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Im sechsten Teil der düsteren Fazbear Frights-Reihe präsentiert Scott Cawthon, Schöpfer und Entwickler der beliebten Survival-Horror-Videospiel-Saga Five Nights at Freddy's, drei weitere atemberaubend finstere Kurzgeschichten aus dem FNAFUniversum, die selbst hartgesottenen Horror-Fans einen Schauer über den Rücken jagen werden.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2022
FIVE NIGHTS AT FREDDY’S von Scott Cawthon
Romane
Band 1: Die silbernen Augen
ISBN 978-3-8332-3519-1
Band 2: Durchgeknallt
ISBN 978-3-8332-3616-7
Band 3: Der vierte Schrank
ISBN 978-3-8332-3781-2
Band 4: Fazbear Frights 1 – In die Grube
ISBN 978-3-8332-3948-9
Band 5: Fazbear Frights 2 – Fass!
ISBN 978-3-8332-4020-1
Band 6: Fazbear Frights 3 – 1:35 AM
ISBN 978-3-8332-4021-8
Band 7: Fazbear Frights 4 – Noch ein Schritt
ISBN 978-3-8332-4087-4
Band 8: Fazbear Frights 5 – Wenn das Kaninchen zweimal klopft
ISBN 978-3-8332-4191-8
Band 9: Fazbear Frights 6 – Der Schwarze Vogel
ISBN 978-3-8332-4267-0
Comics
Graphic Novel 1: Die silbernen Augen
ISBN 978-3-7416-2001-0
Nähere Infos und weitere spannende Romane unter www.paninibooks.de
Von Scott Cawthon, Kelly Parra und Andrea Waggener
Ins Deutsche übertragen vonAnke Bondy
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Amerikanische Originalausgabe: „Five Nights at Freddy’s: Fazbear Frights #6 – Blackbird“ by Scott Cawthon, Kelly Parra, and Andrea Waggener published in the US by Scholastic Inc., New York, December 2020.
Copyright © 2022 Scott Cawthon. All rights reserved.
Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Anke Bondy
Lektorat: Tom Grimm
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDFIVE009E
ISBN 978-3-7367-9819-9
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-4267-0
1. Auflage, Dezember 2022
Findet uns im Netz:
www.paninicomics.de
PaniniComicsDE
INHALT
Der Schwarze Vogel
Der Echte Jake
Das Spiel
Über die Autoren
DER SCHWARZE VOGEL
Von Andrea Waggener
„Es muss blutig sein.“ Nole setzte sich verkehrt herum auf seinen Stuhl und klemmte sich die nun gerade vor ihm aufragende Rückenlehne zwischen die Knie. Obwohl der Stuhl aus billigem hellbraunem Plastik bestand und der Rest des Raums auch nicht gerade ein gehobenes Ambiente verströmte, gelang es Nole, äußerst cool und selbstbewusst zu wirken. Sam fragte sich mal wieder, wie Nole das immer so leicht hinbekam.
Sam fühlte sich wie der Nerd, der er war, und versuchte, seine langen Beine unter einem der anderen Plastikstühle zu verstauen. Er war nicht Noles Meinung: „Der Horror entsteht nicht durch Blut. Es geht um den Gruselfaktor.“
„Der Gruselfaktor …“, wiederholte Nole.
„Das ist ein Fachbegriff.“
Nole nickte. „Ich muss gerade ein Nickerchen gemacht haben, als Grimmly darüber gesprochen hat.“
„Es lag wohl eher daran, dass du Darla Stewart angestarrt hast.“
„Da könntest du recht haben.“
„So kommen wir nicht weiter.“ Sam seufzte und rutschte wieder auf seinem Stuhl hin und her. Seine Beine waren schon ganz verkrampft, er war hungrig, und er war sich ziemlich sicher, dass er und Nole die Einzigen im Raum waren, denen noch nichts eingefallen war.
Obwohl Sam mit dem Rücken zu den anderen acht Paaren saß, konnte er deren gedämpfte Gespräche hören. Die gemauerten Wände schluckten keinerlei Schall, sondern warfen ihn kreuz und quer durch das grau gestrichene Klassenzimmer, in dem nur ein paar Klapptische, einige Plastikstühle, ein tragbarer Schrank mit Audioausrüstung und eine Leinwand standen. Durch eine offene Tür hinter Nole konnte Sam in den Projektraum sehen, in dem es eine freie Fläche gab, auf der man Szenen drehen konnte, einen Green Screen und mehrere Regale, vollgestopft mit weiterer AV-Ausrüstung.
Die Gespräche von Sams Klassenkameraden waren meist unverständlich, weil sie flüsternd stattfanden, damit niemand ihre brillanten Ideen klauen konnte. Ab und zu jedoch wurden die Diskussionen etwas hitziger, und Sam konnte das eine oder andere Wort verstehen: Serienmörder, Zombie, Vampir, Dämon. Die Worte, die er hörte, nahmen ihm etwas den Zweifel, ob er mit den anderen würde mithalten können. Wenn die anderen Teams keine besseren Einfälle hatten, bestand für Nole und ihn vielleicht doch eine Chance. Sie hatten zwar noch keine gute Idee, aber wenigstens auch keine, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.
„Du musst zugeben, dass sie ein schönes Fahrgestell hat“, meinte Nole.
Sam streckte seine unfassbar langen Beine von fast sechsundneunzig Zentimetern aus und starrte auf seine mächtigen Schuhe. Sowohl Sams Beine als auch seine Füße entsprachen keinen normalen Proportionen, die zu seiner Körpergröße von einem Meter achtzig gepasst hätten. Laut einer Tabelle, die ihm sein Arzt einmal gezeigt hatte, hätten seine Beine knapp neunzig Zentimeter lang sein müssen, und man sollte meinen, dass sechs Zentimeter mehr nicht viel sind, aber anscheinend reichten sie aus, um Sam wie einen Storch, einen Reiher oder einen Kranich wirken zu lassen (alle drei Bezeichnungen hatten ihm fiese Kinder schon an den Kopf geworfen). Diese wenigen Zentimeter reichten aus, um ihn zu großartigen Darbietungen unbeholfener Ungeschicklichkeit zu verleiten, was ihn daran hinderte, seine Größe nutzbringend einzusetzen, wie etwa auf einem Basketballplatz. Soweit er das beurteilen konnte, waren Sams Beine ihm eigentlich ständig im Weg.
„Erde an Sam.“
„Hm?“
„Sieht so aus, als wenn wir das Schlusslicht bildeten.“ Nole deutete über Sams Schulter in den Raum. Sam blickte sich um. Vier Teams waren gerade dabei, den Raum zu verlassen. Zwei packten ihre Sachen zusammen. Nur zwei andere Teams unterhielten sich noch. Na toll!
Eigentlich war es sogar ziemlich toll. Sam konnte besser nachdenken, wenn um ihn herum Ruhe herrschte. Er schaute auf seine Uhr. Das Klassenzimmer würde noch eine halbe Stunde geöffnet bleiben. Sie hatten also dreißig Minuten, um sich etwas einfallen zu lassen.
„Würdest du bitte von diesem Stuhl aufstehen?“ Nole holte mit dem Fuß aus und trat gegen die Seite von Sams Sitz. „Du zappelst so sehr, dass du mich an meinen Neffen erinnerst, wenn er mal pissen muss.“
„Die Dinger sind für mich total unbequem.“
„Mir blutet das Herz.“
„Jetzt fängst du schon wieder mit Blut an.“
Nole grinste. „Es geht nur um das Blut.“
„Ernsthaft. Wir müssen nachdenken.“
„Hey!“ Nole wirkte plötzlich gar nicht mehr gleichgültig. Er blickte zu den anderen Teams hinüber. „Im Ernst, Mann, runter vom Stuhl. Komm hier rüber.“ Nole verließ seinen Platz mit beneidenswerter Anmut und machte ein paar Schritte zur Wand hinter ihm, ließ sich daran hinuntergleiten und faltete seine normal langen Beine – perfekt proportioniert für seine Größe von einem Meter achtzig – im Schneidersitz. Als Sam zögerte, machte Nole erneut eine entschiedene Geste.
Also gab Sam den zu kleinen Stuhl auf und ließ sich unbeholfen vor Nole zu Boden gleiten. Er musste zugeben, dass es seinen Beinen nun viel besser ging.
Nole beugte sich vor und flüsterte. „Erinnerst du dich an Freddy Fazbear’s Pizza?“ Noles Atem roch nach Lakritze.
Sam wich etwas zurück zurück. „Sicher. Warum?“
Nole wisperte nun so leise, dass Sam Mühe hatte, ihn noch zu verstehen.
„Ja, klar!“ Sam spürte Gänsehaut auf seinen Armen. Er war froh, dass er ein langärmeliges T-Shirt trug, damit Nole nicht sehen konnte, wie die Erwähnung der Figuren auf ihn wirkte. „Ja, die Figuren da waren wirklich gruselig.“
„Der Gedanke an eine Pizza hat mich auf die Idee gebracht“, meinte Nole.
„Welche Idee?“
Nole blickte wieder in den Raum. Auch Sam drehte sich um. Außer ihnen war nur noch ein Team da. Es war die berühmt-berüchtigte Darla, ihr feines Köfferchen und ihre Freundin Amber, die eigentlich das nettere der beiden Mädchen war. Sie steckten die Köpfe zusammen und schienen einen Disput auszufechten. Nole und Sam schenkten sie keine Beachtung.
„Meine Idee ist, eine Horrorgeschichte über eine gruselige animatronische Figur zu schreiben“, flüsterte Nole Sam zu.
Sam, der schon bei dem Gedanken an Freddy Fazbear nervös wurde, musste zugeben, dass das eine tolle Idee war. „Das gefällt mir!“
„Fantastisch.“ Nole streckte eine Faust aus, und Sam stieß mit seiner dagegen.
„Welche der Figuren würde sich am besten eignen?“, meinte Nole.
„Das fragst du mich?“
„Du bist das Genie.“
Sam war kein Genie, aber er hatte gute Noten. Manche Leute, wie Nole, die dazu neigten, eher mal eine Schraube locker zu haben, verwechselten das gern.
Sam lehnte sich zurück und blickte wieder auf seine Füße. Eine gute animatronische Figur. Eine gute animatronische Figur. Eine gute animatronische … Sam schaute auf seine Beine. Storch, Reiher, Kranich. „Wie wäre es mit einem Vogel? Kein Küken natürlich. Er müsste einschüchternder sein.“
„Das ist nicht schlecht. Wie wär’s mit einer Gans?“
„Eine Gans?“, wiederholte Sam lautstark. Dann lachte er.
„Lach nicht. Als ich klein war, hat mich mal eine Gans angegriffen. Davon habe ich immer noch eine Narbe.“
„Ernsthaft?“
Nole zog das linke Bein seiner verblichenen Jeans hoch. Er zeigte auf eine weiße Narbe unterhalb seines Knies.
„Sie hat dich gebissen?“
„Nicht wirklich. Sie hat mich auf dem Fahrrad verfolgt. Ich bin runtergefallen und habe mich am Knie verletzt.“
Wieder lachte Sam. Nole zog sein Hosenbein wieder runter.
„Tut mir leid“, meinte Sam. „Das hat dich offenbar traumatisiert.“
Nole starrte ausdruckslos in die Ferne. „Du hast ja keine Ahnung. Ich brauche wahrscheinlich eine Therapie.“
„Ich glaube nicht, dass ich einen Horrorfilm über eine animatronische Gans machen möchte“, sagte Sam.
„Du hast recht. Wir brauchen einen Gruselfaktor. Welcher Vogel ist wirklich gruselig?“
„Ihr werdet die Goldene Himbeere gewinnen“, rief Amber vom anderen Ende des Raums herüber.
„Das Beste kommt zum Schluss“, erwiderte Nole und stieß die verschränkten Hände wie im Siegestaumel in die Luft.
Amber lachte. „Du bist so ein Idiot.“
Darla sagte nichts, und die beiden Mädchen verließen den Raum, während sie sich über ein Referat für ihren Englischkurs unterhielten.
„Sie mag dich“, meinte Sam.
„Sie findet, dass ich ein Idiot bin.“
„Also mag sie dich, und sie kennt dich.“
Nole trat Sam gegen den Fuß.
Sam zuckte die Achseln und grübelte weiter. „Oh! Ich hab’s!“ Er setzte sich auf und sagte in einem feierlichen und zugleich unheilvollen Ton: „Mitternacht umgab mich schaurig …“
„Was?“
„Ach, jetzt komm. So blöd bist du nicht.“
„Vielleicht doch.“
„Sprach der Rabe …“, zitierte Sam weiter.
„Hm? Oh, warte. Das kenne ich doch. Das Gedicht von diesem unheimlichen Kerl. Poe. Genau. Der Rabe.“
„Na ja, nicht ganz. Der Rabe ist natürlich ein Klischee. Eine Krähe täte es auch. Ich denke eher an eine Amsel. Sie hat die gleiche Bedeutung, aber Amseln sind etwas kleiner. Sie sind Singvögel, und in unserer Gegend gibt es mehr davon als Krähen oder Raben.“
„Woher weißt du das alles?“
„Ich bin ein Genie, schon vergessen?“
„Ja. Ich hatte es vergessen, weil ich ein Idiot bin.“
Sie lachten beide.
„Okay. Wir haben eine gruselige Amsel“, sagte Nole. „Und was jetzt?“
„Hat dich schon mal eine von denen angestarrt?“, fragte Sam. „Ich meine, wirklich angestarrt?“
„Neulich war eine im Hof. Ich habe gerade darüber nachgedacht, Psych 201 zu schwänzen, und dieser Vogel hat mich ständig angesehen. Ich hatte sofort ein derart schlechtes Gewissen, dass ich doch hingegangen bin.“
Sam schnippte mit den Fingern. „Das war blöd von dir, aber ich glaube, du bist auf der richtigen Spur.“
„Wieso?“
„Das Thema Schuld.“
„Ich bin ein Idiot, erinnerst du dich? Du musst mir das genauer erklären.“
„Unsere Animatronik, ‚die Amsel‘“, Sam malte Anführungszeichen in die Luft, „wird dich dazu bringen, deine dunkelsten Geheimnisse zu offenbaren, und wenn du das tust, kommt sie, um dich für deine Sünden zu bestrafen. Sie lässt dich nie vom Haken, lässt dich nie ruhen. Wir könnten die Amsel einen armen Kerl in den Tod treiben lassen.“
„Wird es blutig werden?“, fragte Nole.
„Du bist echt ein Ghoul.“ Sam kaute auf seiner Unterlippe. „Etwas Blut könnte aber wirklich nicht schaden.“
„Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht!“
„Wow“, sagte Sam. „Du zitierst Shakespeare? Vielleicht spielst du nur den Idioten.“
„Das werde ich nie verraten.“
„Die Amsel wird dich dazu bringen“, meinte Sam mit einem bösen Lachen.
* * *
Sam und Nole waren gerade noch rechtzeitig vor der nächsten Unterrichtsstunde mit dem Entwurf des Films fertig. Obwohl Sam eigentlich zu groß war für die Rolle, fand er den Gedanken, die Amsel zu spielen, ganz reizvoll. Nole, der sich absolut nicht wie ein Vogel verkleiden wollte, meinte, dass Sams Größe die Amsel noch unheimlicher machen würde. So blieb für Nole der Part des armen, verfolgten Sünders.
„Ich kann sehr jämmerlich rüberkommen“, erklärte Nole, als sie sich später am Tag eine Pizza teilten.
„Das kannst du“, stimmte Sam ihm zu.
Als Nole und Sam gerade die Hälfte ihrer Peperoni-Jalapeño-Pizza gegessen hatten, betrat Amber das gemauerte Restaurant und entdeckte die beiden. „Ist da noch Platz für mich?“ Sie deutete auf den schwarzen Vinylsitz, auf dem Nole saß.
Nole rutschte zur Seite. „Klar. Aber lass die Finger von unserer Pizza.“
„Ich will deine stinkende Pizza nicht“, sagte Amber.
Sam grinste Amber an, als sie eine Bedienung heranwinkte und eine Limonade bestellte.
„Worum geht es in eurem Film?“, fragte sie.
„Das würdest du wohl gern wissen“, entgegnete Nole mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen.
Amber zog die Nase hoch. „Von wegen. Ich wollte nur über was reden.“
„Und worum geht es bei dir?“
„Ums Stricken.“ Ihr Lächeln verriet, dass sie sich mit ihrem Projekt ziemlich wohlfühlte.
„Meinst du das ernst?“, fragte Nole.
„Natürlich.“
„Gibt es Blut?“, hakte Nole nach.
Sam lachte und schüttelte nur den Kopf.
„Jede Menge“, erwiderte Amber.
Nole zeigte auf Sam. „Siehst du? Blut muss dabei sein.“
Sam ignorierte ihn.
In der Pizzeria war es voll und laut. Der Raum war erfüllt von den Gerüchen scharfer Peperoni, von Würstchen und Tomatensoße und klassischem Rock, der aus Lautsprechern dröhnte. Sam winkte ein paar Freunden zu und belauerte dann Amber, die Nole beobachtete.
Sam war sich nicht sicher, warum Nole Amber bisher nicht um ein Date gebeten hatte. Sie war süß, wenn auch nicht Sams Typ. Die wenigen Mädchen, mit denen er ausgegangen war, waren größer und ernsthafter als Amber.
Aber Nole? Nole mochte Mädchen, mit denen er lachen konnte, und den Mädchen schienen Noles blaue Augen, sein athletischer Körper und sein struppiges blondes Haar zu gefallen.
Amber, ebenfalls blond, blauäugig und fit, passte zu Nole. Sie kleidete sich sogar so wie er. Normalerweise trug sie verblichene Jeans, weiße Blusen und, wenn das Wetter es zuließ, Lederjacken.
Sam blinzelte, als Amber sich über den Tisch beugte und die Papierhülle vom Ende ihres Strohhalms in Richtung seines Gesichts blies.
„Er hat mir gesagt, dein Film handelt von einem Vogel. Ich glaube, er lügt.“
Sam lächelte. „Eigentlich nicht.“
„Du meinst wie in Die Vögel?“
Nole schnaubte und wedelte mit einem Pizzastück herum. „Wir drehen doch kein Plagiat.“
„Ooh. Großes Wort“, meinte Amber.
Sam lachte. Eigentlich klauten sie ja doch ein bisschen … Schließlich bedienten sie sich bei Freddy Fazbear’s Pizza.
Schlagartig stellten sich Sams Nackenhaare auf. Warum passierte ihm das jedes Mal, wenn er bloß an das Freddy Fazbear’s dachte?
Sam warf etwas Bargeld auf den Tisch. „Ich muss anfangen.“
„Womit?“, fragte Amber.
„Das verraten wir nicht“, sagte Nole.
Amber schlug ihm auf den Arm.
Oh, dachte Sam. Es ist wahre Liebe.
* * *
Viele von Sams Klassenkameraden machten sich darüber lustig, dass er noch zu Hause wohnte, aber ihm gefiel es. Erstens verstand er sich gut mit seinen Eltern, die ihn unterstützten und sehr umgänglich waren. Zweitens hatte er viel mehr Privatsphäre und Platz als in einem Studentenwohnheim, denn seine Eltern hatten den Keller zu einer geräumigen Wohnung für ihn umgebaut, mit eigener Kochzeile, mit Bad, Schlafbereich und Platz für seine Filmprojekte. Und drittens gefiel es ihm, am Ende des Tages den Campus zu verlassen. Er konnte das ständige Gerede, die schulischen und sozialen Ängste und die Hektik nur begrenzt ertragen. Außerdem mochte er keine Partys. Die Arbeit an seinen Projekten war für ihn weitaus verlockender, als zu trinken und sich wie ein Idiot aufzuführen.
Sams Elternhaus befand sich etwa zwei Meilen vom College entfernt, eine leicht zu bewältigende Strecke, was gut war, da er kein Auto besaß. Und der Heimweg gefiel ihm. Er folgte den Eisenbahnschienen, die an einem bewaldeten Abhang entlang und dann in einen felsigen Graben und durch eine Schneise führten, die das Ackerland vom ausgedehnten Gelände des Colleges trennte. Sam tat gerne so, als wäre er ein Vagabund aus alten Zeiten, der darauf wartete, auf einen Zug aufzuspringen, um zu fernen Abenteuern zu reisen. Tatsächlich arbeitete Sam an einem Drehbuch über Gütertransporteure, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts spielte. Er wusste, dass es ein hartes Leben war, aber es zog ihn auf eine gewisse romantische Weise an, vielleicht, weil er noch nie das Gefühl gehabt hatte, einen Platz im normalen Leben zu haben.
Und natürlich war auch sein aktuelles Projekt dabei nicht gerade hilfreich.
Drei Tage nachdem Sam und Nole sich für ihren Horrorfilm-Plot entschieden hatten, saß Sam in dem eigens von seiner Mutter für ihn bestellten Schreibtischstuhl an dem großen Basteltisch im Keller. Der helle Holztisch war mit Stapeln von langen schwarzen Federn bedeckt. Zum Glück war Sams Vater Kaufmann und hatte zudem ein Talent dafür, seltene Dinge zu finden – er konnte so ziemlich alles auftreiben, was Sam für seine Projekte benötigte. Heute hatte sein Vater Sam in der Einfahrt mit mehreren Kisten voller Federn begrüßt und ihm geholfen, sie die Kellertreppe hinunterzutragen. Bevor er den Keller verließ, sang Sams Vater: „Mach’s gut, Amsel.“
„Sehr witzig, Dad“, rief Sam die Treppe hinauf.
Er lächelte über das belustigte Glucksen, mit dem sein Vater antwortete, und begann, die Federn aus den Kisten zu holen.
Sams Idee für das Kostüm war es, lange schwarze Federn in einen netzartigen schwarzen Stoff zu stecken, der dann auf einen schwarzen, körperbetonten Anzug genäht werden sollte, wie ein gefiederter Überwurf. Dazu würde er ausgesprochen viele Federn in das Netz schieben und festnähen müssen. Also legte Sam etwas langsamen Jazz auf und machte sich an die Arbeit.
Um 23:30 Uhr zuckte Sam zusammen, als das Telefon klingelte. Es war Nole.
„Amber hat mich gefragt, ob wir nicht mal ausgehen wollen.“
„Gut.“
„Eigentlich dachte ich, das wäre meine Aufgabe gewesen.“
„Hast du schon mal was von Emanzipation gehört?“
„Wenig. Aber ich komme aus einer Familie von Chauvinisten. Ich bin noch in der Lernphase.“
„Was hast du geantwortet?“ Sam zuckte zusammen, als er sich zum hundertsten Mal mit der Nadel in den Finger stach.
„Ich habe Ja gesagt. Ich konnte nicht schnell genug denken, um etwas anderes zu antworten. Außerdem dachte ich mir, dass ihr Fahrgestell genauso gut ist wie das von Darla.“
„Ein wichtiger Punkt.“
„Was macht das Kostüm?“
„Wird gut, denke ich. Bis morgen Nachmittag habe ich es wahrscheinlich fertig, dann können wir am Set arbeiten.“
„Was eine Tragödie ist“, seufzte Nole.
„Das Set?“
„Morgen wird nicht daran gearbeitet. Morgen ist Samstag. Am Samstag hat man einfach nur Spaß.“
„Das ist die einzige Zeit, in der wir das Studio bekommen können“, erinnerte ihn Sam.
„Wie schade.“
Sam ignorierte ihn, beendete das Gespräch und widmete sich wieder dem Federkostüm.
Ein paar Stunden später befestigte er noch zwei gelb-schwarze Augen und einen winzigen, spitzen orangefarbenen Schnabel am Kopf. Obwohl er erschöpft war, zog er das Kostüm an und stellte sich vor den Ganzkörperspiegel hinter der Badezimmertür.
Sam schrie fast auf, als er sich selbst sah … Denn was er sah, war nicht mehr er selbst. Was er sah, war so fremdartig, dass er versucht war, sich das Kostüm vom Leib zu reißen. Er hatte das Gefühl, dass seine Schöpfung ihn in sich aufgenommen hatte. Er war verwandelt worden. Von Sam war nichts mehr zu sehen. Nur eine monstergroße Amsel starrte ihn aus dem Spiegel an. Sein Entwurf war genau so geworden, wie er ihn sich vorgestellt hatte – die übergroßen Proportionen ließen den Anzug fast kinderfreundlich aussehen, aber die großen, toten Augen und die schwarzen Federn wirkten zutiefst bedrohlich. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der arme Floyd, die Figur in ihrem Film, seine dunklen Geheimnisse ernsthaft bereuen würde, wenn er der Amsel gegenüberstand.
Dank der unzähligen Federn, die sein Vater für ihn besorgt hatte, war Sam in der Lage gewesen, den Bauch der Amsel weit hinunterzuziehen, sodass die Beine des Vogels erst an Sams Schienbeinen begannen. Die Proportionen wirkten dadurch realistisch. Bei den Füßen hatte seine Mutter ihm geholfen. Sie liebte handwerkliche Arbeiten und hatte ein Paar dehnbare Badeschuhe aufgetrieben und eine extragroße schwarze Strumpfhose mit einem Schuppenmuster. Sie zeigte Sam auch, wie man die Vogelzehen aus schwarzem Gummi formen konnte, in die er dann tiefe Rillen schnitzte. Gemeinsam benutzten sie Epoxidharz, um Vogelkrallen herzustellen, die Sam in die Gummizehen steckte. Dann befestigte er die Vogelfüße an den Badeschuhen, sodass sie ganz natürlich wirkten.
Auf den ersten Blick schien Sam tatsächlich eine riesige Amsel zu sein. Und er wirkte mehr als unheimlich. Jetzt brauchten sie nur noch ein bisschen Blut.
Sam lachte. Vielleicht würde Nole dann aufhören, ständig auf das Blut zu drängen.
* * *
Nole und Sam trafen sich am Samstagnachmittag, um ihr Filmset zu entwerfen. Nole hätte lieber Volleyball gespielt, aber trotz seines lässigen Auftretens war ihm der Filmkurs wichtig. Außerdem war er ganz begeistert von ihrer Idee.
Als Nole im Studio eintraf, zeigte Sam ihm sofort ein Bild des Amsel-Anzugs. Nole war froh, dass Sam ihn nicht beobachtete, als er das Bild zum ersten Mal sah. Er war sich ziemlich sicher, dass er blass geworden war. Zumindest fühlte es sich so an. Ihm war plötzlich kalt, er war schwach und zittrig. Was, zum Teufel, war hier los?
Als Sam sich umdrehte, um Nole zu fragen, was er davon hielt, beugte sich Nole vor und tat so, als würde er sich den Schuh zubinden. „Das ist der Hammer. Mehr als das.“
„Ja? Danke. Ich habe mich ziemlich erschrocken, als ich in den Spiegel geguckt habe“, meinte Sam.
Nole erhob sich, nahezu sicher, dass er wieder seine normale Farbe hatte. Sollte doch Sam zugeben, dass er sich erschrocken hatte. Sam hatte einfach keine Ahnung, wie man sich cool gab. Er war viel zu ehrlich, zu offen und zu authentisch, um auch nur in die Nähe von cool zu kommen.
„Okay, wir denken also an ein Schlafzimmer, richtig?“ Sam stand in der Mitte des Sets.
„Albträume. Kalte Schweißausbrüche. Panische Telefonanrufe. Ja. Ich denke, das ist das Nonplusultra eines Films für ein Ein-Zimmer-Set.“ Nole tat so, als würde er in ein Megafon sprechen. „Tretet vor, Leute. Holt euch euren Gruselfaktor gleich hier.“
Sam lachte.
Nole grinste.
Sam sah nicht schlecht aus, wenn er lachte, dachte Nole. Sams Problem war, dass er immer so ernst wirkte. Mit seinen ausgeprägten Gesichtszügen, dem breiten Mund und der scharfen Kieferpartie wirkte Sam meist hart und wütend, auch wenn er es gar nicht war. Sein Gesicht erinnerte an eine Totempfahlschnitzerei. Als Nole Sam zu Beginn des Semesters im letzten Jahr kennengelernt hatte, hatte er ihn gefragt, ob er ein Totempfahl sei. Schließlich war er groß, und er trug viel Schwarz, Rot und Hellbraun.
„Habe ich irgendwas im Gesicht?“, fragte Sam.
„Nur deine hässliche Visage.“ Nole verpasste Sam einen spielerischen Klaps, um ihn wissen zu lassen, dass er einen Scherz gemacht hatte.
„Komm schon, Mann.“ Sam warf Nole einen Schraubenzieher zu. „Lass uns an die Arbeit gehen.“
In den nächsten zwei Stunden bauten sie Möbel zusammen, hängten Bilder auf, machten das Bett und stritten darüber, welche persönlichen und dekorativen Gegenstände wohin gehörten und warum. Sam schien eine besonders hartnäckige Meinung zum Thema schmutzige Socken zu haben.
„In diesem Film geht es darum, seine schmutzige Wäsche zu waschen und was mit einem passiert, wenn man das nicht tut. Die schmutzigen Socken sollten einen prominenten Platz in der visuellen Erzählung einnehmen und nicht einfach an den Rand gedrängt werden“, erklärte Sam.
Nole hob die Hände. „Ich gebe auf.“
Nach einer weiteren halben Stunde wurde Nole langweilig. „Also, Sam: Welche dunklen Geheimnisse konnte die Amsel aus dir herausholen?“
Sam ließ den Stapel Zeitschriften fallen, den er gerade in den Händen trug.
Nole lachte. „Viele Schuldgefühle?“
Sam schüttelte den Kopf. „Zufall.“
„Aha.“ Nole sah Sam an. „Und?“
„Ich habe keine dunklen Geheimnisse“, sagte Sam.
Die Art und Weise, wie er sorgsam die Zeitschriften wegräumte, brachte Nole auf den Gedanken, dass ihm Sam etwas verheimlichen könnte. „Komm schon, Mann, spuck’s aus.“ Nole lachte. „Die Geheimnisse, nicht die Zeitschriften.“
Sam beendete das Umstapeln der Zeitschriften und richtete sich auf. Er blickte auf Nole herab. „Da ist nichts. Und bei dir?“
Sam ist wirklich ein Nerd, dachte Nole. Er war nicht der Typ, mit dem Nole normalerweise abhing, aber Sam erwies sich im Filmkurs als Genie. Immer das beste Pferd vor den Wagen spannen, pflegte Noles Großvater zu sagen. Noles Großvater war Multimillionär, und Nole hielt den Rat seines Großvaters für ziemlich weise.
„Okay“, räumte Nole ein. „Ich werde dir meins erzählen.“ Er warf sich auf das Bett und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
„Hey“, schimpfte Sam. „Die Schuhe! Ich habe mir die Bettdecke geliehen.“
„Ja, Mama.“ Mit den Füßen streifte Nole seine Schuhe ab.
Sam überging Noles Kommentar und fing an, Vorhänge über ein angebliches Fenster zu hängen.
„Also, ich bin nicht stolz darauf“, sagte Nole.
Aber stimmte das? Konnte es sein, dass er, wenn er wirklich die Wahrheit über sein dunkles Geheimnis sagte, durchaus ein wenig stolz darauf war?
„Wenn es ein dunkles Geheimnis ist, wüsste ich nicht, warum du stolz darauf sein solltest“, meinte Sam.
„Okay. Wie auch immer. Als ich in der Junior High war, so mit zwölf, glaube ich, war ich ein echter Tyrann.“
Sam drehte sich um und warf Nole einen langen Blick zu. „Wie meinst du das?“, fragte er.
„Du weißt schon, eben ein Tyrann.“ Nole gluckste. „Ein ziemlich rücksichtsloser Tyrann, um die Wahrheit zu sagen.“
„Erzähl mir ein Beispiel“, forderte Sam.
Was war mit Sams Stimme los? Sie klang auf einmal steif.
Nole schaute an die Decke und dachte zurück. „Na ja, du weißt schon, das Übliche. Im Grunde habe ich sie so genannt, wie ich sie gesehen habe.“
Sam lehnte sich gegen die Wand und starrte Nole an. „Ich versteh’s immer noch nicht.“
Nole setzte sich im Bett auf. „Okay, also da war dieses wirklich unbeholfene, fette Mädchen. Sie hatte all diese seltsamen Angewohnheiten, zum Beispiel wollte sie einem nicht in die Augen sehen, und sie drückte immer ihre Hände zusammen, und sie hatte Schwierigkeiten beim Sprechen. Sie stotterte nicht, aber sie schien Probleme zu haben, Worte zu formen. Sie war einfach seltsam. Sie hatte einen komischen Gesichtsausdruck. Und sie trug die dämlichsten Klamotten, die ich je gesehen hatte. Es sah aus, als würde sie nur in Secondhandläden einkaufen, nicht in den coolen Shops. Ihre Klamotten passten auch nie zusammen. Also fing ich an, sie Second Hand zu nennen, kurz SH, und wenn sie den Flur hinunterging, sagte ich: ‚Schhhh.‘ Das hatte sich durchgesetzt, und schon bald hat das jeder gemacht.“ Nole lachte. „Das war ein Aufstand. Solche Sachen eben. Oh, und dann kam sie einmal in die Schule und trug diese Hochwasserhosen. Ich meine, sie sah echt dumm darin aus. Also haben meine Freunde und ich ihr Wasser ins Gesicht geschüttet. Verstehst du? Wegen des Hochwassers.“ Nole lachte. „Und sie trug diese dicke Brille und sah immer so aus, als würde sie blinzeln. Also habe ich ihr einen toten Maulwurf in den Spind gelegt und sie gefragt, ob sie um ihren besten Freund trauere.“ Nole lachte. Manchmal brachte er sich einfach selbst zum Lachen.
Er sah Sam an. Der hatte nicht gelacht.
Sam zog den Stuhl hervor, den sie vor den Schreibtisch in Floyds Zimmer gestellt hatten. „Findest du das wirklich lustig?“, fragte Sam.
„Na ja“, erwiderte Nole. „Du musst doch zugeben, dass das alles witzige Ideen sind, oder nicht? Wie dieses eine Mal, als ich einen Eimer voller Kletten hatte. Es ist gar nicht einfach, so viele Kletten zu sammeln. Das Mädchen hieß übrigens Christine Wilber, und es hatte immer lange, strähnige Haare, weil es sich nicht genug gewaschen hat. Eigentlich war das Ganze ein Experiment. Ich wollte wissen, ob die Kletten auch an fettigem Haar haften. Und ich brauchte natürlich eine Kontrollperson, also warf ich die Kletten auch auf ihre Freundin Valerie. Valerie hatte krauses Haar, von dem ich ziemlich sicher war, dass sie es zu oft wusch. Und tatsächlich: Die Kletten blieben an Valerie besser haften als an Christine. Ich werde nie vergessen, wie sie vor der Schule standen, wie ein Affenpaar, das sich gegenseitig die Läuse aus dem Pelz zupfte. Das war lustig.“ Nole lachte.
Sam schüttelte den Kopf. „Das ist nicht witzig.“
Nole hob eine Augenbraue, hörte aber nicht auf zu lachen. „Ernsthaft? Stell dir das mal vor. Wie zwei kleine Äffchen.“ Er tat so, als wäre er ein Affe, der einem anderen Affen die Läuse wegpickt.
Sam runzelte die Stirn, stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen.
Nole ließ sich wieder auf das Bett sinken. Er zog ein Kissen unter der Decke hervor und schüttelte es auf.
„Ich hatte das Bett gerade gemacht“, schnauzte Sam.
„Nur die Ruhe. Ich bringe das wieder in Ordnung, wenn ich aufstehe.“
Sam lief weiter. Dann blieb er abrupt stehen. „Wenn du nicht blind bist, musst du doch bemerkt haben, dass ich nicht normal aussehe, oder?“
Nole legte den Kopf schief. „Du bist groß, aber das sind viele andere in meiner Studentenverbindung auch.“
„Sie sind groß und athletisch“, sagte Sam. „Ich bin einfach nur groß.“
„Okay.“
„Schon auf der Junior High war ich viel zu groß für mein Alter, und meine Beine sahen noch länger aus als jetzt, weil ich so dünn war. Rate mal, was dann passiert ist.“
Nole vermutete, dass Sam schikaniert worden war, aber er beschloss, abzuwarten und Sam seine Geschichte erzählen zu lassen. Nole wusste, dass er ein Idiot sein konnte, aber er war nicht dumm.
„Ich wurde im Grunde von der ersten Klasse an bis zu meinem ersten Jahr in der High School gemobbt. Dann, in diesem Jahr … nun, in diesem Jahr hat es aufgehört. Aber ich kann dir sagen, dass die Witze, die du so lustig findest, für die Leute, die sie hören, nicht lustig sind.“ Sam verschränkte die Arme und starrte Nole an.
Nole lachte. „Alter, jetzt siehst du wirklich aus wie ein Totempfahl. Oder nein, du siehst aus wie eine dieser hölzernen Indianerstatuen.“ Nole lachte.
Sam schüttelte den Kopf und drehte sich um. „Das ist echt beleidigend. Bringen wir es einfach hinter uns, ja?“
Nole stieg vom Bett. Immer noch grinsend, machte er das Bett neu, vielleicht nicht so ordentlich, wie Sam es gemacht hatte, aber es war gemacht, und wer hatte behauptet, dass Floyd zwanghaft war, wenn es um sein Bett ging?
„Alles okay, Alter?“, fragte Nole. Sam stand mit dem Rücken zu ihm.
„Mir geht’s gut.“ Sam drehte sich um und betrachtete den Raum, ohne Nole anzusehen. „Ich glaube, wir sind hier fertig. Ich bringe morgen mein Kostüm mit, dann können wir mit den Dreharbeiten beginnen.“
„Willst du nicht noch den Text durchgehen?“
„Du bist derjenige, der Text hat. Ich dachte, du kannst ihn schon?“
„Das tue ich.“
„Dann würde ich sagen, wir sind fertig.“ Sam ging zum Bett und zog die Laken ordentlich zurecht.
„Ist ja okay, Alter.“ Nole gluckste.
Sam warf Nole einen Blick zu und sagte: „Wir sehen uns morgen.“ Dann verließ er das Studio.
„Vielleicht bin ich ihm ein bisschen auf die Nerven gegangen“, sagte Nole zu sich selbst.
Dann gluckste er wieder. War doch alles nur witzig gewesen.
* * *
Als Nole von seiner Verabredung mit Amber zurückkam, schlenderte er den Flur entlang zu seinem Einzelzimmer im Haus der Studentenverbindung und wippte dabei mit dem Kopf im Takt der Musik, die die Wände vibrieren ließ. Die Lautsprecher befanden sich im ersten Stock, und dies war der dritte, aber die anderen feierten offenbar kräftig. Das ganze Haus bebte. Außerdem roch es nach Bier, Wurst und schmutziger Wäsche. Er rümpfte die Nase. Der Lärm machte Nole nichts aus, aber den Geruch mochte er nicht.
Nole hätte es niemandem gegenüber zugegeben, aber er war nicht wirklich für eine Studentenverbindung geeignet. Er war ihr beigetreten, weil schon sein Vater und sein Großvater dort Mitglieder gewesen waren. Es war zudem eine coole Verbindung, und Nole tat alles, was nötig war, um cool zu sein. Also war er zufrieden, zumal er zu Beginn des Jahres bei der Zimmerverlosung gewonnen hatte, wodurch er das beste Einzelzimmer in dem dreistöckigen Tudorhaus bekommen hatte, in dem die Verbindung untergebracht war.
Die Tür, an der Nole vorbeischlenderte, flog auf, und ein muskulöser, verschlafener Typ, dessen schwarzes Haar in die Luft stand, kratzte sich den nackten Bauch und blinzelte in das helle Flurlicht. „Wie spät ist es?“, fragte er.
„Fast Mitternacht“, erwiderte Nole. „Alles okay, Ian?“
Ian spielte Football und war sehr engagiert. Er sagte immer, er würde seinen Körper wie einen Tempel behandeln und Ähnliches. Er lief gerne in seinen Boxershorts herum und zeigte allen, was für einen tollen Tempel er hatte. Nole fand, dass Ian ein bisschen eingebildet war, aber die Boxershorts des Kerls waren lustig. Er besaß Dutzende davon, alle in verschiedenen Farben und Mustern. Die Boxershorts des heutigen Abends waren weiß, aber mit leuchtend gelben Gummienten bedruckt. Vielleicht waren es die Gummienten, weswegen Nole Ians grauer Teint und die dunklen Flecken unter seinen Augen auffielen. Man erwartet einfach nicht, dass jemand, der Gummienten-Shorts trägt, aussieht, als wäre er todkrank.
„Ich habe wenig geschlafen in letzter Zeit. Und jetzt das.“ Ian deutete in Richtung des wummernden Beats.
„Die Musik hält dich wach?“
„Ja. Dich nicht?“
„Nein. Mich hält nichts wach.“
„Dein Ernst?“
„Mein Ernst. Ich kann so ziemlich alles verschlafen.“
„Du Glücklicher. Ich habe jede Nacht Schlafprobleme.“
„Wahrscheinlich hast du ein tierisch schlechtes Gewissen“, meinte Nole.
Ians Augen weiteten sich. „Wieso?“
„Nur die Ruhe. War bloß ein Scherz.“ Nole lachte und schlug Ian auf seinen stahlharten Oberarm.
Ian schenkte Nole ein schwaches Lächeln und stolperte durch den Flur ins Bad. Nole rieb sich die Fingerknöchel und ging den Flur entlang zu seinem Zimmer.
* * *
Am nächsten Tag um die Mittagszeit kam Nole zurück ins Studio, obwohl es ein Sonntag war und er seine Sonntage normalerweise damit zubrachte, im Fernsehen Sport zu schauen oder mit seinen Kommilitonen aus der Verbindung Ball zu spielen. Er dachte sich, dass er pünktlich im Studio sein sollte, um sich mit Sam auszusöhnen. Auch wenn Sam nicht viel gesagt hatte, war er am Tag zuvor offensichtlich ziemlich sauer gewesen. Nole hatte es vielleicht ein bisschen zu weit getrieben. Er wusste, dass er das manchmal tat.
Als Nole feststellte, dass Sam noch nicht da war, streckte er sich auf dem Bett aus, um zu warten. Fünfundvierzig Minuten später lag er immer noch so da. Er schloss die Augen und musste eingeschlafen sein, denn als Amber in den Raum stürmte, erschrak er so sehr, dass er fast aus dem Bett gefallen wäre.
„Hast du es schon gehört?“
„Wie?“ Er setzte sich auf. „Was gehört?“ Er rieb sich das Gesicht. „Wie spät ist es?“
„Es ist zwei Uhr dreißig. Von Sam.“
„Was ist mit Sam?“
Amber schlang die Arme um ihren Oberkörper, als würde sie frösteln. „Es heißt, er könnte von einem Zug überfahren worden sein.“ Sie wischte sich über ihre geschwollenen Augen.
„Was?!“
„Anscheinend hat er ein Kostüm für deinen Film gemacht, mit schwarzen Federn, es wurden überall auf den Gleisen Federn gefunden, über ungefähr zwei Meilen verteilt. Überall.“
Nole sprang aus dem Bett. „Ist er okay?“
Amber schüttelte den Kopf. „Das ist ja das Problem. Keiner weiß es. Er ist verschwunden.“
„Ich muss los.“ Nole stürmte an Amber vorbei aus dem Studio.
* * *
Die Bahngleise verliefen auf der Rückseite des Campus, hinter der Cafeteria, dem Freizeitzentrum und dem Schwimmbadkomplex. Sie lagen einen knappen Kilometer vom Studio entfernt. Nole joggte an Kindern vorbei, die im Hof Frisbee spielten, und an anderen, die im Schatten der großen Zedern auf dem Campus lernten. Er ignorierte einige Grüße und konzentrierte sich darauf, zu den Gleisen zu gelangen.