Flaubert - Michel Winock - E-Book

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Michel Winock

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Beschreibung

Zum 200. Geburtstag Flauberts: Die international maßgebliche Biografie. „Winock lässt den Geist des Meisters leuchten.“ New Yorker

Ein junger Mann aus wohlhabendem Hause, begabt, aber scheinbar ohne jeden Ehrgeiz: Gustave Flaubert war bereits 35 Jahre alt, als er mit "Madame Bovary" über Nacht berühmt und berüchtigt wurde. Mit ihm beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte der Weltliteratur. Michel Winock erzählt in seiner maßgeblichen Biografie von Flauberts Leben in der Normandie und Paris und von seinen Reisen, die ihn bis in den Orient führten. Der Gegensatz zwischen versunkenen Welten und heraufziehender Moderne prägt Flauberts Lebensgefühl. Winock sieht darin den Schlüssel zu seiner Kunst. Egal, ob man sie erst entdeckt oder bereits mit ihr vertraut ist: Diese Biografie führt die ganze Fülle der Welt Flauberts vor Augen.

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Über das Buch

Zum 200. Geburtstag Flauberts: Die international maßgebliche Biografie. »Winock lässt den Geist des Meisters leuchten.« New YorkerEin junger Mann aus wohlhabendem Hause, begabt, aber scheinbar ohne jeden Ehrgeiz: Gustave Flaubert war bereits 35 Jahre alt, als er mit »Madame Bovary« über Nacht berühmt und berüchtigt wurde. Mit ihm beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte der Weltliteratur. Michel Winock erzählt in seiner maßgeblichen Biografie von Flauberts Leben in der Normandie und Paris und von seinen Reisen, die ihn bis in den Orient führten. Der Gegensatz zwischen versunkenen Welten und heraufziehender Moderne prägt Flauberts Lebensgefühl. Winock sieht darin den Schlüssel zu seiner Kunst. Egal, ob man sie erst entdeckt oder bereits mit ihr vertraut ist: Diese Biografie führt die ganze Fülle der Welt Flauberts vor Augen.

Michel Winock

Flaubert

Biografie

Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorwort

I Der Augenblick und das Dekor

Die Notabeln des Hôtel-Dieu

Das Collège

Der Überdruss und die Posse

II »Oh! Schreiben!«

Unter den Auspizien von Klio

Eine Anthologie der Verzweiflung

Der Gott Yuk

III Lieben

Élisas Narr

Lehrjahre des Sexus

IV Wendepunkt

In Paris

Maxime Du Camp

Die große Wende

V Düsterer Horizont

»Wie fern ich der Frau bin«

»Das Unglück ist über uns«

Stoizismus

VI Louise

Die Muse

Das Missverständnis

Reise in die Bretagne

VII 1848

»In der Revolution«

Die Revolution schreiben

VIII Eine Sehnsucht nach dem Orient

Was wir darüber wissen

Zwei Gesandte auf Mission

IX Von den Pyramiden zur Hohen Pforte

Ägyptische Herrlichkeit

Sextourismus

Andere Horizonte

Und nun?

X Louise (Fortsetzung und Schluss)

Maxime und Louis

Die wiederbegonnene Liebe

Die Bovary auf dem Weg

»Ich habe die Ehre, Sie zu grüßen«

XI Emma

Die Bovary ist angekommen

Porträt einer Frau

Ein zweiter Molière?

XII Berühmt werden

Der Prozess

Die Rezeption

Eine ungewöhnliche Freundschaft

XIII Das Pariser Leben

Ein neues Milieu

Juliet

Nach Karthago!

XIV Salammbô

Ein »archäologischer Roman«

Die Freunde und die Presse

Polemiken

XV Carolines Heirat

Eine väterliche Zuneigung

Eine bürgerliche Heirat

XVI Der Eremit mit den weiSSen Handschuhen

Bei Magny

Bei Prinzessin Mathilde

Die Herzchen

XVII Monsignore

Le Château des cœurs

Der Ausklang einer Freundschaft

XVIII Frédéric, das bin nicht ich

Die unmögliche Liebe

Die käufliche Liebe

Die mondäne Liebe

Die bürgerliche Liebe

XIX Frédéric, das sind wir

Der enttäuschte Ehrgeiz

König Geld

Die Revolutionäre

Eine orientierungslose Generation

XX Wechselbad

Von den ersten Reaktionen bis zu den Verrissen

Das anerkannte Hauptwerk

XXI George Sand und der alte Troubadour

In Nohant

Die Zeit der Trauer

XXII Krieg!

Der schändliche Krieg

Die Verteidigung des Vaterlandes

Die Invasion

XXIII Die Commune

Der Aufstand

Fern der Barrikaden

Die Blutwoche

XXIV »Das Wesen, das ich am meisten geliebt habe …«

Flaubert und Sand: Verstandes- und Gefühlswahrheiten

Die Kraft der Treue

Der Abschied des Sohnes

XXV Zeiten der Schwermut

Die Leere ausfüllen

Lust auf Theater

Saint Antoine, endlich!

XXVI Ruin und Trauer

Das Debakel der Commanvilles

Eine große Stimme verstummt

XXVII »Ein wenig Blau am Horizont …«

Die Trois Contes

Pariser Leben

»Scheiß auf Mac-Mahon«

XXVIII »Alles lässt mich verzweifeln und bedrückt mich«

»Das ist eine Last, die mich erstickt«

Ergiebige Freundschaften

Polykarps Ende

XXIX Post mortem

Bouvard et Pécuchet, das rätselhafte Werk

Der Dictionnaire des idées reçues

Als Schriftsteller anerkannt, als Mensch entdeckt

XXX Skizze eines Porträts

Anhang

Bildteil

Vorwort

Noch eine Biographie zu Flaubert … warum? — In meiner Gymnasialzeit hatte ich Madame Bovary und die Éducation sentimentale gelesen, doch ohne besonderen Genuss. Erst während meines Philologiestudiums an der Sorbonne habe ich Flaubert wirklich entdeckt. Auf dem Lehrplan für den Abschluss in französischer Literatur stand die Éducation sentimentale, die mir so wenig Vergnügen bereitet hatte. Die erneute Lektüre dieses Romans, bereichert durch die vielfältigen Arbeiten, zu denen er den Impuls gegeben hat, veranlasste mich zu einer Kehrtwende: Das Meisterwerk erschloss sich mir. Ich war nicht der einzige. Ich erinnere mich an jene Nachmittage im Jardin du Luxembourg, an denen ich mich mit einigen Kameraden auf unsere Prüfung am Ende des Studienjahres vorbereitete und wir uns gegenseitig Passagen aus der Éducation sentimentale vortrugen: Lachen und Bewunderung wetteiferten miteinander. Als ich von den Literatur- zu den Geschichtswissenschaften überlief, akzeptierte mein Professor Louis Girard, ein guter Kenner des neunzehnten Jahrhunderts, eine wissenschaftliche Arbeit für das DES (die frühere Magisterprüfung) zum Thema »Flaubert als Historiker seiner Zeit«. Seitdem habe ich ihn immer wieder aufs Neue gelesen. Der Startschuss für das vorliegende Buch fiel 2007 mit dem Erscheinen des fünften und letzten Bandes des grandiosen Flaubertschen Briefwechsels in der »Bibliothèque de la Pléiade«, dessen wissenschaftliche Edition wir Jean Bruneau, unterstützt von Yvan Leclerc, verdanken.

Mit diesem Werk will ich keineswegs mit der Kohorte französischer oder ausländischer Flaubert-Spezialisten konkurrieren — oder mich gar ihnen andienen —, die seit vielen Jahren eine Untersuchung nach der anderen publizieren, Unveröffentlichtes herausgeben und sich mit Virtuosität dem widmen, was man »genetische Kritik« nennt. Unter ihnen möchte ich vor allem Yvan Leclerc und seiner Mannschaft vom Centre Flaubert der Universität Rouen danken, dessen äußerst großzügige Hilfe und freundliche Aufnahme ich sehr zu schätzen weiß.

Meine Absicht ist vielmehr, auf diesen Seiten die Leser an meinem Interesse für »den Eremiten von Croisset« teilhaben zu lassen, indem ich das Leben eines Mannes in seinem Jahrhundert beschreibe. Eine Biografie zum Vergnügen, jedoch die Biografie eines Historikers.

Gustave Flauberts Leben und Werk fallen in das große Jahrhundert des demokratischen Übergangs; dazu gehören die definitive Ersetzung der Ständegesellschaft durch eine Klassengesellschaft, das fortschreitende Erstarken von Gleichheitsforderungen, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Säkularisierung der Gesellschaft, die industrielle Revolution, die Entstehung des Proletariats und der Aufschwung sozialistischer Doktrinen, die zunehmende Freiheit der Presse, die Entwicklung der allgemeinen Schulpflicht (die Reform François Guizots von 1833 und später die Jules Ferrys in den achtziger Jahren), die Fortschritte bei der Alphabetisierung, die immer schnelleren technischen Veränderungen im Verkehrs- und Druckwesen … Dieser lang andauernde Übergang zur Demokratie fand nach der Revolution der Trois Glorieuses — der Julirevolution von 1830 — unter der Herrschaft einer Klasse statt: »Die Gleichmacherei, die 1789 begonnen hat und die seit 1830 weitergeführt wird«, schreibt Balzac, »hat die trübe Herrschaft der Bourgeoisie vorbereitet und ihr Frankreich ausgeliefert.«1

Diesen Gang der Geschichte hat Flaubert gnadenlos entzaubert, doch selbst seine Tiraden zeugen noch von dessen Unwiderruflichkeit. Er war kein Reaktionär von der Art eines Joseph de Maistre, der sich nach dem Bündnis von Thron und Altar zurücksehnte. Bei ihm gibt es nicht die Spur einer monarchistischen und noch weniger einer klerikalen Regung. Was er verabscheut, ist die Herrschaft der Zahl, wie sein Zeitgenosse Tocqueville die »demokratische Gesellschaft« genannt hat, das allgemeine Wahlrecht — das Gleichheitsprinzip, das die Legitimität der Elite untergräbt und die Überlegenheit des Geistes über das vulgum pecus leugnet.

Der Hass auf seine Zeit machte sich an der Bourgeoisie fest, die in seinen Augen den Niedergang des Geistes, der Sitten und des Geschmacks verkörperte. Diese Kritik steht in gewissem Widerspruch zu seiner eigenen Klassenzugehörigkeit, doch für ihn ist der Bourgeois vor allem der moderne Mensch, verblödet vom Utilitarismus, aufgeblasen von Vorurteilen, der Würde verlustig, unzugänglich für das Schöne. Gefangen in einer geschichtlichen Bewegung, die er verabscheut, hat sich der Empyreiker Flaubert an eine ewige Wahrheit geklammert: Das Schöne und die Kunst sind an keine Epoche gebunden. Das Paradox wollte es so, dass er, indem er die Kunst des Schreibens beflügelte und über alles stellte, was die moderne Welt repräsentierte, zum modernsten Romancier seiner Zeit werden sollte.

I

Der Augenblick und das Dekor

Gustave Flaubert, geboren unter Ludwig XVIII. (1821) und gestorben unter Jules Grévy (1880), sollte den allergrößten Teil seines Lebens unter dem Säbel von Monsieur Prudhomme verbringen. Man weiß, dass diese Figur, von Henri Monnier im Jahre 1830 geschaffen, nach Baudelaire ein »Typus von erschreckender Lebensnähe«, die bedrückende Dummheit des 19. Jahrhunderts personifiziert.1 Ganz sicher teile ich nicht die Meinung derjenigen, die im 19. Jahrhundert lediglich eine Verbindung von Okkultismus, Rührseligkeit und wahnwitzigem Utopismus sehen2; ich vergesse nicht die Größe einer Epoche, die in jeder Richtung innovativ war, aber es hat sich gleichwohl erwiesen, dass in diesem Jahrhundert auch eine gierige, selbstgefällige und besserwisserische Bourgeoisie triumphierte. Genau diese hatte Flaubert ständig im Visier, und er hat sie mit einer berühmten, wenig soziologischen, ganz und gar moralischen Formulierung definiert: »Ich bezeichne als Bürger jeden, der niedrig denkt.«3

Gustave Flaubert hat in einem historischen Vakuum sein Leben begonnen und seine Jugend verbracht. Ein Vierteljahrhundert lang war Frankreich glutrot gefärbt von den Feuern der Revolution und den Sonnen des Kaiserreichs. Der Bürgerkrieg und der Krieg mit dem Ausland machten einander Konkurrenz, die Proklamation der großen Prinzipien rief das Universum zum Zeugen, der Marschtritt der napoleonischen Heere ließ den Boden Europas bis nach Moskau erzittern, die Niederlagen waren inzwischen so spektakulär wie die Siege, und als ganz Europa sich verbündete, um den französischen Cäsaren zu beseitigen, gelang dies erst nach dem flammenden Epos der Hundert Tage, das in Waterloo endete.

Das war sechs Jahre vor der Geburt Flauberts. Ludwig XVIII., Bruder des guillotinierten Königs, hatte mit Hilfe der Alliierten und für ein Linsengericht die Monarchie restauriert, nämlich jene oktroyierte Charta, die den Franzosen versprach, der Absolutismus kehre nicht zurück, das Regime werde liberal und parlamentarisch sein, die Freiheit werde an die Stelle der Zensur treten und man könne von nun an in Ruhe schlafen. Tatsächlich erlebte das Land diesen Frieden dann vierzig Jahre lang, und als es sich 1830 des letzten Bourbonen der älteren Linie entledigte, brach endgültig die Zeit des Bürgerkönigtums an, unter dem »Schirm« Louis-Philippes4 und auf der politischen Linie François Guizots, des »organischen Intellektuellen« der Julimonarchie.

Wegen des zeitlichen Abstandes fehlt es uns nicht an Nachsicht mit dieser Epoche, hat sie doch die Franzosen an die Verfahren des repräsentativen Systems in der Politik gewöhnt; an den Frieden in den internationalen Beziehungen; an die Aufschwünge der industriellen Revolution, deren Symbol die ersten Eisenbahnlinien waren; an die romantische Kunst und Literatur. Aber solche Überlegungen entsprachen nicht dem Geschmack der neuen Generationen. Der zehn Jahre vor Flaubert geborene Alfred de Musset hat in seinem Roman La confession d’un enfant du siècle diesen Übergang vom Epischen zum Trivialen eindrucksvoll beschrieben: »Ein Gefühl unbeschreiblichen Missbehagens begann also in all den jungen Herzen zu gären. Von den Herrschern der Welt zum Stillhalten verurteilt, den unterschiedlichsten Schulmeistern, dem Müßiggang und der Langeweile ausgeliefert, sahen die jungen Männer die schäumenden Wogen sich entfernen, gegen die zu kämpfen sie ihre Arme trainiert hatten. All diese mit Öl eingeriebenen Gladiatoren fühlten sich im Innern ihrer Seele unerträglich elend. Die Reichsten wurden Libertins; die ein durchschnittliches Vermögen hatten, ergriffen einen Beruf, zogen widerstrebend den Talar oder die Uniform an; die Ärmsten warfen sich auf den kalten Enthusiasmus, auf die großen Worte, auf das abscheuliche Meer der ziellosen Tat.« In diesem Werk, das 1836 erschien und das Flaubert mit fünfzehn Jahren las, verwendet Musset ein Wort, das alles zusammenfasst: »Es war wie eine Verneinung all der Dinge im Himmel und auf Erden, die man Enttäuschung oder, wenn man will, Verzweiflung nennen kann; als ob die in Lethargie erstarrte Menschheit von jenen für tot gehalten wurde, die ihr den Puls fühlten.«5 Maxime Du Camp, der spätere Freund Flauberts, wird seinerseits über die nach Musset Geborenen schreiben: »Die künstlerische und literarische Generation, der ich angehöre, hatte eine Jugend von jämmerlicher Trostlosigkeit, einer Trostlosigkeit ohne Grund und ohne Objekt, einer abstrakten Trostlosigkeit, die dem Sein oder der Epoche innewohnte.«6

Die Epoche! Während die ehemaligen Gardesoldaten Napoleons nur noch den halben Sold erhielten, begann die Ära der Birotteau, der Camusot und der Nucingen.7 Auf die dürren Jahre folgten die fetten. Diese Emporkömmlinge waren nicht mehr jene Bourgeois, die sich zu Beginn des kapitalistischen Aufschwungs als Eroberer, Industriekapitäne, Unternehmer hervortaten und die ihren Platz in einer Art Heldengeschichte gefunden haben, für die sogar Marx, der Prophet des Sozialismus, rühmende Worte fand — selbst Bankiers, die der obersten Gesellschaftsschicht angehörten, machten ihre Geschäfte inzwischen eher mit Versicherungen und Krediten für den Handel, als dass sie die Industrie versorgten. Diese neuen Bourgeois waren vielmehr Händler, Notare, Robenträger, Staatsanwälte, Advokaten und Sachwalter, all diese Leute aus der Juristerei, die Daumier gezeichnet hat, zu denen sich noch die Mediziner, Apotheker und Legionen von Grundeigentümern und Rentiers gesellten, die sich nun endgültig des einstigen Kirchenguts sicher sein konnten, das sie oder ihre Eltern erworben hatten und dessen Besitz von der Restauration für einen Moment in Gefahr gebracht worden war. Trotz der industriellen Baumwollspinnerei waren die meisten Einwohner von Rouen damals keine großen Unternehmer, sondern nüchterne, vorsichtige, sparsame, konservative, misstrauische, katholische (wenngleich selten zur Kirche gehende) Bürger, Exemplare einer prosaischen, praktisch denkenden, arbeitsamen und ein wenig geizigen Provinzbourgeoisie. Diese Leute konnten mit der Welt, wie sie sich entwickelte, zufrieden sein; es fehlte ihnen nicht an »positiven Freuden«, von denen die reinste darin bestand, zuzuschauen, wie sich ihr Zaster vermehrte.

Angesichts dieses Materialismus oder der Vorstellung, die sie sich von ihm machten, »fanden die jungen Männer«, Musset zufolge, »für ihre brachliegende Kraft eine Betätigung im Vortäuschen von Verzweiflung. Ruhm, Religion, Liebe, alles auf der Welt zu verhöhnen, ist ein großer Trost für diejenigen, die nichts zu tun wissen; sie spotten dadurch über sich selbst und geben sich recht, während sie sich zugleich noch eine Lehre erteilen.«8

Die Notabeln des Hôtel-Dieu

Gustaves Familie gehörte einer Schicht des Bürgertums an, deren Vermögen auf Renten und persönlichen Verdiensten beruhte. Der Vater, Achille-Cléophas Flaubert, ursprünglich aus dem Departement Aube stammend und 1784 geboren, war der Sprössling einer alten Veterinärsfamilie. Er hatte das Privileg, nach dem Besuch des Collège in Sens sein Medizinstudium in Paris absolvieren zu können, und tat dies so exzellent (jedes Jahr als Erster seines Jahrgangs), dass ihm unter dem Konsulat die Kosten für sein Studium von der Regierung erstattet wurden. Als Drittbester im Internat und Schüler von Guillaume Dupuytren, einer der Kapazitäten der französischen Medizin und Chirurgie, entging er dem 1806 reformierten Militärdienst, weil er »an Lungenschwindsucht« erkrankt war. Dupuytren, der seine Verdienste sehr schätzte und rühmte, sorgte dafür, dass er im Hôtel-Dieu von Rouen als »Prosektor der Anatomie« unter der Leitung des Chefchirurgen Laumonier angestellt wurde. Diesem verdankte sich die Begegnung mit Caroline Fleuriot, die seine Ehefrau werden sollte, nachdem er 1810 seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte.9

Nach und nach wurde Achille-Cléophas zu einem angesehenen Chirurgen, bekräftigt durch den Titel eines Professors der Medizin. Zwar gab es in Rouen keine medizinische Fakultät, aber eine vorbereitende medizinische Schule im Hospital selbst. Seine Autonomie erlangte Dr. Flaubert schließlich nach dem Tod Laumoniers im Jahr 1818. Seine wachsende Reputation hatte nicht zuletzt mit dem Thema seiner Doktorarbeit zu tun: »Die Behandlung von Kranken vor und nach chirurgischen Eingriffen«. Die Menschen interessierten ihn ebenso wie ihre Krankheiten. Viele Züge des Dr. Larivière in Madame Bovary sind ihm entlehnt: »Er gehörte zu der großen, aus Bichats Schürze geschlüpften Chirurgenschule, zu jener heutzutage verschwundenen Generation philosophischer Praktiker, die ihrer Kunst mit fanatischer Liebe anhingen, sie voller Begeisterung und Scharfsinn ausübten!«10 Hingebungsvoll, uneigennützig und voller Mitgefühl für die armen Teufel, die keinen Sou in der Tasche hatten (anfangs hielt er sogar kostenlos externe Sprechstunden ab), war er ebenso ein bemerkenswerter Praktiker, dessen Ansehen sich weit über Rouen hinaus verbreitete. Gustave konnte dies auf seiner Reise nach Ägypten feststellen, als der Konsul von Suez ihm erzählte, er habe »schon viel gehört« über seinen Vater.11 Von 1826 an stellt ihn ein Pariser Jahrbuch als »einen der besten Mediziner Frankreichs« vor. Wie die Schüler von Achille-Cléophas, so bewunderte und verehrte auch der junge Gustave den bedeutenden Mann. Er erbte von ihm einen nonkonformistischen, Voltaire’schen Geist in der Zeit der »Allianz von Thron und Altar«. Ein polizeiliches Führungszeugnis, das auf Veranlassung der Regierung ausgestellt wurde, als Dr. Flaubert im Jahr 1824 für die Académie royale de médecine kandidierte, und das im Januar 1910 von der Zeitschrift L’Intermediaire des chercheurs et des curieux veröffentlicht wurde, vermerkt seine »liberalen Auffassungen«, erkennt jedoch gleichzeitig an, dass »seine ausgezeichneten moralischen Qualitäten ihm die Achtung und Wertschätzung des Publikums eingebracht« hätten.

Die Uneigennützigkeit des großen Mannes hatte ihre Grenzen: Das von Achille-Cléophas angehäufte Vermögen war nicht eben gering. Das Zensuswahlrecht ermöglichte die Stimmabgabe lediglich einer Minderheit der Franzosen (ungefähr 100.000 unter der Restauration, wenig mehr als doppelt so vielen unter der Julimonarchie). Dr. Flaubert zahlte im Jahr 1820 Steuern in Höhe von 1349 Francs, als der Zensus bei 300 Francs lag, was ihn zu einem der 3700 Wahlberechtigten des Departements Seine-Inférieure machte, eines Departements von annähernd 700.000 Einwohnern. Er gehörte sogar zu den wählbaren Bürgern, für die der Zensus 1000 Francs forderte und deren Gesamtzahl im Frankreich der Restauration bei nicht mehr als 17.300 Personen lag. 1846, in seinem Todesjahr, erreichte sein Wahlzensus 2145 Francs — das Zehnfache der von der Julimonarchie geforderten Höhe. Diese Zahlen weisen den Flauberts aufgrund ihres Vermögens eine Position in der Oberschicht von Rouen zu. Achille-Cléophas hinterließ also ein Erbe von ungefähr 800.000 Francs, das vor allem, abgesehen von dem Landsitz in Croisset, aus Ländereien im Departement Aube (Nogent-sur-Seine) und im Departement Calvados (Pont-L’Évêque) bestand.12 Das war für Gustave eine komfortable Lebensversicherung, als er sein Studium aufgab.

Der Wohlstand seiner Eltern hinderte sie nicht an einem gewissen Nonkonformismus. In einem Brief an seine Geliebte Louise Colet von 1846 schildert Flaubert einige Monate nach dem Tod seines Vaters eine Szene, die wenn auch anekdotisch, so doch vom liberalen Geist seines Vaters und ebenso seiner Mutter zeugt. Als sie in Le Havre waren, erfuhr Achille-Cléophas Flaubert, »dass eine Frau, die er in seiner Jugend mit siebzehn gekannt hat, dort mit ihrem Sohn lebte […]. Es kam ihm in den Sinn, sie wiedersehen zu wollen. Diese Frau, in ihrer Heimat von berühmter Schönheit, war ehemals seine Mätresse gewesen. Er machte es nicht so, wie viele Bourgeois es gemacht hätten, er machte keinen Hehl daraus. Dafür war er zu überragend. Er ging sie also besuchen. Meine Mutter und wir drei [Kinder] blieben auf der Straße stehen und warteten auf ihn, der Besuch dauerte nahezu eine Stunde. Meinst Du, meine Mutter wäre eifersüchtig geworden oder hätte sich auch nur im geringsten darüber geärgert? Nein, und doch liebte sie ihn, sie hat ihn geliebt, wie je eine Frau nur einen Mann hat lieben können, und zwar nicht nur, als sie jung waren, sondern bis zum letzten Tag, nach fünfunddreißig Ehejahren.«13

Anne-Justine-Caroline Fleuriot war die Tochter von Jean-Baptiste Fleuriot, einem Sanitätsbeamten (wie Charles Bovary), und von Camille Cambremer de Croixmare, die aus einer Reeder-Familie stammte. Sie verwaiste sehr früh; ihre Mutter starb im Kindbett, der Vater fand im Januar 1803 den Tod. Sie wurde von Dr. Laumonier und seiner Ehefrau, ihrer Patin, aufgenommen und lebte im Hôtel-Dieu, bis der inzwischen siebenundzwanzigjährige Dr. Flaubert — als sie achtzehn Jahre alt war und das Pensionat verlassen hatte — um ihre Hand anhielt. 1812 verehelicht, lebten die jungen Leute zunächst in der Rue Petit-Salut, wo, wie Madame Flaubert ihrer Enkelin erzählte, sie die »besten Jahre ihres Lebens« verbracht habe. Nach dem Tod Laumoniers übernahm Achille-Cléophas dessen Stelle als Chefchirurg, was es ihnen ermöglichte, im Hôtel-Dieu zu wohnen, in dem Flügel, den man den »Pavillon« nannte — dem heutigen Musée Flaubert et d’Histoire de la Médecine. Das Wartezimmer des Dr. Flaubert nahm das Erdgeschoss ein; es grenzte an die Küche, in der Julie, die treue Haushälterin, hantierte. Im ersten Stock befand sich das Zimmer der Eltern und vor allem ein Billardzimmer, das mythische »Billard«, das Gustave und seinen Freunden als Theatersaal diente. Die zweite Etage war den Zimmern der Kinder vorbehalten. Die Flauberts hatten sechs, doch in einer Zeit hoher Kindersterblichkeit verloren sie nach der Geburt des Ältesten, Achille, im Jahr 1813 drei weitere im Kleinkindalter. Gustave kam 1821 zur Welt, gefolgt von seiner Schwester Caroline im Jahr 1824.

Der Altersunterschied zwischen Achille und Gustave sowie der Aufbruch des Älteren nach Paris, wo er sein Medizinstudium absolvierte, verstärkten noch die Distanz zwischen den beiden Brüdern, die ohnehin sehr unterschiedliche Charaktere waren. Seiner Schwester Caroline hingegen war Gustave zutiefst verbunden. Vom Alter von zehn Jahren an spielte er mit ihr Stücke im Billardzimmer. Als er später durch seine Reisen von ihr getrennt war, verwendete er in seinen Briefen vermehrt Kosenamen wie »meine liebe Maus«, »hübsche Maus«, »mein Schätzchen«, »meine gute Caroline«; sie revanchiert sich damit, dass sie ihr Leben lang seine »goldene Maus« sein werde und »unaufhörlich« an ihn denke. Gustave wurde ihr Pygmalion, lieh ihr seine Bücher, las ihr lange Passagen vor, die sie bezauberten, sie zum Lachen brachten, ihr seinen Geschmack und seine Spottlust einprägten. Als Caroline das Haus verließ, um im April 1845 Émile Hamard zu heiraten, empfand Gustave tiefen Kummer.

Wie in den bürgerlichen Familien üblich, erhielt er den frühesten Unterricht von seiner Mutter. Sie war von freiem Geist, zärtlich, diskret, ein wenig stur, mit Mut begabt, und Frömmigkeit hatte sie bei den Laumoniers kaum gelernt; nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Tochter wurde sie Atheistin. »Eine tapfere Frau mit aufrechtem Verstand und großzügig«, wird Gustave sagen. Aber nicht sie war es, die ihm die frühe Leidenschaft für die Literatur eingab, so wenig wie der Vater. Die erste Person, die ihn in die Wunderwelt der Märchen einführte, war Julie, die Haushälterin. Weil sie während eines Jahres eine Krankheit ans Bett fesselte, glich sie ihre Untätigkeit mit Lektüren aus, die es ihr erlaubten, den Kopf des verehrten kleinen Gustave mit Geschichten und Legenden zu füllen. Der andere Anstifter war Vater Mignot, der Großvater seines Freundes Ernest, der dem Hôtel-Dieu gegenüber wohnte. Mignot las die Texte laut vor und entfachte so unter anderem Gustaves Liebe zu Don Quijote, einem der festen Bezugspunkte des späteren Schriftstellers.

Weder Vater noch Mutter hat Gustave eine religiöse Erziehung angedeihen lassen — und dies zur Zeit der wiederhergestellten sehr christlichen Monarchie. Er war getauft worden, dem entging man nicht, das war ein Ritus, aber die Religion stand niemals im Zentrum seines Lebens. Die Familie Flaubert war damit keine Ausnahme in Rouen, einer Stadt, in der die Bourgeoisie häufig sich dem Antiklerikalismus zuwandte, vor allem während der Restauration. Im Übrigen war die Normandie seit dem 18. Jahrhundert der »Entchristianisierung« ausgeliefert, wie die niedrigen Geburtenzahlen, die geringe Beachtung der Fastenzeit sowie die Verweiblichung des Kirchenbesuchs belegen. Ein Terrain, aus dem der liebe Gott sich verzog.14

Mehr als die Kirche war das Krankenhaus das Universum seiner Kindheit. Der Schriftsteller, zu dem er wurde, hat häufig die makabre Atmosphäre heraufbeschworen. »Der Obduktionssaal des Hôtel-Dieu«, so erzählt er Louise Colet, »lag zu unserem Garten hinaus. Wie oft sind doch meine Schwester und ich auf das Spalier geklettert und haben, in den Weinranken hängend, neugierig die aufgebahrten Leichen betrachtet! Die Sonne fiel darauf; dieselben Fliegen, die uns und die Blumen umschwirrten, ließen sich dort nieder, kehrten zurück, brummten! […] Ich sehe noch vor mir, wie mein Vater beim Sezieren den Kopf hob und sagte, wir sollen uns trollen.«15

Das Leben im Hôtel-Dieu ist die ihm vertraute Landschaft. Eine Welt von Ärzten, Krankenpflegern, Schwestern mit Hauben und vor allem von Kranken — beim Spaziergang oder auf einer Bahre ausgestreckt, vom Tod belauert. Von seinem Zimmer aus sieht er sie und beobachtet ihre fahlen Gesichter, die an den Fenstern des Gemeinschaftsraums kleben. Louise Colet gegenüber, die sich über seinen Pessimismus wundert, wird er folgende schaurige Erklärung liefern: »Warum? Weil ich eben die Zukunft voraussehe. Weil mir unablässig das Gegenteil vor Augen tritt. Nie habe ich ein Kind gesehen, ohne an den zukünftigen Greis, nie eine Wiege, ohne ans Grab zu denken. Beim Anblick einer nackten Frau stelle ich mir ihr Skelett vor.«16

Man hat, wie auch Flaubert selbst, vielleicht übertrieben, wie sehr diese morbide Umgebung seine Weltsicht, seine Faszination für Trauerrituale, seine Verzweiflung geprägt hat. Jemand mit weniger Zartgefühl wäre vielleicht nicht so gezeichnet worden. Er jedoch, von seinen ersten Lebensjahren an unmittelbar mit Leid und Elend konfrontiert, verinnerlichte sehr früh die Endlichkeit des Lebens. Kaum geboren, stand er mit dem Tod auf vertrautem Fuß.

Das Collège

Im Herbst 1831 kommt Gustave in die Quinta [huitième] des Collège royal von Rouen, zunächst als Externer, dann, ab März 1833, als Internatsschüler. Die Julirevolution von 1830 hatte der Herrschaft Karls X. ein Ende gemacht und Louis-Philippe d’Orléans auf den Thron in den Tuilerien gesetzt. Das älteste Gebäude des Collège royal stammt aus dem 16. Jahrhundert; Corneille war dort zur Schule gegangen. Unter Napoleon wurde es Kaiserliches Lyzeum; die Restauration taufte es erneut in Königliches Collège um, und so blieb es bis zum Jahr 1873, als die Republik es zum Lycée Corneille machen sollte. Die Einrichtung hatte 500 bis 600 Schüler. Gustave wird dort bis zur letzten Klasse, der terminale de philosophie, bleiben.

Ein Lycée oder ein Collège royal zu besuchen war ein Privileg, in dessen Genuss nur zwei von hundert Kindern kamen. Der Schulbesuch war teuer: Das Schulgeld für das Internat betrug etwa 700 Francs, während das Jahresgehalt eines Grundschullehrers zur gleichen Zeit nicht über 500 Francs lag.17 Die Internatsordnung ist streng. Die Räumlichkeiten sind schlecht beheizt, die Hygiene lässt zu wünschen übrig, die Disziplin ist hart, der Komfort rudimentär: Man schreibt die Diktate »auf den Knien, den Körper in zwei Hälften gefaltet, indem man sein Heft und sein Tintenglas in der einen Hand hält, die Schreibfeder in der anderen«.18 Schülerrevolten sind keine Seltenheit, Schauplatz einer solchen war das Collège royal wenige Monate vor Flauberts Ankunft geworden. Die Zahl der Unterrichtsstunden ist viel geringer als die Stunden, die man — unter den Blicken eines Aufsehers — aufs Lernen und die schriftlichen Aufgaben verwendet. Königsdisziplin bleibt das Latein, in dem man sich mittels Übersetzung, Rede und Verslehre übt.

In Les Mémoires d’un fou, 1838 verfasst, liefert Flaubert finstere Erinnerungen an sein Collège: »Ich kam mit zehn Jahren ins Collège, und ich fasste dort sehr früh eine tiefe Abneigung gegen die Menschen.« Insbesondere gegen die Jugend: eine Welt der Vorurteile, des Egoismus, der Tyrannei der Starken. »Ich wurde in allen meinen Vorlieben gekränkt: in der Klasse wegen meiner Ideen; in den Pausen wegen meiner Neigungen zu menschenscheuer Einzelgängerei.« Er beschreibt sich als gefangen in seiner Einsamkeit, von den Lehrern »schikaniert« und von den Klassenkameraden »gehänselt«. Gustave verabscheut das geordnete Leben, das am frühen Morgen mit einem Trommelwirbel einsetzt und die Schulstunden im Takt der Glocke diktiert: »Diese Regelmäßigkeit mag zwar den meisten angemessen sein, aber für das arme Kind, das sich von Poesie nährt, von Träumen und von Schimären, das an die Liebe und an alle Narrheiten denkt, heißt das, es ständig aus dieser erhabenen Träumerei aufwecken, ihm keinen Moment Ruhe lassen, es ersticken, indem man es in unsere Atmosphäre des Materialismus und des gesunden Menschenverstandes zurückführt, vor der es Entsetzen und Abscheu verspürt.«19

Diese Bemerkung ist übertrieben, denn indem er sich von seinen Mitschülern zurückzieht, findet er Zeit zum Lesen und Schreiben. Die schulischen Übungen sind ihm nicht durchweg unangenehm. Er lernt im Collège zumindest zwei Lehrer kennen, die ihn anzuspornen wissen und positiven Einfluss auf ihn haben. Adolphe Chéruel — ein Absolvent der École normale supérieure, Agrégé in Geschichte, dabei Schüler Michelets und zukünftiger Professor an der Sorbonne — weckte in ihm von der Untersekunda [quatrième] an das Interesse an Geschichte, ließ ihn eine Vielzahl an Werken lesen, antike und moderne, und stellte ihm Themen, die er schriftlich frei behandeln sollte. Der Schüler, zu Späßen aufgelegt, bezeichnet in einem Brief an seinen Freund Chevalier den Lehrer als »Dumpfbacke ersten Grades«, aber auch als »Historiker ersten Ranges«. Chéruel bereitete damals seine Histoire de Rouen sous la domination anglaise au XVe siècle vor, die 1840 erscheinen sollte.

Der andere für ihn bedeutsame Pädagoge war Honoré Gourgaud-Dugazon, sein Literaturlehrer ab der Obertertia [cinquième]. Auch er empfiehlt Gustave Lektüren — vermutlich durch ihn entdeckt er Byron — und regt ihn zum Schreiben von Erzählungen an; er beaufsichtigt und ermutigt Gustave, in dem er einen besonders begabten Schüler entdeckt. In einem Brief vom 22. Januar 1842 an seinen früheren Lehrer wird Gustave seine Ungeduld, ihn wiederzusehen, zum Ausdruck bringen: »Die Stunden vergehen rasch, wenn wir zusammen sind; ich habe Ihnen so viel zu erzählen, und Sie hören mir so gut zu!«20 Hier wendet er sich an einen Freund, einen Vertrauten, dem er seine Unsicherheiten anvertrauen und seine Romanversuche vorlegen kann.

In Rhetorik schätzt er »Vater Magnier« nicht so sehr — wegen dessen »komischen Zornesausbrüchen«, so François Bouquet, gegen die Anfälle romantischen Fiebers, die er bei den eifrigsten seiner Zöglinge wahrnimmt. »Man hatte auf der Bühne von Rouen gerade die Dramen von Dumas und Hugo gegeben, und das Auftreten der [großen Schauspielerin] Marie Dorval hatte diesen Vorstellungen besonderen Glanz verliehen. […] Während Vater Magnier von der Höhe seiner Kanzel aus gegen Richard Darlington oder Marie Tudor wetterte, trugen die Schwärmer ihren neuen Glauben zur Schau, indem sie ihre Schlipse wie Antony banden.«21

Die schulischen Leistungen Flauberts im Collège sind weder schlecht noch außergewöhnlich. Seine halbjährlichen Zeugnisse weisen ihn als einen Zögling aus, der sich zwar etwas lässig benimmt, aber sehr anständig ist, der gewissenhaft seinen religiösen Pflichten nachgeht und dessen Fortschritte regelmäßig als »im ganzen zufriedenstellend« beurteilt werden.22 Wenige Preise zeichnen ihn aus, außer denen in Geschichte und Naturgeschichte. Der Unterricht interessiert ihn weniger als seine eigenen Arbeiten im Bereich historischer Erzählungen oder Literatur, mit denen er sehr früh beginnt — noch bevor er Grammatik und Orthografie beherrscht. Von dieser Leidenschaft zu schreiben, schon in ganz jungen Jahren Theaterstücke zu verfassen, finden wir Spuren in seinem Briefwechsel. Er ist neun Jahre alt, als er an seinen Freund Ernest Chevalier schreibt: »Ich werde Dir Hefte zusenden, die zu schreiben ich begonnen habe, und ich werde Dich bitten [prirait, sic], sie mir zurückzusenden; wenn Du etwas hineinschreiben magst, würdest Du mir ein großes Vergnügen bereiten.«23

Ernest Chevalier, in der Nähe von Les Andelys geboren, ein Jahr älter, war der erste enge Freund Gustave Flauberts. Die beiden Kinder lernten sich kennen, noch bevor Gustave ins Collège eintrat. Die Mignots, Ernests Großeltern mütterlicherseits, wohnten gegenüber dem Hôtel-Dieu, und diese räumliche Nähe bot den beiden Jungen die Gelegenheit, Freundschaft zu knüpfen. »Ja«, schreibt Gustave 1830 an Ernest, »Freund von Geburt an bis zum Tod.«24 Schon mit neun Jahren begeistert er sich für die Freundschaft; er äußert sie ohne Umschweife und ohne Orthografie: »[…] denn uns vereint eine gewissermaßen brüderliche Liebe. Ja ich, der ich Gefühle habe, ja ich würde tausend Meilen zurücklegen, um zu dem besten meiner Freunde zu kommen, denn nichts ist so süß wie die Freundschaft oh süße Freundschaft […] wie könnten wir ohne dieses Band leben?«25 Die beiden Jungen verbringen ihre Donnerstage und Sonntage zusammen. Ihm, Ernest, vertraut Gustave seine Schreibpläne und seine Stimmungen an, ihm gegenüber bringt er seine politischen Überzeugungen zum Ausdruck, mit ihm spricht er über literarische Ereignisse und Theaterpremieren. Der Theaterbesuch ist die wichtigste Unterhaltung für die Einwohner Rouens, darin sind sie sehr eifrig; es gab mehrere Theatersäle, deren vornehmster, der gehobenen Gesellschaft vorbehaltener das Théâtre des Arts war, das Flaubert Emma Bovary wird besuchen lassen. Der junge Gustave hat sogar wiederholt ein Pariser Theater an der Porte Saint-Martin besucht, wenn seine Familie auf der Durchreise nach Nogent-sur-Seine — wo der Schwager von Achille-Cléophas, François Parain (»der Onkel Parain«), wohnte — in Paris Station machte. Gegenüber Louise Colet wird Gustave bekennen, dass er in seiner Jugend »eine leidenschaftliche Liebe zu den Brettern«26 entwickelte.

Schon frühzeitig nimmt Gustave sogar politische Ansichten für sich in Anspruch. Mit neun Jahren feiert er stürmisch die Polen, die ihre Unabhängigkeit von den Russen verdient hätten.27 Mit zwölf Jahren äußert er sich entschlossen als Republikaner. Als Louis-Philippe im September 1833 mit seiner Familie die Stadt besuchen kommt, »in der Corneille das Licht der Welt erblickte«, regt er sich über all die Kosten des Besuches auf, spottet über die Schaulust der Rouener Bevölkerung, die herbeieilt und Stunden mit Warten verbringt, »für wen? für einen König! Ah!!! wie dumm die Welt ist! Ich habe nichts gesehen, weder die Parade, noch die Ankunft des Königs, noch die Prinzessinnen oder die Prinzen.«28 Im August 1835, nach dem Attentat von Fieschi auf Louis-Philippe, weckt ein Gesetzesvorhaben, das die Freiheit der Presse wie des Theaters einschränken soll und das dann im September auch tatsächlich beschlossen wird, Gustaves Empörung: »Ja, dieses Gesetz wird durchkommen, denn die Volksvertreter sind nichts anderes als ein schmutziger Haufen von Bestochenen. Ihre Ansichten werden von ihrem Vorteil bestimmt, ihre Neigung gilt der Niedrigkeit, ihre Ehre ist dummer Hochmut, ihre Seele ein Dreckhaufen; aber eines Tages, und dieser Tag wird bald kommen, wird das Volk die dritte Revolution herbeiführen; wehe den Häuptern der Könige, wehe den Strömen von Blut.«29 Ebenfalls im August 1835 kommentiert er den Prozess gegen die »Angeklagten vom April« (1834) und macht aus Caussidière und Lagrange, die den Aufruhr beim Kloster Saint-Merri und in der Rue Transnonain angezettelt hatten (eine Episode, die von Daumier verewigt wurde), Helden des Jahrhunderts — Männer mit »männlichen und finsteren Zügen« oder gar »hochfliegenden Gedanken«.30

Später werden sich die Wege der beiden Freunde, die so viel miteinander gespielt, gelacht und Unsinn gemacht haben, trennen. Ernest wird Staatsanwalt, heiratet, verbürgerlicht. Der Zauber einer Kindheitsfreundschaft, die ewig halten sollte, wird verfliegen. »Dieser brave Ernest!«, schreibt Flaubert am 15. Dezember 1850 an seine Mutter. »Jetzt ist er also verheiratet, etabliert und zu allem Überfluss noch Beamter! Was für ein Bourgeois und Monsieur! Wie er mehr denn je die Ordnung verteidigen wird, die Familie und das Eigentum! Im Übrigen ist er den normalen Weg gegangen.« Weit entfernt ist er, der Jüngling, mit dem Gustave seine Leidenschaften, seine Freundschaftsbezeugungen, seine Begeisterung für Victor Hugo und seine unanständigen Pennälerwitze teilte. Ernest hat den »Ernst des Komischen« gegen die »Komik des Ernsthaften« eingetauscht: »Es ist grausam, wenn ich daran denke! Ich bin überzeugt, dass er jetzt gegen die sozialistischen Lehren wettert, er spricht vom Gebäude des Staates, vom Fundament, vom Steuerruder, von der Hydra der Anarchie. — Als Staatsanwalt ist er reaktionär; als Ehemann wird er zum Hahnrei werden, und wenn er so sein Leben zwischen seinem Weibchen, seinen Kindern und den Schändlichkeiten seines Berufs verbringt, ergibt das einen Burschen, der in sich alle Bedingungen des Menschseins erfüllt hat.«31

Der Zweite, mit dem sich der junge Flaubert anfreundete, war der fünf Jahre ältere Alfred Le Poittevin, dem er leidenschaftlich bis zu dessen verfrühtem Tod verbunden blieb. Als sie um 1837 tatsächlich Freundschaft schlossen, war Alfred gerade nach Paris aufgebrochen, um Jura zu studieren. Er war der Sohn Paul Le Poittevins, eines mit Baumwolle reich gewordenen Manufakturbesitzers, und Victoire Thurins, einer Freundin von Flauberts Mutter Caroline Fleuriot seit Kindheitstagen. Alfred war der Erstgeborene von drei Kindern, gefolgt von Laure, die im selben Jahr wie Gustave zur Welt kam und später Gustave de Maupassant heiraten sollte, den Vater des zukünftigen Schriftstellers. Die Familien Le Poittevin und Flaubert waren sehr eng miteinander verbunden, und Alfred nahm mit Gustave und Ernest Chevalier am Theater im Billardzimmer teil, wo sie seine Stücke neben denen Gustaves aufführten.

Denn Alfred, in Literatur verliebt, schrieb ebenfalls — vornehmlich Gedichte; er las, völlig hingerissen, Goethe und Shakespeare, und Gustave lernte viel an seiner Seite. Romantisch, höchst sensibel, eine gequälte Seele — er hat Flaubert einen Teil seines Pessimimus, seiner »Verzweiflung«, um mit Musset zu sprechen, eingepflanzt. Aus Herzschmerz hatte er sich auf die wilde Suche nach Vergnügen und den Besuch von Bordellen gestürzt, in die er seinen jungen Freund einführt. Ausgedehnte Unterhaltungen, Austausch von Ideen, Vertraulichkeiten, gemeinsame Spaziergänge, Bootsfahrten auf der Seine, gegenseitige Schwüre … Man verbringt die Ferien zusammen im Landhaus der Flauberts in Déville-lès-Rouen oder in dem der Thurins oder auch in Les Andelys bei den Chevaliers. Flaubert legt seinem Freund auf dessen Verlangen hin seine Manuskripte vor. Sobald er selbst Student in Paris ist, wird Alfred ihm die Adressen der Freudenhäuser mit einer Vielzahl von würzigen Kommentaren empfehlen.32 Über seine Heirat ist Flaubert sehr enttäuscht und über seinen Tod im April 1848 tief erschüttert. Er wird zwei Nächte bei ihm Totenwache halten, bevor er sich von dem Freund im Sarg mit einem Abschiedskuss verabschiedet. Die Erinnerung an diesen so teuren Freund wird ihn nach seinen eigenen Worten überallhin begleiten.33 Einer seiner Korrespondentinnen, Mademoiselle Leroyer de Chantepie, wird er anvertrauen, Alfred Le Poittevin sei der Mensch, den er »auf der Welt am meisten geliebt« habe: »Ich habe nie jemanden mit so transzendentalem Geist gekannt (und ich kenne viele Leute) wie diesen Freund, von dem ich spreche. Wir haben manchmal sechs Stunden hintereinander damit verbracht, über Metaphysik zu reden. Unsere Gedanken flogen manchmal hoch, das versichere ich Ihnen.«34 Gegenüber Laure de Maupassant wird er noch 1862 davon sprechen, welch »großen Platz« ihr Bruder in seiner Jugend einnahm: »Diese Erinnerung verlässt mich nicht. Es vergeht kein Tag, und ich wage zu sagen, nahezu keine Stunde, in der ich nicht an ihn denke.« Er gesteht ihr das »Entzücken«, das Alfred bei ihm weckte, und bekennt sogar: »Ich litt, als er sich verheiratete, unter tiefer Eifersucht; das war ein Bruch, eine Trennung! […] Ich erinnere mich zugleich mit Wonne und Melancholie unserer endlosen Gespräche, vermischt mit Späßen und Metaphysik, unserer Lektüren, unserer Träume und unserer so hehren Ideale! Wenn ich etwas wert bin, dann ohne Zweifel deswegen. Ich habe vor dieser Vergangenheit große Achtung bewahrt; wir waren sehr gut miteinander; ich wollte das nicht missen.«35

Nach dem Tod Alfred Le Poittevins wurde Louis Bouilhet Flauberts Intimfreund. Gustave hatte ihn auf dem Collège kennengelernt, aber erst später, nach Alfred Le Poittevins Heirat im Jahr 1846, werden die beiden Freundschaft schließen. Als angehender Arzt war Louis Bouilhet zunächst Schüler Dr. Flauberts, bevor er den Beruf aufgab. Gustave und er unterstützten sich in ihrer literarischen Arbeit; gemeinsam lasen sie einander vor, redigierten Szenarien. Bouilhet erwies sich als der anspruchsvolle Ratgeber und Korrektor Flauberts. Am Tag nach seinem Tod im Jahr 1869 gestand Gustave gegenüber George Sand: »Mit meinem armen Bouilhet habe ich meinen Geburtshelfer verloren, den, der meine Gedanken klarer gesehen hat als ich selbst. Sein Tod hat in mir eine Leere hinterlassen, deren ich mir täglich stärker bewusst werde.«36

Der Überdruss und die Posse

Schon früh ist Flaubert von Spottlust geprägt, die ihn dazu inspiriert, ständig Theater zu spielen. So erschuf er mit seinen Freunden Chevalier und Le Poittevin sowie mit seiner Schwester Caroline eine fiktive Figur, den Garçon. Das war eine Art Hampelmann, der für sie zugleich den Louis-Philippe’schen Bourgeois und den Schelm darstellte, der diesen jederzeit verhöhnen konnte. Flaubert lässt ihn in seinen Briefen aufleben, aufheulen und losprusten, und jeder erfindet neue Streiche des Garçon für das Billardzimmer. Untereinander sprechen die Freunde von ihm wie von einer realen Person. Die Goncourts charakterisierten ihn so:

Das war eine schwerfällige, hartnäckige, geduldige, anhaltende, heroische, endlose Belustigung, wie eine Kleinstadtposse oder die eines Deutschen.

Der Garçon hatte eigentümliche Gesten wie die eines Automaten, ein abgehacktes und durchdringendes Lachen, das überhaupt kein Lachen war, sondern eine gewaltige körperliche Anstrengung.

Nichts gibt die Idee dieses sonderbaren Geschöpfs, das sie geradezu beherrschte, sie betörte, besser wieder als die gesegnete Parodie, jedesmal wenn sie an einer großen Kirche in Rouen vorbeikamen. Einer sagte dann: »Das ist schön, diese gotische Architektur, das erhebt die Seele.« Sogleich stieß jener, der den Garçon mimte, mit dessen Lachen und Gesten hervor: »Ja, das ist schön … und die Bartholomäusnacht auch! Und das Edikt von Nantes und die Dragonnaden, die sind auch schön!«37

Und den Goncourts schien es, dass Homais aus Madame Bovary eine »auf die Notwendigkeiten des Romans reduzierte Figur des Garçon« sei. Auf seiner Reise durch Ägypten wird der Garçon in Konkurrenz zum Scheich treten, einer neuen Kreation Flauberts und seines Reisebegleiters Maxime Du Camp: »Der Scheich«, so erklärt Gustave seiner Mutter, »ist der alte Dummkopf, Privatier, angesehen, sehr gut situiert, alterslos, und er stellt uns zu unserer Reise Fragen wie diese: ›Und in den Städten, durch die Sie gereist sind, gibt es dort ein wenig gute Gesellschaft? Haben Sie irgendwelche Zirkel, in denen man die Journale liest? Spürt man die Bewegung der Eisenbahnen ein wenig? Gibt es irgendwelche großen Strecken? Und die sozialistischen Doktrinen sind, Gott sei Dank, hoffe ich, in diese Gegenden noch nicht eingedrungen?«38 In diesen Kinderspielen tritt eine Obsession hervor, der Hass auf die Dummheit, der im Zentrum des zukünftigen Werkes stehen wird.

Einer der Charakterzüge Flauberts ist diese zu Späßen aufgelegte Geisteshaltung, die schon sehr bald den Überdruss und seinen verfinsterten Blick auf die Welt ausbalancieren wird. Frühzeitig verliert er alle Illusionen über die menschliche Natur, nicht aber seinen Stolz. Bereits als Neunjähriger notiert er die Sottisen der Erwachsenen. Mit zwölf Jahren vertraut er Ernest Chevalier an, dass er, hätte er nicht ein Schreibprojekt, vom Dasein völlig angewidert wäre und dass ihn sonst schon längst eine Kugel »von dieser närrischen Posse […], die man das Leben nennt«, befreit hätte.39 Freilich entsprechen diese jugendlichen und romantischen Äußerungen einer Pose, aber sie fließen immer wieder aus seiner Feder. Mit sechzehn Jahren: »Ich bin jetzt so weit, die Welt als ein Schauspiel zu betrachten und darüber zu lachen. Was geht mich die Welt an?«40 Hinter den laut proklamierten großen Idealen spürt er die Eitelkeit, Unaufrichtigkeit, Leere und Verderbtheit auf. In der Religion sieht er keinerlei Rettung: »[…] weil ich nicht glauben kann, dass unser Körper aus Dreck und Scheiße, dessen Instinkte niedriger sind als die des Ferkels und der Filzlaus, etwas Reines und Immaterielles enthält, wenn alles, was ihn umgibt, so unrein und gemein ist.«41 Die »metaphysische Zukunft« wie auch »die Zukunft des Lebens« hält er für Betrug. Also muss man über die Nichtigkeit und das Absurde lachen können! Zugleich ist der junge Flaubert ein netter Kamerad, der Späße und ungezügelte Witze liebt. »Aber«, so gesteht er Ernest Chevalier, »ich bin eher clownesk als fröhlich.«42 In der Philosophieklasse angelangt, fragt er sich, was er nach der Schule machen werde; er findet sich ironisch damit ab, so zu werden wie die anderen, »ein anständiger Mann, solide und all das andere, wenn Du willst, ich werde wie ein anderer sein, wie es sich gehört, wie alle, irgendein Advokat, Mediziner, Unterpräfekt, Notar, Anwalt, Richter, eine Dummheit so gut wie alle anderen, ein Mann von Welt oder ein Bürohengst, was noch viel dümmer ist […]. Also gut, ich habe gewählt, ich bin entschieden, ich werde Jura studieren, was statt zu allem zu nichts führen wird. Ich werde drei Jahre in Paris verbringen, um mir die Syphilis zu holen, und dann?« So beschreibt sich Gustave — »ohne Überzeugung oder Enthusiasmus oder Glauben«.43

Bis es so weit ist, muss er jedoch erst einmal durchs Bakkalaureat kommen. Aber: In diesem letzten Jahr des Collège sorgt er dafür, dass man ihn relegiert. Im vorangegangenen Sommer, als er sich mit seinen lateinischen Versen herumplagte, hatte er Ernest mitgeteilt: »Ach, in Gottes Namen, wann werde ich von diesen Idioten loskommen? Glücklich der Tag, an dem ich mich aus dem Collège verpissen kann.«44 Sein Wunsch geht schneller in Erfüllung als gedacht. Die Ersetzung des sehr angesehenen Philosophielehrers M. Mallet durch einen gewissen Bezont bringt in der Klasse das Pulverfass zur Explosion. Der Aushilfslehrer beschwert sich darüber, dass er von einigen Schülern, darunter Gustave Flaubert, ständig unterbrochen wird. Bei der dritten Verwarnung erlässt er eine allgemeine Strafe — tausend Verse für die ganze Klasse. »Meine Absicht«, schreibt Bezont am 11. Dezember 1839 an den Schulleiter, »war es eigentlich, den ersten Moment der Stille zu nutzen, ihnen diese Strafarbeit zu erlassen, aber da das Durcheinander anhielt, musste ich an der Bestrafung festhalten.« Als die Schulleitung die Maßregelung bestätigt und ihn mit der ganzen Klasse bestraft, ergreift Flaubert die Initiative zu einer generellen Verweigerung. Er erläutert dies dem Schulleiter gegenüber in einem Brief, der von zwölf seiner Mitschüler mitunterschrieben ist, darunter von Louis Bouilhet und seinem künftigen Schwager Émile Hamard: »Sehr geehrter Herr Schulleiter, man hat uns gesagt, wir seien Kinder, wir benähmen uns wie Kinder; wir werden nun, maßvoll und loyal, versuchen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. […]«45 Schließlich wird er, die Nummer eins im Philosophieaufsatz, gemeinsam mit zwei anderen bockigen Schülern des Collège verwiesen. Also setzt er sich zu Hause hin, um sich allein auf die Abschlussprüfung vorzubereiten. Die Philosophie beunruhigt ihn nicht, ebenso wenig die Physik, es ist eher die Mathematik, vor der er sich fürchtet, und das Griechische. Chevalier, der sein Bakkalaureat bereits im Vorjahr bestanden hat, gibt ihm seine Aufgaben und seine Mitschriften zu lesen. Gustave leidet unter der Einsamkeit, nimmt aber die Herausforderung an, rackert sich ab von früh bis spät, lernt Demosthenes und zwei Gesänge aus der Ilias auswendig. Der Träumer schlüpft in die Kutte eines Benediktiners. Geschafft: Mitte August 1840 wird er Bakkalaureus — sein Abschlusszeugnis teilt er mit nur 4000 französischen Jungen seines Alters (1 Prozent). Das Studium der Rechte oder der Medizin steht ihm offen, aber hat er dazu Lust?

II

»Oh! Schreiben!«

»Ihr wisst vielleicht nicht, was für eine Lust das ist: dichten! Schreiben! Oh! Schreiben, das heißt sich der Welt bemächtigen […]; das heißt fühlen, wie das eigene Denken entsteht, wächst, lebt, sich auf seinem Podest aufrichtet und für immer dort bleibt.«1

Diese Hymne auf das Schreiben verfasst Flaubert mit vierzehn Jahren, sie steht am Ende einer Erzählung, »Un parfum à sentir ou les Baladins«, die er als ein »seltsames, bizarres, unverständliches Buch« abqualifiziert. Seinen Weltekel, der sich sehr früh in seinen Briefen manifestiert, sein düsterer Blick auf die Gesellschaft, die Hoffnungslosigkeit, die seine geistige Landschaft grundiert, überwindet der junge Mann mit dem Jubel über das Schreiben: »Berauschen wir uns an der Tinte, da uns der göttliche Nektar fehlt.«2 Das Erstaunliche ist weniger diese Haltung, die letztlich unter empfindsamen jungen Männern recht häufig anzutreffen ist, als ihre Beständigkeit: Man begegnet ihr sein ganzes Leben lang. Die Antithese zwischen tiefem Abscheu gegenüber dem Leben und der Begeisterung für das Schreiben gewinnt schon sehr früh Kontur. Auf der einen Seite die Welt, die ihn verdrießt, die trübselige Wiederholung der Tage, das erbarmungswürdige Schauspiel der Idioten, die sich als ehrbare Leute ausgeben, geschmückt mit Rosetten und weißen Krawatten: Er wundert sich, dass über solcher Belanglosigkeit die Sonne noch aufgehen kann. Aber zum Glück existiert ein anderes Leben, in dem es möglich ist, sein Heil zu finden, die Suche nach dem »Schönen im Unendlichen« (Les Mémoires d’un fou).3 Man täusche sich nicht: Er schreibt nicht einfach, um »auszubrechen«, seinen Verdruss zu überlisten, vor der enttäuschenden Realität zu fliehen; er strebt nach dem Absoluten, das er mit einer Majuskel schreibt. Gegenüber Louise Colet wird er von seinem »ästhetischen Mystizismus«4 sprechen. In seinen Jugendwerken kann man dessen Entstehung verfolgen.

Flaubert ist ein frühreifer Schriftsteller — was keineswegs selten vorkommt — und ein erstaunlich produktiver — was weniger häufig ist. Als er wegen seines Anspruchs an seine Arbeit den ersten Roman, Madame Bovary, erst 1856 mit beinahe 35 Jahren publiziert, verfügt auf der Habenseite bereits über ein opulentes unveröffentlichtes Werk: Man kann den Umfang an dem dicken Band der »Bibliothèque de la Pléiade« ermessen, der den Jugendwerken (Œuvres de jeunesse) gewidmet ist. Er hat ein wenig verspätet lesen gelernt, aber schon mit neun Jahren schickt er Chevalier »Hefte, die ich zu schreiben begonnen habe«.5 Obwohl seine ersten Komödien, die für das Billardzimmer gedacht waren, verschwunden sind, offenbaren uns doch die erhalten gebliebenen Werke aus seiner Kindheit und Jugend einen Schriftstellerlehrling, dessen Talente sich in allen Genres erproben: der historischen Erzählung, der Novelle, der Rede, dem Theater, dem Roman … Schon mit neun Jahren wagt er sich an »liberale politische und verfassungsrechtliche Reden« — unter all den verloren gegangenen Aufsätzen. Amédée Mignot, der Onkel von Ernest Chevalier, Advokat in der Anwaltskammer von Rouen, hatte, als er auf die kleinen Werke des gerade zehnjährigen Gustave stieß, einige unter dem Titel »Drei Seiten aus dem Heft eines Schülers« kopieren lassen. So ist uns eine knappe »Eloge auf Corneille« überliefert, eine Schülerübung, in der es dem Jüngling aus Rouen gefiel, den Sohn seiner Heimatstadt mit Racine zu vergleichen: »So manche streiten, wessen Meriten mehr ins Gewicht fallen, Deine oder die Racines, und ich antworte mit Stolz: Wer hat wohl das größere Verdienst, derjenige, der einen Weg von Dornen befreit, oder derjenige, der anschließend Blumen sät? Also! Du bist es, der die Dornen beseitigt hat, das heißt, die Schwierigkeiten in der französischen Verskunst! Corneille, Dir gebührt der Preis. Ich grüße Dich!«6

Mit dreizehn Jahren, im Collège, ruft er eine Zeitung ins Leben, Les Soirées d’étude, die »jeden Sonntag« erscheinen soll und den Untertitel Journal littéraire trägt. Es gibt jedoch lediglich zwei Nummern davon. Zu dieser Zeit schreibt Gustave in ausuferndem Maße, ohne Zurückhaltung, ohne Streichungen, mit enormer Geschwindigkeit — ganz im Gegensatz zu dem künftigen Künstler, der endlos an seinem Werk feilt. Und er, der über den Ruhm wie über eine Hure herziehen wird, träumt vom Applaus: »der Autor! der Autor!« Aus diesem Grund schätzt er so sehr das Theater, angefangen mit Shakespeare, der ihn zum Erlernen des Englischen motiviert. 1830, im Jahr seiner ersten überlieferten Briefe, bricht die »Schlacht um Hernani« los: Victor Hugo ist sein »Held«. Ebenso sehr begeistert er sich für Alexandre Dumas, dessen Antony und La Tour de Nesle ihn mitreißen, für Alfred de Vigny und seinen Chatterton und für Goethe und seinen Faust. Gustaves Leidenschaft für die dramatische Kunst regt ihn zu seinem ersten Drama an, »Frédégonde«, das niemals aufgefunden wurde. Er schwelgt in den Werken Chateaubriands, aber auch, je älter er wird, in denen Montaignes und Rabelais’ — für ihn die lebendigen Quellen der Literatur und des französischen Geistes. Mit siebzehn Jahren behauptet er, »nur vor zwei Männern tiefe Hochachtung« zu haben: »Rabelais und Byron, die beiden einzigen, die in der Absicht geschrieben haben, der Menschheit zu schaden und ihr ins Gesicht zu lachen.«7 Seine Rabelais-Ausgabe »ist randvoll von philosophischen, philologischen, bacchantischen, lüsternen etc. Anmerkungen und Kommentaren«.8 Es ist sein Lieblingsbuch. Was Byron anbetrifft, so entdeckt er ihn mit fünfzehn Jahren, vor allem dank Alfred Le Poittevin. Der englische Dichter, der 1824 bei Missolonghi als Kämpfer auf Seiten der griechischen Unabhängigkeitsbewegung starb, von Goethe, Hugo, Vigny und Lamartine besungen, wurde zum Botschafter der romantischen Seele. Der junge Gustave und sein Freund Alfred fanden hier großartige Resonanz für ihren Hang zur Verzweiflung.

Ist dies nun auf den Geist der Zeit zurückzuführen? Oder Ausdruck eines eigentümlich melancholischen Charakters? Die frühen Werke Flauberts sind voller Pessimismus und Überdruss. Als Kind und als Jugendlicher reagiert er höchst empfindlich auf das Elend der menschlichen Natur, auf die Lügen des sozialen und politischen Lebens, auf die Scheinheiligkeit der Notabeln und die Nichtigkeit der Existenz. In einem Text, den er mit sechzehn Jahren schrieb und seinem Freund Alfred widmete, »Agonies«, reiht er die Bausteine des Skeptizismus aneinander: »Die Tugend ist die Maske, das Laster ist die Wahrheit; das Haus des Ehrenmannes ist die Maske, das Freudenhaus ist die Wahrheit; das Ehebett ist die Maske, der Ehebruch, der darin vollzogen wird, ist die Wahrheit; das Leben ist die Maske, der Tod ist die Wahrheit […].«9

Das weiße Blatt Papier und die Feder sind die einzigen Quellen einer möglichen Wiederverzauberung.

Unter den Auspizien von Klio

Ebenso früh entwickelt war sein Sinn für Geschichte. Unsauber geschieden von der Literatur, ist sie in Mode. Augustin Thierry, der Autor der Récits des temps mérovingiens [Erzählungen aus den merowingischen Zeiten], berichtet, wie sehr Chateaubriands Les Martyrs [Die Märtyrer oder der Triumph der christlichen Religion] an seiner Berufung zum Historiker beteiligt waren. Das nationale Empfinden war durch Revolution und Empire neu belebt worden. Michelet hatte sich in seine opulente Histoire de France gestürzt, deren Veröffentlichung 1833 beginnt. Im darauffolgenden Jahr ruft Guizot, Geschichtswissenschaftler und Minister für das Unterrichtswesen, ein Komitee für historische Arbeiten ins Leben, das eine Sammlung bislang unveröffentlichter Dokumente zur Geschichte Frankreichs herausgeben soll; 1835 gründet er die Gesellschaft für die Geschichte Frankreichs, die damit betraut war, die Archive zugänglich zu machen. Die Schriftsteller ihrerseits rufen die Muse Klio an, um Inspiration für ihre Romane und Dramen zu finden: etwa Vigny (Cinq-Mars), Hugo (Cromwell, Hernani, Marion Delorme, Notre-Dame de Paris), Alexandre Dumas (Henri III et sa cour, La Tour de Nesle), Musset (Lorenzaccio), um nur die Glanzlichter zu nennen. Die kleineren Zeitungen, Zeitschriften und literarischen Magazine bieten auf ihren Seiten Raum für historische Erzählungen, die in den dreißiger Jahren hoch im Kurs stehen, also in dem Moment, in dem der junge Flaubert seine ersten Erfahrungen sammelt.

Schon vor seinem Eintritt ins Collège sieht man ihn mit neuneinhalb Jahren eine Kurzbiografie Ludwigs XIII. verfassen, die »Maman zu ihrem Fest« gewidmet ist.10 Das ist kein gewöhnliches Geschenk. Diese wenigen Seiten waren gewiss aus der Biographie universelle von Michaud destilliert, aber auch wenn der kreative Anteil des Kindes sehr gering sein mag, so bezeugen sie doch Gustaves Vorliebe für die Geschichte: Seinem Text war sogar eine Chronologie beigefügt, die mit dem Jahr 1614 beginnt: »Maria de Medicis lässt das Palais du Luxembourg errichten und die Champs-Élysées bepflanzen.«

Gustave las alle Journale, die im Hôtel-Dieu eintrafen; ab der Obertertia [cinquième] erhielt er, wie gesagt, bei dem sehr geschätzten Adolphe Chéruel Geschichtsunterricht. Der war noch jung, als Gustave seine Bekanntschaft machte, aber bereits sehr aktiv, gründete die Revue de Rouen, trat in die Akademie der Stadt ein, wurde Mitglied der Société des antiquaires de Normandie und war im Begriff, die Stufen einer glänzenden Universitätskarriere in Paris zu erklimmen. Chéruel war nicht nur ein Gelehrter, sondern auch ein lebendiger Pädagoge, der ohne Notizen mit einer »klaren, sonoren und wohlklingenden Stimme« sprach und die Schüler fesselte.11

Unter seinem Einfluss wird Gustave die großen Chronisten des Mittelalters und der Renaissance lesen: Froissart, Commynes, Pierre de L’Estoile, Brantôme wie auch die gelehrten Werke von Villemain, Fauriel, Sismondi. Auf Verlangen seines Lehrers verfasst er als Schulaufgaben kurze Abhandlungen etwa über »L’Influence des Arabes d’Espagne sur la civilisation française du Moyen Âge« [»Der Einfluss der spanischen Araber auf die französische Kultur des Mittelalters«] oder über »La Lutte du Sacerdoce et de l’Empire« [»Der Kampf zwischen Priestertum und Kaisertum«]. Die Geschichte birgt für ihn vor allem einen unerschöpflichen Vorrat an narrativen Sujets, deren Wahrheitsgehalt nicht seine drängendste Sorge ist.

In seinen historischen Erzählungen interessiert sich Gustave, wie auch Hugo und Dumas, für Episoden und Persönlichkeiten der Vergangenheit — insbesondere des Mittelalters und der Renaissance —, deren Andenken noch immer das Blut in Wallung brachten und Grusel erregten: Man stirbt unter dem Dolch des Feindes oder Verräters nach einem Leben voller Grausamkeiten, sexueller Schandtaten und Niedertracht aus Machtgier. »La Dernière Scène de la mort de Marguerite de Bourgogne« [»Die letzte Szene des Todes der Marguerite de Bourgogne«] — die Lasterhafte wurde 1315 in Château-Gaillard erwürgt — fällt genau in dieses Genre: »Sechsundzwanzig Jahre! Und es war Marguerite de Bourgogne, die Marguerite der blutigen Orgien im Turm von Nesle; die Marguerite der schlaflosen Nächte und blutigen Träume; Marguerite, die Königin Frankreichs.« Unter den Händen ihres Peinigers, der sie mit ihren eigenen Haaren erwürgt, ist sie schließlich gar nichts mehr: »Man hörte ein dumpfes Röcheln, ein Körper fiel zu Boden, und die schöne Marguerite war ein Kadaver!«12

Ein anderer historischer Tod, der des Herzogs von Guise, machte auf den Kulturseiten der Zeitungen Furore, nachdem Paul Delaroche im Salon von 1834 sein Gemälde »Assassinat du duc de Guise« [»Die Ermordung des Herzogs von Guise«] präsentiert hatte, das sehr berühmt werden sollte. Flaubert, der gerade seine »Frédégonde« fertiggestellt hatte, befasste sich mit dem Sujet — vielleicht auf Betreiben seines Literaturlehrers Gourgaud. Außer aus der Biographie universelle von Michaud bezog er seine Informationen aus der Histoire de France von Louis-Pierre Anquetil, die für ihn oft eine Goldgrube war. Dieser Historiker hatte zum gleichen Thema schon Chateaubriand bei dessen Analyse raisonnée de l’histoire de France inspiriert. Flaubert verwendet auch die Histoire des ducs de Bourgogne, die Prosper de Barante 1826 vollendet hatte. Mit vierzehn Jahren weiß der Dichter schon recht gut den Verlauf einer Erzählung zu lenken, wie man an »Deux Mains sur une couronne« feststellen kann, einer Geschichte, die den Wahnsinn Karls VI. schildert: »In Paris war an jenem Tag alles in Aufregung. Die Stadt wirkte festlich, selbst die stolze alte Fassade des Louvre schien heiter gestimmt […]. Paris war ein Menschenmeer, ein schwärzlicher Ameisenhaufen von Männern, Frauen, Händlern und Soldaten.« Karl kommt auf seinem weißen Pferd in die Stadt, an der Seite seine Gattin: »Die Königin! Oh! Sobald man sie in den Straßen sah, gab es Freudenschreie, Fußgetrampel, Hurrarufe ohne Ende, Blumenregen; von Zeit zu Zeit drehte sie sich zu Karl um, und ihre schwarzen Augen schienen zu sagen: ›Ich bin glücklich‹, und ihr lächelnder Mund: ›Ich liebe Sie.‹«13 Eine Eröffnung, die an den Beginn von Dumas’ Erzählung »La Belle Isabeau« [»Die schöne Isabeau«] erinnert. Festivitäten, Umarmungen, Höflichkeiten — all dies ist bloßes Blendwerk, das ein blutiges Ende nehmen wird.

Eine Zeitlang inspirierte Gustave auch das goldene Zeitalter Spaniens. 1836, mit knapp fünfzehn Jahren, interessiert er sich in »Un secret de Philippe le Prudent« [»Ein Geheimnis Philipps des Weisen«] für Philipp II., König von Spanien und Navarra. Das Streitgespräch zwischen dem König und dem Großinquisitor Don Olivarès wird stilsicher erzählt: »Es ging darum, wer der geschicktere, der listenreichere sein würde, wer Gott mehr dienen, wer in seinem Amt der unnachgiebigste und leidenschaftlichste sein würde. Aber es gab immer einen, der sich vor dem anderen beugte, und das war die Krone, die sich vor der Kirche erniedrigte.«14 Man wird niemals wissen, was nun das »Geheimnis« Philipps war, denn die Erzählung blieb unvollendet, sie hört im ersten Kapitel nach siebzehn Blättern auf. Schade! Denn trotz einiger Klischees schreibt der Jugendliche bereits mit ungewöhnlicher Ausdrucksstärke.

Im selben Jahr 1836 arbeitet er an einer »Chronique normande du Xe siècle« [»Normannische Chronik des 10. Jahrhunderts«]: »Kennen Sie die Normandie, diese alte klassische Erde des Mittelalters, wo auf jedem Feld eine Schlacht stattgefunden und jeder Stein seinen Namen und jede Scherbe eine Erinnerung bewahrt hat?« Es geht um den Widerstand der Normannen gegen Ludwig IV., König von Frankreich, der, um ihr Herzogtum zu annektieren, den zwölfjährigen Erben Richard zu entführen und zu töten plant. Die Handlung spielt im Jahr 952 in Rouen. Der König zieht in die Stadt ein, begleitet von Jubel, Vivatrufen und Freudenschreien. Aber seine Absicht wird von Osmond, dem Vormund des Herzogs, sofort durchschaut. »Nein, nein, das Volk wird sich nicht auf diese Weise täuschen lassen, es wird zu den Waffen greifen.« Schon bald haben sich die Hurrarufe des Vorabends in Buhrufe und Drohungen verwandelt: »Es war gleichwohl dasselbe Volk, das anderntags mit Blumen und Liebesbezeugungen gekommen war! Jetzt trampelte es vor Ungeduld und Wut wie ein Mann im Delirium. Es verlangte mit lauten Rufen: ›Den König! Den König!‹ und seine tausend Arme schwenkten in der Luft Spieße, Äxte, Hellebarden, Dolche, Lanzen und geballte Fäuste.«15 Vor diesem Ansturm beginnt Ludwig IV. zu zittern. Er wartet auf Verstärkung, aber sein Vasall Bernard versagt ihm diese. An die Verwirklichung seines Plans war nicht mehr zu denken, die Normandie blieb den Normannen. Der König gab dem Volk den jungen Herzog zurück, und aufs Neue erschollen Vivatrufe.

Die sprachliche wie auch die gestalterische Qualität erlangt ein neues Niveau, als Flaubert mit sechzehneinhalb Jahren in vierzehn Tagen und nach zwei Monaten der Recherche — offensichtlich in den Mémoires von Philippe de Commynes und in der Histoire des ducs de Bourgogne — ein Drama in fünf Akten verfasst, Loys XI. [Ludwig XI.]. Eine Figur nach dem Geschmack der Romantiker; er ist hinterlistig, grausam, abergläubisch, machiavellistisch, doch er hat eine erhabene Vorstellung von seinem Königreich und seiner Autorität, der er seine Vasallen unterwerfen will, angefangen mit dem Herzog von Burgund: »Ich war«, so schreibt Flaubert in seinem Geleitwort, »von der Gestalt Ludwigs XI. höchst angetan, die, gleichsam mit zwei Gesichtern, ihren Platz zwischen den beiden Seiten der Geschichte hat: er spiegelte ihre Farben und zeigte ihre Horizonte. Eine Mischung aus Tragik und Groteske, Trivialität und Größe — diesen Kopf demjenigen Karls des Kühnen gegenüberzustellen, das war, wie Sie zugeben müssen, verführerisch für die Einbildungskraft eines Sechzehnjährigen, die die strengen Formen der Geschichte und des Dramas liebte.«16

Eine »Mischung aus Tragik und Groteske« — man merkt, dass Gustave das aufsehenerregende Manifest gelesen hat, mit dem Hugo 1827 seinen Cromwell einleitet: Er schreibt keine Tragödie, sondern ein »Drama«. Für Hugo hegt er damals leidenschaftliche Bewunderung. In seinem Briefwechsel spricht er von ihm als dem »große[n] Verfasser von Notre-Dame«: »Ist Victor Hugo nicht ebenso groß wie Racine, Calderón, Lope de Vega und viele andere, die schon seit langem bewundert werden?«17

Die letzten beiden Szenen, in denen man Ludwig XI