Five Nights at Freddy's: Die silbernen Augen - Scott Cawthon - E-Book

Five Nights at Freddy's: Die silbernen Augen E-Book

Scott Cawthon

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Beschreibung

Das Point-and-Click Survival Horror Spiel Five Nights at Freddy zählte 2014 zu einem der Überraschungshits des Jahres. Im November 2016 folgte zuletzt der 5. Teil des weltweit erfolgreichen Gruselspaßes um 4 mörderische Animatronics genannte Unterhaltungsroboter. Der offizielle Roman zum Game versetzt den Leser in eine Zeit 10 Jahre nach den ersten Zwischenfällen in Freddys Pizzeria und lässt die vier Killerpuppen zu einem erneuten Horrortrip aufbrechen.

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EPUB

Seitenzahl: 475

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Roman

Aus dem Englischen von Robert Montainbeau

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „Five Nights at Freddy’s: The Silver Eyes“ by Scott Cawthon and Kira Breed-Wrisley published in the US by Scholastic Inc., New York, October 2016.

Copyright © 2017 Scott Cawthon. All rights reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70 178 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Robert Mountainbeau

Lektorat: Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDFIVE001

ISBN 978-3-8332-3579-5

Gedruckte Ausgabe: ISBN 978-3-8332-3519-1

1. Auflage, August 2017

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

1

Er sieht mich.

Charlie ließ sich auf alle viere fallen. Eingezwängt in einem Kriechgang zwischen Spielautomaten und der Wand hockte sie auf einem Gewirr von Elektrokabeln und Steckerleisten. Sie saß in der Falle.

Der einzige Weg hinaus führte an dem Ding vorbei, und sie war nicht schnell genug, um das zu schaffen. Durch einen Spalt zwischen den Automaten sah sie ihn auf und ab staksen. Sie hatte kaum genug Platz, um sich überhaupt zu bewegen, aber sie versuchte rückwärts zu kriechen. Ihr Fuß blieb an einem Kabel hängen. Sie hielt inne, um ihn vorsichtig zu befreien.

Sie hörte, wie Metall gegen Metall schepperte, dann kippte die am weitesten von ihr entfernte Konsole gegen die Wand. Wieder schlug er gegen den Automaten, wobei der Bildschirm zersplitterte. Dann nahm er sich den nächsten vor und drosch fast rhythmisch darauf ein, zerschmetterte eine Konsole nach der anderen und kam immer näher.

Ich muss hier weg, ich muss! Doch alle Panik half ihr nicht weiter. Es gab keinen Ausweg. Ihr Arm schmerzte. Am liebsten hätte sie laut aufgeschluchzt. Blut sickerte durch den schmutzigen Verband. Sie hatte das Gefühl, als könne sie geradezu spüren, wie es einfach aus ihr herauslief.

Jetzt knallte plötzlich die Konsole, die kaum mehr als einen Meter von ihr entfernt war, gegen die Wand. Charlie zuckte zusammen. Er kam näher. Immer lauter vernahm sie das Surren von kleinen Getrieben und das Klicken von Servomotoren. Selbst mit geschlossenen Augen sah sie vor sich, wie er sie anblickte, sah den verfilzten Pelz und die offen liegenden Metallverstrebungen unter dem künstlichen Fell.

Die Konsole wurde direkt vor ihr nach vorn gezerrt. Sie kippte um wie ein Spielzeug. Die Kabel unter Charlies Händen und Knien wurden mit fortgerissen. Sie schluckte und blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie ein Haken auf sie niederfuhr …

WILLKOMMEN IN HURRICANE, UTAH.

Beim Anblick des Schildes grinste Charlie schief und fuhr weiter. Dahinter sah die Welt nicht viel anders aus als davor, doch sie spürte ein Gefühl nervöser Erwartung in sich aufsteigen, als sie das Schild hinter sich gelassen hatte.

Sie erkannte nichts wieder. Allerdings hatte sie auch nicht damit gerechnet, zumindest nicht hier, am Rand der Stadt, wo es nur den Highway gab und sonst nichts.

Sie fragte sich, wie die anderen wohl aussehen würden, wer sie heute waren. Zehn Jahre zuvor waren sie beste Freunde gewesen. Und dann war es passiert und hatte alles beendet, zumindest für Charlie.

Seit sie sieben gewesen war, hatte sie keinen von ihnen mehr gesehen. Als Kinder, da hatten sie sich noch ständig geschrieben, ganz besonders Marla, die schrieb, wie sie redete: schnell und zusammenhanglos.

Doch als sie älter geworden waren, hatten sie sich auseinandergelebt. Die Briefe waren seltener geworden, und die Gespräche, die schließlich zu ihrer Reise geführt hatten, ebenso oberflächlich und von hilflosen Pausen unterbrochen.

Charlie wiederholte ihre Namen, als wolle sie sichergehen, niemanden vergessen zu haben: Marla. Jessica. Lamar. Carlton. John. Und Michael … Michael war immerhin der eigentliche Grund für ihre Reise. Zehn Jahre war es her, dass er gestorben war. Zehn Jahre, seit es passiert war. Und nun hatten seine Eltern sie alle für die Gedenkfeier noch einmal eingeladen. Sie wollten seine alten Freunde versammelt sehen, wenn sie das Stipendium stifteten, das sie in Michaels Namen ins Leben riefen. Charlie fand, dass es durchaus eine gute Sache war, aber die Zusammenkunft fühlte sich irgendwie makaber an.

Ein Schauer überlief sie, und sie regelte die Klimaanlage herunter, obwohl ihr klar war, dass es nicht an der Kälte lag.

Während sie in die Innenstadt fuhr, kannte Charlie sich allmählich wieder aus: Zumindest ein paar Geschäfte und das Kino, an dem bereits für den Blockbuster dieses Sommers geworben wurde, waren noch da.

Einen Augenblick war sie überrascht, dann musste sie über sich selbst lächeln. Was hast du denn geglaubt? Dass alles unverändert bleibt? Ein Denkmal an den Tag deiner Abreise, das im Juli 1985 für immer eingefroren worden ist? Aber eigentlich war es genau das, was sie erwartet hatte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Ein paar Stunden musste sie noch totschlagen, bevor sich alle treffen würden. Sie überlegte kurz, sich den Film anzusehen, doch sie wusste, was sie in Wirklichkeit tun wollte. Charlie bog nach links ab und fuhr wieder aus der Stadt hinaus.

Zehn Minuten später hielt sie an und verließ das Auto.

Vor ihr ragte das Haus auf, seine dunklen Umrisse eine Wunde im strahlend blauen Himmel. Charlie lehnte sich gegen den Wagen, denn ihr wurde etwas schwindelig. Sie atmete mehrmals tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie wusste, dass es noch hier stehen würde. Bei einem eigentlich unzulässigen Blick in die Konten ihrer Tante vor ein paar Jahren hatte sie gesehen, dass die Hypothek abgetragen war, Tante Jen aber immer noch die Grundsteuer bezahlte. Es war erst zehn Jahre her, also gab es keinen Grund, dass sich irgendetwas geändert haben sollte.

Langsam ging Charlie die Stufen hinauf und ließ ihren Blick über die abblätternde Farbe gleiten. Die dritte Stufe hatte immer noch ein loses Brett, und die Rosenbüsche waren über die eine Seite der Veranda gewuchert und bohrten ihre Dornen hungrig in das Holz. Die Haustür war abgeschlossen, aber Charlie besaß nach wie vor ihren Schlüssel. Sie hatte ihn nie gebraucht.

Während sie die Kette mit dem Schlüssel daran von ihrem Hals nahm und ins Schloss schob, erinnerte sie sich daran, wie ihr Vater ihr die Kette einst umgelegt hatte. Falls du ihn jemals brauchst. Jetzt brauchte sie ihn.

Die Tür ließ sich leicht öffnen. Charlie trat ein und sah sich um. An die ersten zwei Jahre in diesem Haus konnte sie sich kaum noch erinnern. Sie war erst drei gewesen, und alle ihre Erinnerungen verschmolzen zu einem Gefühl von Verlust und kindlicher Trauer, weil sie nicht verstanden hatte, warum ihre Mutter hatte gehen müssen. Unentwegt hatte sie sich an ihren Vater geklammert und der Welt um sie herum nicht getraut, solange er nicht da war, solange sie ihn nicht festhalten und ihr Gesicht in seine Baumwollhemden drücken und den Geruch nach Öl und heißem Metall einatmen konnte.

Vor ihr führte die Treppe gerade nach oben, doch sie steuerte nicht direkt darauf zu. Stattdessen ging sie ins Wohnzimmer, wo noch alle Möbel an ihrem Platz standen. Als Kind war es ihr nicht aufgefallen, aber das Haus war ein wenig zu groß für die wenigen Möbel, die sie besessen hatten. Alles stand zu weit auseinander, um den Raum wirklich zu füllen: Der Kaffeetisch befand sich zu weit vom Sofa entfernt, als dass man ihn leicht hätte erreichen können, der Sessel zu weit weg, als dass ein Gespräch möglich gewesen wäre. Auf dem Holzfußboden, fast in der Mitte des Raumes, war ein dunkler Fleck zu erkennen. Charlie ging schnell darum herum und weiter in die Küche, wo in den Schränken nur ein paar Töpfe, Pfannen und etwas Geschirr standen. Als Kind hatte Charlie nie irgendetwas gefehlt, aber nun kam es ihr so vor, als seien die unnötigen Ausmaße des Hauses eine Art Entschuldigung, der Versuch eines Mannes, der so viel verloren hatte, seiner Tochter zu bieten, was er nur konnte. Er hatte schon immer dazu geneigt, alles zu übertreiben, was er tat.

Als sie das letzte Mal in diesem Haus gewesen war, hatte es dunkel gewirkt und irgendwie falsch. Sie war die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgetragen worden, obwohl sie schon sieben gewesen war und auf ihren eigenen Füßen schneller gewesen wäre. Doch Tante Jen war auf der vorderen Veranda stehen geblieben, hatte sie hochgenommen, sie getragen und mit der Hand ihr Gesichtsfeld eingeschränkt, als sei sie ein Baby und der gleißenden Sonne ausgesetzt.

In ihrem Zimmer hatte Tante Jen Charlie abgesetzt und die Tür hinter ihnen geschlossen. Sie hatte sie angewiesen, ihren Koffer zu packen, und Charlie hatte geweint, weil alle ihre Sachen niemals in den kleinen Koffer passen würden.

„Wir können später zurückkommen und den Rest holen“, hatte Tante Jen gesagt, und ihre Ungeduld war deutlich spürbar gewesen, während Charlie noch unentschlossen vor ihrer Kommode gestanden und versucht hatte, sich zu entscheiden, welche T-Shirts sie mitnehmen sollte.

Sie waren niemals zurückgekommen, um den Rest zu holen.

Charlie ging die Treppe hinauf und wandte sich ihrem alten Zimmer zu. Die Tür hatte einen Riss, und als sie sie öffnete, fühlte sie sich auf eine seltsame Weise fehl am Platz, als könnte ihr jüngeres Ich gleich dort inmitten ihres Spielzeugs sitzen, sie ansehen und fragen: Wer bist du?

Dann betrat Charlie den Raum.

Wie der Rest des Hauses war auch ihr Zimmer unberührt. Die Wände waren blassrosa, und die Decke, die an einer Seite, wo sie der äußeren Linie des Daches folgte, in eine steile Schräge überging, war in der gleichen Farbe gestrichen. Ihr altes Bett stand immer noch unter einem großen Fenster an der Wand. Die Matratze war heil, wenn auch die Laken fehlten. Das Fenster hatte jemand leicht aufgestellt, und vergilbte Spitzenvorhänge wehten in der sanften Brise, die von draußen hereinwehte.

Unter dem Fenster hatte sich an der Wand im Laufe der Jahre ein dunkler Wasserfleck gebildet und zeigte deutlich, wie sehr das Haus vernachlässigt worden war. Charlie stieg auf das Bett und zog das Fenster zu. Quietschend schloss es sich, und sie kletterte wieder auf den Boden und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Rest des Zimmers zu, den Schöpfungen ihres Vaters.

In der ersten Nacht im Haus hatte Charlie Angst gehabt, alleine zu schlafen. Sie selbst konnte sich an die Nacht nicht erinnern, aber ihr Vater hatte ihr oft genug davon erzählt, sodass ihr die Geschichte wie ihre eigene Erinnerung vorkam.

Sie hatte sich aufgesetzt und geweint, bis ihr Vater gekommen war, bis er sie in seine Arme genommen, festgehalten und ihr versprochen hatte, dafür zu sorgen, dass sie nie wieder allein sein würde. Am nächsten Morgen hatte er sie bei der Hand genommen und sie zur Garage geführt, wo er sich daranmachte, sein Versprechen einzulösen.

Als Erstes konstruierte er ihr ein lilafarbenes Kaninchen, das inzwischen von den vielen Jahren im Sonnenlicht ganz grau geworden war. Ihr Vater hatte es Theodore genannt. Es war so groß wie ein dreijähriges Kind – so groß wie sie damals –, und es hatte ein flauschiges Fell, glänzende Augen und trug eine adrette rote Krawatte. Viel konnte es nicht, nur mit einer Hand winken und den Kopf zur Seite legen, um mit der Stimme ihres Vaters zu sagen: „Ich liebe dich, Charlie.“ Aber als Nachtwache war es bestens geeignet und leistete ihr Gesellschaft, wenn sie nicht schlafen konnte. Im Moment saß Theodore in einem weißen Korbstuhl in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers. Charlie winkte ihm zu, aber da er nicht eingeschaltet war, winkte er nicht zurück.

Nach Theodore wurden die Spielzeuge dann viel komplexer. Einige funktionierten und andere nicht. Manche schienen unter andauernden Störungen zu leiden, während andere Charlies kindliche Fantasie einfach nicht ansprachen. Sie wusste, dass ihr Vater die defekten oder ungeliebten Spielzeuge wieder mit in seine Werkstatt nahm und sie ausschlachtete, um ihre Teile erneut zu verwenden. Trotzdem wollte sie nie dabei zusehen, wie sie auseinandergenommen wurden. Aber jene, die blieben, die sie liebte, die jetzt immer noch dort waren, sahen sie erwartungsvoll an. Lächelnd drückte Charlie auf einen Knopf neben ihrem Bett. Er klemmte nur ein wenig, doch nichts geschah. Sie drückte ihn erneut und hielt ihn länger fest, und diesmal begann das Einhorn auf der anderen Seite des Raums sich mit dem typischen Quietschen zu bewegen, wenn Metall auf Metall rieb.

Das Einhorn (Charlie hatte es aus irgendeinem Grund, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte, Stanley getauft) war aus Metall und glänzend weiß angemalt. Es rollte auf einer Schiene im Kreis durch den Raum und nickte dabei steif mit dem Kopf. Die Schiene quietschte, als Stanley neben dem Bett zum Stehen kam.

Charlie kniete sich neben ihn auf den Boden und tätschelte seine Flanke. Die strahlend weiße Farbe war stellenweise abgeplatzt, und sein Gesicht hatte begonnen, Rost anzusetzen. Doch seine Augen wirkten immer noch lebendig.

„Du brauchst mal einen neuen Anstrich, Stanley“, stellte Charlie fest. Das Einhorn starrte regungslos an ihr vorbei.

Am Fußende befand sich ein Rad. Es war aus Metall zusammengeschweißt und hatte immer auf sie gewirkt, als stamme es aus einem U-Boot. Charlie griff danach. Einen Moment klemmte es, doch dann gab es nach und drehte sich, wie es das immer getan hatte, und die Tür des kleinsten Schranks schwang auf.

Heraus kam Ella auf ihrer Schiene, eine Puppe von der Größe eines Kindes, die eine Teetasse in ihren winzigen Händchen hielt, als wolle sie sie anbieten. Ellas kariertes Kleid wirkte immer noch frisch gebügelt, und ihre Lackschuhe glänzten. Vielleicht hatte der Schrank sie vor der Feuchtigkeit geschützt. Charlie hatte genau die gleichen Sachen besessen, als sie und Ella noch gleich groß gewesen waren.

„Hi Ella“, sagte sie leise.

Als sie das Rad zurückdrehte, verschwand Ella wieder im Schrank, und die Tür schloss sich hinter ihr. Charlie folgte ihr. Die Schränke waren so gebaut worden, dass sie genau unter die Schräge passten, und es gab drei von ihnen. Ella wohnte im kleinsten, der nur gut einen Meter hoch war. Daneben befand sich einer, der ungefähr dreißig Zentimeter mehr maß, und ein dritter, direkt neben der Schlafzimmertür, der genauso hoch war wie der Rest des Raums. Sie lächelte, als sie sich erinnerte.

„Warum hast du drei Schränke?“, hatte John wissen wollen, als er sie zum ersten Mal besucht hatte. Ausdruckslos hatte sie ihn angesehen, denn seine Frage verwirrte sie.

„Weil es nun mal so viele sind“, hatte sie schließlich geantwortet und wie zu ihrer Verteidigung auf den kleinsten gedeutet und gesagt: „Der gehört sowieso Ella.“ John hatte befriedigt genickt.

Charlie schüttelte den Kopf und öffnete die Tür des mittleren Schranks – oder zumindest versuchte sie es. Er war verschlossen. Sie rüttelte ein paar Mal daran, doch gab bald auf. Aus der Hocke blickte sie hinauf zu dem größten Schrank, der eigentlich erst für sie bestimmt gewesen war, wenn sie groß sein würde. „Den wirst du erst später brauchen“, hatte ihr Vater gesagt, aber dieser Tag war niemals gekommen. Jetzt stand die Tür einen Spalt breit offen, aber Charlie berührte sie nicht. Der Schrank hatte sich nicht für sie geöffnet, sondern einfach dem Zahn der Zeit, der an ihm nagte, nachgegeben.

Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie etwas Glänzendes, das halb unter dem Rand der verschlossenen mittleren Tür hervorschaute. Sie beugte sich hinunter, um es aufzuheben. Es sah aus wie ein abgebrochenes Stück einer Computerplatine. Sie musste lächeln. Schrauben, Muttern, Holzreste und andere Teile waren früher stets überall aufgetaucht. Ihr Vater hatte immer irgendwelchen Kleinkram in den Taschen gehabt. Manchmal trug er irgendetwas herum, woran er arbeitete, stellte es ab und vergaß, wo es war, oder, schlimmer noch, legte es „sicher“ weg, woraufhin es nie wieder gesehen wurde. An dem Stück, dass sie in der Hand hielt, hing sogar ein Haar von ihr. Sorgsam zog sie es ab.

Schließlich, als hätte sie es vor sich hergeschoben, durchquerte Charlie den Raum und nahm Theodore hoch. Sein Rücken war nicht wie seine Vorderseite durch das Sonnenlicht ausgeblichen, und er schimmerte immer noch in dem tiefen Lila, an das sie sich erinnerte. Sie drückte auf den Knopf am Ansatz seines Halses, aber er regte sich nicht. Sein Fell war abgewetzt, ein Ohr hing nur noch an einem einzelnen dünnen Faden, und durch das Loch konnte sie das grüne Plastik seiner Steuerplatine sehen. Charlie hielt den Atem an und lauschte ängstlich, ob sie irgendetwas hören würde.

„I…iebe … di…arlie“, sagte das Kaninchen mit kaum hörbarer, stockender Stimme, und Charlie setzte es ab. Ihr Gesicht war plötzlich ganz heiß und ihre Brust eng. Sie hatte nicht damit gerechnet, noch einmal die Stimme ihres Vaters zu hören. Ich liebe dich auch.

Charlie sah sich weiter im Zimmer um. Als Kind war es ihre ganz eigene zauberhafte Welt gewesen, und es hatte ihr allein gehört. Nur wenige ausgewählte Freunde hatten es je betreten dürfen. Sie ging zum Bett und setzte Stanley auf seinen Schienen erneut in Bewegung. Dann verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich, noch bevor das kleine Einhorn wieder zum Stillstand kam.

Durch die Hintertür ging sie zur Auffahrt und blieb vor der Garage stehen, in der sich die Werkstatt ihres Vaters befunden hatte. Halb vergraben im Kies entdeckte sie ein Stück Metall und hob es auf. Es besaß in der Mitte ein Gelenk. Während sie es hin- und herbewegte, lächelte sie ein wenig. Ein Ellbogengelenk, dachte sie. Ich frage mich, wem das mal hätte gehören sollen.

Schon oft hatte sie an genau derselben Stelle gestanden. Sie schloss die Augen, und die Erinnerungen überwältigten sie. Wieder war sie ein kleines Mädchen und saß in der Werkstatt ihres Vaters auf dem Boden. Sie spielte mit Resten von Holz und Metall, als seien es Bauklötze, und versuchte aus den ungleichen Teilen einen Turm zu bauen. Es war heiß in der Werkstatt, und sie schwitzte. Schmutz blieb an ihren Beinen kleben, während sie dort in ihren Shorts und Turnschuhen saß. Fast konnte sie den scharfen, metallischen Geruch des Lötkolbens riechen. Ihr Vater war ganz in der Nähe, nie außer Sichtweite, und arbeitete an Stanley, dem Einhorn.

Stanleys Gesicht war noch nicht fertig: die eine Seite weiß und glänzend und freundlich, mit einem strahlenden braunen Auge, das fast lebendig wirkte. Die andere Seite seines Kopfes bestand aus Platinen und Metallstreben. Charlies Vater warf ihr einen Blick zu und lächelte, und sie lächelte liebevoll zurück.

In einer dunklen Ecke hinter ihrem Vater, fast nicht sichtbar, hing ein Gewirr von Gliedmaßen aus Metall. Es war ein verdrehtes Skelett mit durchdringenden silbernen Augen. Hin und wieder zuckte es unheimlich. Charlie versuchte nie hinzusehen, doch während ihr Vater arbeitete und sie mit den Materialresten spielte, wanderte ihr Blick immer wieder unwillkürlich hinüber. Die Gliedmaßen, verdreht wie sie waren, wirkten geradezu höhnisch, das Ding ein grausiger Narr, und doch strahlte es ungeheuren Schmerz aus.

„Daddy?“, sagte Charlie, aber ihr Vater sah nicht von seiner Arbeit auf. „Daddy?“, sagte sie erneut, diesmal dringlicher, und nun drehte er sich langsam zu ihr um, als befände er sich nicht vollständig in dieser Welt.

„Was brauchst du, Süße?“

Sie deutete auf das Metallskelett. Tut ihm etwas weh? Sie wollte diese Frage stellen, aber als sie in die Augen ihres Vaters blickte, merkte sie, dass sie es nicht konnte. Sie schüttelte den Kopf.

„Nichts.“

Er nickte ihr mit abwesendem Lächeln zu und machte sich wieder an die Arbeit. Hinter ihm zuckte die Kreatur erneut fürchterlich, und in ihren Augen loderte ein gleißendes Feuer.

Charlie überlief ein Schauer, und sie riss sich zusammen, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Sie fühlte sich schutzlos und sah schnell über die Schulter. Dann blickte sie nach unten und entdeckte etwas: drei Abdrücke im Boden. Gedankenverloren kniete sie sich hin und fuhr mit den Fingern über einen davon. Der Kies war beiseitegeschoben, und irgendetwas hatte sich in den Boden darunter gebohrt. Ein dreibeiniges Kamerastativ? Es war der erste Anblick, der ihr nicht vertraut war. Die Tür zur Werkstatt stand einen Spaltbreit offen, einladend, aber sie verspürte nicht den Wunsch hineinzugehen. Schnell lief sie zurück zu ihrem Auto, doch sobald sie wieder hinter dem Steuer saß, hielt sie inne. Die Schlüssel waren weg, wahrscheinlich irgendwo im Haus aus ihrer Tasche gefallen.

Noch einmal ging sie den Weg ab, den sie genommen hatte, warf einen kurzen Blick ins Wohnzimmer und die Küche, bevor sie nach oben zu ihrem Zimmer lief. Die Schlüssel lagen auf dem Korbstuhl, neben Theodore, dem Kaninchen. Sie nahm sie hoch und klimperte ein wenig damit, denn irgendwie war sie noch nicht wirklich bereit, das Zimmer wieder zu verlassen.

Sie setzte sich aufs Bett. Stanley war direkt daneben stehen geblieben, wie er es immer tat, und als sie sich niederließ, tätschelte sie ihm gedankenverloren den Kopf. Während sie draußen gewesen war, hatte die Dämmerung eingesetzt, und das Zimmer war nun voller Schatten. Ohne das helle Sonnenlicht zeichneten sich die vielen Makel und der Verfall der Spielzeuge, die der Zahn der Zeit an ihnen hinterlassen hatte, viel schärfer ab. Theodores Augen glänzten nicht mehr, und sein dünnes Fell und das herabhängende Ohr ließen ihn wie einen abgerissenen Landstreicher wirken. Als sie Stanley betrachtete, wirkten seine Augen durch den Rost darum herum wie leere Höhlen, und seine entblößten Zähne, die sie früher immer für ein Lächeln gehalten hatte, verwandelten sich in das schreckliche, wissende Grinsen eines Totenschädels.

Charlie stand auf und achtete darauf, ihn nicht zu berühren. Dann lief sie zur Tür, aber ihr Fuß blieb an dem Rad neben dem Bett hängen. Sie stolperte über die Schiene und schlug lang hin. Ein metallisches Surren ertönte, und als Charlie den Kopf hob, tauchten direkt unter ihrer Nase zwei kleine Füße auf, die in glänzenden Lackschuhen steckten. Sie blickte nach oben. Über ihr stand Ella und starrte sie an, schweigend und unwillkommen, wobei ihre Glasaugen wirkten, als könnten sie tatsächlich sehen. Mit militärischer Akkuratesse hielt sie die Teetasse vor sich.

Vorsichtig erhob sich Charlie wieder und achtete darauf, die Puppe nicht zu berühren. Dann verließ sie das Zimmer mit behutsamen Schritten, um nicht noch ein weiteres Spielzeug unfreiwillig zu aktivieren. Während sie hinausging, zog Ella sich fast im gleichen Tempo wieder in ihren Schrank zurück.

Charlie eilte die Treppe hinunter, denn sie wollte so rasch wie möglich verschwinden. Im Wagen gelang es ihr erst beim dritten Mal, den Schlüssel ins Zündschloss zu bekommen. Viel zu schnell fuhr sie rückwärts die Einfahrt hinunter und rumpelte dabei auch achtlos über die Grasfläche vor dem Haus. Dann raste sie davon.

Nach ungefähr einer Meile fuhr Charlie rechts ran, stellte den Motor ab und starrte durch die Windschutzscheibe ins Nichts. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Dann griff sie nach dem Rückspiegel und drehte ihn so weit herum, dass sie sich darin sehen konnte.

Sie erwartete immer, Schmerz, Wut und Trauer in ihrem Gesicht zu erkennen, doch nichts davon zeigte sich. Ihre Wangen waren rosig, und ihr rundes Gesicht wirkte fast fröhlich. Wie immer. In den ersten Wochen, die sie bei Tante Jen gelebt hatte, war ihr immer genau das gesagt worden, wenn ihre Tante sie jemandem vorgestellt hatte: „Was für ein hübsches Kind. Und wie glücklich sie aussieht.“

Charlie wirkte immer, als würde sie jeden Moment lächeln, mit großen braunen funkelnden Augen, ihre Mundwinkel kurz davor, sich zu heben, selbst wenn ihr eigentlich vielmehr danach war, in haltloses Schluchzen auszubrechen. Sie empfand es als eine Art Affront. Mit den Fingern fuhr sie sich durch das hellbraune Haar, als könne sie dadurch auf magische Weise dessen leichte Krause zum Verschwinden bringen. Dann drehte sie den Spiegel zurück in seine ursprüngliche Position.

Sie startete den Motor und suchte nach einem Sender, in der Hoffnung, dass Musik sie wieder vollständig zurück in die Gegenwart holen würde. Sie sprang von einer Station zur nächsten, ohne wirklich zu hören, was die einzelnen spielten. Am Ende blieb sie bei einem Sender hängen, dessen Moderator seine Zuhörer ständig in geradezu arroganter Weise anzuschreien schien. Sie hatte keine Ahnung, wovon er eigentlich redete, aber sein harscher und entnervter Ton reichte aus, um sie wieder ganz ins Hier und Jetzt zu holen.

Die Uhr im Auto ging immer falsch, deswegen warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war bald Zeit, sich mit ihren Freunden in dem Restaurant zu treffen, dass sie gemeinsam ausgesucht hatten, ganz in der Nähe des Stadtzentrums.

Charlie fuhr wieder los und ließ sich von den wütenden Tiraden des Radiomoderators ablenken.

Als sie das Restaurant erreichte, fuhr Charlie auf den Parkplatz und hielt an, aber sie stellte den Motor nicht aus. Die Front des Diners bestand aus Glas. Sie konnte direkt hineinsehen. Es dauerte nur einen Moment, bis sie ihre Freunde entdeckte, obwohl sie sie seit Jahren nicht gesehen hatte.

Jessica war am leichtesten zu erkennen. Sie legte ihren Briefen immer Bilder bei, und im Moment sah sie genau wie auf dem letzten Foto aus. Selbst im Sitzen war sie eindeutig größer als die Jungs und sehr dünn. Charlie konnte zwar nicht ihr gesamtes Outfit sehen, aber zu erkennen war, dass sie eine weite weiße Bluse mit einer bestickten Weste darüber trug. Ein Hut mit breiter Krempe und einer riesigen Blume, die ihn ihr vom Kopf zu ziehen drohte, saß schräg auf ihrem schulterlangen braunen Haar. Sie gestikulierte angeregt, während sie sprach.

Die beiden Jungs saßen ihr nebeneinander gegenüber. Carlton mit den roten Haaren sah aus wie eine ältere Version seines früheren Selbst. Zwar besaß er immer noch irgendwie das Gesicht eines Kindes, doch seine Züge hatten sich verfeinert, und sein Haar wirkte sorgfältig zerzaust und schien von einer Art alchemistischem Haarpflegeprodukt in Form gehalten zu werden. Man konnte ihn fast hübsch nennen für einen Jungen. Er trug ein schwarzes Trainingshemd, obwohl Charlie bezweifelte, dass er auch nur einen Tag seines Lebens im Fitnessstudio gewesen war. Er hockte nach vorn gebeugt am Tisch und stützte sein Kinn in die Hände.

John saß neben ihm, direkt am Fenster. Er hatte immer zu den Kindern gehört, die sich schon schmutzig machten, bevor sie überhaupt hinausgingen. Er hatte grundsätzlich bereits Farbe auf dem Hemd, bevor der Lehrer die Wasserfarben verteilte, Grasflecken an den Knien, bevor sie auch nur in die Nähe eines Spielplatzes kamen, und Dreck unter den Fingernägeln, kurz nachdem er sich die Hände gewaschen hatte.

Dass er es war, wusste Charlie, weil es einfach nicht anders sein konnte, doch er sah vollkommen anders aus. Die Schlampigkeit seiner Kindheit war einer deutlich sichtbaren Frische und Sauberkeit gewichen. Er trug ein sorgfältig gebügeltes hellgrünes Hemd mit offenem Kragen und aufgekrempelten Ärmeln, sodass er nicht allzu zugeknöpft wirkte. Selbstsicher lehnte er sich in seinem Sitz zurück, wobei er eifrig nickte, da er offensichtlich aufsaugte, was Jessica zu sagen hatte. Das Einzige, was an sein früheres Selbst erinnerte, war sein Haar, das auf seinem Kopf in die Höhe stand. Dazu kam ein Bartschatten – die etwas selbstgefällige Erwachsenenversion des Schmutzes, mit dem er als Kind ständig eingedeckt gewesen war.

Charlie lächelte in sich hinein. Als Kind war sie irgendwie in John verknallt gewesen, noch bevor einer von ihnen beiden wirklich verstand, was das überhaupt bedeutete. Er hatte ihr Kekse aus seiner Brotdose mit den Transformers darauf gegeben, und im Kindergarten hatte er einmal die Schuld auf sich genommen, als sie das Glas mit den farbigen Perlen für die Handarbeiten zerbrochen hatte. Sie erinnerte sich noch an den Augenblick, als es ihr aus den Händen geglitten war, und sie hatte zugesehen, wie es fiel. Sie wäre nicht schnell genug gewesen, um es aufzufangen, aber sie hatte es auch gar nicht erst versucht. Sie wollte sehen, wie es zerbrach. Das Glas prallte auf den Holzfußboden. Es zersprang in tausend Stücke, und die bunten Perlen kullerten zwischen den Scherben in alle Richtungen. Sie fand, es sah wunderschön aus, und dann hatte sie angefangen zu heulen.

John hatte einen Brief nach Hause bekommen, und als sie sich bei ihm bedankte, hatte er ihr zugezwinkert und mit einer Ironie, die seinem Alter weit voraus war, einfach geantwortet: „Wofür?“

Danach hatte sie John erlaubt, mit in ihr Zimmer zu kommen. Sie ließ ihn mit Stanley und Theodore spielen, bewachte ihn ängstlich, als er das erste Mal auf die Knöpfe drückte, um ihre mechanischen Freunde in Bewegung zu setzen. Sie wäre am Boden zerstört gewesen, hätten sie ihm nicht gefallen, denn instinktiv wusste sie, dass sie ihn dann nicht mehr so gern mögen würde. Die Figuren waren ihre Familie. Aber John war sofort fasziniert, als er sie sah. Er liebte ihre Spielzeuge, und so liebte sie ihn. Zwei Jahre später, hinter einem Baum neben der Werkstatt ihres Vaters, ließ sie es beinahe zu, dass er sie küsste. Und dann geschah es, und alles war vorbei, zumindest für Charlie.

Charlie schüttelte sich und zwang sich, wieder an die Gegenwart zu denken. Sie warf erneut einen Blick auf die aufgerüschte Jessica und sah dann an sich selbst hinab: lila T-Shirt, Jeansjacke, schwarze Jeans und Springerstiefel. Heute Morgen hatte sie das Gefühl gehabt, das sei eine gute Wahl, doch jetzt wünschte sie sich, sie hätte etwas anderes ausgesucht. Du trägst doch ohnehin niemals etwas anderes, sagte sie sich.

Sie stellte den Motor aus, stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab, obwohl die Menschen in Hurricane ihre Autos normalerweise nicht verschlossen. Dann ging sie in das Restaurant, um sich zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder mit ihren Freunden zu treffen.

Die Wärme, die Geräusche und das Licht im Restaurant überrollten sie wie eine Welle. Einen Augenblick lang war sie überwältigt, aber Jessica sah sie im Eingang stehen und rief ihren Namen. Charlie lächelte und ging hinüber.

„Hi“, sagte sie etwas befangen und ließ ihren Blick von einem zum anderen gleiten, ohne wirklich Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Jessica rutschte auf der roten Kunstlederbank zur Seite und klopfte auf den Platz neben sich.

„Hier, setz dich“, sagte sie. „Ich habe gerade John und Carlton von meinem glamourösen Leben erzählt.“ Sie verdrehte die Augen, während sie das sagte, wobei es ihr gelang, sowohl eine gewisse Selbstironie anklingen zu lassen als auch den Hauch eines Hinweises darauf, dass ihr Leben tatsächlich ziemlich aufregend war.

„Hast du gewusst, dass Jessica in New York lebt?“, fragte Carlton. Er redete irgendwie vorsichtig, als würde er erst über jedes einzelne Wort nachdenken, bevor er es aussprach. John schwieg, aber er lächelte Charlie beklommen an.

Jessica verdrehte erneut die Augen, und plötzlich fiel Charlie ein, dass sie diese Angewohnheit schon gehabt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren.

„Acht Millionen Menschen leben in New York, Carlton. Es ist also keine besondere Leistung“, entgegnete Jessica.

Carlton zuckte die Achseln. „Ich bin noch nie irgendwo gewesen“, meinte er.

„Ich wusste gar nicht, dass du immer noch in der Stadt lebst“, sagte Charlie.

„Wo sollte ich denn sonst leben? Meine Familie ist seit 1896 hier“, fügte er hinzu und verlieh seiner Stimme einen tieferen Ton, um seinen Vater nachzuahmen.

„Ist das wahr?“, fragte Charlie.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Carlton in seiner eigenen Stimmlage. „Möglich wäre es. Dad hat vor zwei Jahren als Bürgermeister kandidiert. Er hat zwar verloren, aber trotzdem, wer kandidiert schon als Bürgermeister?“ Er verzog das Gesicht. „Ich schwöre, an dem Tag, an dem ich achtzehn werde, bin ich weg.“

„Und wo willst du hin?“, wollte John wissen und blickte Carlton ernst an.

Carlton erwiderte seinen Blick einen Augenblick lang genauso ernst. Dann senkte er ihn abrupt, deutete aus dem Fenster und kniff ein Auge zu, als würde er ein Ziel anvisieren. John hob eine Augenbraue, während er ebenfalls aus dem Fenster sah und versuchte Carltons Blick zu folgen und worauf er deutete. Auch Charlie sah hinaus. Carlton deutete auf gar nichts. John öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Carlton unterbrach ihn.

„Oder …“, sagte er, während er einfach in die andere Richtung zeigte.

„Okay.“ John kratzte sich peinlich berührt am Kopf. „Also irgendwohin, richtig?“, fügte er lachend hinzu.

„Wo sind die anderen?“, wollte Charlie wissen und blickte zum Fenster hinaus auf den Parkplatz, um zu sehen, ob noch jemand kam.

„Morgen“, sagte John.

„Sie kommen morgen früh“, erklärte Jessica. „Marla bringt ihren kleinen Bruder mit. Kannst du das glauben?“

„Jason?“ Charlie lächelte. Sie hatte Jason noch als ein kleines Bündel mit einem winzigen roten Gesicht in Erinnerung, das aus vielen Decken herausschaute.

„Ich meine, wer will schon ein Baby dabeihaben?“ Geziert drückte Jessica ihren Hut zurecht.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er kein Baby mehr ist“, entgegnete Charlie und musste ein Lachen unterdrücken.

„Praktisch ein Baby“, meinte Jessica. „Jedenfalls habe ich uns ein Zimmer in dem Motel unten am Highway gebucht. Das war das Einzige, das ich finden konnte. Die Jungs übernachten bei Carlton.“

„Okay“, sagte Charlie. In gewisser Weise beeindruckte sie, wie Jessica alles organisiert hatte, doch der Plan gefiel ihr nicht. Sie hatte keine Lust, sich mit Jessica, die ihr mittlerweile wie eine Fremde vorkam, ein Zimmer zu teilen. Jessica hatte sich genau zu der Art von Mädchen entwickelt, von denen sie sich eingeschüchtert fühlte: strahlend und makellos, und sie hörte sich an, als habe sie alles im Leben durchschaut. Einen Moment lang überlegte Charlie, in ihrem alten Haus zu übernachten, doch schon der Gedanke daran stieß sie ab. Das Haus war nachts keine Domäne der Lebenden mehr. Jetzt dramatisier es aber auch nicht, schalt sie sich.

Nun ergriff John das Wort. Er konnte allein durch seine Stimme die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wahrscheinlich deshalb, weil er seltener sprach als alle anderen. Die meiste Zeit hörte er zu, aber nicht aus Zurückhaltung. Er sammelte Informationen und meldete sich lediglich zu Wort, wenn er etwas Kluges oder Sarkastisches zu vermelden hatte. Oft war es beides auf einmal.

„Weiß irgendjemand, was morgen passieren wird?“

Alle schwiegen einen Augenblick. Die Kellnerin nutzte die Gelegenheit, um herüberzukommen und die Bestellungen aufzunehmen. Charlie blätterte schnell die Speisekarte durch, ohne sich wirklich auf die einzelnen Gerichte zu konzentrieren. Viel schneller, als sie es erwartet hatte, war sie mit ihrer Bestellung an der Reihe, und sie erstarrte.

„Äh … Eier“, sagte sie schließlich. Der harte Blick der Frau hielt sie immer noch gefangen, und Charlie begriff, dass sie noch etwas hinzufügen musste. „Rührei. Mit hellem Toast“, ergänzte sie, und die Frau ging davon. Charlie sah erneut auf die Speisekarte. Das war etwas, was sie an sich hasste. Fühlte sie sich überrumpelt, schien sie nicht mehr in der Lage zu sein, vernünftig zu reagieren oder noch aufnehmen zu können, was um sie herum geschah. Sie konnte die Leute dann nicht mehr verstehen, und deren Anforderungen an sie kamen ihr fremd vor. Essen zu bestellen kann eigentlich nicht so schwer sein, dachte sie.

Die anderen waren bereits wieder ins Gespräch vertieft. Sie wandte ihnen erneut ihre Aufmerksamkeit zu, wobei sie das Gefühl hatte, den Anschluss verpasst zu haben.

„Was sagen wir überhaupt zu seinen Eltern?“, fragte Jessica gerade.

„Carlton, triffst du sie ab und zu?“, wollte Charlie wissen.

„Nicht wirklich“, entgegnete er. „Sie laufen mir höchstens zufällig über den Weg. Manchmal.“

„Es überrascht mich, dass sie in Hurricane geblieben sind“, meinte Jessica mit einer überheblicher Missbilligung in der Stimme.

Charlie sagte nichts dazu, schon gar nicht, was sie dachte: Wie hätten sie es nicht tun können?

Michaels Leiche war nie gefunden worden. Wie hätten sie nicht insgeheim hoffen können, dass er vielleicht doch wieder auftaucht, egal, wie unmöglich das auch erschien? Wie hätten sie das einzige Zuhause verlassen können, dass Michael gekannt hatte? Es hätte bedeutet, ihn endgültig aufzugeben. Vielleicht war dieses Stipendium genau das: ein Eingeständnis, dass er nie wieder nach Hause kommen würde.

Charlie war äußerst bewusst, dass sie sich an einem öffentlichen Ort befanden, wo es nicht angemessen gewesen wäre, über Michael zu sprechen. Sie waren gewissermaßen sowohl Insider als auch Außenstehende. Sie hatten Michael nahegestanden, wahrscheinlich näher als jeder andere hier im Restaurant, aber sie lebten, abgesehen von Carlton, nicht mehr in Hurricane. Sie gehörten nicht mehr hierher.

Sie sah, wie auf das Platzset aus Papier vor ihr Tränen fielen, bevor sie sie spürte. Schnell wischte sie sich über die Augen, senkte den Blick und hoffte, dass es niemandem aufgefallen war. Als sie den Kopf wieder hob, schien John intensiv sein Besteck zu mustern, aber sie wusste, er hatte es bemerkt. Sie war ihm dankbar, dass er ihr keinen Trost anbot.

„John, schreibst du immer noch?“, fragte Charlie.

Als sie sechs gewesen waren, hatte John erklärt, er sei „Schriftsteller“, da er schon mit vier Lesen und Schreiben gelernt hatte, ein Jahr vor allen anderen. Mit sieben hatte er dann seinen ersten „Roman“ vollendet und das Werk voller Rechtschreibfehler und nicht erkennbarer Illustrationen seinen Freunden und der Familie aufgedrängt und um Kritik gebeten. Charlie erinnerte sich, dass sie ihm nur zwei Sterne gegeben hatte.

John lachte über die Frage. „Heute kann ich meine S richtig schreiben“, erwiderte er. „Kaum zu glauben, dass du dich daran entsinnst. Aber ich schreibe tatsächlich noch.“ Er hielt inne, aber es war nicht zu übersehen, dass er gerne mehr dazu gesagt hätte.

„Was schreibst du denn?“, half Carlton ihm.

John senkte den Blick auf das Platzset vor ihm und sprach hauptsächlich mit dem Tisch. „Äh … hauptsächlich Kurzgeschichten. Letztes Jahr ist sogar eine veröffentlicht worden. Ich meine, nur in einer Zeitschrift, also nichts Großes.“

Alle gaben Laute der Anerkennung von sich, und er hob wieder den Kopf. Es war ihm peinlich, aber er freute sich auch.

„Und worum ging es in der Geschichte?“, wollte Charlie wissen.

John zögerte, aber noch bevor er etwas darüber erzählen oder sich dagegen entscheiden konnte, kam die Kellnerin mit dem Essen. Obwohl es eigentlich Zeit zum Abendessen war, hatten sie alle etwas von der Frühstückskarte bestellt: Kaffee, Eier mit Schinken, Blaubeerpfannkuchen für Carlton. Das bunte Essen in satten Farben wirkte vielversprechend. Wie ein neuer Start in den Tag. Charlie biss von ihrem Toast ab, und eine Weile aßen alle schweigend.

„Hey Carlton“, meinte John plötzlich. „Was ist eigentlich aus dem Freddy’s geworden?“

Einen Moment lang hielten alle den Atem an. Carlton warf Charlie einen nervösen Blick zu, und Jessica starrte zur Decke. John wurde knallrot, und Charlie sagte hastig: „Schon okay, Carlton. Ich würde es auch gerne wissen.“

Carlton zuckte die Achseln und stocherte nervös mit der Gabel in seinem Pfannkuchen herum.

„Sie haben es überbaut“, sagte er.

„Womit denn?“, erkundigte sich Jessica.

„Steht da jetzt was anderes? Haben sie es richtig überbaut oder einfach nur abgerissen?“, fragte John. Carlton zuckte erneut die Achseln, ruckartig, als habe er einen nervösen Tick.

„Wie ich schon sagte, ich weiß es nicht. Es liegt zu weit zurück, um es von der Straße aus sehen zu können, und ich habe mich auch nicht wirklich darum gekümmert. Vielleicht ist es an irgendjemanden vermietet worden, aber ich weiß nicht, was sie damit gemacht haben. Es ist seit Jahren alles eingezäunt, eine einzige Baustelle. Ich kann nicht einmal sagen, ob das Gebäude überhaupt noch steht.“

„Es könnte also immer noch dort sein?“, fragte Jessica, und ihr war eine gewisse Aufregung anzuhören.

„Wie ich schon sagte, ich weiß es nicht“, entgegnete Carlton.

Charlie spürte, wie die Lampen des Restaurants auf ihrem Gesicht brannten, plötzlich viel zu hell. Sie fühlte sich bloßgestellt. Sie hatte kaum etwas gegessen, aber trotzdem stand sie auf, zog ein paar zerknitterte Geldscheine aus der Tasche und ließ sie auf den Tisch fallen.

„Ich gehe mal eine Minute raus“, sagte sie. „Eine rauchen“, fügte sie hastig hinzu.

Du rauchst doch gar nicht. Sie schalt sich selbst für diese ungeschickte Lüge, während sie sich auf den Weg zur Tür machte. Ohne sich zu entschuldigen, schob sie sich einfach an einer vierköpfigen Familie vorbei, die gerade hereinkam, und trat hinaus in die kühle Abendluft. Sie ging zu ihrem Wagen und setzte sich auf die Motorhaube. Das Blech gab unter ihrem Gewicht leicht nach. Sie sog die kühle Luft ein, als sei es Wasser, und schloss die Augen.

Du hast gewusst, dass es zur Sprache kommen würde. Du hast gewusst, dass du darüber würdest sprechen müssen, machte sie sich klar. Auf der Fahrt hatte sie geübt, hatte sich gezwungen, schöne Erinnerungen heraufzubeschwören, zu lächeln und zu sagen: Erinnert ihr euch noch? Sie hatte gedacht, sie sei darauf vorbereitet. Aber natürlich hatte sie sich geirrt. Warum sonst war sie gerade wie ein Kind aus dem Restaurant gelaufen?

„Charlie?“

Sie öffnete die Augen und sah John neben dem Wagen stehen. Er hielt ihr ihre Jacke hin.

„Du hast deine Jacke vergessen“, sagte er, und sie rang sich ein Lächeln ab.

„Danke“, sagte sie. Sie nahm sie und legte sie sich um die Schultern. Dann rutschte sie ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie auf die Motorhaube setzen konnte.

„Es tut mir leid“, fügte sie hinzu. Trotz des spärlichen Lichts auf dem Parkplatz konnte sie sehen, wie er bis über beide Ohren errötete. Er setzte sich neben sie, hielt aber absichtlich etwas Abstand.

„Ich habe nie gelernt, erst zu denken, bevor ich rede. Es tut mir leid.“ John sah am Himmel einem Flugzeug nach.

Charlie lächelte, diesmal musste sie sich nicht dazu zwingen.

„Schon okay. Ich wusste, dass es zur Sprache kommen würde. Es ging gar nicht anders. Ich dachte nur … Es klingt dumm, aber ich denke nie darüber nach. Ich gestatte es mir einfach nicht. Niemand weiß, was passiert ist, außer meiner Tante, und wir reden nie darüber. Dann komme ich hierher, und plötzlich ist alles wieder da. Es hat mich einfach überrumpelt, das ist alles.“

„Oh, oh.“ John deutete in Richtung des Restaurants, und Charlie sah Jessica und Carlton zögernd im Eingang stehen. Sie winkte sie herüber, und die beiden kamen angeschlendert.

„Erinnerst du dich noch, als im Freddy’s mal das Karussell außer Kontrolle geraten ist und Marla und dieser miese kleine Billy immer weiter damit fahren mussten, bis ihre Eltern es schließlich abgestellt haben?“, fragte Charlie.

John lachte, und auch Charlie musste unwillkürlich lächeln.

„Sie hatten knallrote Gesichter und haben geschrien wie Babys.“ Charlie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Es war ihr peinlich, dass sie es so lustig fand.

Alle verstummten überrascht, als Carlton zu lachen begann. „Und dann hat Marla ihn vollgekotzt!“

„Süße Rache“, meinte Charlie.

„Ich glaube eher, es waren Nachos“, fügte John hinzu.

Jessica rümpfte die Nase kraus. „Echt widerlich. Ich bin nie wieder mit dem Ding gefahren. Nicht danach!“

„Ach, komm schon, Jessica. Sie haben es doch gereinigt“, meinte Carlton. „Ich bin mir ziemlich sicher, das die Kinder das Ding ständig vollgekotzt haben. Die Warnschilder, dass der Boden nass ist, haben bestimmt nicht umsonst da gestanden. Oder, Charlie?“

„Sieh nicht mich an“, erwiderte sie. „Ich habe nie gekotzt.“

„Wir haben hier immer so viel Zeit verbracht. Ist eben der Vorteil, wenn man die Tochter des Besitzers kennt“, meinte Jessica und sah Charlie aufgesetzt vorwurfsvoll an.

„Ich habe mir meinen Vater nicht ausgesucht“, entgegnete Charlie lachend.

Jessica machte ein nachdenkliches Gesicht, bevor sie fortfuhr: „Ich meine, gibt es eine bessere Kindheit, als den ganzen Tag in Freddy Fazbear’s Pizza zu verbringen?“

„Keine Ahnung“, sagte Carlton. „Ich denke, die Musik ist mir irgendwann nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“ Er summte ein paar Akkorde des vertrauten Liedes. Charlie nickte im Rhythmus mit dem Kopf dazu, während sie sich ebenfalls an die Melodie erinnerte.

„Ich habe die Tiere so sehr geliebt“, sagte Jessica plötzlich. „Wie ist eigentlich die richtige Bezeichnung? Tiere, Roboter, Maskottchen?“

„Ich glaube, sie sind alle richtig.“ Charlie lehnte sich zurück.

„Jedenfalls bin ich oft zu dem Kaninchen gegangen und habe mit ihm geredet. Wie hieß es noch gleich?“

„Bonnie“, sagte Charlie.

„Genau“, meinte Jessica. „Ich habe mich bei ihm immer über meine Eltern beklagt. Ich fand, er hatte so einen verständnisvollen Blick.“

Carlton lachte. „Animatronische Therapie! Wird bei sechs von sieben verrückten Menschen empfohlen.“

„Halt den Mund“, entgegnete Jessica. „Ich wusste, dass er nicht echt ist. Ich habe nur gern mit ihm geredet.“

Charlie musste ein wenig lächeln. „Ich kann mich daran erinnern“, sagte sie. Jessica, die in ihrem sittsamen Kleidchen, das braune Haar zu zwei straffen Zöpfen geflochten, wie ein Kind aus einem alten Buch, nach der Vorstellung auf die Bühne kletterte und ernsthaft auf das lebensgroße animatronische Kaninchen einredete. Wenn jemand in ihre Nähe kam, verstummte sie sofort und wartete darauf, bis sie wieder allein war, um ihre einseitige Konversation fortzuführen. Charlie hatte nie mit den Tieren in dem Restaurant ihres Vaters gesprochen oder sich ihnen so nah gefühlt wie offenbar manches andere Kind. Obwohl sie die Figuren mochte, waren sie für die Öffentlichkeit da. Sie hatte ihre eigenen Spielzeuge, mechanische Freunde, die zu Hause auf sie warteten und ihr ganz allein gehörten.

„Ich habe Freddy gemocht“, erklärte John. „Er war am leichtesten einzuschätzen.“

„Wisst ihr, es gibt eine Menge Dinge in meiner Kindheit, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann“, sagte Carlton, „aber ich schwöre, ich kann die Augen schließen und sehe jedes Detail des Restaurants wieder vor mir. Selbst das Kaugummi, dass ich immer unter die Tische geklebt habe.“

„Kaugummi? Ja, klar. Das waren Popel“ Jessica wich ein wenig von Carlton zurück.

Er grinste. „Ich war sieben. Was willst du da verlangen? Ihr habt damals alle auf mir herumgehackt. Erinnert ihr euch noch, als Marla draußen an die Wand geschrieben hat: ‚Carlton riecht nach Käsefüßen‘?“

„Du hast nach Käsefüßen gerochen.“ Jessica lachte laut auf.

Carlton zuckte ungerührt mit den Schultern. „Ich habe immer versucht, mich zu verstecken, wenn es Zeit war, nach Hause zu gehen. Ich wollte gern über Nacht dort eingeschlossen werden, damit ich das ganze Restaurant für mich allein habe.“

„Ja, du hast immer alle warten lassen“, nickte John, „und hast dich immer unter demselben Tisch versteckt.“

Als Charlie wieder das Wort ergriff, sprach sie langsam, und alle wandten sich ihr zu, als hätten sie nur darauf gewartet.

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich an jedes noch so winzige Detail dort erinnere, wie Carlton“, sagte sie. „Manchmal allerdings denke ich auch, dass ich kaum noch etwas weiß. Es sind nur Bruchstücke. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Karussell und wie es außer Kontrolle geraten ist. Ich erinnere mich daran, dass ich auf den Platzsets herumgekritzelt habe. Ich erinnere mich an Kleinigkeiten. Dass ich die fettige Pizza gegessen habe und wie ich Freddy im Sommer umarmt habe und sein gelbes Fell überall an meinen Sachen kleben blieb. Aber vieles sind einfach nur Bilder, als hätte das alles jemand anders erlebt.“

Die anderen sahen sie eigenartig an.

„Freddy war doch braun, oder?“ Jessica blickte fragend in die Runde.

„Ich denke, du erinnerst dich einfach nicht mehr genau daran“, neckte Carlton Charlie, und sie lachte kurz.

„Genau. Ich meinte braun“, sagte sie. Braun. Freddy war braun gewesen. Natürlich war er das. Jetzt sah sie ihn wieder vor sich. Aber irgendwo in den Tiefen ihrer Erinnerung blitzte etwas anderes auf.

Carlton begann eine andere Geschichte zu erzählen, und Charlie versuchte ihm ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, aber die Lücke in ihrer Erinnerung verstörte und besorgte sie. Es ist zehn Jahre her, und mit siebzehn kannst du kaum an Demenz leiden, sagte sie sich, aber es war ein so entscheidendes Detail, an das sie sich nicht richtig erinnert hatte. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass John sie nachdenklich betrachtete, als habe sie etwas Wichtiges gesagt.

„Du weißt wirklich nicht, was mit dem Laden geschehen ist?“, fragte sie Carlton, und es klang drängender, als sie beabsichtigt hatte. Überrascht hörte er auf zu reden. „Tut mir leid“, sagte sie. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht unterbrechen.“

„Schon okay“, erwiderte er. „Aber ja … oder nein, ich weiß wirklich nicht, was passiert ist.“

„Wie kannst du das nicht wissen? Du lebst hier.“

„Charlie, hör mal“, entgegnete John.

„Ich halte mich einfach nicht viel in dem Stadtteil auf. Die Dinge haben sich verändert, die Stadt ist gewachsen“, erklärte Carlton sanft und unbeeindruckt von ihrem kleinen Ausbruch. „Und ich suche auch nicht unbedingt nach Gründen, um dorthin zu gehen, weißt du? Warum sollte ich auch? Es gibt doch keinen Grund dafür, nicht mehr.“

„Wir könnten hinfahren“, meinte John plötzlich, und Charlies Herz setzte einen Schlag aus.

Carlton warf Charlie einen nervösen Blick zu. „Was? Im Ernst, es ist ein einziges Chaos dort. Ich weiß nicht mal, wie man hinkommt.“

Charlie merkte, dass sie nickte. Den ganzen Tag hatte sie das Gefühl gehabt, von all den Erinnerungen belastet zu sein und alles durch den Filter vieler vergangener Jahre zu sehen. Jetzt aber fühlte sie sich plötzlich frisch und klar. Sie wollte dorthin.

„Lass uns das machen“, sagte sie. „Selbst wenn nichts mehr da ist. Ich möchte es selbst sehen.“

Alle schwiegen. Plötzlich grinste John strahlend und selbstsicher.

„Ja. Lasst uns das machen.“

2

Charlie hielt an und spürte, wie der weiche Boden unter den Reifen nachgab. Dann stellte sie den Motor ab. Sie blickte sich um. Der Himmel war von einem tiefdunklen Blau, im Westen konnte man noch das letzte Glühen der untergehenden Sonne erkennen. Der Parkplatz war unbefestigt. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiges Gebäude aus Glas und Beton. Auf dem Parkplatz gab es Lampen, die nie benutzt worden waren, und auf das Gebäude fiel kein Licht. Es wirkte wie ein verlassener Zufluchtsort, begraben von schwarzen Bäumen mitten im fernen Dröhnen der Zivilisation. Sie sah zu Jessica hinüber, die neben ihr auf dem Beifahrersitz saß und den Kopf zum Fenster hinausreckte.

„Sind wir hier wirklich richtig?“, fragte Jessica.

Charlie schüttelte langsam den Kopf. Sie war sich nicht sicher, was sie da vor sich hatte. „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. Dann stieg sie aus dem Wagen und stand immer noch schweigend da, als John und Carlton neben ihr hielten.

„Was ist das?“ Auch John stieg aus und starrte verblüfft auf den Bau, der an ein Grabmal erinnerte. „Hat irgendjemand eine Taschenlampe dabei?“ Er ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern.

Carlton hob sein Schlüsselbund und leuchtete mit der winzigen Taschenlampe daran.

„Toll“, murmelte John und ging enttäuscht davon.

„Warte mal eine Sekunde“, meinte Charlie und lief zu ihrem Kofferraum. „Meine Tante will, dass ich für den Notfall immer eine ganze Menge Zeug mit mir herumschleppe.“

Tante Jen, liebevoll, aber streng, hatte Charlie vor allem zur Selbstständigkeit erzogen. Bevor sie ihr ihren alten blauen Honda überließ, hatte sie darauf bestanden, dass Charlie wusste, wie man einen Reifen wechselte, den Ölstand prüfte und auch die wichtigsten Teile des Motors kannte. Im Kofferraum befand sich in einer schwarzen Kiste neben dem Wagenheber, dem Ersatzreifen und einem kleinen Kreuzschlüssel eine Decke, eine schwere Taschenlampe, eine Wasserflasche, Müsliriegel, Streichhölzer und Notfackeln. Charlie griff nach der Taschenlampe, Carlton nahm sich einen Müsliriegel.

In stiller Übereinkunft gingen sie auf das Gebäude zu, während Charlie ihnen mit der Taschenlampe leuchtete. Das Gebäude selbst sah fast fertig aus, doch der Boden bestand noch aus Erde und Steinen, uneben und weich. Kleine Grasinseln hatten sich gebildet

„Hier ist schon lange nicht mehr gearbeitet worden“, stellte Charlie fest.

Das Gebäude war riesig, und es dauerte eine ganze Weile, es zu umrunden. Schon bald wurde das Blau des Abendhimmels von verstreuten silbernen Wolken und blinkenden Sternen verdrängt. Die gesamte Fassade des Baus war glatt und aus beigefarbenem Beton, mit Fenstern, die zu hoch in den Wänden lagen, um hindurchsehen zu können.

„Haben sie das ganze Ding erst hochgezogen und sind dann einfach verschwunden?“, fragte Jessica.

„Carlton“, sagte John, „du weißt wirklich nichts darüber, was hier passiert ist?“

Carlton hob die Schultern. „Ich hab’s euch doch gesagt. Ich wusste, dass irgendetwas gebaut wird, mehr aber auch nicht.“

„Warum sollte man so etwas machen?“ John wirkte fast paranoid, wie er die Bäume absuchte, ob ihn vielleicht von irgendwoher her jemand beobachtete. „Es geht immer weiter und weiter.“ Mit zusammengekniffenen Augen spähte er an der Außenwand des Gebäudes entlang, die sich endlos in die Ferne zu erstrecken schien. Dann warf er wieder einen Blick zu den Bäumen, als wolle er sichergehen, dass sie nicht irgendwo noch ein weiteres Gebäude übersehen hatten. „Nein, es war hier.“ Er legte eine Hand auf die triste Betonfassade. „Das Freddy’s ist weg.“

Nach einem Augenblick winkte er den anderen und begann den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. Zögernd wandte sich Charlie ab und folgte der Gruppe. Sie liefen weiter, bis sie vor sich in der Dunkelheit wieder ihre Autos sehen konnten.

„Tut mir leid, Leute. Ich hatte gehofft, wir würden wenigstens noch irgendetwas Vertrautes vorfinden“, meinte Carlton, und es klang irgendwie erschöpft.

„Ja“, stimmte Charlie ihm zu. Sie hatte gewusst, dass es so sein würde, aber zu sehen, dass das Freddy’s dem Erdboden gleich gemacht worden war, schockierte sie trotzdem. Es hatte oft ihre Gedanken geradezu beherrscht, und sie hätte die Erinnerungen gern endgültig aus ihrem Kopf verbannt – die guten und die schlechten –, als hätte es das alles niemals gegeben. Jetzt aber hatte jemand das Restaurant von der Erdoberfläche getilgt, und es fühlte sich an wie ein Akt purer Gewalt. Es hätte ihre Entscheidung sein sollen. Genau, dachte sie, denn du hast das Geld gehabt, um es zu kaufen und zu erhalten, wie Tante Jen es mit dem Haus getan hat.

„Charlie?“ John sagte ihren Namen, und es klang, als wäre es nicht das erste Mal.

„Tut mir leid“, erwiderte sie. „Was hast du gesagt?“

„Willst du reingehen?“, fragte Jessica.

Charlie war überrascht, dass sie erst jetzt daran dachten, aber auf der anderen Seite hatte keiner von ihnen normalerweise einen Hang zu irgendwelchen kriminellen Machenschaften. Der Gedanke jedoch war eine Befreiung. Sie holte tief Luft und sagte, während sie ausatmete: „Warum nicht?“ Und sie musste fast lachen. Sie umfasste die Taschenlampe fester. Ihre Arme wurden müde. „Möchte vielleicht mal jemand anders?“ Sie ließ die Lampe wie ein Pendel hin und her schwingen.

Carlton griff sie sich und wog sie einen Moment in der Hand.

„Warum ist sie so schwer?“, fragte er und gab sie an John weiter. „Bitte sehr.“

„Es ist eine Polizeitaschenlampe“, erklärte Charlie abwesend. „Du kannst damit jemanden niederschlagen.“

Jessica rümpfte die Nase. „Deine Tante nimmt das wohl nicht auf die leichte Schulter, was? Hast du sie schon mal benutzt?“

„Noch nicht.“ Charlie zwinkerte ihr zu und blickte John halb drohend an. Der lächelte unsicher, weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte.

Die breiten Eingänge waren mit Metalltüren verschlossen, jedoch zweifellos nur für eine Übergangszeit gedacht, bis der Bau fertig gestellt war. Trotzdem war es nicht schwer, einen Weg ins Innere zu finden, da sich an der Außenwand große Hügel aus Kies und Sand befanden, auf denen man bis zum Rand der großen, gähnenden Fenster hinaufklettern konnte.

„Sie haben sich nicht viel Mühe gegeben, die Baustelle abzusichern“, meinte John.

„Was sollte man denn hier schon stehlen?“, erwiderte Charlie und starrte auf die glatten, hoch aufragenden Wände.

Langsam stiegen sie auf die Hügel, während der Kies unter ihren Füßen knirschte und nachgab. Als Erster erreichte Carlton das Fenster und spähte hindurch. Jessica spähte über seine Schulter.

„Können wir reinspringen?“, fragte John.

„Ja“, sagte Carlton.

„Nein“, meinte Jessica im selben Moment.

„Ich gehe“, erklärte Charlie. Eine gewisse Abenteuerlust stieg plötzlich in ihr auf. Ohne zuerst einen Blick durch das Fenster zu werfen, wie tief es dahinter hinunterging, schob sie die Füße durch die Öffnung und sprang. Sie landete und federte in den Knien nach. Der Aufprall fuhr ihr in alle Knochen, aber es tat nicht wirklich weh. Sie sah hinauf zu ihren Freunden, die zu ihr herunterstarrten.

„Oh. Wartet mal!«, rief Charlie, zog eine kleine Trittleiter von einer Wand in der Nähe herüber und stellte sie unter das Fenster. „Okay“, sagte sie dann. „Ihr könnt kommen!“

Einer nach dem anderen kletterte zu ihr herunter und sah sich um. Sie befanden sich in einem Atrium, oder vielleicht hatte es auch ein Restaurantbereich werden sollen. Überall standen Metallbänke und Plastiktische. Hoch über ihnen wölbte sich die gläserne Decke und erlaubte ihnen einen Blick auf die Sterne, die zu ihnen herunterzwinkerten.

„Sehr postapokalyptisch“, witzelte Charlie, und ihre Stimme hallte in dem leeren Raum wider.

Plötzlich sang Jessica einmal die Tonleiter, und alle schwiegen überrascht. Ihre Stimme war hell und klar und klang irgendwie schön in der Leere.

„Sehr hübsch, aber wir wollen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen“, meinte John.

„Stimmt“, erwiderte Jessica, immer noch sehr selbstzufrieden. Während sie weitergingen, holte Carlton sie ein und nahm ihren Arm.

„Deine Stimme ist umwerfend“, sagte er.

„Das ist nur die gute Akustik“, gab Jessica sich bescheiden, obwohl sie nicht ein Wort davon auch wirklich meinte.

Sie gingen durch die leeren Korridore und spähten in jede einzelne der riesigen Höhlungen, wo vielleicht einmal die Läden hatten sein sollen. Einige Bereiche des Einkaufszentrums waren fast fertig, während andere noch einem Schlachtfeld glichen. In einigen der Gänge türmten sich verstaubte Betonsteine, stapelten sich Holzbalken. Andere wurden bereits von verglasten Ladenfronten gesäumt, und über ihren Köpfen hingen perfekt angeordnete Lampen.

„Es wirkt wie eine verlassene Stadt“, meinte John.

„Wie Pompeji“, stimmte Jessica ihm zu, „nur ohne den Vulkan.“

„Nein“, widersprach Charlie, „hier ist doch nichts. Und hier ist nie etwas gewesen.“ Das ganze Gebäude strahlte Sterilität aus. Es war nicht verlassen worden – in ihm hatte niemals Leben gewohnt.

Sie warf einen Blick in einen Laden ihr gegenüber. Es war einer der wenigen, die man schon verglast hatte. Und sie fragte sich, was dort wohl ausgestellt worden wäre. Ihr fielen Schaufensterpuppen in leuchtender Kleidung ein, doch als sie versuchte, sich das vorzustellen, sah sie nichts als ausdruckslose Gesichter, die etwas verbargen. Plötzlich fühlte sie sich fehl am Platz, nicht willkommen in diesem Gebäude. Charlie wurde unruhig. Das ganze Abenteuer schmeckte auf einmal etwas schal. Sie waren gekommen, das Freddy’s war weg und mit ihm der Schrein, den sie in ihren Erinnerungen bewahrt hatte, in dem sie Michael immer noch spielend vorfand, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.