irgendwie nicht gefasst, ihre eigenen Kinder kaum wiedererkennt.

Du ziehst ihr die Kapuze vom Kopf, um Mertens zu demonstrieren, dass du die Zügel nicht schleifen lässt. Véra stülpt sie sich sofort wieder über, denn so kann sie auch. Mertens würde gern zur Sache kommen, wenn das mit dem Hoodie dann geklärt wäre. Danke.

Heute Morgen gegen 11 Uhr nahm das alberne politische Spielchen seinen Lauf, erster Schauplatz war der Literaturunterricht von Madame Dreux. Jedes Mal, wenn eine männliche Referenz genannt wurde, etwa der Name eines Romanciers, Dramatikers oder Dichters, verließ eine Schülerin wortlos den Klassenraum. Es ging in der Stunde um die Parnassiens, sagt Mertens und blättert in ihren Notizen. In dem sonst eher generalistischen Wirtschaftskurs von Monsieur Halimi lichteten sich ungefähr zeitgleich die Reihen bei jedem Keynes, Marx oder Stieglitz, den der nichtsahnende Pädagoge erwähnte. Im Philosophieunterricht, der eine besondere Fülle an biografischem Material liefert, hielt es zwischen Nietzsche und Schopenhauer eine einzige Schülerin auf ihrem Platz, und zwar deshalb, weil dann der Name Hannah Arendt fiel. Im Wahlfach Kunstgeschichte war die Stunde praktisch nach der Hälfte gelaufen, von Geschichte fangen wir lieber gar nicht erst an. In der Elften haben sie über das Jahr 1914 gesprochen, die Schüler sollten verstehen, wie Jean Jaurès und der Erzherzog von Österreich dadurch, dass sie so kurz hintereinander starben, den Ersten Weltkrieg auslösten; in der Zehnten war die Zeit direkt nach der Revolution dran, das Jahr 1793, die Schreckensherrschaft der Jakobiner. Auch dies ein Kapitel, bei dem das Lehrbuch weitgehend ohne Frauen auskommt, man könnte, wenn man akribisch suchte, höchstens auf die Verrückte verweisen, die Jean-Paul Marat abgemurkst hat. Was aber nicht geschah. Innerhalb von fünfundvierzig Minuten waren die Klassen fächerübergreifend um zwei Drittel ihres weiblichen Anteils geschrumpft. Aus naheliegenden Gründen ging der Unterricht nur in lauwarmen Fächern wie Naturkunde und Gymnastik reibungslos über die Bühne.

Die Mädchen versammelten sich im Atrium und rührten sich nicht mehr vom Fleck. Sie erwarteten Zusagen einer völlig überforderten pädagogischen Leitung. Während man die Journalisten am Schultor noch in Schach halten konnte, hatte Twitter bereits ein Lauffeuer entfacht. Wenn nun andere Schülerinnen in diesem Pawlow’schen Alter gleichziehen würden, wäre das landesweite Chaos perfekt, und die Subventionen wären futsch. Was dann, Madame?

Madame, das bist du.

Dann nichts. Du denkst an diesen Mann, nennst ihn bei seinem Vornamen. Du möchtest ihm sagen, Clément, unsere Epoche ist eine Überraschung. Schließlich zwingst du dich, mit diesem Theater um die Epoche aufzuhören – es ist eine Sackgasse –, und etwas zu finden, das du sagen kannst, um deiner Rolle gerecht zu werden.

2. Juni, 15:00, KT 36,6°, AF 15/min, HF 80/min, BD 150

Zehn Minuten später verharre ich immer noch in derselben Position, außer dass ich ein ganz klein wenig tiefer in den Starck-Sessel aus Plexiglas gerutscht bin, der ihre Strumpfhosen angeblich schont, unsereinem allerdings das Steißbein ruiniert. Ich beobachte und weiß von nichts. Erst als Oliver mich fragt, ob es zweckmäßig sei, die Börsenaufsichtsbehörde zu informieren, und ich ihm antworte, was er hören will, nämlich nein, nähere ich mich allmählich dem Kern des Problems. Noch zwei oder drei Anhaltspunkte, dann weiß ich, um was für einen Schlamassel genau es sich handelt, und werde abermals dieses dämliche Spiel gewinnen, von dem die anderen vier nicht ahnen, dass sie daran teilnehmen.

Man könnte meinen, dass ich mich nicht schnell aus der Ruhe bringen lasse. Stimmt, denn es wäre unnötig. Willkommen bei der EisBank, in einer strahlenden Welt, in der nie etwas wirklich Schmutziges geschieht. So wie die Pinguine stelle auch ich mich instinktiv auf das Schlimmste ein, sonst würde ich mich zu Tode langweilen und womöglich Eigeninitiative ergreifen, zum Beispiel nach Gutdünken Aktiendepots auflösen, irgendetwas Neues ausprobieren. Die Haupthorrorgeschichte, die in unseren Reihen kursiert, erzählt vom Börsencrash. Es ist nichts Ungewöhnliches daran, sich Dinge einzureden, die so nicht eintreten werden, in Wüstengebieten gilt das nach wie vor als die am weitesten verbreitete Überlebensmethode. Ich zum Beispiel sage mir, dass die Professorin, mit der ich zu Mittag gegessen habe, ihren Mann nicht mehr vögelt, mein Hund sagt sich, dass ich Gott bin, Frankreich, dass es von einem starken Mann regiert wird, die EisBank, dass sie untergehen wird, und der Financial Times erzähle ich, dass wir uns am Markt behaupten werden. Die Wahrheit ist, dass die Professorin mich nicht braucht, außer als Dekoration nächsten Winter im Hörsaal einer Provinzuni, und die EisBank wird noch viele Schocks abfedern, bevor sie eine leichte Erschütterung spürt. Die Tragödie, die echte Tragödie, ist immer nur eine Erzählung. Niemand hat sich ’29 umgebracht, und Merrill Lynch gab es da schon, bloß unter anderem Namen. Wenn wirklich irgendwer gesehen hat, wie jemand an seinen Fenstern vorbei in die Tiefe stürzte und auf der Cedar Street aufschlug, dann hatte dieser jemand neben einem Haufen fauler Wertpapiere garantiert auch Krebs oder ein Problem mit seiner Freundin. Wie gesagt, wenn. Schöne Vorstellung, so ein Gleitflug, aber nicht sehr glaubhaft. Sie hätten es mit Gas oder einem Revolver hinter sich gebracht, das war damals eher in Mode. Und genauso das Jahr 2008, reine Fiktion. Lehman Brothers machen weiter Geschäfte, und die paar überschuldeten Friseurinnen aus Atlanta, die man auf die Straße gesetzt hat … kleine persönliche Dramen, die nicht ansatzweise für eine Statistik taugen.

»Clément?«

Ich bin da. Na ja, wie man’s nimmt.

»Wie kann es sein, dass wir mieser dastehen als die Generalbank?« Oliver kommt nicht darüber hinweg. »Und ich will jetzt nichts von einem feindlichen Marktumfeld und diesem ganzen Mist hören!«

Jetzt ist es raus, ich musste nur warten. Nun habe ich alle Elemente beisammen, um zu begreifen, worüber wir reden, ich kann mich einklinken. Wir haben miese Ergebnisse bei einem angeblich profitablen Wertpapierhandel eingefahren. So weit, nichts Neues. Aber dass wir schlechtere Zahlen schreiben als die Generalbank, die der Inbegriff für das Mieseste vom Miesen ist, das gab’s noch nicht. Fehlt nur, dass es sich herumspricht.

»Keine Gewinnwarnung, bevor wir nicht alle Fakten auf dem Tisch haben, sind wir uns da einig?« Safia will mich mit einem furchteinflößenden Lächeln dazu bringen mitzuziehen.

Ihre zu weißen Zähne stechen gegen ihr zu schwarzes Haar ab. Wenn ich Chanel wäre, hätte mich das wahrscheinlich zu einer Bluse inspiriert, aber zu spät. Zu spät für alles, verdammt.

»Natürlich«, sagte ich.

Es sind Momente wie dieser, die mein Gehalt rechtfertigen, dessen Höhe den meisten Menschen absurd vorkommen muss; ich habe schließlich keinen Universalimpfstoff gefunden und auch nicht den Frieden im Nahen Osten verhandelt: Mein Job ist das Zurückhalten. Von Informationen, Gerüchten, Praktikanten, die Anstalten machen, die Handynummer einer Journalistin bei Les Échos einzutippen, und von Geschäftspartnern, die, sobald sie der Hauch eines unguten Gefühls anweht, dies kundtun wollen. Solange keiner auf der Welt das Problem kennt, gibt es kein Problem, selbst wenn es die Größe eines ganzen Landes hat – so in etwa lautet die Idee, die meiner Mission zugrunde liegt. Wenn die Welt vergessen hat, dass es einen siebten Kontinent gibt, nämlich aus Müll, oder, etwas naheliegender, sich nicht mehr an die Existenz Syriens erinnert, dann ist das Leuten wie mir zu verdanken. Ich brüste mich nicht damit, ich habe eine klassische Eliteausbildung genossen, ohne viel Trara. Das Zurückhalten ist eine Gabe, ich habe nichts dafür getan. Schon als Kind, als niemand in mir, dem siebenjährigen Dickerchen, die spätere Nummer 24 beim Paris-Marathon vermutete (zweieinhalb Stunden, eine kenianische Zeit), konditionierte ich mich. Ich unterdrückte das Atmen, das Schlappmachen, das Pinkeln, schluckte meinen Rotz runter, den Schmerz, die Tränen, die Empörung, verkniff mir die unwiederbringlichen Backpfeifen für andere, allerlei Worte und nicht zuletzt das Scheißen. Wie ein Verrückter habe ich mich zurückgehalten, und heute ist es ganz selbstverständlich mein Beruf. Ich sollte darüber mit den jungen Leuten reden. Manche haben Angst vor der Zukunft, weil sie zu nichts zu gebrauchen sind.

»Clément?«

Ja, Chef.

»Viel hört man nicht von dir.«

Zum Glück.

Du sitzt weiterhin auf dem Büßerplatz vor der Direktorin und hörst dich angesichts des drohenden Schulverweises deiner Tochter plötzlich deine eigenen Unzulänglichkeiten eingestehen. Klar, Véra ist schwer zu bändigen, aber das Problem bist du, weil du es nicht hast kommen sehen. Und weil du zu wenig zu Hause bist, zu wenig zuhörst, überhaupt ist alles zu wenig, du gibst dir die Schuld, und zwar schaufelweise. Die Direktorin ihrerseits legt keinen Wert auf übertrieben viel Tamtam.

»Schade eigentlich«, meint Véra, die immer noch eins draufsetzen muss.

Wir werden das Thema Demonstrationsfreiheit in der dafür vorgesehenen Unterrichtsstunde noch einmal erörtern, sagt die Direktorin einigermaßen gefasst, sofern Véra über die nächste Klassenkonferenz hinaus an der Schule bleibt. Mertens will, dass sie die Versammlung ihrer Freundinnen schleunigst auflöst, und zwar vor dem nächsten Klingeln.

Durchs Fenster beobachtet Véra die geduldig ausharrenden, rauchenden und im Netz surfenden Teenagerkolonnen.

»Das sind nicht meine Freundinnen, das ist die kritische Masse. Und die löst man nicht auf, sondern nutzt sie.«

Fabienne Mertens, mit ihrem Latein am Ende, erwidert, dass Polizeikräfte auf dem Schulgelände die letzte Werbung sei, die sie gebrauchen könne, aber nun denn. Schließlich tippt Véra etwas in ihr Handy. Die Mädchen unten im Hof lesen es und zerstreuen sich sofort in alle Winde. Du bist beeindruckt.

Du hättest gewollt, du wärst sie und nicht du, die immer zwischen Abhängigkeit und Wut herumlaviert.

Um die Sache abzuschließen, erwartet Mertens, dass Véra sich laut und deutlich entschuldigt.

»Da geht es uns ganz ähnlich«, sagt Véra.

Und wieder bist du diejenige, die um Verzeihung bittet.

»Wir lassen uns hier nicht zum Narren halten, junge Dame. Sie wollen doch vor allem Aufmerksamkeit erregen.«

»Genau so ist es. Was soll ich noch tun? Mich ertränken?«

»Halt die Klappe«, sagst du, während in deiner Kehle vergeblich das Bedauern anschwillt, dass du sie nie aufreißen wirst.

»Wie du meinst.«

Völlig ermattet ziehst du von dannen, im Schlepptau deine Tochter, die immer für Wirbel sorgt.

»Du machst mich fertig, Véra.«

»Ich bin die, die aktiv wird, und du bist müde?«

Sie versteht nicht, wie du dich über ein Spiel, ein paar Farbspritzer, einen höchstens vorübergehenden Ausschluss vom Unterricht an einer zweitklassigen Schule so aufregen kannst. Soll sie sich wie du einfach an irgendetwas festklammern, ohne genau zu wissen, woran?

Du weißt sehr wohl, woran, und könntest es ihr sagen. Du klammerst dich an das, was du beherrschst, was dir Sicherheit gibt und dich zugleich fix und fertig macht. Die Familie. Wenn du loslässt, sterben Menschen. Du klammerst dich an Möbel und Rituale, du klammerst dich an Worte. Glück, Haus, Urlaub. Und je mehr du daran zweifelst, desto fester klammerst du, bist erschöpft, anhänglich und lächelst.

Sie würde antworten, Seeleute nennen so was eine hohle Muschel.

Aber schon schrillt die Glocke zur nächsten Unterrichtsstunde, und du musst nicht reagieren. Deine Epoche ist dieser Gong, der dich stets davor bewahrt hat zu handeln, das ist sie, die Formel, die du vorhin gesucht hast, um sie Clément zu verkünden.

Vor dem Schultor wartet ihr schweigend auf den Bus. Sie raucht. Du betrachtest pietätvoll dein mangelernährtes Kind, das möglicherweise dazu bestimmt ist, eine Bombe zu bauen, deren Druckwelle dir in den Ohren rauschen wird, falls du die neuen Viruskombinationen überlebst. Du möchtest deiner Tochter gestehen, dass der Krieg der Geschlechter nie dein Krieg war, du hattest andere Dinge zu tun. Irgendwo geboren werden, durchhalten, dich losreißen, ganze Bücher bis zum Erbrechen auswendig lernen, einen Mann finden, ihn verlieren, Essen auftreiben, gebären, fast gefressen werden, neugeboren werden, einen neuen Mann finden, noch einmal gebären.

»Was ist? Willst du ne Fluppe?«

»Warum nicht.«

Du warst auch mal in diesem Alter. Du hast genau wie sie gedacht, dass das Leben aus unverrückbaren Wahrheiten und Eigensinn besteht. Heute weißt du, woraus es besteht. Aus Kompromissen, Wiederholungen, Vergessen oder Genesen. Zwischen diesen beiden Altersstufen scheinst du geschlafen zu haben.

»Sagst du es ihm?«

»Papa?«

»Ja. Deinem Macker.«

»Nein.«

2. Juni, 20:10, KT 37,2°, AF 12/min, HF 86/min, BD 150

Drehtür, Parkplatz, Klassik-Radio auf Anschlag, Türkischer Marsch, ich habe auf das Lenkrad getrommelt, als wäre ich taub auf beiden Ohren, aber Entspannung, ist ja nicht meine Karre, sie gehört der EisBank. Als Gegenleistung haben sie mich mit Haut und Haar. Ich habe mir den größten Wagen ausgesucht, den Kombi, der für Manager mit Kindern gedacht ist. Nicht meinetwegen, sondern wegen meines Hundes, er findet ihn toll, was ein echtes Argument ist, arbeiten zu gehen. Nanterre, Courbevoie, dann rein nach Paris, das Seine-Ufer entlang, nach Hause, zu Papa. Er erwartet mich, er bellt, er sabbert, er liebt mich, und er stinkt, was allein meine Schuld ist. Einen Berner Sennenhund einzuseifen, dauert ewig, und das letzte Mal habe ich an seinem Hals diese beunruhigenden Knötchen gespürt. Seit einem Monat kann ich mich nicht überwinden, ihn erneut abzutasten, weil ich Angst habe. Ich nenne ihn Papa, um meine hochheilige Mutter, die darüber nie ein Wort verloren hat, zur Weißglut zu treiben, und weil Papa in der Regel der Herr im Haus ist. Eine Regel, die für mich oft genug in einem Fiasko endete, bis ich mir eines Tages sagte: Stopp. Ab jetzt ist Papa der Köter. Irgendwo muss man schließlich anfangen.

Ein Glas Wasser, das Hemd in den Wäschekorb und wieder einen Kilometer die Seine entlang, zwanzig Minuten im leichten Trab, in denen ich mich am falschen Ende der Leine fühle. Vorbei am Monop’ Daily, Pinkelpause an einer Platane, weiter Richtung Tuilerien, dann mein Versuch, schnurstracks umzukehren, in Vorfreude auf Rebecca War, German Pornostar, die ich gestern in HD auf ihrer Freundin hockend zurücklassen musste, weil mein Mobilfunkanbieter Glasfaserleitungen verlegt, wann es ihm gerade passt, und das in einer Hütte für 6000 Euro. Ohne Nebenkosten. Papa weigert sich, er will weiterpreschen bis zum Quai d’Orsay. Na gut, dann also nicht zurück. Papa hat einen exzellenten Deal mit mir gemacht, denn dass er als Hund sagt, wo es langgeht, damit konnte er nicht rechnen.

Sie hat mir geschrieben. Die Frau aus dem Gewächshaus, die Seltsame, die von gestern. Ich stand vor dem Institut de France, um die Angelegenheit wenigstens geografisch zu verorten, auch wenn sie wie so vieles nirgendwohin führen wird. Sie hat mir als Erste geschrieben, normalerweise warten die Frauen ab. Sie warten lange, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht, es ist nicht offensichtlich, dass ich praktisch tot bin, sie warten ab, ob sich im Schützengraben auf der anderen Seite etwas regt. Aber es regt sich nichts. Totale Funkstille, in die man so ziemlich alles hineinprojizieren kann, was einem einfällt. Verachtung, schwul, Bastard, verheiratet, falsche Nummer.

Sie nicht.

Guten Tag, Clément, ich bin es, Laure, von der Uni Paris 13. Es tut mir leid, dass ich so schnell aufbrechen musste, aber vielleicht hätten Sie noch mal einen Moment. Ohne Abkürzungen, mit Raum zwischen den Zeilen, mit einem Doppel-s, wo es hingehört, und Sätzen wie aus einem Kitschfilm. Wenn ich darauf antworte, passiert etwas, dem einer zum Opfer fallen wird. Wenn ich nicht antworte, passiert das Übliche. Papa, Drehtür, Krisensitzung, keine Krise, Tinder, Drehtür, Frost, Parkplatz, Papa, Wichse, Tiefschlaf, kalte Wichse, Hundefutter, France Inter, Clément, raus aus den Federn, rein in die Reeboks, Sprint, Parkplatz, Frost, Sitzung, Sitzungen satt bis August, dann in den Flieger, Hilton, am Ende der Welt, Huren, Herbst, kurzer Winter, wenig Licht, kurzfristige Ziele, Bewertung, Bonus. Insofern ist ein Guten Tag, Clément, ich bin es, Laure, von der Uni Paris 13, ein befreiendes Aufatmen. Freude.

Panik.

Auf der Treppe habe ich kurz und bündig ok morgen würde es passen