Finding My Wings – Based on Jenny's Story - Cassidy Cane - E-Book

Finding My Wings – Based on Jenny's Story E-Book

Cassidy Cane

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Beschreibung

Inspiriert von Jennys wahrer Geschichte erzählt Cassidy Cane eine charmante Romance zum Lachen und Weinen

Melly versauert in ihrem eintönigen Leben. Jeder sieht es – nur sie selbst nicht. Sie ist davon überzeugt, alles richtig zu machen. Wer sonst soll die Familienmanagerin sein? Nach dem tragischen Verlust der Mutter opfert Melly sich für Vater und Bruder auf: Hausaufgabenhilfe, Wocheneinkauf, Wäscheberge – und tief darunter begraben liegt Mellys Kindheitstraum, als Flight Attendant die Länder dieser Erde zu erkunden. Stattdessen jobbt sie im Reisebüro und staubt dort die Modellflugzeuge ab. Aber dann taucht Henrik auf und bestärkt Melly, ihrem verdrängten Herzenswunsch zu folgen. Sie bewirbt sich bei einer Airline und blüht endlich auf. Doch je stärker sie sich ihrem Traum und ihren Gefühlen für Henrik hingibt, umso mehr steht auf dem Spiel. Denn das Schicksal hält für beide noch heftige Turbulenzen bereit, die sie vor die Frage stellen, ob sie füreinander Zuhause oder Zwischenstopp sein wollen …

Tropes: He falls first and harder – Right Person, Wrong Time – Friends to lovers – Long Distance Relationship – Emotional Scars – Hidden Secret

{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
Enthaltene Tropes: He Falls First, Friends to Lovers
Spice-Level: 3 von 5

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 612

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über den Roman

Melly versauert in ihrem eintönigen Leben. Jeder sieht es – nur sie selbst nicht. Sie ist davon überzeugt, alles richtig zu machen. Wer sonst soll die Familienmanagerin sein? Nach dem tragischen Verlust der Mutter opfert sich Melly für Vater und Bruder auf: Hausaufgabenhilfe, Wocheneinkauf, Wäscheberge – und tief darunter begraben liegt Mellys Kindheitstraum, als Flight Attendant die Länder dieser Erde zu erkunden. Stattdessen jobbt sie im Reisebüro und staubt dort die Modellflugzeuge ab. Aber dann taucht Henrik auf und bestärkt Melly, ihrem verdrängten Herzenswunsch zu folgen. Sie bewirbt sich bei einer Airline und blüht endlich auf. Doch je stärker sie sich ihrem Traum und ihren Gefühlen für Henrik hingibt, umso mehr steht auf dem Spiel. Denn das Schicksal hält für beide noch heftige Turbulenzen bereit, die sie vor die Frage stellen, ob sie füreinander Zuhause oder Zwischenstopp sein wollen …

Über die Autorin

Cassidy Cane, 1993 in Wuppertal geboren, begann mit Fanfiction und hat seitdem nicht mehr aufgehört zu schreiben. Mittlerweile führt sie als Autorin eigener Romane ihre Protagonisten durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Cassidys Interessen sind »selektiv, aber intensiv«, wie sie mit einem Augenzwinkern betont: Sie fiebert leidenschaftlich bei der Formel 1 mit, trägt jeden Tag eine andere ihrer – mindestens! – zwanzig Basecaps, liebt das Kino und taucht an Lesetagen mit Herz und Seele in romantische und fantastische Buchwelten ab – es sei denn, Katze Coco oder Bichon-Frisé-Pudel Poet funken dazwischen.

Über die Storygeberin

Storygeberin Jenny, Jahrgang 1993, hat ihre Lebensgeschichte noch nie öffentlich erzählt, doch gegenüber Cassidy konnte sie sich vertrauensvoll öffnen – die beiden verbindet eine alte Schulfreundschaft. Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter nimmt Jenny über Jahre hinweg die Familienorganisation für Vater und Bruder auf sich. Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen, musste sie erst wieder lernen. Jenny liebt das Reisen, Tanzen, laute Musik und ihren Job: Als Flugbegleiterin entdeckt sie alle Winkel dieser Welt. Mit ihrer Geschichte will sie den Leser*innen Mut machen: »Du bist stärker, als du denkst, du schaffst das!«

 – based on a true story

Weil das Leben die besten Geschichten schreibt!

Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen, schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern. Wenn auch du als Storygeber*in dabei sein möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an

[email protected]

mit folgendem Inhalt: eine kurze Schilderung deiner wahren Erlebnisse und deine Motivation, daraus einen Roman zu machen. Die Länge sollte maximal 2 – 3 Seiten sein.

Wir freuen uns, von dir zu hören!

www.penguin.de/verlage/heartlines

 @penguinlovestories

Cassidy Cane

Finding My Wings

Based on Jenny’s True Story

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.

Originalausgabe 11/2025

Copyright © 2025 by Cassidy Cane

Copyright © 2025 by {heartlines} Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Janika Mielke

Umschlaggestaltung und -illustration: © DASILLUSTRAT, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-33747-6V001

www.penguin.de/verlage/heartlines

@penguinlovestories

Für alle, die ihre Träume für zu klein und unbedeutend halten: Haltet an ihnen fest. Sie tragen das Potenzial in sich, Lebenstraum-Ausmaße zu erreichen.

… und für Claudia, die immer daran geglaubt hat, dass uns Flügel wachsen können. 🤍

Jenny, ich bin so stolz auf dich.

»Everyone deserves the chance to fly«

Stephen Schwartz, »Defying Gravity« (Wicked, 2003)

Content Note

Liebe Leser*innen! Bevor ihr euch zu Melly und Henrik gesellt, hier eine kleine Info an euch. Ich wünsche mir für jede*n von euch eine wunderbare Zeit mit Finding My Wings, daher ist es mir wichtig, dass ihr euch mit den Themen in dem Buch wohlfühlt. Damit das zutrifft, verrate ich euch auf Seite 476, welche sensibleren Inhalte euch in der Geschichte erwarten werden.

Behaltet jedoch im Hinterkopf, dass der Hinweis euch potenziell für das Buch spoilern könnte!

PS: Falls ihr nah am Wasser gebaut seid, empfehle ich euch übrigens beim Lesen Taschentücher. 🙂

Und jetzt wünsche ich euch viel Spaß!

Playlist

Lily Allen • Smile

Fall Out Boy • Thnks fr th Mmrs

Joris • Bis ans Ende der Welt

Bastille • Good Grief

Lady Gaga • Marry the Night

Lady Gaga • The Edge of Glory

Lady Gaga • Boys, Boys, Boys

Austin Giorgio • Moon

Shawn Mendes • Teach Me How to Love

Austin Giorgio • Hands On

Lady Gaga • The Beast

Good Charlotte • Thank You Mom

Juju • Vermissen (feat. Henning May)

Taylor Swift • Exile (feat. Bon Iver)

Revolverheld • Halt dich an mir fest

Ellie Goulding • Still Falling For You

Austin Giorgio • Alive

FLETCHER • Healing

Florence + The Machine • Dog Days Are Over

Avril Lavigne • Keep Holding On

Linkin Park • In the End

Cynthia Erivo, Ariana Grande • Defying Gravity-Edit

PrologMelly

Der erste und meiner Meinung nach beste Michael-Myers-Film läuft auf dem Fernseher, während ich mit Gregor auf der Couch seines Studio-Apartments sitze. Damals, als wir frisch zusammengekommen sind, hätte mich nichts glücklicher machen können. Damals hat mir aber auch niemand verraten, dass Mister Perfect – der Mann, bei dessen Ausstrahlung die Welt um ihn herum verblasst – nicht auf ewig perfekt bleiben würde. Keine meiner Freundinnen kam auf die Idee, mich zu warnen. Ein »Hey, Melly, ja, er sieht verboten heiß aus, doch lass lieber die Finger von ihm, denn er wird eines Tages der Grund dafür sein, dass du morgens nicht aus dem Bett kriechen möchtest« hätte gereicht, um mich nicht auf den Kerl neben mir einzulassen. Dann wiederum vermute ich, dass ich ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits gleichgültig war, was ich ihnen nicht verübeln kann. Sie hatten lange versucht, für mich da zu sein, ohne dass ich ihnen entgegenkommen konnte. Mit der Zeit bemühten sie sich immer seltener, mich einzubinden. Ich wurde zu einer Last, mit der sie nichts anzufangen wussten, und zu einer Spaßbremse, die sie nicht um sich haben wollten. Die Einladungen, zusammen um die Häuser zu ziehen, wurden rar, blieben schließlich komplett aus, und der Kontakt brach ab. Trauer passt nun mal nicht so gut zu den Zwanzigern.

Ich wollte meine Freundinnen nicht verlieren, jedoch fand ich nie die Kraft, um für sie zu kämpfen. Gleichzeitig konnte ich die damit einhergehende Einsamkeit nicht ertragen. Seit diesem einen Tag vor sechs Jahren war plötzlich alles still und trist. Bis Gregor in mein Leben trat und Interesse an der Melly zeigte, zu der ich geworden war: gebrochen und leise, ein verschwommener Hintergrund, vor dem er weiterhin im Fokus stehen konnte. Es glich einem Befreiungsschlag, kein falsches Lächeln aufsetzen zu müssen oder mich darum zu bemühen, zu meinem alten Ich zurückzufinden. Mit ihm konnte ich existieren, ohne am Leben teilnehmen zu müssen. Gregor war die Ablenkung, die ich in meiner dunkelsten Zeit gebraucht habe.

Teilnahmslos verfolge ich nun, wie Michael Jagd auf die nächste Blondine macht, und werfe dann einen Blick zu meinem Freund, der ebenso unbeeindruckt auf den Fernseher starrt. Ich bin mir sicher, dass er in wenigen Minuten wieder etwas an dem Film auszusetzen haben wird.

Möglicherweise habe ich so lange eine rosarote Brille getragen, weil Gregor optisch wahrhaft ein Traum ist. Kastanienbraune Locken rahmen sein Gesicht und lassen ihn immer etwas wild wirken. Sein sonnengeküsster Teint würde auf den ersten Blick darauf schließen lassen, dass er genauso fasziniert von der großen, weiten Welt ist wie ich. Leider hat sich sein Aussehen als Mogelpackung herausgestellt, denn Gregor ist weder wild, noch interessiert er sich für das Treiben abseits des Rheins.

»Sie ist so ein Esel. Kein Wunder, dass sie gleich abgemurkst wird. Sorry, aber das kann ich mir nicht länger geben.« Ohne mich zu fragen, schnappt er sich die Fernbedienung und zappt durch das restliche Streamingangebot. Für eine Sekunde sehe ich dabei meine Spiegelung im dunklen Bildschirm.

Du naives Mädchen. Hast du echt geglaubt, dass es heute anders laufen würde?

Wir haben uns nicht besonders viel zu sagen, und ja, auf Sex mit Gregor könnte ich ehrlicherweise verzichten. Wir wachen morgens auf, ich besorge es ihm, wir gehen über den Tag getrennte Wege und treffen am Abend wieder in seiner Wohnung aufeinander. Mehrmals die Woche zoffen wir uns über irgendeine Kleinigkeit, die ihn an mir stört. Das ist jedoch immer schnell vergessen, wenn ich ihn im Schlafzimmer besänftige. Sobald Gregor befriedigt neben mir schläft, starre ich meistens an die Decke und frage mich, ob ich nicht das Problem bin. Vielleicht haben meine innere Leere und die Unfähigkeit, Freude und Glück zu spüren, die Funken zwischen Gregor und mir ausgelöscht? Für einen flüchtigen Moment empfinde ich dann Mitleid mit ihm und nehme mir vor, trotz meines seelischen Ballasts die perfekte Freundin zu sein. Glücklicherweise bedarf es dafür nicht viel. Ich muss bloß all seine Bedürfnisse priorisieren, in den richtigen Augenblicken Ja und Amen sagen und für ihn zugänglich sein, wann immer ihm danach ist. Das ist machbar. Abgesehen von den abendlichen Streitschlichtungen und seiner morgendlichen Lust, sucht er selten meine intime Nähe, wofür ich insgeheim dankbar bin. Da Sex aber so viele Dinge in der Beziehung vereinfacht, gehört er nun mal dazu. Ich vermute, dass es auch heute darauf hinauslaufen wird; schließlich hatte Gregor schon vor dem Horrorfilm miese Laune.

Inzwischen hat er sich für einen Western entschieden. Ich bemühe mich, Gefallen an seiner Filmauswahl zu finden, bin jedoch schnell gelangweilt. Gewillt, mein Desinteresse zu überspielen, schäle ich mich aus der Decke und steuere den Gefrierschrank in der offenen Küche an. Als ich die Tür aufziehe, um uns ein Ben & Jerry’s zu holen, werde ich beinahe erschlagen von der Menge an eingefrorenem Fleisch.

»Du hast ziemlich viel eingekauft«, stelle ich irritiert fest, sobald ich in die Wohnecke zurückkehre.

»Jep. Meine Mutter besucht mich für einige Tage, und du kennst sie ja. Ein leerer Kühlschrank ist die größte Beleidigung für sie.«

»Deine Mutter kommt?«, hake ich nach, als hätte ich mich verhört. Ein Besuch von Norma ist mit einem Besuch der Queen gleichzusetzen, wäre diese noch am Leben. Glücklicherweise bin ich Gregors Mutter nicht oft begegnet, doch die wenigen Male, die ich ihr gegenübersaß … Sagen wir so: In ihren Augen bin ich nicht die Schwiegertochter, die sie sich für ihren Sohn wünscht. Und wann immer Gregor sich mit ihr allein trifft, kehrt er als der Mann zurück, der alles, was diese Frau sagt, gleich zweimal unterstreichen würde.

»Jep.«

»Wann wolltest du mir sagen, dass sie kommt?« Ich bemühe mich, nicht vorwurfsvoll zu klingen, denn es ist seine Wohnung. Zwar besitze ich seit einem Tür-Fiasko einen Schlüssel, doch ich lebe nicht wirklich hier. Wenn Gregor geschäftlich unterwegs ist, besteht er darauf, dass ich in der Kellerwohnung im Haus meiner Familie schlafe, und da er keine echten Pflanzen besitzt, die gepflegt werden müssen, gibt es für mich auch keinen Grund, ihm da zu widersprechen.

»Na ja, du weißt es jetzt, oder nicht?« Gregor nimmt den Blick nicht vom Bildschirm, während er mit mir spricht.

»Weil ich es durch Zufall herausgefunden habe.«

»Und?«

»Stell dir vor, ich hätte es nicht erfahren! Dann hätte ich sie morgen unvorbereitet nach der Arbeit getroffen! Du weißt, dass sie nichts von mir hält. Ein bisschen Vorlaufzeit wäre nett gewesen, damit ich zumindest noch zum Friseur hätte gehen können!«

Endlich schaut Gregor zu mir. Sein Blick wandert über mein naturblondes Haarnest, und seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. »Hätte wohl nicht geschadet, ja. Vielleicht kannst du deine Chefin fragen, ob sie dich für morgen aus dem Plan nimmt, und noch einen Termin ausmachen?«

»Nein, kann ich nicht!«, gebe ich schroff zurück. Wieder einmal wird mir klar, dass Gregor nicht mehr Mister Perfect ist. Der hätte mir nämlich gesagt, dass ich mir weder wegen meiner Haare noch wegen seiner Mutter Sorgen machen müsste. Allein das lässt mich erneut hinterfragen, wieso ich mich noch immer mit ihm abgebe.

»Dir ist klar, dass du dir ihre Gunst so nicht verdienst, oder? Sie hasst, dass du dort arbeitest. Und wenn wir schon dabei sind: Ich bin auch kein Fan davon.«

»Gregor, du weißt, wie viel mir der Job bedeutet und wie glücklich er mich macht. Warum akzeptierst du nicht, dass ich ihn brauche?« Seit Auslandsreisen für mich nicht länger zur Debatte stehen, ist der Job im Reisebüro meine einzige Möglichkeit, meine Sehnsucht nach fremden Ländern zu stillen.

Mein Freund blinzelt mehrmals dramatisch, als hätte er sich verhört. »Und was ist mit mir? Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, was ich benötige? Oder besser gesagt, was ich nicht gebrauchen kann? Melly, du fegst auf offener Straße den Gehweg! Hast du eine Ahnung, welches Licht das auf mich wirft? Wie sollen die Leute mich als Consultant ernst nehmen, wenn meine Partnerin Kippen und Abfall vom Boden entfernt?«

Das ist nicht der Kernteil meiner Arbeit, und das weiß Gregor. In meinem Beruf geht es um so viel mehr, aber weil ich keinen Uniabschluss habe, erkennen weder er noch seine Mutter den eigentlichen Wert meiner Tätigkeit an. Ohne die Möglichkeit, durch unsere Klientel mental mit in den Flieger zu steigen, würde ich in dieser Stadt eingehen und es morgens nicht mehr aus dem Bett schaffen.

Ich möchte Gregor fragen, was in ihn gefahren ist, dass er so wenig in mir sieht, während er gleichzeitig so viel von sich hält. Doch ich habe keinen Nerv dafür übrig, dass auch dieser Streit andere Dimensionen annimmt. Gregor scheint ebenfalls kein Interesse an einer Fortsetzung der Diskussion zu haben. Nachdem wir uns einige Wimpernschläge lang stumm angestarrt haben – ich mit Zorn im Bauch, er mit Gleichgültigkeit –, wendet er sich wieder dem Fernseher zu.

»Sieh wenigstens zu, dass du morgen pünktlich zum Kochen da bist, Melly.« Damit schnappt er sich erneut die Fernbedienung und dreht die Lautstärke des Filmes hoch.

Einen Augenblick schaue ich ihn enttäuscht an und ziehe in Erwägung, mich zu ihm zu kuscheln und klein beizugeben. Doch dann mischt sich mein verletzter Stolz dazu, und statt mich auf die Couch zu setzen, marschiere ich zu meinem einzigen Zufluchtsort in dieser Wohnung: sein Schlafzimmer.

Eine halbe Stunde verstreicht, bis die Tür aufgeht und Gregor sich zu mir ins Bett legt. Seine Hand verschwindet unter meiner Decke, und ich schließe wissend die Augen. In wenigen Minuten werden wir uns vertragen. Er wird befriedigt auf seiner Seite des Bettes einschlafen, und ich werde auf meiner stundenlang wach bleiben und an die Zimmerdecke starren.

1 Melly

Mum, glaubst du, es wird je ein Jahr geben, in dem ich genug Atem habe, um alle Kerzen auf der Torte auszupusten? Hab immerhin stolze zweiundzwanzig Jahre an Übung hinter mir. Ich vermisse, wie du mir als Kind dabei geholfen hast, und wünschte, du wärst hier. Xx

»Dann sage ich Dad, dass er den Grill gegen achtzehn Uhr anschmeißen soll.«

»Jap, sollte passen. Gregor und ich kommen rum, sobald er Feierabend hat. Wir bringen einen Nudelsalat mit, damit es neben Dads Grillauswahl auch etwas Gesundes gibt.«

Am anderen Ende des Hörers lacht mein Bruder. »Tu, was du nicht lassen kannst, aber nur weil es Salat heißt, bedeutet das nicht, dass es gesund ist, Melly. Außerdem wird Paps der Nudelsalat vermutlich eh nicht die Bohne interessieren. Der will ausschließlich grillen. Er hat so viel Zeug, das er draufzulegen plant. Bestimmt könnte er damit die ganze Straße zu uns einladen, und wir hätten trotzdem Reste. Ich sag dir, würdest du nicht im Winter Geburtstag haben, hätte er noch weitaus mehr aufgetischt.«

»Jaja, ich weiß. Niemand bedauert mein Geburtsdatum mehr als Dad.« Ich sehe zu dem Wandkalender, den meine Chefin Vika im Pausenraum aufgehängt hat. Auf der oberen Hälfte ist eine verschneite Landschaft in Finnland abgebildet. Unter dem Bild, auf dem eigentlichen Kalender, steht mein Name mit einer gemalten Torte – beides fett eingekringelt und dem heutigen Datum zugeordnet.

»Außer vielleicht du«, fährt mein Bruder fort. »Muss scheiße sein, so kurz vor Weihnachten Geburtstag zu haben. Ich erinnere mich daran, dass ich das stets als Ausrede genutzt habe, um dir nur ein Geschenk zu besorgen.«

»Ach, Dom-Dom, warum sprichst du denn in der Vergangenheitsform davon? Das ist noch immer so«, sage ich voller Großmut. Es stört mich nicht mehr, dass ich einen Tag vor Heiligabend Geburtstag habe und meine Familie und Freunde sich damit in der Regel ein Geschenk sparen. Als Kind fand ich es schade, doch damals konnte ich nicht einfach ins Einkaufszentrum fahren und mir die Dinge kaufen, die auf meiner Wunschliste standen. Als erwachsene Frau verdiene ich mein eigenes Geld. Ich mag keine Millionärin sein, aber mein Gehalt reicht aus, um mir das ein oder andere zu gönnen. Hauptsächlich freue ich mich ohnehin darauf, Zeit mit Dominik und Dad zu verbringen – selbst wenn wir den Grill unter kältesten Dezemberbedingungen herausholen. Dad mag es bedauern, dass ich kein Kind des Sommers geworden bin, aber ich liebe es, im Winter geboren zu sein. Mit Glühwein anstoßen? Schneeballschlachten bei Geburtstagsfeiern? Niemand kann behaupten, dass das nicht cool ist. Außerdem war es nie so, dass ich an Weihnachten leer ausgegangen bin. Mum hat sichergestellt, dass ich am Vierundzwanzigsten ebenfalls bunt verpackte Päckchen unter dem Baum gefunden habe.

In Gedanken versunken, drehe ich an dem goldenen Ring an meinem Finger. Seit Mum nicht mehr da ist, gibt es keine Überraschung, keinen Zauber – jedenfalls nicht für mich. Dominik verschenkt ausnahmslos das, was man ihm per Link schickt, und die Geschenke von Dad kaufe ich mir selbst mit einem Blankogutschein. Trotzdem genieße ich die Bescherung, denn ich liebe es zu sehen, wie die beiden sich über meine Kleinigkeiten freuen. Wenn ich sie dabei beobachte und mich in den Lesesessel kuschle, in dem Mum so oft gesessen hat, fühle ich mich ihr besonders nah. Vielleicht ist es genau das, was ich so sehr an Weihnachten liebe.

»Erde an Melly!« Die blecherne Stimme meines Bruders dringt an mein Ohr und holt mich in den Pausenraum zurück. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich nur noch wenige Minuten habe, bis ich wieder an die Arbeit muss.

»Oh, shit. Was hast du gesagt?« Hastig kratze ich den Rest meines Vanillepuddings zusammen und schiebe mir den Löffel in den Mund, während ich meinem Bruder zuhöre, wie er mir zum zweiten Mal gesteht, dass der Kuchen mit Himbeeren statt Erdbeeren gefüllt ist. Leider hat er im Supermarkt nichts anderes bekommen.

Dominik ist zwar die Art Mensch, bei der jeder Pfannkuchen anbrennt, doch in seiner Grundausbildung zum Lieblingssohn hat er eine Sache perfektioniert: Mums Kuchen so zuzubereiten wie sie. Zugegeben, Dom ist der einzige Sohn, so wie ich die einzige Tochter bin. Dennoch hat Mum es geliebt, uns als Lieblingssohn und Lieblingstochter zu bezeichnen, weil wir danach unser Bestes getan haben, um dem Titel gerecht zu werden. Es hat uns angetrieben, sie nicht zu enttäuschen und extrafleißig zu sein. Im Nachhinein habe ich verstanden, dass sie bloß wollte, dass wir ihr in der Küche Gesellschaft leisten, statt uns mit Dad auf die Couch zu pflanzen. Was meinen Bruder angeht, sind ihre Bemühungen größtenteils ins Leere gelaufen. Vor allem die Sonntagsrennen der Formel 1 mit Dad haben ihn langfristig geprägt. Er hat seine Leidenschaft für Motorsport vertieft und sitzt seit Jahren selbst hinter diversen Lenkrädern und Steuerknüppeln. Mich hingegen hat Mum zu der Person werden lassen, die ich heute bin. Ich komme in jeder Hinsicht vollkommen nach ihr. Doch das ist keine Überraschung, schließlich war sie seit jeher mein Vorbild. Daher grenzt es an einen schlechten Scherz, dass ich einerseits das Leben übernommen habe, das sie geführt hat, und andererseits das ablehne, was sie sich für mich erträumt hat.

Na ja, mein Alltag hat mit Flugzeugen zu tun, richtig?

Jemand muss ja die Reisedaten ausdrucken, Flyer auffüllen und der Kundschaft die besten Urlaubsziele der Saison empfehlen.

Ich mag meinen Job, auch wenn ich die wahren Vorzüge – das Reisen, um angesagte Hotspots zu erkunden und Hotels zu prüfen – Vika überlasse. Trotzdem ist im Büro kein Tag wie der andere, und ich bekomme anhand von Fotos viel von der Welt zu sehen. Manchmal entdecke ich sogar ganz neue Orte und Kulturen … Wenn Kunden in exotische Länder reisen wollen oder ich an dem riesigen Globus im Eingangsbereich drehe.

»Du bist so still. Shit, sag nicht, dass du wegen der Himbeeren angepisst bist. Es ist nur ein Kuchen.« Dominiks Worte bringen mich zum Nachdenken. Er hat recht. Es ist bloß ein Kuchen. Andere reisen von Kontinent zu Kontinent, und ich sitze hier und blase Trübsal wegen einer solch banalen Sache.

Wäre es echt so ein Weltuntergang, wenn dieses Jahr Himbeeren …

Nein, das wird nicht passieren. So gern ich Himbeeren nasche, die kommen mir nicht da rein.

»Ich bin nicht angepisst, Dom-Dom«, sage ich besänftigend, da er ohnehin keine Schuld trägt. Ich kann schon froh sein, dass er überhaupt die Motivation aufgebracht hat, ihn zu backen. Ein sechzehnjähriger Teenager hat für gewöhnlich nämlich andere Prioritäten. »Nach der Arbeit werde ich flott in den Laden springen und Erdbeeren kaufen. Wir können die Himbeermasse abkratzen und eine neue Creme aufsetzen. Das ist eine Sache von drei Minuten.«

»Oh Mann. Beeren sind doch Beeren«, murmelt Dominik. Nur weil er weiß, dass ich nicht von der Tradition abweiche, bedeutet das nicht, dass er es gutheißt. Ich ignoriere seine Äußerung, verlasse meinen Platz und spüle die leere Puddingschüssel aus, ehe ich sie auf die Ablage stelle.

»Meine Pause ist jetzt vorbei. Lass Mums Kuchen, wie er ist, ich kümmere mich später darum. Wir sehen uns heute Abend! Oh, und erinnerst du Dad daran, dass Gregor allergisch gegen Paprika ist?«

»Klar. Das wird ihn freuen, vor allem, da seine geheime Grillmarinade ja nicht hauptsächlich aus Paprikagewürz besteht.«

Ich verdrehe die Augen und schnappe mir meine Arbeitsschlüssel vom Tisch. »Bis nachher, Dom.«

Während meiner Pause scheint im Reisebüro nicht viel passiert zu sein. Vika sitzt mit einem Kaffee an ihrem Schreibtisch und scrollt auf ihrem Handy herum. Wie so oft bleibt mein Blick sehnsüchtig an der Pinnwand hinter ihr hängen. Im Laufe der Zeit haben uns Stammkunden die eine oder andere Postkarte geschickt, die wir allesamt aufgehoben und festgesteckt haben. Zusammen mit anderen Memorabilien, wie einem US-Dollar oder einem niedlichen Schlüsselanhänger aus Japan, ist die Wand das Herzstück des Büros. Wie viele Länder ich wohl schon bereist hätte, wäre Mum noch da?

»Na, hattest du eine gute Pause?« Vika schaut nicht von ihrem Bildschirm hoch. Anhand ihres provokanten Tonfalls tippe ich darauf, dass sie meine Pausenlänge genau im Auge behalten hat.

Natürlich muss ich meine Pause ausgerechnet dann überziehen, wenn Vika die seltene Lust packt, strenge Chefin spielen zu wollen.

Ich murmle ein »Mhmm« und sehe mich schuldbewusst nach Arbeit um. Wenig später hocke ich mit einem Staubwedel ausgerüstet im Schaufenster, um das Modell eines Airbus A380 von imaginärem Staub zu befreien.

»Meinst du nicht, dass du den Doppeldecker neulich schon gründlichst mit dem Wedel angegangen bist?«

Ich erstarre in meiner Bewegung und blicke vorsichtig zu Vika. Inzwischen hat sie den Kaffee auf der Tischplatte abgestellt. Das Telefon liegt locker in ihrer Hand, während sie mit dem Zeigefinger auf mich deutet.

Oh, oh. Das ist definitiv keine Du-hast-deine-Pause-überzogen-Geste.

»Wie lange möchten wir denn noch so tun, als wäre heute ein gewöhnlicher Tag, Melly?« Sie steht von ihrem Drehstuhl auf, hält mir ein kleines, bunt verpacktes Geschenk mit übergroßer Schleife entgegen und stemmt im Anschluss vorwurfsvoll die Hände in die Hüften. In diesem Moment erinnert sie mich an meine Mutter, wenn ich sie mit einer Fünf in Mathe enttäuscht habe. Dabei hat Vika, bis auf ein ähnliches Alter und ein überdimensional großes Herz für verlorene Mellys, nicht viele Gemeinsamkeiten mit ihr. Sie stammt aus Schottland und wirkt mit ihren schwarzen krausen Locken, ihren Hippie-Kleidern und dem klappernden Goldschmuck an Ohr und Arm wie eine Piratin – wild, frei und ja, des Öfteren gesetzlos. Meine Mutter hingegen war blond und hatte, ebenso wie ich, stechend blaue Augen. Trotzdem gibt es immer wieder diese Parallelen in ihrem Verhalten, und ich bin mir sicher, dass die beiden in einem anderen Leben beste Freundinnen gewesen wären.

»Bis zum Feierabend?«, entgegne ich in einem Versuch, meinen Geburtstag kleinzureden. Ich hätte mir denken können, dass Vika früher oder später nicht mehr mitmacht, schließlich spielen wir seit Jahren das »Mein-Geburtstag-ist-nichts-Besonderes«-»Ist-es-sehr-wohl«-Spiel – und ich verliere jedes Mal. »Ist ein ganz normaler Tag, und du weißt, dass ich ihn eigentlich nicht feiere«, füge ich hinzu. Doch Vika scheint das nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil: Sie wirkt völlig fassungslos.

»Was redest du da?« Sie flucht auf Gälisch, und ich bin mir ziemlich sicher, dass mindestens ein piratenwürdiger Spruch dabei ist. Da die Frau jedoch so herzlich wie impulsiv ist, zieht sie mich prompt in eine enge Umarmung. »Warum hast du dir heute nicht freigenommen? Süße, du solltest nicht hier sein, sondern dich von deinen Liebsten verwöhnen lassen!« Allmählich lässt sie von mir ab und legt ihre Hände auf meine Unterarme. »Sag mir, dass du zumindest für den Feierabend etwas geplant hast! Den eigenen Geburtstag nicht angemessen zu zelebrieren, ist da, wo ich herkomme, eine große Beleidigung für die Mutter. Diese hat immerhin … Oh, tut mir leid, Melly. Wie taktlos von mir, vergiss, was ich gesagt habe. Du feierst später, richtig?«

Kurz überrumpelt mich Vika mit ihrem Wortschwall, weshalb ich letztlich sage: »Ja, nach der Arbeit besuche ich meine Familie. Wir haben quasi ein vorweihnachtliches Festessen, bevor wir morgen Raclette machen. Dazu tragen wir fancy Kleidung, grillen und stopfen uns mit Kuchen voll.«

Meine Chefin nickt und nickt und nickt. Plötzlich stoppt sie jedoch und hält ihre schwarze Mähne an ihrem rechten Ohr hoch. »Kannst du sehen, ob da noch ein Weinkorken von gestern Abend drinsteckt, Melly? Ich muss überhört haben, wie du Spaßgetränke erwähnt hast.«

»Oh. Äh, wir werden Glühwein trinken.«

»Schön, schön.« Etwas funkelt in ihren grünblauen Augen auf, und sie grinst. »Und wenn die Familienfeier vorbei ist, geht’s erst so richtig los, oder? Dein Freund hat sich hoffentlich etwas überlegt, um deinen Ehrentag angemessen zu feiern?« Ihre Brauen tanzen. Normalerweise wäre diese Unterhaltung zwischen Chefin und Angestellter äußerst unangemessen, doch sobald Vika und ich das Reisebüro hinter uns abschließen, sind wir auch Freundinnen. Gut, sie ist zwei Jahrzehnte älter als ich, aber das sieht und merkt man ihr nicht an. Der Altersunterschied ändert außerdem nichts daran, dass sie abseits der Arbeit meine engste Vertraute ist – was bei meinem minimalistisch gehaltenen Freundeskreis, bestehend aus einer Person (hust, Vika), keine große Kunst ist.

»Gregor muss morgen früh hoch«, sage ich und merke schon in diesem Moment, wie lächerlich diese Aussage klingen muss. Es ist mein Geburtstag. Falls ich bis in die Nacht Party machen möchte, kann ich das tun.

In der Theorie.

Realistisch betrachtet werde ich mit Gregor schlafen gehen. Es ist wahr, dass er am Tag danach früh rausmuss, immerhin steht ihm eine lange Fahrt zu seinen Großeltern bevor. Wie jedes Jahr hat er mich nicht eingeladen, Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen, aber das stört mich nicht. Ich würde Dad und Dominik an den Feiertagen niemals allein lassen. Außerdem freue ich mich darauf, mit ihnen Filmklassiker wie Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und Liebe braucht keine Ferien zu sehen, während ich mir den Magen mit Lebkuchen, Zimtmousse und dem restlichen Erdbeer-Schoko-Kuchen von heute vollschlage. Es ist ungezwungen und damit das fast perfekte Weihnachten. Das ist mehr, als ich mir erhoffen könnte. Denn perfekt wird es nie wieder sein.

»Na gut«, wendet Vika wenig überzeugt ein. Ihr Fokus bleibt auf mir, und sie öffnet ihren Mund, vermutlich um etwas zu ergänzen. Dann schließt sie ihn jedoch.

Zum Glück kenne ich meine Freundin und weiß, dass sie in drei, zwei, eins …

»Melly!« Sie schaut mir tief in die Augen. Vika ist etwas größer als ich, aber ihre Stiefel schenken ihr zusätzliche Zentimeter, sodass sie ihren Kopf neigen muss, um die erwünschte Wirkung ihres Ausdrucks zu erzielen. Sie möchte empathisch und autoritär zugleich wirken. Eine weitere Facette von ihr, die ich nach all den Jahren, in denen Vika bereits meinen Alltag bereichert, gut kenne. »Vertrau mir, dein Freund ist ein Arsch. Selbst wenn ich morgen in aller Herrgottsfrühe zum Flughafen müsste, um den tropischsten Urlaub meines Lebens anzutreten, würden mich keine zehn Pferde vor dem Geburtstagskind ins Bett bekommen! Was auch immer dein Gregor morgen für Pläne hat«, sie schüttelt den Kopf, »sollte deinen besonderen Tag heute nicht ruinieren. Falls du von dir aus sagst, dass du dir nichts Besseres vorstellen kannst, als vor Mitternacht im Schlafanzug zu stecken, ist das absolut in Ordnung. Aber solltest du wach liegen, während dein Partner vor sich hin schnarcht und du dich fragst, warum du nicht mit deiner liebsten Freundin die Clubs unsicher machst, dann ist das inakzeptabel.«

In ihren Augen entdecke ich ein schelmisches Funkeln und ahne, was nun folgen wird. Sie wird versuchen, mich zu überreden, mit ihr um die Häuser zu ziehen. Beim Gedanken daran verzieht sich mein Mund zu einem Grinsen, doch ich beiße mir auf die Unterlippe, damit Vika nicht sieht, wie sehr ich ihr Angebot annehmen möchte. So verlockend es ist, nach langer Zeit mal wieder mit ihr die Nacht zum Tag zu machen, Gregor würde es nicht befürworten. Und ja, das würde ich vor anderen niemals laut aussprechen; erst recht nicht in Vikas Gegenwart. Sie würde direkt losmarschieren und Gregor samt seiner traditionellen Denkweise mit einem ordentlichen Schwung an Emanzipation (in ihrer Lebenswirklichkeit eine saftige Backpfeife links und rechts) ins einundzwanzigste Jahrhundert befördern. Außerdem … will ich mir meinen Tag nicht mit einem Streit versauen lassen. Heute möchte ich Zeit mit meinen Liebsten verbringen, Schokoladenkuchen mit Erdbeeren essen und mich nicht fragen, wo zur Hölle ich falsch abgebogen bin, dass ich in einer Beziehung stecke, aus der mich Vika mit einem Satz feministischer Ohrfeigen am liebsten erlösen würde.

»Deswegen folgender Vorschlag, Melly: Obwohl morgen nicht nur Heiligabend ist und ich tatsächlich zu einer grausam frühen Stunde zum Flughafen muss, würde ich für dich jederzeit eine erholsame Nacht in meinem kostbaren Bett gegen wilde Moves auf der Tanzfläche eintauschen. Also ruf mich an, wenn du magst.« Sie zwinkert und schwingt gekonnt ihre Hüften.

Auch wenn ich schon jetzt weiß, dass ich ihr Angebot nicht annehmen werde, verspreche ich, mich zu melden, sollte ich dem Sirenengesang von Lady Gaga doch noch erliegen.

»Wunderbar!« Sie beäugt das Geschenk in meiner Hand, an dessen Schleife ich herumfummele, ohne Anstalten zu machen, es auszupacken. »Du kannst es auch später öffnen, ist eh nur eine Kleinigkeit.«

Ich nicke dankbar und stelle das Päckchen auf meinem Arbeitsplatz ab.

»Nun, da wir das mit deinem Geburtstag geklärt haben und du den Anschein machst, dass du dringend einen Themenwechsel herbeisehnst, hilf mir mal eben. Wenn ich morgen aus dem Flugzeug steige und einen heißen Hengst auf mich aufmerksam machen will, sollten meine Haare lieber offen oder zu einem Zopf geflochten sein?« Sie wirft ihre wallende Mähne nach hinten und stemmt die Hände stolz in die Seiten, eindeutig bereit, auf der Reling ihres imaginären Piratenschiffes nach Männern Ausschau zu halten.

Wie sehr ich diese Frau liebe. Für ihre Art und dafür, dass sie mich als Freundin und Angestellte akzeptiert – und als Mensch, mit dem nicht jeder umgehen kann oder will.

2Melly

Hey, Mum! Kann man Karotten nachträglich in einen Nudelsalat werfen? Auch wenn der schon durchgezogen ist? Oder schmeckt das nicht mehr?

Neben der wunderschönen Schneekugel aus Dublin habe ich von Vika ein weiteres kleines Geburtstagsgeschenk bekommen: einen frühen Feierabend, damit ich noch Erdbeeren kaufen kann. Im Grunde wissen wir aber beide, dass sie selbst keine Lust mehr hatte, den Laden offen zu halten, wenn ohnehin seit Stunden niemand durch die Tür geschneit ist. Zwar habe ich eindringlich darauf hingewiesen, dass ihr durch die frühere Schließung potenzielle Kundschaft entgehen könnte, doch sie hat nur schulterzuckend gemeint, dass dies unwahrscheinlich sei. Vermutlich hat sie recht, und niemand wird last minute eine Reise buchen; das meiste geschieht mittlerweile sowieso online. Ohne unseren treuen Kundenstamm aus Senioren, die dem Internet misstrauen, könnten wir sicherlich dichtmachen. Zumal wir unsere restliche Kundschaft wahrscheinlich regelmäßig verpassen, da wir den Laden nach Lust und Laune schließen, während sich quasi jedes andere Geschäft an die üblichen deutschen Öffnungszeiten hält. Ich sollte Vika darauf ansprechen – falls sie nach ihrem tropischen spicy Abenteuer überhaupt zurückkommt. Bei Vika weiß man nie. Wobei … sollte sie derart schwanzhypnotisiert sein, würde ich in ein Flugzeug steigen und sie eigenhändig zurück nach Düsseldorf zerren.

Nein, würdest du nicht.

Weil ich mich nicht mit dem Wahrheitsfaktor meiner inneren Stimme beschäftigen möchte, hole ich mein Smartphone aus der Handtasche, öffne die Notizen-App und schreibe eine Erinnerung an mich: an Vikas kaufmännische Vernunft appellieren, wenn wir nächstes Jahr aus der Winterpause zurückkehren.

Nach Erstellen der Erinnerung betrete ich den Supermarkt und laufe schnurstracks an den vielen Menschen vorbei, die ihre letzten Feiertagseinkäufe tätigen. Seufzend durchquere ich den Eingangsbereich und schnappe mir einen Korb. Zwar stehen bloß Erdbeeren auf meiner Liste, doch das heißt nicht, dass ich am Ende nur damit an der Kasse landen werde. Dafür kenne ich mich zu gut.

Keine zehn Minuten später warte ich mit meinem Korb an der Kasse, dessen Gewicht in meinen Arm schneidet. Enttäuscht über mich selbst, lege ich meine heutigen Sünden auf das Band.

Was soll die Kassiererin von dir denken, wenn sie gleich acht XXL-Packungen Strawberry-Cheesecake-Schokotafeln einscannt, die du gar nicht mitgenommen hättest, hätte man sie nicht in einem Aufsteller neben den Erdbeeren angeboten? Eine durchaus kluge Verkaufsstrategie.

Du könntest sagen, dass du sie zu Weihnachten verschenken willst.

Okay. Das ist gut!

Tja, und wie erklärst du ihr die fünf Tüten Snack-Karotten?

Die habe ich nur mitgenommen, weil sie in der Nähe der Erdbeeren standen und der Mann neben mir verurteilend auf die Schokolade gelinst hat! Hoffentlich hat er mitbekommen, wie ich im Nachhinein etwas von ausgewogener Ernährung gemurmelt habe.

Ich lege meine übrigen Sachen dazu und begrüße die Verkäuferin, als diese den Warentrenner entfernt und den ersten Artikel in die Hand nimmt.

»Wenn du zehn davon kauf…«

»Die sind für meine Familie«, falle ich ihr ins Wort und deute auf die Schokotafeln, die nacheinander gescannt werden.

Du bist so peinlich, Melly, höhnt meine innere Stimme, während ich der Frau mir gegenüber ein entschuldigendes Lächeln entgegenbringe. Wie unangenehm.

»Schön, wenn du zwei weitere Tafeln …«

»Ach«, winke ich ab und spüre, wie mein Puls steigt, »das ist schon viel zu viel.« Argh, das ist so typisch für mich. Da befinde ich mich auf der Zielgeraden, der Ausgang ist nur zwanzig Meter und ein paar Floskeln entfernt, aber nein. Ich muss mich vorher schön vor versammelter Mannschaft blamieren.

Seit Mum nicht mehr da ist, scheint mein Körper in Supermärkten den Fight-or-Flight-Mechanismus aktivieren zu müssen. Inzwischen ist es nicht länger so schlimm wie damals, als ich vor dem Waschpulverregal in Tränen ausgebrochen bin, weil mich die grausame Erkenntnis aus dem Nichts getroffen hat: Ich habe so wenig Zeit mit Mum gehabt. Es gab noch so viel, was sie mir hätte beibringen müssen. Stattdessen war ich gezwungen, mich unwissend und allein zurechtzufinden. Ich habe einen vollen Kühlschrank stets als Selbstverständlichkeit betrachtet und nie richtig nachvollziehen können, warum Mum uns so viele verschiedene Aufstriche zum Frühstück serviert hat. Welche große Rolle es gespielt hat, wurde mir erst nach Mums Tod bewusst, als ich herausgefunden habe, dass Dad Lebensmittelunverträglichkeiten hat, von denen sie uns nichts erzählt hatten. Außerdem ist Dad ein Gewohnheitstier, und ich habe gelernt, dass er Tag für Tag das Gleiche frühstückt und der Käse immer von derselben Marke sein muss, ganz egal, ob eine andere im Angebot ist. All diese zusätzlichen Informationen haben nicht gerade dazu geführt, dass Einkaufen für mich einem entspannten Spaziergang gleicht. Im Gegenteil. Auch wenn ich mittlerweile den Dreh raushabe und weiß, was in den Wagen gehört, ist ein Supermarkt keineswegs ein Safe Space für mich. Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem ich mich nach all den Jahren und ohne Vorwarnung innerhalb weniger Sekunden überfordert, verurteilt und vor allem verloren fühle.

»Okay, äh … Verzeihung.« Die Stimme der Verkäuferin holt mich aus meinen Gedanken. Hinter mir hat sich eine Schlange gebildet, und ich registriere einen Anflug von Unsicherheit in ihrem Gesicht. Mir wird warm.

Wegen solcher Situationen bestelle ich Lebensmittel meistens online. Ich bin eine Vollkatastrophe und halte den Laden auf. Und das nicht auf die gute Art, wie Mum, als die Welt noch um einiges entspannter war. Sie war eine der Personen, die stets ein herzliches Wort für die Mitarbeitenden übrighaben. Eventuell hat sie deswegen immer etwas länger für den Einkauf gebraucht. Und wenn die Kundschaft hinter ihr ungeduldig wurde, hat sie diese mit einem freundlichen Gruß bedacht, und puff, schon war die Gereiztheit in der Warteschlange verschwunden. Jep, das war Mum. Entwaffnend. Offen. Perfekt.

»Den Feta auf deinem Arm brauche ich ebenfalls.« Zögerlich deutet die Kassiererin auf Höhe meiner Brust.

Ich blicke an mir herab und entdecke den Käse, den ich wie einen Teddy festhalte. Ah ja, mein Emotional-Support-Feta.

»Oh, natürlich.« Beschämt über meine Verpeiltheit, lasse ich die zwei Packungen auf das Band fallen. »Ach so, dafür habe ich einen Coupon«, merke ich in letzter Sekunde an, krame mein Handy hervor und suche die App für den Preisnachlass heraus. Normalerweise würde ich das alles nicht unnötig in die Länge ziehen, wenn sich so viele Menschen hinter mir angesammelt haben, aber es geht um mehrere Euro Ersparnis.

Die Verkäuferin, eindeutig Meisterin in ihrem Beruf, wartet geduldig. Nach dem Bezahlvorgang drückt sie mir mit einem einfühlsamen Lächeln die Quittung in die Hand, und ich schaffe es trotz meiner stressigen Situation, ihre Geste zu erwidern.

Ein Sieg ist ein Sieg.

Mit diesem Spruch im Hinterkopf stolziere ich erhobenen Hauptes zur Einpackstation und stopfe den Einkauf – abgesehen von den Erdbeeren – in meine Handtasche. Die Beeren trage ich lieber so, da mir das Risiko eines matschigen Erdbeermassakers in der Tasche zu groß ist.

Mit dem schweren Gepäck über der Schulter und dem Obst auf dem Arm gewinne ich eine freie Hand. Diese nutze ich augenblicklich, um meinem Bruder zu schreiben, dass ich mit meiner Erdbeermission erfolgreich gewesen und unterwegs nach Hause bin.

Sein Enthusiasmus hält sich in Grenzen. Er schickt mir eine viersekündige Sprachnachricht, in der er ein »Okay, bis gleich« nuschelt. Doch ich bin überzeugt davon, dass er seine Meinung über meinen Einsatz ändern wird, wenn nachher die belgische Schokolade mit den Erdbeeren fusioniert und der Kuchen nach Mums Art auf seiner Zunge zergeht.

»Machst du eine griechische Diät, oder wieso haben wir so viel Feta und Karotten im Kühlschrank?« Dominik beäugt meinen skurrilen Einkauf, während ich unser bestes Besteck, das mit den eingravierten Pfingstrosen (Mums Lieblingsblumen) im Griff, aus der Schublade hole. Dad steht bereits in seiner Schürze auf der Terrasse und wendet Steaks auf dem Grill; im Hintergrund erklingt leise Bastilles Cover von All I Want for Christmas Is You. Wir sind allesamt keine großen Fans von Weihnachtsmusik, ganz ohne geht es im Dezember trotzdem nicht. Morgen, wenn wir uns an die festliche Musik herangetastet haben, werden wir eine CD einlegen, die Mum regelmäßig zu den Feiertagen abgespielt hat. Obwohl es bedeutet, dass ich die nächsten Tage mit Last Christmas von Wham! als Ohrwurm schlafen gehen werde, freue ich mich schon darauf. Die Musik, mein Geburtstagsgrillen und das traditionelle Wichteln morgen geben mir das Gefühl, dass Mum dieses Wochenende bei uns ist. Dad und Dominik geht es bestimmt genauso. Zumindest haben sie sich in den letzten fünf Jahren nie über den Erhalt von Mums Weihnachtstraditionen beschwert. Ich glaube sogar, dass sie sich insgeheim freuen, weil wir uns alle Mühe geben, Mum einzubinden. Wir erlauben uns, in dieser Zeit trotz allem glücklich zu sein, was nicht immer der Fall war.

Das erste Weihnachten ohne sie … war hart. Mit roten geschwollenen Augen saß ich im Dunkeln auf ihrem Lesesessel. Keine Lichterketten zierten das Fenster, und an der Stelle, an der normalerweise der Weihnachtsbaum mit Kugeln in allen Farben und Formen glänzte, war lediglich ein kahler Fleck zu sehen. Ich war von absoluter Stille umhüllt. Dad hatte sein Arbeitszimmer seit dem Frühstück nicht verlassen, und Dominik war nicht zu Hause, sondern mit seinem besten Freund und dessen Familie in Italien Snowboarden. Da war bloß ich in meiner tiefsten Trauer und Hilflosigkeit, weil ich nicht wusste, ob es jemals besser oder wieder normal werden würde. Ich habe bitterlich geweint, als Kevin am Ende von Kevin – Allein zu Haus von seiner Mutter umarmt wurde. Gott, wie sehr habe ich mir gewünscht, dass die Haustür aufgeht und Mum breit grinsend durch die Tür tritt. Natürlich ist das nicht passiert, schließlich ist die Realität gnadenlos. Nachdem ich viel zu lange in den schwarzen Hausflur gestarrt habe, habe ich mich als wirklichkeitsfremde Nuss bezeichnet und auf Stirb langsam umgeschaltet. Damit ging es seltsamerweise. Meine Gedanken bekamen eine Pause, und sobald der Abspann lief, breitete sich eine solche Entschlossenheit in mir aus, dass ich Bruce Willis Konkurrenz hätte machen können.

Das war das letzte traurige Weihnachtsfest gewesen. An diesem Abend habe ich mir geschworen, die verdammte Kontrolle über unser Leben zurückzuerlangen. Ab da wurde es besser, wir fanden in unsere Routine zurück – auch wenn Mum nie mehr Teil von dieser sein würde. Doch in meinem Herzen ist sie stets präsent, und ich hoffe, dass sie auf mich hinabsieht und stolz auf die Tochter ist, die ich zu sein versuche … für sie und für Dad.

Jetzt, sechs Jahre nach ihrem Tod, glaube ich, dass ich es ganz gut hinbekomme. Wir bekommen es gut hin. Mein Vater verbringt seine Zeit nicht länger abgeschottet in seinem Arbeitszimmer, und Dominik merkt man bei all seiner Begeisterung für jeden neuen Tag kaum an, dass er nur noch einen Elternteil hat. Von uns dreien kommt er am besten mit dem Verlust zurecht, und ich bin dankbar, dass er nicht komplett abgestürzt ist, wie es bei vielen anderen nach einer traumatischen Erfahrung der Fall ist.

Ein Hauch von Stolz überkommt mich, und ich schaue zu meinem Bruder, dessen dunkelblonder Schopf tief im Kühlschrank steckt. Ein Schmunzeln entweicht mir, denn obwohl sich in Sekundenschnelle so viel ändern kann, werden manche Dinge wohl auf ewig gleich bleiben – wie Doms Fähigkeit, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

»Also, ich will ja nichts sagen, aber wie kann es sein, dass du den Kühlschrankblick noch immer nicht gemeistert hast, Dominik?«

Mein Bruder zieht seinen Kopf aus der Kälte, um meine Worte spöttisch nachzuäffen, dann verschwindet seine obere Hälfte wieder hinter der mit Magneten dekorierten Tür.

Seufzend lege ich das Besteck neben unserem Feiertagsgeschirr ab, stelle mich zu Dom und drücke ihn mit einem ordentlichen Schwung meiner Hüfte zur Seite. Das Überraschungsmoment kommt mir zugute, denn sonst hätte ich ihn nicht so easy wegtackeln können – jetzt, da er mich um gute zwanzig Zentimeter überragt und sich durch sein strenges Sportprogramm einiges an Muskelmasse antrainiert hat. Von meinem Spargeltarzan-Bruder ist längst nichts mehr übrig. Nur seine leicht gewellten Haare, die ihm bis zu den Wangenknochen reichen, erinnern an den Jungen, den Mum noch kannte.

»Hey, Melly!«

Ich ignoriere seinen Protest und greife an den Babykarotten vorbei nach der Flasche Ketchup, die Dom sicher gesucht hat. Triumphierend halte ich sie ihm vor die Nase. Er schnappt sie mir aus den Händen, verdreht seine blaugrauen Augen (eine Mischung aus denen von Mum und Dad) und grummelt etwas vor sich hin, das sich verdächtig nach »Die stand eben noch nicht da« anhört. Schmollend stapft er ins Esszimmer, und ich folge ihm mit den Tellern und dem Besteck.

Bei meinem letzten Aufenthalt zu Hause habe ich versucht, die Wohnung für die kommenden Tage zu schmücken. Doch bis auf ein paar Girlanden, Lichterketten sowie die festlichen Platzmatten haben sich meine Bemühungen im Essbereich auf einen Adventskranz auf dem gläsernen Esstisch beschränkt. Bisher wurde auch nur die erste Kerze angezündet. Ich stelle das Geschirr ab und schnappe mir ein Feuerzeug aus der Küche, um die restlichen Flammen zu entfachen. Mit leiser Weihnachtsmusik im Hintergrund bereiten wir den Tisch vor. Auch wenn Gregor gleich dazustößt und wir somit zu viert sein werden, decken wir für fünf Personen. Zum Abschluss kramt Dominik ein rotes Päckchen aus seinem Rucksack, von dem ich zunächst annehme, dass es für mich ist. Doch dann legt er es gezielt auf Mums leeren Teller.

»Damit ich es morgen nicht vergesse.«

»Was ist drin?«, frage ich.

»Habe in der Stadt ein Armband entdeckt und direkt an Mum gedacht. Sie würde es bestimmt mögen.«

»Davon bin ich überzeugt«, entgegne ich sanft und bedauere, dass das Geschenk schon eingepackt ist. Ich hätte das Schmuckstück gern gesehen.

»Ich will es ihr morgen ans Grab bringen.«

»Oh, okay.«

Wann immer jemand über Mums Grab spricht, stolpert mein Herz. So auch dieses Mal. Hastig nehme ich eines der Weingläser in die Hand und tue so, als würde ich es auf Flecken überprüfen, damit Dominik nicht bemerkt, dass seine Aussage ein panisches Beben in mir verursacht hat.

Es ist lächerlich. Schwach. Und total irrational.

Ich weiß, dass Mums Herz trotz der unermüdlichen Bemühungen der Sanitäter aufgehört hat zu schlagen, weil ihr Körper plötzlich beschlossen hat, nicht mehr zu funktionieren. Doch ich schaffe es einfach nicht, mir Mum in einem Grab vorzustellen. Sie unter der Erde – das hat etwas Endgültiges. Und ich bin fest davon überzeugt, dass sie aus meinem Alltag verschwinden wird, sobald ich akzeptiere, dass sie dort beigesetzt wurde. Diese Gewissheit durchströmte mich bei ihrer Beerdigung. Sie kam, und ich bin weggerannt. Ich habe nicht einmal mitangesehen, wie die Trauergäste Erde auf den Sarg warfen, und seither bin ich nie mehr auf dem Friedhof gewesen.

Dominik berührt mich stumm an der Schulter. Anstatt das Problem anzusprechen, nimmt er ebenfalls ein Weinglas in die Hand und begutachtet es. Am liebsten würde ich ihm ein Danke zuflüstern, aber das verkneife ich mir. Stattdessen schenke ich ihm ein verhaltenes Lächeln, denn Dominik versteht. Und er verurteilt mich nicht.

Im Esszimmer duftet es köstlich nach gegrillten Steaks, und Dad hat einen uralten Kommt-ein-Häschen-in-die-Konditorei-Witz erzählt, der so flach war, dass mir vor lauter Lachen fast eine der Babykarotten aus dem Mund geflogen ist. Wir haben beschlossen, sie neben dem Nudelsalat zu snacken, statt sie nachträglich unterzumischen, und ich muss sagen, dass das Fingerfood dem gesamten Essen eine noch ungezwungenere Note gegeben hat. In meinem schwarzen Kleid mit Glitzertüll fühle ich mich beinahe overdressed, doch das lässt nach, sobald ich mich mit der Buttercreme vom Kuchen einsaue. Gregor glänzt zwar durch Abwesenheit, aber das stört niemanden von uns. Er hat sich mit einer Zwei-Satz-SMS für den Abend entschuldigt, da er sich auf der Arbeit den Magen verdorben hat und sich lieber zu Hause auskurieren möchte. Außerdem hat er darauf bestanden, dass ich den Abend mit meiner Familie verbringe, sollten sich seine Symptome im Nachhinein als Norovirus entpuppen. Ich hätte erwartet, dass ich einen Hauch von Enttäuschung empfinde, doch bis auf Mitleid, da Verdauungsprobleme echt unangenehm sind, war da nichts. Dad und Dominik haben auch nicht den Eindruck erweckt, dass sie von seinem Fehlen erschüttert wären. Vielmehr fühlt es sich so an, als wären wir alle erleichtert, unsere Familienmomente für uns behalten zu können.

»Mum hat es auch nie geschafft, ohne Flecken durch ein Essen zu kommen«, feixt Dominik, und ich bin erstaunt über diesen Erinnerungsfetzen. Früher war Mum Dominiks Lieblingsopfer, denn nach den Mahlzeiten sah sie oft so aus, als wäre ihr Teller explodiert. Nun ist dieser Kelch wohl an mich übergegangen, und ich liebe es. Aber nicht nur das. Ich liebe es, dass ich (wenngleich ungeplant) ein weiteres Stück Erinnerung an meine Mum zurückerobert habe. Wie sagt man so schön? Gone but never forgotten? Verdammt richtig.

Dad scheint ebenfalls glücklich über das kleine Fenster in die Vergangenheit, denn er lächelt uns an. Okay, in seinem Blick schimmert die allgegenwärtige Traurigkeit durch, doch neben ihr entdecke ich die väterliche Liebe, die ich ständig spüre und in versteckter Form empfange, aber viel zu selten sehe. Es erfüllt mich mit so viel Freude, dass ich fast schon behaupten würde, mein Geburtstag wäre perfekt. Zumindest so perfekt, wie es ohne Mum nun mal geht.

»Wisst ihr, was ich lustig finde?«, setzt Dominik an und deutet auf die restlichen Karotten auf seinem Teller. »Muss Schicksal gewesen sein, dass Melly das gesamte Sortiment an Grünzeug leer gekauft hat, oder? Ich meine, jetzt, wo Gregor sich auf der Arbeit den Magen verdorben hat.«

Dad und ich schauen ihn an, ohne dass es bei einem von uns klick machen würde, und Dom verdreht die Augen.

»Na, er muss sich die nächsten Tage bestimmt von Schonkost ernähren. Du kannst ihm also easy deinen ganzen Überschuss an Möhren verfüttern, statt sie selbst wie ein Hase zu mümmeln. Schicksal.«

Ich lache in mich hinein. »Seit wann glaubst du bitte an das Schicksal?«

Dominik zuckt mit den Schultern und konzentriert sich wieder auf seinen Nachtisch. Zu meiner Verwunderung nehmen seine Wangen ein dunkleres Rosa an. Ehe ich mich länger über sein ungewöhnliches Verhalten wundern kann, ergreift Dad das Wort und erhebt feierlich das Glas. In den letzten Jahren ist er stark gealtert. Auch wenn er inzwischen Rente bezieht, hätte ich als kleines Kind nie gedacht, dass er einmal wirklich alt aussehen würde. Mum und Dad wirkten auf mich immer wie ein Komparsenpärchen in Mamma Mia: gelassen, jung und frisch. Aber man sieht Dad seinen großen Schicksalsschlag an; die dunklen Ringe unter seinen Augen sind mittlerweile ein vertrauter Teil seines Gesichts. Er hat seinen natürlichen Glanz verloren, seine Haut ist fahl, und obwohl ich dafür sorge, dass er sich ausgewogen ernährt, hat er mit der Zeit zugenommen und ist nicht mehr so sportlich unterwegs. Sein Stress hat sich auch auf seine Haare ausgewirkt, die ergraut und dünner geworden sind. Trotzdem erkennt man bei den seltenen Malen, die Dad lächelt, wieso sich Mum in ihn verliebt hat.

»Ich bin unglaublich stolz auf euch«, fängt Dad an.

Etwas irritiert über seine plötzliche Liebesbekundung, nehmen Dom und ich ebenfalls unsere Gläser in die Hand – meins gefüllt mit Weißwein, Dominiks mit Cola.

»Ich weiß, ich weiß. An deinem Geburtstag sollen wir die ernsteren Themen nicht anschneiden, aber ich muss es sagen. Es mag nicht immer einfach sein, doch uns an diesem Tisch zu sehen, wie eine Familie … Dafür bin ich dankbar. Also danke. Danke, dass ihr so ein schönes Festessen auf die Beine gestellt habt.«

Insgeheim ergänze ich seine Rede um einige Punkte, die zwar ungesagt bleiben, die er aber sicherlich gern sagen würde. Wären da nicht sein Schmerz … und ja, ein Anflug von schlechtem Gewissen, die ihm selbst sechs Jahre später die Worte rauben.

Danke, dass ihr Mums Kuchen gemacht habt.

Danke, dass ihr einen fünften Platz gedeckt habt.

Danke, dass ihr vor fünf Jahren die Tür zum Arbeitszimmer aus den Angeln genommen und mich zu euch an den Tisch geholt habt.

»Danke für das leckerste Steak der Welt«, füge ich hinzu, und Dominik nickt eifrig. Dad strahlt.

»Vergiss nachher nicht, Gregor seine Portion einzupacken. Dann geht’s ihm sicher bald besser.«

Grinsend ergänzt mein Bruder: »Schwester Melly und das fettige Steak. Wirkt bestimmt wahre Wunder, wenn der Typ gerade auf dem Klo festhängt.«

»Dominik!«, rüge ich ihn, doch bei seiner Grimasse schaffe ich es nicht, ernst zu bleiben.

»Ich habe eine Idee. Du lässt die guten Reste hier, nimmst deine Möhren mit, und alle sind glücklich. Wieso hast du überhaupt so viele gekauft? Die laufen morgen alle ab.«

»Weil es das Schicksal so wollte.« Mit einem provokanten Grinsen im Gesicht beobachte ich, wie mein Spruch seine Wirkung entfaltet. Dominik brummt, und Dad lacht lautstark auf.

Ja, dieser Abend ist so perfekt, wie es eben geht.

3Melly

Okay, Mum, sag nichts. Es gab bestimmt Zeichen.

Sich den Magen verdorben zu haben, ist fies und auf so vielen Ebenen unangenehm, dass ich mir wirklich die Mühe gemacht habe, für Gregor zusätzlich zu den Resten eine Möhren-Kartoffel-Suppe zu kochen. Da meine Anrufe direkt auf die Mailbox weitergeleitet werden (was nichts Ungewöhnliches ist), habe ich beschlossen, ihm am Krankenlager einen Besuch abzustatten. Eigentlich hatte ich ihm nach seiner Absage bestätigt, dass ich bei meiner Familie übernachten würde, doch letztlich ließ sich das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Wie könnte ich mich mit Dad und Dominik auf die Couch pflanzen, wenn mein Freund möglicherweise mit dem Norovirus zu kämpfen hat? Also habe ich meine Familie auf morgen vertröstet und bin zu Gregors Wohnung aufgebrochen. (Ja, dass er mich anstecken könnte, habe ich in Kauf genommen.) Aber was muss ich dort feststellen? Er ist nicht da! Vor meinem inneren Auge tauchen Bilder auf, wie er sich vor Schmerzen krümmend noch immer im Büro herumquält und es nicht schafft, den Heimweg anzutreten. Am liebsten wäre ich zu seiner Arbeit gefahren, um ihn zu retten. Zu Beginn unserer Beziehung hat er jedoch klargestellt, dass er Besuche im Büro nicht sehen will, weil er Arbeit und Privatleben gegenüber seinen Kollegen strikt trennen möchte. Ich bezweifle, dass außer Gregor zu dieser späten Stunde überhaupt noch jemand arbeitet, doch da ich meinen Freund nicht verärgern will, schreibe ich ihm lediglich eine Nachricht. Ich erkundige mich nach seinem Befinden und versichere ihm, dass ich mit Fencheltee und magenfreundlichem Essen in seinem Apartment für ihn bereitstehe. Anschließend befülle ich eine Wärmeflasche, erhitze die Suppe auf niedrigster Stufe und warte. Und warte. Und warte.

Ich starre so lange von der Couch aus auf die Wohnungstür, bis die Suppe wieder kalt ist. Die Wärmflasche in meinem Arm hat mich inzwischen schläfrig gemacht, weshalb ich beschließe, ins Schlafzimmer umzuziehen. Vom Bett aus schicke ich Gregor eine weitere Nachricht mit der Bitte, mich zu wecken, sollte ich in der Zwischenzeit eingeschlafen sein. Zum Schluss biete ich ihm an, ihn abzuholen, falls er meine Hilfe braucht. Die Mitteilungen gehen durch, werden allerdings nicht als gelesen angezeigt.

»Mach dir keine Sorgen«, versuche ich, mich zu beruhigen. Doch überzeugend klinge ich nicht. Ich klettere aufs Bett und umklammere Wärmflasche und Handy. »Es wird schon alles gut sein.«

Das Problem ist: Wie kann ich sicher sein? Mum hat auch gesagt, dass alles okay ist, und keine Stunde später … Ich schließe die Lider, um den sich anbahnenden Gedanken zu vertreiben. Sofort umgibt mich Dunkelheit. Dank der Wärme in meinem Arm ist sie weniger beunruhigend als sonst, wenn ich allein bin. Statt an Mum oder an Gregor zu denken, denke ich an Dominik und Dad. Ob die zwei den Adventskranz ausgepustet haben? Hastig erinnere ich meinen Bruder per Chat. Er schickt mir unaufgefordert ein Foto der flammenlosen Kerzen, begleitet von einem Emoji, das die Augen verdreht. Kopfschüttelnd reagiere ich mit einem Herz auf die Nachricht. Danach fällt mein Blick auf Vikas Anzeigebild. Ob sie schon schläft? Oder wartet sie wirklich auf einen Anruf von mir? Wie schön es wäre, jetzt mit ihr zu tanzen, den Bass der Musik zu spüren und den So-perfekt-wie-es-eben-geht-Geburtstag noch etwas in die Länge zu ziehen …

Ein Schrei lässt mich hochschrecken. Das Handy rutscht mir aus der Hand und auf den Boden. Verdammt, ich muss tatsächlich eingeschlafen sein. Was, wenn Gregor sich inzwischen gemeldet hat? Ich springe auf, greife nach meinem Telefon und werfe einen Blick auf das grelle Display. Erleichtert atme ich aus. Es hat den Sturz unbeschadet überstanden, und ich bin nicht mal für eine Stunde eingenickt. Trotzdem: Gregor hat noch nicht geantwortet.

Mir fällt wieder ein, was mich geweckt hat, und ich lausche. In den nächsten Sekunden bleibt alles ruhig, daher stufe ich den Schrei als Teil meines Traumes ein, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Ohne Gregor neben mir ist ein Albtraum kein abwegiger Gedanke.

Plötzliches Knarzen von Holz lässt mich aufhorchen.

Jemand ist in der Wohnung.

Womöglich Norma, Gregors Mutter? Vielleicht hat sie die fette Spinne in der Küche entdeckt, die ich liebevoll Peter Parker getauft habe, und sich erschreckt? Dann wäre der Schrei echt gewesen.

Na, mit Peter Parker wird sie schon allein zurechtkommen. Ich habe kein Interesse daran, die Hexe vor morgen zu sehen, daher wende ich mich wieder dem Bett zu. Aber gerade als ich mich hinsetzen will, höre ich einen weiteren Schrei und halte in der Bewegung inne. Allmählich werde ich stutzig. Das klang nicht wie eine Frau Ende fünfzig.

Außerdem bin ich eine Horrorfilm-Connaisseuse und erkenne, wenn jemand aus Angst oder im panischen Neandertal-Angriffsmodus schreit. Das hingegen war eindeutig ein Schrei aus Lust. Hell, weiblich. Oh Gott.

Selbst meine naivste Gehirnzelle zählt nun eins und eins zusammen. Die nicht gelesenen Nachrichten. Die Absicherung, dass ich die Nacht bei meiner Familie verbringe.

Mir wird schlecht, und ich lasse mich auf das Bett sinken. Genau in dem Moment, als mein Po die Matratze berührt, schickt die weibliche Stimme hinter der Tür Stoßgebete an Gott. Wut und Entsetzen überkommen mich. Das, was ich höre, ist schlimmer als eine Szene in einem Slasher. Eine weitere Stimme ertönt; tiefer, gedämpfter und mir bekannt.

»Scheiße«, fluche ich zitternd, als mir zwei Dinge sonnenklar werden.

Erstens: Gregor betrügt mich. Jetzt. In dieser Wohnung.

Zweitens: Ich muss diese Tür öffnen. Um meinen Stolz zu bewahren und nicht der Narr in dieser Beziehung zu sein, muss ich da raus und ihn mit seiner Untreue konfrontieren. Denn die einzig andere Option wäre, mich in diesem Zimmer zu verstecken und so zu tun, als hätte ich Gregors ganzes versautes Spiel nicht mitbekommen.

Richtig. Sei das naive Blondchen, das sich vom Partner nach Strich und Faden verarschen lässt.

Oder? Oder??

Meine Knie wippen auf und ab, während ich krampfhaft versuche, meinem Unterbewusstsein eine Alternative zu entlocken.

Zeig endlich deine Krallen! Du warst schon viel zu lange unglücklich. Er hat dich mies behandelt, jeden verdammten Tag, Mel! Und er hat es immer so gedreht, als wärst du das Problem.

Scheiße! Trotz all der Tiefpunkte in unserer Beziehung habe ich mir nie ausgemalt, Gregor mit jemandem in flagranti zu erwischen.

Weitere Lustschreie, die ich nun als Stöhnen qualvoller Begierde identifiziere, dringen an mein Ohr. Ich stehe vom Bett auf und umschließe die Türklinke mit kalten Fingern. Dann hole ich tief Luft, drücke sie hinunter und steuere die ganz reale Ursache meines vermeintlichen Albtraums an.

Oh Gott, ich glaub, ich muss kotzen.

Das Bild, das sich mir beim Blick durchs dunkle Wohnzimmer in die hell erleuchtete Küche bietet, erinnert an einen billigen Porno. Gleichzeitig ist es die größte Beleidigung, die Gregor hätte einfallen können. Nein, keine Beleidigung. Es gleicht einer Ohrfeige.

Gregors Rücken ist mir zugewandt, und er kniet halb nackt vor einer Frau, die optisch meine Schwester sein könnte. Sein Kopf steckt zwischen ihren Beinen. Zwar trägt er noch sein Hemd, doch seine Jeans hängt an seinen Knöcheln. Ich verziehe das Gesicht. Dieser buchstäbliche Half-Ass-Look war nie mein Fall.

Seine Gespielin ist komplett nackt und von Gregors Berührungen offenbar bereits in totale Ekstase versetzt. Ihr Haar klebt an der Stirn, und ihre Haut scheint vor Hitze zu glühen. Sie genießt den Kontakt. Das dort ist vollkommen anders als mit mir. Allein die Tatsache, dass Gregor vor der Frau in die Knie gegangen ist und … Oh Gott, grunzt er in sie hinein? Ich halte mir die Ohren zu, bevor ich die Aufmerksamkeit der beiden mit einem Räuspern auf mich ziehe.

Die Frau reißt die Augen auf und verliert schlagartig an Farbe. Mein Freund braucht länger, um mich zu bemerken. Zwar bemüht seine Bekanntschaft sich, ihn von sich zu schieben, aber er hat seine Finger so fest in ihre Haut gekrallt, dass sie morgen sicher von blauen Flecken übersät sein wird.

Es ist schon seltsam. Obwohl ich über Gregors dreckige Untreue empört sein sollte, bin ich wütender darüber, dass er nicht von ihr ablässt, während sie panisch keucht und immer wieder versucht, ihn auf mich aufmerksam zu machen.