Filippo und die Weisheit der Schafe - Paola Mastrocola - E-Book

Filippo und die Weisheit der Schafe E-Book

Paola Mastrocola

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Beschreibung

Filippo ist ein Bilderbuch-Sohn: begabt, wissbegierig, liebenswert. Das BWL-Studium hat ihn bis zur Promotion nach Stanford gebracht. Seinen stolzen Eltern berichtet er oft per Skype von seinen Erfolgen.

Nur schade, dass das alles gar nicht stimmt. In Wahrheit hat Filippo nach einigen Semestern genug vom Leistungsdruck und den ehrgeizigen Karriereplänen seiner Mitstudenten. Er bricht das Studium ab und sucht sich heimlich ein neues Leben mit viel Zeit zum Nachdenken und Lesen. Er wird Schäfer.

Als Filippos Eltern vom Doppelleben ihres Sohnes erfahren, sind sie entsetzt. Sie brechen sofort auf, um ihn zur Rede zu stellen. Doch erst nach einer abenteuerlichen Reise durch mehrere Länder erfahren sie, warum ihr Sohn jemand ganz anderer geworden ist, als sie immer dachten. Und warum Filippo mit seiner gesamten Schafherde eine hochkarätige internationale Wirtschaftskonferenz im College von Oxford gestürmt hat …

Eine charmante Feel-Good-Geschichte über einen jungen Mann, der mit allen familiären und gesellschaftlichen Erwartungen bricht, um sein Glück dort zu finden, wo es niemand erwartet.

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Seitenzahl: 500

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Non so niente di te bei Einaudi, Turin.

1. Auflage

Copyright © 2013 by Paola Mastrocola

First Italian edition Giulio Einaudi editore S.p.A., Torino, Italy

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

bei carl’s books, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München unter Verwendung eines Motivs von Hans-Joerg Nisch /Shutterstock Images; CG Textures / Wojtek Starak

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-13752-6www.carlsbooks.de

Inhalt

Schafe im Balliol College

ERSTER TEIL – Familienessen

Bayerische Creme und Gheris Flunsch

Erste Qualen

Wer ist mein Sohn?

Zweite Qualen

Lehrerinnen, Koffer und Seehunde

ZWEITER TEIL – Auf der Suche nach Fil

Giuliana in Stanford

Swap

Winkelzüge der Täuschung

Jeremys Dunkel

Erstes Licht

Streit und Wortbruch

Nonna Gina

»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert«

Künstler oder Ökonom?

Zum Schloss

Der Duke of Glensbury

Der blinde Hirte

DRITTER TEIL – Ceiling Theory

Die Sommer in Bristol

Klippen

Der Mann, der Blätter angelte

Rat race

Die Nacht der verrutschten Fliege

Der Tag der Hornisse

Der Himmel über uns

Schafe im Balliol College

Heimkehr

Fjorde

Nachwort

Ein Kind muss unter unserem Dach leben wie ein abenteuerlustiger, glücklicher Fremder.

Pietro Citati

Die Auffassung, dass nützliches Wissen dem unnützen vorzuziehen sei, wurde von uns vehement abgelehnt.

John M. Keynes

Die kapitalistische Idee des BIP, dem zufolge alles ständig wachsen muss, wird in ein Desaster münden, ist doch qua Naturgesetz alles Geburt, Wachstum und Niedergang.

Andrea Zanzotto

Schafe im Balliol College

Sie saßen in dem kleinen Café in der Broad Street am Ecktisch im Fenster; er in einer grauen Winterjacke, das blasse Gesicht rosig von der Morgenluft, das schlohweiße Haar noch voll; sie in einem Schaffellmantel mit cremefarbenen Aufschlägen, die Goldrandbrille auf der Nasenspitze. Vor ihnen, auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, erhob sich das imposante Gebäude des Balliol College mit seinem dunklen Holztor, den hellen Steinmauern, den gotischen Bögen und schmalen, kegelförmigen Türmchen, die sich in den Himmel bohrten.

Gerade sagte sie zu ihm, wie der ungewöhnlich milde Wind dieser ersten Novembertage ihr vor Wehmut das Herz schwer mache.

»Wehmut wonach?«

»Nach dem gelebten Leben, Burt, wonach sonst?«

»Ach ja …«, seufzte er.

Sie schnitten ihre Croissants auf, butterten sie, strichen eine Messerspitze Erdbeermarmelade darauf und blickten gedankenverloren auf den großen, sanft vom Wind bewegten Baum in der Mitte des Platzes.

»Ja ja …«, fuhr er fort. »Wie wahr, wir sind wie die Blätter …«

Judith lächelte, die kleine Gabel halb in der Luft. Sie musste an die klassischen Dichter denken, die sie in ihrer Jugend studiert hatte und die diesen inzwischen recht abgegriffenen Vergleich des menschlichen Lebens mit Herbstlaub, den ihr geliebter Burt gerade zwischen zwei Schlucken Filterkaffee heraufbeschwor, in einzigartigen Versen zu besingen vermochten. Da bog eine Schafherde um die Ecke, nahm nach und nach die gesamte Straße in Beschlag und verschwand dicht gedrängt im Tor des Balliol College.

»Sheep!«, rief Judith aus.

»Oh my God!«, raunte Burt und vergaß, an seinem Kaffee zu nippen.

An jenem Morgen um zehn Uhr dreißig waren im größten Hörsaal des Balliol College bereits mehrere hundert Menschen auf ihren Plätzen versammelt und warteten geduldig auf den Beginn der Tagung. Junge Studenten verschiedenster Nationalitäten und mehr oder weniger betagte Professoren mit mehr oder weniger ergrautem Haar, karierten Schals und weichen Shetlandjacketts.

Ein gedämpftes Murmeln erfüllte den Saal.

Der erste Referent, ein junger und dank seiner Studien zur Theorie der ökonomischen Entwicklung bereits zu internationalem Ruhm gelangter italienischer Wirtschaftswissenschaftler, traf pünktlich um fünf vor elf ein. Er hatte zerzauste Locken, ein schüchternes, leicht fahriges Auftreten und trug ein zu kurzes, zerknittertes Jackett. Er stieg aufs Podium, begrüßte den Dekan, der die einleitenden Worte sprechen würde, setzte sich an den Tisch und holte seine Unterlagen und den Computer hervor. Er hieß Jeremy Piccoli und war von der Oxforder Universität eingeladen worden, um über seine erstaunliche Entdeckung, eine besondere, in akademischen Kreisen bereits als Jerfil-Algorithmus bekannte Berechnungsmethode zu referieren, die optimistischen Einschätzungen nach bei richtiger Anwendung das Wachstum der von der jüngsten Wirtschaftskrise gebeutelten westlichen Welt wieder in Schwung bringen sollte.

Der zweite Redner hingegen ließ auf sich warten und war in diesen Kreisen noch ein unbeschriebenes Blatt. Sein Name war in allerletzter Minute hinzugefügt worden, nachdem Jeremy Piccoli bei den Organisatoren der Tagung eisern auf die Einladung bestanden hatte, da er diesem brillanten Studienkollegen und Freund die Erfindung seines Algorithmus ganz wesentlich zu verdanken habe.

Um Punkt elf Uhr trat Jeremy Piccoli ans Mikrofon. Er verkündete, er werde erst nach Eintreffen seines Kollegen mit der Darlegung seines Algorithmus beginnen, und machte sich daran, mithilfe seines Computers das einleitende Schaubild zu erklären. Den Blick auf die große Leinwand geheftet, hörte das Publikum aufmerksam zu und machte sich Notizen.

Nach ein paar PowerPoint-Folien kamen die Schafe.

Zuerst war von draußen ein eigenartiges Getrappel zu hören. Dann tauchte in der Tür hinter den Zuhörern ein hochgewachsener, junger Mann mit kurzem, dunklem Haar auf. Er trug einen grauen Leinenanzug und hatte sich einen gestreiften, mit Wappen versehenen Collegeschal über die Schulter geworfen. Die Hände in den Taschen, betrat er bedächtig den Saal. Hinterdrein folgten die Schafe.

Wäre er einfach so in der Tür aufgetaucht, hätte niemand sich etwas dabei gedacht: Na endlich, der andere junge Redner, sehr gepflegt in seinem feschen Anzug. Wären da nicht diese Schafe gewesen. Weiß und wollig und dicht gedrängt: eine komplette Herde. Um genau zu sein, eine eher gräuliche Schafherde: eine dichte Masse schmutzig weißer Wolle mit schwarzen Nasen und Füßen. Schafe einer in Großbritannien sehr verbreiteten Rasse namens Suffolk.

Hunderte von Suffolk-Schafen drängelten sich also in die Aula des Balliol College. Ganz gesittet und unter gedämpftem Blöken besetzten sie jedes freie Eckchen. Sie schoben sich zwischen die Stühle und nahmen die Bühne in Beschlag, derweil andere noch draußen auf den Stufen standen. Alles verlief ganz leise und geordnet.

Jeremy Piccoli wurde blass und verstummte. Auf dem großen Bildschirm in seinem Rücken blinkte der letzte Satz seiner Einführung.

Vorne angekommen, erklomm der junge Mann im grauen Anzug die wenigen Stufen zum Podest, drückte den verdatterten Professoren die Hand, umarmte wie selbstverständlich den Freund und Kollegen Jeremy und setzte sich auf den freien Platz am langen Tisch, an dem sein Namensschild prangte: FILIPPOCANTIRAMI.

Das Publikum brauchte ein paar Minuten, um zu begreifen, was vor sich ging. Zuerst rutschten alle unruhig auf ihren Stühlen herum und warfen einander ungläubige Blicke zu; dann, mit zunehmendem Vorrücken der Herde, standen einige auf, um zu gehen. Die meisten aber blieben sitzen und versuchten sich die aufdringlichen Tiere vom Leib zu halten.

Unterdessen waren durch den Lärm alarmierte Saaldiener, Pförtner und Collegeprofessoren herbeigeeilt, konnten dem Treiben aber nur ohnmächtig und entgeistert zusehen.

Einige stießen panische Laute aus und ruderten mit den Armen, als wollten sie ein fatales Unglück aufhalten, das soeben seinen Lauf genommen hatte: Eine Invasion von Aliens, die ihr Raumschiff verlassen hatten und gar nicht daran dachten, sich auf ihren fremden, unendlich weit entfernten Planeten zurückscheuchen zu lassen.

Das alles dauerte nicht länger als einen Augenblick. Die Schafe hatten jeden Quadratzentimeter in Beschlag genommen, sich zwischen die Stühle, Beine und Aktentaschen der Anwesenden gedrängt, das Parkett und die Bühne, die Treppen und unbesetzten Toiletten eingenommen; sie füllten die Vorhalle, die kleinen Innenhöfe, die Arkaden und Bogengänge, den viereckigen Kreuzgang bis hin zur kleinen Kapelle, den riesigen umfriedeten Park mit den jahrhundertealten Bäumen und das kleine ovale Rasenstück vor dem Eingang; sie waren vor dem Tor, auf den Bürgersteigen, vor den Souvenirläden und auf dem Vorplatz, wo die letzten erfolglos versuchten, sich aufs Collegegelände zu drängen.

Unterdessen hatte Filippo Cantirami, der junge Redner im grauen Anzug, das Wort ergriffen, um sich zuallererst bei seinem Freund für die Einladung und dann beim College für die entgegengebrachte Gastfreundschaft zu bedanken. Dann kam er sofort zur Sache und berichtete von seinen Studien, von der äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit mit seinem Freund und wie sie gemeinsam zu der Hypothese gelangt waren, die sie der hochverehrten Zuhörerschaft nun vorstellen durften.

Alle lauschten derart gebannt, dass sie die Schafe beinahe vergaßen. Der Vortrag nahm seinen Gang, als wäre nichts geschehen. Nachdem Jeremy Piccoli seine anfängliche Verwirrung überwunden hatte, ließ er sich von der Begeisterung seines Freundes mitreißen und machte sich eifrig daran, dem Publikum ihre überraschende Entdeckung, jenen fantastischen Algorithmus minutiös zu erläutern, dessen Name sich offenkundig aus den jeweiligen drei Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen zusammensetzte: Jerfil.

Sie redeten eine Stunde, genau wie vorgesehen. Die Zuhörer lauschten ihnen fasziniert. Am Ende erteilte der alte Professor, der die Veranstaltung moderierte, den drei Koreferenten das Wort, die in vorgegebener Reihenfolge ihre Ansichten zu dem soeben Vernommenen kundtaten. Dann war das Publikum an der Reihe und stellte eine gute halbe Stunde lang Fragen. Am Schluss dankte der Dekan den Referenten, Koreferenten und Zuhörern, und die Referenten dankten dem Dekan, den Koreferenten und den Zuhörern. Die Tagung ging zu Ende wie jede andere akademische Tagung, bei der Referenten reden und Zuhörer zuhören, applaudieren und froh und dankbar ob der gewonnenen Erkenntnisse nach Hause gehen.

Und die Schafe?

Nach ihrem Auftauchen hatten sie die ganze Zeit über brav und mehr oder weniger reglos ausgeharrt, denn sie standen so dicht, dass sie sich kaum rühren konnten. Still waren sie außerdem: Abgesehen von dem einen oder anderen schüchternen Blöken hatten sie keinen Mucks von sich gegeben. Fast schien es, als lauschten sie ebenfalls gebannt den Ausführungen zu so hochbrisanten Themen der Weltwirtschaft. Wer wusste das schon? Die Schafe schwiegen, und jeder konnte sich seinen Teil dazu denken. Tatsache ist, dass kein Vierbeiner die Tagung störte, was – zumal für unsereins, die nach so vielen Jahren davon erzählen – fraglos verblüffend ist. Nur ein unterschwelliges Wimmeln war zu spüren, eine zarte, leise, wollige Regung, unmerklich und wohlig. Eine Art lebende Bettdecke. Stellen wir uns beispielsweise die Arktis vor, eine Landschaft Typ Eisige Welten, dieser wunderbaren englischen Dokumentarfilmreihe über die Welt der Pole, die von der faszinierenden Stimme des alten David Attenborough kommentiert wurde und zu Beginn des dritten Jahrtausends sehr angesagt war. Stellen wir uns also eine eisig verschneite Polarebene vor, und dann fängt diese Ebene an, sich zu bewegen, nur ganz leicht: Sie rührt sich unmerklich, bekommt hier und da Risse, scheint ins Rutschen zu geraten, doch dann erstarrt sie wieder. So in etwa muss man sich diese Herde vorstellen. Von oben betrachtet, versteht sich.

Nur am Ende geschah etwas Ungewöhnliches: Das Publikum wartete, dass sich die Schafe als Erste verzogen, in gewisser Weise ließ es ihnen den Vortritt. Und die Schafe verließen, noch immer gesittet, eines nach dem anderen den Saal und folgten ihrem Helden Filippo Cantirami. Dieser wiederum lief in dem verzweifelten Versuch, mit ihm zu reden, seinem Freund und Kollegen Jeremy Piccoli nach, der jedoch, ohne sich umzublicken, davonhastete, als wolle er eine Unterredung mit Filippo vermeiden.

»Jeremy, bleibst du mal stehen? Jeremy, ich kann dir alles erklären …«

»Erklären? Was denn? Es gibt nichts mehr zu erklären, dazu ist es zu spät!«, entgegnete Jeremy, der abrupt stehen blieb und herumfuhr. »Du… du hast alles kaputt gemacht! Du hast unsere Abmachung gebrochen, Fil! Ist dir das eigentlich klar?«

»Jer, ich bitte dich, das konnte doch nicht ewig so weitergehen, irgendwann …«

»Und du meinst, durch deinen Auftritt ist alles in Butter? Jetzt erfahren es alle!«

»Ich lasse das Handy aus. Und den Computer.«

»Ah, genial! Und du glaubst, so kommst du davon? So findet dich keiner?«

»Ja … Jeremy, jetzt bleib doch mal stehen! Ich kriege das hin …«

»Ach ja? Na, toll! Schade nur, dass sie mich finden, Fil! Du bist ein echtes Genie!«

So redeten sie an jenem Tag, ein zweiminütiger, hitziger Wortwechsel (wenn man es denn so nennen kann). Dann stob Jeremy davon und verschwand hinter der nächsten Ecke, während Filippo wie vom Donner gerührt dastand und ins Leere starrte.

Niemand hörte, was sich die beiden Freunde an jenem Novembertag vor dem Balliol College sagten, umringt von einer Hundertschaft blökender Schafe, die abermals die Broad Street in Beschlag nahmen, unschlüssig darauf wartend, dass ihr junger Anführer in Grau sich für eine Richtung entscheiden würde, damit sie ihm nach Schafsart brav und gefügig folgen konnten.

Wie gesagt, mitten auf der Broad Street vor dem netten kleinen Café, in dem die beiden älteren Herrschaften namens Judith und Burt ihr übliches Elf-Uhr-Frühstück zu sich nahmen, an ihrem Filterkaffee nippten und sorgsam ihreCroissantsbutterten und mit einem Klacks Erdbeermarmelade versahen.

In exakt demselben Moment erhielt Margherita Cantirami, genannt Gheri, in einer großen, am Fuße der westlichen Alpen gelegenen norditalienischen Stadt von ihrer Freundin Cami die folgende SMS:

Hallo gheri bin in oxford!

Hab deinen bruder fil gesehen!!!

Er hat schafe ins college mitgebracht…! Ins Balliol! SCHAFE!!!

Glaub mir! Zum totlachen!!!

Cami, die seit Monaten nichts hatte von sich hören lassen! Ihre alte Freundin Camilla Bardi Saraceni, die fünf Jahre lang mit ihrem Bruder Fil zusammen gewesen war und, obwohl er vor einer Ewigkeit mit ihr Schluss gemacht hatte, noch immer an seinen Fersen klebte.

Gheri saß gerade in einer Vorlesung. Sie hatte Wirtschaftsrecht, und spätestens jetzt, nach dieser schallenden Ohrfeige von SMS, war es mit ihrer Aufmerksamkeit vorbei. Was hatte das zu bedeuten? Sie stand auf, drängelte sich an den angezogenen Knien und vor den Bauch gedrückten Büchern von rund zwanzig Kommilitonen vorbei, verschwand in der Eingangshalle und tippte auf ihrem Handy herum, um besagte Cami anzurufen und zu erfahren, worum es überhaupt ging.

»Cami, was hast du dir denn da ausgedacht?«

»Ich hab mir überhaupt nichts ausgedacht! Dein Bruder ist in Oxford und hat eine Megaschafherde mit ins College gebracht!«

»Was redest du denn da?«

»Ich sag’s dir, ich war dabei, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen: Fil und bestimmt hundert blökende Schafe! Weiß. Weiß mit schwarzer Schnauze, um genau zu sein. Englische Schafe.«

Moment.

Durchatmen. Bis zehn zählen.

Schafe.

Sie hat »Schafe« gesagt.

Fil hat Schafe nach Oxford gebracht. In ein Oxforder College.

War Fil nicht in Stanford?

»Cami, wo ist Fil gerade, in welchem Oxford?«

»Wie, in welchem?«

»Wo?«

»Oxford, Gheri, aufwachen! Oxford UK …! Verstanden?«

Gheri legte auf und rief ihren Bruder an, die Finger flogen über die Touchscreen-Nummern. Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar …

Und jetzt?

Wie sollte sie es ihren Eltern sagen?

Oder sollte sie es ihnen überhaupt sagen? So tun, als wäre nichts – wieso nicht? Aber ließ sich so etwas verschweigen? Nein, besser, man sagte es ihnen. Aber wann? Wie? Den Vater im Büro aufsuchen? Die Mutter bei ihrer Baustellenbegehung stören? Sie auf ihren Handys anrufen? Fragen, ob sie Lust auf einen Kaffee in der Stadt hätten? Aber nein, warum so eilig? Heute Abend. Heute beim Abendessen. Ach nein, heute war ja das Familienessen … Das übliche Theater mit der Großfamilie. Das Essen bei den Großeltern, um die Tante zu verabschieden, die nach Amerika fuhr – auch das noch!

ERSTER TEILFamilienessen

Kapitel 1

Bayerische Creme und Gheris Flunsch

An jenem Morgen wälzte sich das Wasser unter den Brücken hindurch.

Dunkles, graubraunes, zäh fließendes Wasser; fast eine Art Morast, der seiner Reglosigkeit überdrüssig geworden war und nun an Pfeilern und Dämmen entlangstrudelte, doch ohne das meeresartige Rauschen von Wind und Wellen. Stummes, vollkommen lautlos dahinrollendes Wasser.

Viele blieben auf den Brücken stehen, um den Fluss zu fotografieren. Noch nie hatten sie ihn so voll gesehen. Alle knipsten wild mit ihren damals üblichen Handys herum.

Es war Anfang November, und binnen weniger Tage hatten heftige Regenfälle in ganz Italien Flüsse und Bäche über die Ufer treten lassen und zu Erdrutschen und zerstörten Straßen geführt. Ligurien und die Toskana hatte es besonders schwer getroffen, es hatte Dutzende Tote und schwere Schäden gegeben. Ein ganzes Dorf, ein Kleinod der Ligurischen Küste, war dem Erdboden gleichgemacht worden. Im Fernsehen waren Bilder von Zerstörung und Verwüstung zu sehen, ein riesiger Schlammfluss, der Autos und Menschen mitriss und Häuser verschluckte, eine düstere Flutwelle, die Plätze und Häfen überspülte, Molen und Schiffe demolierte und sich dann braun ins Meer ergoss. Überall Menschen, die schippten und gruben. Und in den Zeitungen und Talkshows Dutzende Experten und Meinungsmacher, die sich die Köpfe heißredeten, mal den Meteorologen die Schuld gaben, die unfähig gewesen waren, zutreffende Vorhersagen zu machen und die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen, mal den zuständigen Behörden, die die schlampige Wartung der Dämme und das wilde Zubetonieren zugelassen hatten, mal den Bürgermeistern, die die Dringlichkeit der Lage trotz pflichtgemäßer Inkenntnissetzung offenbar nicht erkannt hatten. Doch wer der Schuldige war – und ob es denn immer und selbst für die natürlichsten aller natürlichen und unvorhersehbaren Auslöser einen Schuldigen geben musste –, blieb unklar. Also redete man wieder einmal sinnlos herum und füllte die Luft mit markigen Floskeln. Was blieb, waren die Tragödien der Menschen, die von diesem vernichtenden Schlag betroffen waren. Tragödien, die, sobald sie nicht mehr im Scheinwerferlicht standen, wieder zu dem wurden, was sie waren: Privatangelegenheiten, Einzelschicksale.

In den Ebenen des Nordens hingegen hatte sich das Unwetter auf heftigen Regen und angeschwollene Flüsse beschränkt. Und während an jenem Morgen – dem 9. November, um genau zu sein – ihr Sohn Fil eine Herde Schafe in ein englisches College lotste und ihre Tochter Gheri die erste von ihrer Freundin Cami erhielt, überquerte Nisina Rocchi Cantirami eine der Brücken der Stadt. Sie blieb einige Sekunden lang stehen, um das mächtige Brodeln des Flusses und den inzwischen unmäßig hohen Wasserstand zu betrachten. Auch fragte sie sich, ob im Laufe des Tages mit der Scheitelwelle zu rechnen sei und wie zerstörerisch sie möglicherweise ausfallen mochte. Kurz gesagt: ob die Brücken ihrer Stadt standhalten würden oder nicht. Doch da ihr ein solches Szenario mehr als unwahrscheinlich erschien, hörte sie auf, darüber nachzudenken, und machte sich eilig auf den Weg zu ihrem Ziel.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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