FILM-KONZEPTE 72 - John Woo -  - E-Book

FILM-KONZEPTE 72 - John Woo E-Book

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Beschreibung

Heroisches Blutvergießen, mit diesem Begriff, der schon fast zu einer Genrebezeichnung gereift ist, werden John Woos Werke der 1980er und 1990er Jahre gern erfasst. Doch Woo Yu-sen, besser bekannt unter dem Namen John Woo, ist weit mehr als nur der Schöpfer eines brachialen Actionkinos. Als eindeutiges Kind des Hongkong-Kinos, dessen Produktionsweisen und filmsprachlichen Traditionen John Woo aufgriff, um sie auf eigenwillige und stilsichere Weise neu zu interpretieren, sind seine Werke ebenso geprägt von flamboyanten, ästhetisierten, durch ständige Rhythmuswechsel strukturierte Kampfchoreografien wie von einem komplexen Wertekanon, der aus seiner christlichen Erziehung, aus Ideen der Ritterlichkeit und der chinesischen Geisteswelt gleichermaßen schöpft. Seine Helden mögen entschlossen und heroisch sein, doch sie sind ebenso zerrissen, zweifelnd und melancholisch. Nach dem Karrierebeginn in Hongkong, arbeitete Woo ein Jahrzehnt in Hollywood und heute in der Volksrepublik China. Seinen Stil adaptierte er den jeweiligen Produktionsumständen, doch er blieb ihm stets treu.

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Seitenzahl: 189

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FILM-KONZEPTE

Begründet von Thomas Koebner

Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

Heft 72 · 4/2023 John Woo Herausgeber: Till Brockmann

Der Verlag edition text + kritik und das Team der FILM-KONZEPTE trauern um Kathrin Michel, die langjährige Grafikerin und Setzerin der FILM-KONZEPTE, die die Zeitschrift seit ihren Anfängen mit großem Einsatz betreut hat.

Print ISBN 978-3-96707-904-3 E-ISBN 978-3-96707-906-7

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer Umschlagabbildung: Chow Yun-fat in THE KILLER (1989, R. John Woo)

Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Till Brockmann Jedem sein John Woo – eine Einleitung

Andreas Ungerböck Reise in den Westen. Anmerkungen zu John Woos triumphalen Erfolgen in den 1980er Jahren, zu T. E. Lawrence-Filmkritikern und zur Frage kultureller Differenzen

Clemens von Haselberg Freiheit und Verstrickung: Gongwu in den Filmen John Woos

Lukas Foerster Von der Kontinuität des Körpers zur Immanenz des Bildes. Zur Konzeption des Actionhelden bei John Woo

Joachim Schätz Bewegungsmelder. Der herausgesprengte Moment in John Woos Filmen und ihrer figuralen Analyse

Thomas Bohrmann Von Kindern, Krankenhäusern und Kirchen. Die religiöse Filmwelt von John Woo

Biografie

Filmografie

Autoren

[2|3]Till Brockmann

Jedem sein John Woo – eine Einleitung

Dave Kehr, einer der prominentesten Filmkritiker der Vereinigten Staaten, leitet 2002 seinen Artikel in der New York Times mit folgenden Worten ein: »John Woo is arguably the most influential director making movies today.«1 Dass Kehr dem Hongkonger Regisseur im gleichen Beitrag den Autorenstatus und eine gewichtige Position innerhalb der Filmgeschichte einräumt, verwundert nach diesem Urteil nicht. Obwohl solch hyperbolische Bekundungen stets mit Vorsicht zu genießen sind, ist es schon erstaunlich, dass, vielleicht sogar erstmalig in der Filmgeschichte, weder ein amerikanischer noch ein europäischer Regisseur in so olympische Sphären gehoben wird, dazu noch von einem US-Kritiker: Allerdings ist anzumerken, dass John Woo zu jener Zeit in Hollywood tätig war. Doch einem Argument, das Kehr kurz danach folgen lässt, um seinen Befund zu unterfüttern, kann man kaum widersprechen: »Mr. Woo (...) in some ways embodies the globalizing forces that have shaped motion pictures in the last two decades«.2

Der Status Woos als Autor und einer der ganz Großen der Filmgeschichte ist dennoch alles andere als unumstritten. Das liegt zunächst an – selbstredend subjektiven – Einschätzungen der Qualität seiner Filme. Denn Verbreitung und kommerzieller Erfolg lassen sich nicht mit ästhetischer, künstlerischer Güte gleichsetzen; in manchen Kreisen gilt solch merkantile Wirksamkeit sogar als anrüchig. Zum Teil bewegte sich die Ablehnung seiner Werke auch im Umkreis von Diskussionen zur Gewalt(-darstellung) im Film, die in Wogen wechselnder Kraft immer wieder über die Siebte Kunst schwappen und gerade in den 1980er und 1990er Jahren, als Woo erstmals international wahrgenommen wurde, im Kielwasser des Schaffens von Filmemachern wie Oliver Stone oder Quentin Tarantino mal wieder besonders inbrünstig geführt wurden. Für die Filme von Woo schuf man im angelsächsischen Raum sogar ein eigenes Genre-Etikett: heroisches Blutvergiessen (Heroic Bloodshed).3

[3|4]

Bei uns unbekannte Blödelkomödien: hier MONEY CRAZY (HK 1977)

[4|5]

Epos mit Starbesetzung: RED CLIFF (VRC / HK 2008)

Problematisch ist zweifellos, wie das Œuvre Woos aus Unkenntnis, dann wieder in bewusster Auswahl oder Ablehnung nur lückenhaft rezipiert und besprochen wird, bis heute. Es sind vor allem die Actionfilme aus Hongkong (A BETTER TOMORROW, 1986; A BETTER TOMORROW II, 1987; THE KILLER, 1989; BULLET IN THE HEAD, 1990 und HARD BOILED, 1992) anhand derer man ihm als Koryphäe huldigt. Partiell werden auch noch Woos Hollywood-Produktionen (HARD TARGET, 1993; BROKEN ARROW, 1996; FACE / OFF, 1997; MISSION: IMPOSSIBLE II, 2000; WINDTALKERS, 2002; PAYCHECK, 2003) für wirkmächtig erklärt und einer vertieften Analyse zugeführt. Die westliche Kritik und Filmwissenschaft ignoriert hingegen weitgehend Woos frühe Hongkong-Genrefilme, weil sie entweder nur schwer zu erhalten sind oder als minderwertig, zumindest nicht bezeichnend für seinen Stil erachtet werden. Teilweise aus gutem Grund: Der Regisseur selbst äußert sich nicht gerne zu manchen Kung-Fu-Filmen oder Komödien aus seiner frühen Schaffensphase, da er in der Tat – das Los eines jeden (noch) nicht etablierten Regisseurs einer kommerziellen Filmindustrie – sehr wenig Einfluss auf deren Gestaltung hatte. Trotzdem sieht Woos Rezeption in Hongkong vielschichtiger aus. Einige Komödien, vielleicht das Lieblingsgenre des heimischen Publikums, schnitten zumindest bei letzterem gut ab, und der Kanton-Oper-Film PRINCESS CHANG-PING von 1976 gilt als erster Grosserfolg, mit dem der Filmemacher in der ganzen Branche ein gewisses Renommee erlangte – Woo selbst beteuerte mehrmals, der Dreh habe ihm große Freude bereitet. Es handelt sich dabei um das Remake einer Produktion von 1959 (TRAGEDY OF THE EMPEROR’S DAUGHTER, Tso Kei), eine sehr tableau- oder bühnenhaft gefilmte Inszenierung des klassischen Stoffs Di Nü Hua (Die Blumenprinzessin), das für westliche Zuschauer*innen oder zumindest für solche, denen die Tradition der chinesischen Oper nicht vertraut ist, aber wahrlich nur schwer zugänglich ist. Selbst zwei Filme aus seiner »Blütezeit«, der in Ko-Regie mit Wu Ma entstandene JUST HEROES von 1989 und ONCE A THIEF (1991), finden eher selten Beachtung, wenn man über Woos Œuvre spricht. Letzterer weist immerhin Chow Yun-fat, der durch Woos vorige Filme international berühmt wurde, und den ebenfalls im Westen bekannten Leslie Cheung im Cast auf, beinhaltet zudem eine Reihe spektakulär inszenierter Actionszenen, die mehrheitlich am Ursprung von John Woos weltweitem Ansehen stehen, und wurde vor Ort nicht nur ein Kassenschlager, sondern 1992 bei den Hong Kong Film Awards auch in den Kategorien Bester Film, Beste Regie und Bester Schauspieler (Chow Yun-fat) nominiert. Dennoch lässt bei ONCE A THIEF die wilde Vermischung von Genres, die nicht nur ein für Woo typisches Amalgam aus Action und starker Melodramatik, sondern auch noch komödiantische Elemente beinhaltet, manch europäisches und amerikanisches Publikum offensichtlich etwas ratlos. Vor allem, wenn beinharte, von mehreren Opfern gesäumte Schießereien mit typisch kantonesischem Mo lei tau versetzt sind (der Begriff steht für eine besondere Art von körperlichem und verbalem Slapstick, der am besten mit Unsinn oder auch Klamauk ins Deutsche zu übersetzen ist). Und schliesslich wird auch John Woos Schaffen der letzten Jahre, das innerhalb der phänomenal an Macht gewinnenden kommerziellen Filmproduktion der Volksrepublik China entstand, nur [5|6]spärlich Beachtung geschenkt. Das liegt auch daran, dass chinesische Historiendramen wie RED CLIFF (Teil I: 2008, Teil II: 2009) oder THE CROSSING (2014) und THE CROSSING II (2015) im Westen wohl weniger populär sind als moderne Actionfilme und bereits produktionsstrategisch auf den chinesischen und kaum auf einen internationalen Markt ausgerichtet sind.4 Hinzu kommt, dass diese Blockbuster im ideologischen Resonanzraum der Kommunistischen Partei Chinas entstanden, was sich in offenkundig nationalistischen Tönen bemerkbar macht, denen man im Ausland mit Skepsis begegnet.

Und zuletzt steht auch zur Debatte, ob Woos Handschrift, dort wo er sie aufgrund der Produktionsbedingungen durchzusetzen vermochte, den Status einer Exklusivität oder zumindest großen Aussergewöhnlichkeit (besonders innerhalb der lokalen Filmproduktion) wirklich verdient. Viele ästhetische, erzählerische Elemente des Regisseurs – Inszenierungsopulenz, rasante, die 180°-Regel oft missachtende, manchmal überlappende Montage, Rhythmisierung der Action durch Beschleunigungen und Pausen, massiver und vielschichtiger Einsatz von Zeitlupe, rapide Schärfenverlagerung, Wire Work, Mexican Standoff,5 narrative Spiegelungsmotive, starke melodramatische Verwicklungen der männlichen Helden, melancholische Grundstimmung und vieles mehr – gehören zum Grundrepertoire auch anderer Actionfilme Hongkongs und sind sogar bei einigen Arthouse-Regisseur*innen der ehemaligen Kronkolonie anzutreffen.6

Doch bevor sich manche bei so viel Einschränkungen, Problematiken und widersprüchlichen Einschätzungen zu fragen beginnen, wieso man diesem Regisseur ein Heft in den geschätzten Film-Konzepten einräumt, sei mit Nachdruck versichert, dass Woos Bedeutung und Einfluss, jenseits individueller Geschmacksurteile, außer Frage steht. Und das sowohl für das Hongkong- wie für das internationale Kino. Ob in der expliziten Erwähnung von Woos Vorbildfunktion aus dem Munde westlicher und asiatischer Regisseur*innen oder in der Analyse filmischer Inszenierung konkreter Actionszenen des Weltkinos, ist seine Wirkungsmacht unbestritten.7 David Bordwell, der im Klappentext seines Hongkong-Buchs die örtliche Filmbranche seit den 1970ern »arguably, the world’s most energetic, imaginative mass-market film industry« (wieder so ein überschwängliches Urteil) nennt und insbesondere auch die formal-ästhetischen Parameter von Woo lobpreist, zieht folgende Bilanz zu Alleinstellungsmerkmalen und Autorenstatus: »A film by Angelopoulos, Kitano, or Kiraostami is taken as a personal statement. But mass-market filmmaking also has authors, directors such as Griffith, Hitchcock, and Wells, [6|7]who display a consistency of theme and technique from film to film. Most Hong Kong films look like most other Hong Kong films, but John Woo has made his movies exaggeratedly distinctive, caricaturally personal. In a highly obvious cinema, he is a very obvious auteur.«8

Besonders, was den Gangsterfilm betrifft, ein Genre, das im Hongkong-Kino lange Zeit dahindümpelte, sprechen auch lokale Filmhistoriker von einer Zeit vor und einer Zeit nach dem Erscheinen von A BETTER TOMORROW. »A BETTER TOMORROW may not be the first Hong Kong gangster movie, but it is the most prominent and influential« urteilt beispielsweise Mao Jian in einer Publikation des Hong Kong Film Archive, die sich ganz dem Genre widmet.9 Auch Karen Fang sieht das Werk als Ausgangspunkt von zwei unterschiedlichen Entwicklungen: »being historically significant in both local Hong Kong movie history and the writing on that cinema later, promulgated by western scholarship and criticism.« Fangs lesenswertes Büchlein ist in dieser Hinsicht auch eine exemplarische Studie, welche die teilweise sehr unterschiedlichen und konkurrierenden Akzente, die man im Westen und in Hongkong selbst zu A BETTER TOMORROW (und indirekt zu Woos ganzem Schaffen) setzt, gut und schlüssig aufarbeitet.10

Zu den globalen und globalisierenden Kräften innerhalb der Filmbranche der letzten Jahrzehnte zählen nicht nur internationale Geldflüsse und Vermarktungsstrategien, ein häufigerer, nationale Grenzen überwindender Austausch von Regisseuren, Schauspieler*innen und anderen Filmschaffenden oder die Expansion der Filmfestivals, sondern in entscheidendem Maße auch technische Entwicklungen der Filmbranche. Die Geschichte der Rezeption John Woos (und des asiatischen Filmschaffens generell) im Westen schreibt sich in den letzten Jahrzehnten vor allem auch als Verfügungsgeschichte, ohne die ein inter- oder transnationales Unterhaltungskino nicht denkbar wäre.

Die erste Präsenz fernöstlichen Filmschaffens auf der Landkarte des cinephilen Bewusstseins verband sich in der Nachkriegszeit im Westen mit der »Entdeckung« der japanischen Regisseure Kurosawa, Mizoguchi, Ozu, ferner auch Naruse, Kobayashi oder Shindo. Ihre Filme wurden an Festivals prämiert und fanden zuweilen auch den Weg ins Kino. Nebenbei bemerkt: auch diese Autoren arbeiteten mehrheitlich, wie John Woo, innerhalb eines von klassischen Filmstudios dominierten Produktionssystems und verstanden es, ihre Genre-Werke (vor allem Melodramen, Samurai- oder Geisterfilme) mit einer eigenen Handschrift zu versehen. In den 1970er Jahren erregte auch das Hongkong-Kino mit einer Reihe von Kung-Fu-Filmen, besonders jene sechs mit Bruce Lee, zeitweilig für [7|8]Aufsehen. Diese Unterhaltungsfilme gingen erstmalig nicht den Weg über etablierte Festivals, sondern erfreuten in kleineren Kinos vor allem ein mehrheitlich jugendliches (und männliches) Publikum.

Der erneute internationale Auftritt fernöstlichen Filmschaffens in den letzten Jahrzehnten ist indes in jeder Hinsicht komplexer. Neben den genannten Produktionsländern Japan und Hongkong kommen nun auch die Volksrepublik China, Taiwan, Südkorea, Singapur oder Thailand zur Geltung. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde es fast schon zur Regel, dass Werke aus diesen Ländern bei internationalen Filmfestivals programmiert und sogar fast jährlich mit Palmen, Löwen, Bären oder strammen Statuetten aus Edelmetall bedacht wurden. Festivals nahmen nun aber fast ausschliesslich Filme mit künstlerischem Pedigree, die eher für die Arthouse-Auswertung geeignet sind, in ihre Programme auf.11

Der Zugang zum fernöstlichen Filmschaffen beschränkt sich jedoch infolge technischer Neuerungen und Diversifikationsprozesse in der Unterhaltungsindustrie seit den 1980er Jahren längst nicht mehr auf das Angebot von Filmfestivals oder Programm- und Arthouse-Kinos. Zum ersten Mal wurde nun auch der kommerzielle Mainstream dank Verbreitung von neuen Informationsträgern wie Videokassetten, Laserdiscs, VCDs,12 später DVDs und Blu-ray-Discs großen Publikumssegmenten zugänglich. Kungfu-Komödien von Jackie Chan, Actionfilme von John Woo oder Horrorfilme aus Japan entwickelten sich bald zu absoluten Rennern beim Verkauf und Verleih dieser Formate des Home Entertainments. Parallel dazu führten Veränderungen auf dem TV-Markt wie Kabelfernsehen, Satellitenempfang und vor allem das Aufkommen unzähliger privater Fernsehanstalten dazu, dass ein enorm erweitertes Spektrum an Filmschaffen, darunter auch nicht-westliches, ausgestrahlt wurde und sei es nur, um Programmplätze zu füllen.

Einen eigentlichen film- und rezeptionstechnischen Quantensprung bedeutete schliesslich die nach der Jahrtausendwende immer rasantere Entwicklung digitaler Technologien mit ihren veränderten Produktions- und Distributionsformen sowie neuen (und unübersichtlichen) Aufführungspraktiken. Filminteressierte haben heute auf Computer, Tablet oder Smartphone Zugriff auf globale und lokale, kostenlose und -pflichtige Streaming-Plattformen, auflegale und illegale Filmarchive, digitale Tauschbörsen, auf denen Filme und TV-Serien verschiedenster Herkunft heruntergeladen oder gestreamt werden können. Während früher anhand von Kinodaten und TV-Einschaltquoten noch zu eruieren war, welche Produktionen, wo, von wie vielen Menschen konsumiert wurden, lassen die Geheimhaltung der Streaming-Anbieter, ihre unübersichtliche Viel[8|9]zahl und der illegale Konsum (Videopiraterie) solche Erhebungen heute grundsätzlich nicht mehr zu.

Zweifellos haben diese Entwicklungen, zu denen sich auch eine stärkere Verquickung des Filmwesens mit weiteren Produkten der globalen Konsum- und Unterhaltungsindustrie gesellt, entscheidend zur Popularität von John Woos Filmen und deren Rezeptionsweise beigetragen. David Desser sieht John Woo deshalb auch am Ursprung und als Emblem einer neuen Cinephilie, die sich zwischen Fantum und Kritik bewegt.13 Im Netz werden seine Filme nicht nur geschaut, sondern – oft im Austausch mit einer Community – auch kommentiert, analysiert und bewertet. Manchmal auch aus purer Lust oder in essayistischer Absicht bearbeitet: Szenen werden isoliert, neu montiert, nach formalen Kriterien oder als Hit-Listen zusammengefügt.

Das Werk von John Woo ist in diesem Sinne ein fantastisches und fantastisch ergiebiges Forschungsfeld, das filmwissenschaftliche und populärwissenschaftliche, kulturell spezifische und transnationale Ansätze ermöglicht. Um es umgangssprachlich zu formulieren: Jeder hat seinen eigenen John Woo. Dieser kleine Band versucht dieser Auslegungsvielfalt Rechnung zu tragen, wenn auch die Pluralität der Forschungsansätze und Lesbarkeiten hier längst nicht vollumfänglich reflektiert werden kann.

Der erste Beitrag von Andreas Ungerböck begleitet Woos »Reise in den Westen« und zeichnet dabei auf, wie die Rezeption des Hongkonger Regisseurs, besonders im Umfeld der grossen Filmfestivals und im Vergleich mit anderen Filmemacher*innen aus dem asiatischen Raum, spärlicher und verzögert erfolgte – dafür später aber umso konsistenter ausfiel. Bei der publizistischen Verarbeitung im Westen diagnostiziert Ungerböck indessen eine gewisse Hilflosigkeit, die sich aus jonglierender Unkenntnis des Produktionskontextes, aber auch aus »kulturellen Differenzen« nährt. Für diese Alterität in der Betrachtung von Woos Werk nimmt sich der Autor exemplarisch der These des indigenen Kritikers Stephen Teo an. Teo moniert bei den westlichen Er- und Verklärungen von John Woos Œuvre teilweise bevormundende und paternalistische Züge, die sich im Schatten eines von T. E. Lawrence gefestigten und längst nicht überwundenem Orientalismus-Narrativs bewegen.

Der Sinologe und Filmwissenschaftler Clemens von Haselberg stellt die Heldengeschichten Woos in den Kontext des in der chinesischen Literatur und Geistesgeschichte verankerten facettenreichen Begriffs des gongwu (kantonesisch; auf Mandarin: jianghu), der normalerweise vor allem mit klassischen Kampfkunst-Filmen assoziiert wird. Es handelt sich dabei um einen zumeist fiktiven Erzählraum, ausserhalb einer staatlichen und [9|10]gesellschaftlichen Ordnung, in dem sich marginalisierte und verbannte Figuren – oder auch solche, die sich freiwillig dorthin begeben haben – aufhalten. Diese gesonderte Diegese mit ihren eigenen moralischen und ethischen Regeln erkennt von Haselberg auch in der kriminellen Unterwelt von Woos Gangsterfilmen. Deren Helden sind oft doppelt ausgegrenzt: von der Gesellschaft, aber auch innerhalb der Triaden selbst, die den Ehrenkodex nicht (mehr) respektieren, weshalb Werten wie Loyalität, Brüderlichkeit oder Gerechtigkeit in Woos Filmen noch mehr Bedeutung zukommt. Der Autor verbindet das Konzept des gongwu bei Woo zudem mit der Sonderstellung Hongkongs, eines Territoriums, das sich seinerseits – früher als britische Kronkolonie, heute als halbautonomes Gebiet am Rande der Volksrepublik – in einem permanenten Zustand der Marginalisierung und Krise befindet.

Lukas Foerster konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Heldenfigur, die im Hongkong-Kino häufig nicht nur funktional dazu dient, die Handlung voranzutreiben oder etwa das Böse zu besiegen, sondern in ihrer Genese und Beschaffenheit selbst zentrales Motiv eines Films ist. John Woos Konzeption des Actionhelden übernimmt in seinen frühen Kampfkunstfilmen weitgehend eine Tradition, in deren Folge sich der Held vor allem durch moralische Schulung und transzendente Wertigkeit auszeichnet und / oder mit beeindruckender physischer Präsenz und sublimer Kampfkunsttechnik agiert. Bei den späteren international erfolgreichen Actionfilmen entwirft Woo hingegen laut Foerster ein neuartiges Heldenbild – am besten verortet im Schauspieler Chow Yun-fat –, das visuell-motivische, oft handlungsirrelevante Markierungen verwendet wie Gestik, Mimik oder dem Helden zugeschriebene Accessoires. Dessen eigentliche Bravour in den Kampfszenen spielt sich nicht mehr in physischer oder performativer Überlegenheit aus, sondern eher in einer überbordenden formal-ästhetischen Stilisierung seiner Handlungen.

In gewisser Weise nimmt sich auch der folgende Beitrag der augenscheinlichen und typischen Stilisierungen in John Woos Werk an, jedoch aus einem ganz anderen Blickwinkel: Joachim Schätz liefert eine Bestandsaufnahme des Wellenschlags, den der Hongkonger Regisseur in der internationalen, besonders der französischen Cinephilie ausgelöst hat (in einem Epilog liefert der Autor überdies auch Beispiele der oben erwähnten »neuen Cinephilie«, die sich fern der hergebrachten Filmkritik und -wissenschaft bewegt). Im Zentrum von Schätz’ Beobachtungen steht die figurale Analyse, der Nicole Brenez und andere das Werk von John Woo unterziehen. Dabei geht es um die oberflächliche ästhetische Formung oder auch um Verfremdungen, die Woo in seinen Filmen Objek[10|11]ten, Figuren oder Handlungsmotiven zukommen lässt. Die Annäherung aus dem Blickwinkel der Figuration läuft zuweilen auch auf eine narrative Entkoppelung vieler seiner ikonischen formalen Parameter und Motive hinaus, die dennoch nicht nur als ästhetisierende, effekthascherischer Kniffe oder gar als geschwollener Selbstzweck zu deuten sind. Sie bedienen (auch) eigenständige Strukturverläufe von Energie, Dynamik und weiterer abstrakter Sujets, die auf einer semantischen Makroebene wieder mit der Narration in Verbindung zu bringen sind oder gar eine parallel laufende Bedeutungsebene herausbilden.

Der letzte Beitrag in diesem Band von Thomas Bohrmann, Theologe, Sozial- und Medienethiker, erfasst das Œuvre des Hongkonger Regisseurs im Kontext der (christlichen) Religion, ihrer Ikonografie und Wertvorstellungen. Woo, dessen eigentlicher chinesischer Vorname Yǔsam lautet und der sich den Namen »John« aus Bewunderung für Johannes den Täufer zulegte, ist biografisch stark vom Christentum geprägt und macht aus seinem Bekenntnis zur Religion keinen Hehl. Bohrmann lokalisiert und analysiert in Woos Werk christliche Symbolik – darunter Kirchen, Kruzifixe, Madonnenbilder oder Tauben – in ihrer narrativen Funktionalität und veranschaulicht, wie wiederkehrende Leidens- und Erlösungsmetaphern moralische Lehren vermitteln. Dabei werden nicht nur Gottes- und Krankenhäuser, sondern auch die kindliche Unschuld inmitten der dargestellten ruchlosen Gewalt zu Orten der Hoffnung und des Friedens.

1 Dave Kehr, »For the Auteur of Action, a Thoughtful Turn«, in: New York Times, 9.6.2002, Sek. 2, Kol. 1, S. 1. - 2 Ebd. - 3 Der Begriff geht auf den britischen Filmkritiker und Redakteur der Zeitschrift Eastern Heroes Rick Baker zurück und wurde 1994 zum ersten Mal verwendet: »Heroic Bloodshed is a terminolgy used to describe the total mayhem that evolves through the movie into a final orgy of destruction« (Einführung zur 11. Ausgabe, 1994, S. 2). Auch das kurz danach erschienene, damals populäre Buch Hong Kong Action Cinema von Bey Logan (London 1995) benutzt bereits den Begriff als Betitelung des Kapitels über den Regisseur: »Heroic Bloodshed: The Ballistic Ballet of John Woo« (S. 115–139). Beide Autoren rechnen indes auch andere Hongkong-Regisseure diesem Genre zu, besonders Ringo Lam, aber auch Johnny Mak, Man Kit Poon oder Taylor Wong. - 4 Im Gegensatz zu den früheren Hongkong-Filmen Woos: Die Blütezeit der Filmindustrie in den 1980er und 1990er Jahren basierte auf Einkünften, die sie auf Exportmärkten in Ostasien (besonders Taiwan, Japan, Malaysia, Singapur oder Korea) erwirtschafteten. Das galt auch für John Woo, der nach seiner wachsenden internationalen Beliebtheit zudem auch die westlichen Filmmärkte im Auge hatte. - 5 Wire Work ist ein in Hongkong perfektionierter Spezialeffekt, dank dem Schauspieler*innen durch an ihnen befestigte und später unsichtbar gemachte Drahtseile physikalisch unmögliche Bewegungen vollziehen. Der Mexican Standoff ist eine Konstellation, bei der sich mehrere Parteien gleichzeitig mit Waffen bedrohen. - 6 Zu wiederkehrenden Stilmitteln und Motiven siehe auch: Till Brockmann, »Das Moderne Hongkongkino«, in: Einführung in die Filmgeschichte: New Hollywood bis Dogma 95, (Einführung in die Filmgeschichte; 3), hg. von Thomas Christen und Robert [11|12]Blanchet, Marburg 2008, S. 422 f. Bei manchen indigenen Autoren wie etwa Stephen Teo, der Woo immer wieder kritisch gegenübersteht, geht es auch darum, dass andere HK-Autoren wie Tsui Hark oder Johnnie To in ihrer Bedeutung höher eingeschätzt werden – siehe dazu auch den Text von Andreas Ungerböck in diesem Heft. Dennoch adelt selbst Teo John Woo als »action auteur« und rühmt A BETTER TOMORROW und THE KILLER als »masterpieces«. In: Stephen Teo, Director in Action: Johnnie To and the Hong Kong Action Film, Hongkong, 2007, S. 22 u. 25. - 7 Der besonders in journalistischen Abhandlungen, aber auch in der Filmwissenschaft gern verwendete Begriff des »Einflusses« hat dennoch unklare Konturen hinsichtlich Definition und Nachweisbarkeit. Selbst wenn Filmemacher*innen ihre Vorbilder explizit angeben, kann Einfluss viele Formen annehmen, sich auf Themen oder Stilmittel beziehen, in Gestalt von Inspiration, Imitation oder gar eines Plagiates ausdrücken. Einflüsse werden oft bewusst verarbeitet, aber auch unbewusst aus einem örtlichen, kulturellen oder zeitgeistlichen Rahmen übernommen. Bei John Woo kommt das Thema trotzdem häufig zur Sprache, besonders auch in umgekehrter Richtung, da er in fast jedem Interview bereitwillig über seine Vorbilder und Inspirationsquellen berichtet. Im Dialog mit westlichen Interviewern fallen vor allem die Namen Peckinpah, Scorsese, Coppola, Leone, Kurosawa, Kobayashi, Melville, Truffaut, Godard, Kubrick, Siegel, Aldrich, Hitchcock oder Lean. Siehe dazu beispielsweise: Kenneth E. Hall, John Woo: The Films, 2d Ed., Jefferson 2011, S. 33ff. Mit asiatischen Gesprächspartnern wird indes stets Woos Bewunderung für den berühmten Regisseur von Kampfkunstfilmen Chang Cheh, dessen Assistent Woo am Anfang seiner Karriere war, erwähnt. Und dass A BETTER TOMORROW teilweise ein Remake von Patrick Lung Kongs THE STORY OF A DISCHARGED PRISONER (1967) ist – auf Chinesisch tragen die Filme den identischen Titel – und THE KILLER nicht nur von Melville inspiriert ist, sondern auch auf dem japanischen Gangsterfilm NARAZUMONO (AN OUTLAW) von Teruo Ishii von 1964 basiert, wird in westlicher Literatur ebenfalls selten angegeben, da diese Vorlagen den meisten unbekannt sind. - 8 David Bordwell, Planet Hong Kong. Popular Cinema and the Art of Entertainment, Cambridge (MA)/London 2000, S. 98. - 9 Mao Jian, »Discret Charm of the Gangster«, in: Always in the Dark: A Study of Hong Kong Gangster Films, hg. von Po Fung, Hongkong 2014, S. 97–102, hier S. 98. - 10 Karen Fang, John Woo’s A Better Tomorrow, Hong Kong, 2004. - 11 Mit einigen Ausnahmen wie die Sektion Internationales Forum des Jungen Films in Berlin oder das International Film Festival Rotterdam, wo auch handfeste kommerzielle Genreproduktionen zuweilen gezeigt wurden. - 12 Die Video-CD, in der Qualität auf dem Niveau einer Video-Kassette, war in Hongkong und Ostasien seit Mitte der 1990er Jahre lange Zeit der wichtigste Datenträger für Filme und existiert bis heute (!), vor allem da sie kostengünstiger als DVDs und Blu-rays ist. - 13 David Desser, »Hong Kong, Film and the New Cinephilia«, in: Hong Kong Connections: Transnational Imagination in Action Cinema, hg. von Meaghan Morris, Siu Leung Li u.a., London / Hong Kong 2005. S. 205–221. Zu Woo besonders S. 210.f.