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Zur überstürzten und dramatischen Flucht im Januar 1945 mit der Eisenbahn ist erstmals 2011 eine zusammenfassende Darstellung und Dokumentation von Heinz Timmreck mit seinem Buch „Letzte Flüchtlingszüge aus Ostpreußen“ erschienen (ISBN 978-3-842349-66-7 – Books on Demand, Norderstedt). Mehr als 80 Augenzeugen berichten über ihre traumatischen Erlebnisse. Hierbei haben die damaligen Eisenbahner in den letzten Kriegstagen unter extrem schwierigen Verhältnissen trotz der nahen Front pflichtbewusst ihren Dienst geleistet und damit Tausenden von Flüchtlingen zur Flucht verholfen. Aufgrund der großen Resonanz zum vorgenannten Buch und wiederum auf Anregung des im April 2013 leider verstorbenen Schriftstellers und Gustloff-Experten Heinz Schön wurde von Heinz Timmreck ein Ergänzungsband mit dem Titel „Flucht mit der Bahn 1944/45“ erarbeitet. In diesem Buch berichten mehr als 50 Augenzeugen über ihre Flucht mit der Bahn aus Ostpreußen, Westpreußen und Pommern. Auch Erlebnisberichte zur Rückführung von Flüchtlingen unmittelbar nach Kriegsende in ihre Heimatorte und Informationen zur damaligen Dampfeisenbahn sind ergänzend angefügt worden.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2015
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„Und dann begann der große Auszug aus dem gelobten Land der Heimat,
nicht wie zu Abrahams Zeiten mit der Verheißung
‚in ein Land, das ich dir zeigen werde‘,
sondern ohne Ziel und ohne Führung hinaus in die Nacht.“
Marion Gräfin Dönhoff
(Ritt gen Westen, in: Die Zeit, 21. März 1946,
URL: http://www.zeit.de/1946/05/ritt-gen-westen,
Abfragedatum: 14.10.2014)
Der Autor Heinz Timmreck wurde am 6. Juli 1937 in Buchwalde im Kreis Osterode in Ostpreußen geboren. Im Alter von siebeneinhalb Jahren erlebte er die Zugkatastrophe bei Grünhagen im Kreis Preußisch Holland und später die Zeit bis zur Zwangsausweisung Ende Oktober 1945.
Am 16. November 1945 kam die Familie Timmreck in Rostock an – mit anschließender Unterbringung in Groß Freienholz bei Sanitz. Im Juni 1947 flüchtete sie erneut über die „grüne Grenze“ von der sowjetischen in die britische Besatzungszone und kam bis zum 17. November 1947 in das Flüchtlingsdurchgangslager Elverdissen im Kreis Herford. Es folgte endlich der Neuanfang in Elverdissen. Nach der Mittleren Reife und Sparkassenlehre war Heinz Timmreck Sparkassenbetriebswirt, zuletzt als Leiter der Rechtsabteilung der Sparkasse Herford in Ostwestfalen-Lippe.
Seit Juli 2000 ist Heinz Timmreck im Ruhestand, er arbeitet aktiv im Arbeitskreis der Familienforscher Stolper Lande e. V. und leitete 13 Jahre bis Ende 2013 ehrenamtlich den MännerTreff der Evangelischen Kirchengemeinde Lockhausen-Ahmsen in Bad Salzuflen. Im Sommer 2014 zog er in die Nähe seiner Kinder nach Hamburg.
Die Haustür des in den Jahren 1962/1963 erbauten und jetzt umzugsbedingt verkauften Wohnhauses in Bad Salzuflen-Lockhausen schmückte ein aus Bronze gegossenen Türdrücker. Die Elchschaufel steht für Heinz Timmreck und die Lippische Rose für seine Frau Gerda, geb. Beckmann, aus Lockhauen.
Einführung
Resonanz auf den Band „Letzte Flüchtlingszüge aus Ostpreußen“
Militärische Ausgangslage an der Ostfront
Gauleiter Erich Koch
Erlebnisberichte aus Ostpreußen, Westpreußen und Pommern
Nadelöhr Weichselbrücken |
Otto Koepke
Evakuierung aus Treuburg und Flucht aus Pommern |
Hans Walter Manfred Jera
Durchhalten bis zum Letzten |
Meta Techam geb. Herzmann
Doppelte Flucht – aus Gumbinnen und Bromberg |
Edwin Ohlendorf
In den Stolper Landen war unsere Flucht zu Ende |
Siegfried und Heinz Grawitter
Abschied von Groschenweide/Skattegirren |
Botho Eckert
Überleben im Explosionsschatten einer Panzergranate |
Jürgen Peylo
Der letzte Zug aus Soldau |
Karlheinz Traeger
Mit Wlassow-Soldaten in einem Zug entkommen |
Hildegard Wieter geb. Rojek
Warum ein ostpreußisches Dunnerkeilchen auf der Flucht sein Lachen verlor |
Christiana Zinner-Duscha
Flucht aus dem stillen Gertlauken |
Marianne Peyinghaus geb. Günther
Flüchtlingszüge aus Labiau am 22. Januar 1945 |
Rudhard G. Frank
Ein Trauerfall wurde zum Glücksfall |
Heinrich Scheuerbrandt
Mit einem Arbeiterzug der Reichsbahn von Wormditt nach Sachsen |
Klaus-Dietrich Briem
Der Mohrunger Bahnhof am 21. Januar 1945 |
Hartmut Krause
Glutroter Himmel und die Heimatstadt in Flammen |
Gerda Lenz geb. Rödzus
Vom RAD-Lager Einlage a. d. Nogat nach Westfalen und Auswanderung nach New Orleans, USA |
Erika Neumann geb. Bembennek
Ein Blick auf den Friedhof, das waren die Abschiedstränen für immer |
Heinz-Joachim Kunz
Vom einsamen Forsthaus Schottow in Hinterpommern nach Bayern |
Jörg Petzold
Irrfahrt mit dem Zug durch Hinterpommern |
Hartmut Krause
Als der Heimat Licht versank |
Ewald Rasinski
Mit dem neugeborenen Baby von Groß Krössin nach Förste am Harz |
Edith Klatt geb. Müller
Aus dem umkämpften Bahn in Hinterpommern in das noch friedliche Bassum bei Bremen |
Ise Herminghaus geb. Seroski
In zwölf Tagen 173 Kilometer von Bahn nach Anklam |
Luise Seroski geb. Falk
Im Güterwagen zwischen Verwundeten vier Tage durch Hinterpommern |
Erika Hartwig geb. Heubach verw. Czolbe
Wie ich beinahe auf der Flucht verloren gegangen wäre |
Eleonore Nebelsiek geb. Lengert
Chaos auf dem Bahnhof Allenstein
In einer Lok geflohen |
Ekkehard Schlicht
Rette sich, wer kann! |
Ida Gosdeck
Die letzten Stunden auf dem Allensteiner Bahnhof |
Gustav Wenger
Mit dem letzten Zug aus dem umkämpften Allenstein |
Dietmar Paulun
Kosaken empfangen noch in den Bahnhof Allenstein einfahrende Züge |
Lew Kopelew
Königsberg – Knotenpunkt von Flüchtlingszügen
Bezugsscheine für Rößel |
Roswitha Kulikowski geb. Saßnick
Erste Fluchtetappe mit der Königsberger Kleinbahn |
Dorothea Blankenagel geb. Rattay
Aus einem 1949 geschriebenen Schulaufsatz über die Flucht |
Heinrich Wormitt
Der letzte Zug Berlin–Königsberg |
Helmut Neumann
Chaos auf den Bahnsteigen im Königsberger Hauptbahnhof |
Winfried Eichstaedt
Flucht mit einem der letzten Züge aus Königsberg ins Reich |
Anny Grothe geb. Meiritz
Zwangspause in einer Schneewehe auf der Flucht von Bartenstein nach Königsberg |
Eberhard Wever
Ergänzende Berichte zu den „Letzten Flüchtlingszügen aus Ostpreußen“
Ostpreußische Familie (Auszüge) |
Ruth Geede
Das Zugunglück bei Grünhagen im Kreis Preußisch Holland
Mütter schrien nach ihren Kindern |
Ruth Geede
Ein Familienschicksal |
Siegfried Hetz
Leben nach dem Zugunglück |
Gertrud Otulak geb. Scheffler und Herbert Raudszus
Die Unglücksstelle in Grünhagen im Jahr 2012 |
Manfred A. H. Hahn
Analyseversuch des Zugunglücks und Informationen zur damaligen Dampfeisenbahn |
Lokführer Dirk Oelmann
Einschätzung des Zugunglücks |
Jürgen Druske
Nach der Flucht
Bomben auf einen Flüchtlingszug bei Chemnitz |
Hildegard Bartkowiak geb. Hoppe
Nach Kriegsende angeordnete Rückführung von Flüchtlingen in die Heimatorte
Aus polnischen und ausländischen Archiven
Von Pommern ins östlichste Ostpreußen |
Hermann Wiesberger
Flüchtlingsdurchgangslager Elverdissen |
Hartmut Horstmann
Heinz Schön – Chronist der Flucht über die Ostsee
Anhänge
Die Entwicklung der Eisenbahnen in Preußen |
Rainer Claaßen
Danksagung
Abkürzungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Hinweis auf den ersten Band
Karte des Bahnnetzes von Pommern, Danzig, Westpreußen und Wartheland 1944/45
Als ich im Sommer 2000 in den Ruhestand trat, hatte ich mir vorgenommen, nicht nur den großen Garten zu bearbeiten und vor dem Fernseher zu sitzen, sondern ich wollte etwas Sinnvolles tun. Nach eingehenden Überlegungen habe ich mich u. a. entschlossen, Familienforschung zu betreiben und die Familiengeschichte aufzuschreiben. Über unsere Familie wusste ich nicht viel, nur dass die Eltern meines Großvaters mit einigen Kindern vor der Jahrhundertwende 1900 in die USA ausgewandert waren. Leider habe ich in der Familie und bei Verwandten nicht nachgefragt, was ich heute sehr bedauere. Meine eigene Familie und ein verantwortungsvoller Beruf waren mir wichtiger.
Nach unserer missglückten Flucht mit dem Zug im Januar 1945 und der anschließenden russischen Besatzungszeit hat meine Mutter Schlimmes erlebt, über das sie nicht gern gesprochen hat. Mein Vater war ziviler Schuhmacher bei der Wehrmacht in Osterode, wurde dann am 18. August 1939 eingekleidet und musste als Kompanieschuhmacher den am 1. September 1939 beginnenden Zweiten Weltkrieg bis zu seiner amerikanischen Gefangenschaft am 2. Mai 1945 in Oberitalien mitmachen. Sein letzter Dienstgrad war Obergefreiter.
Die jüngste Schwester meiner Mutter war als DRK-Schwester auf verschiedenen Verbandsplätzen in Russland. Sie hatte ihre Erlebnisse noch nicht verarbeitet und erzählte viel aus der Heimat. Leider habe ich auch hier bei ihren Erzählungen nicht hingehört. Heute, nach fast 70 Jahren, muss ich durch Recherchen – soweit noch möglich – alles mühsam für die in Arbeit befindliche Familienchronik zusammensuchen. Eigentlich wollte ich kein Buch schreiben, sondern nur die Geschichte unserer Familie für meine Enkel schriftlich festhalten, denn sie sollen möglichst alles über die damaligen Geschehnisse und die Lebensbilder ihrer ostpreußischen Vorfahren wissen. Viele Heimatvertriebene im Seniorenalter haben ebenfalls ihre Lebensgeschichten und Erinnerungen aus der Heimat aufgeschrieben. So habe ich einige Berichte mit ihren unterschiedlichen Erlebnissen bekommen und in dieses Buch auszugsweise aufgenommen. Es sind Dokumentationen gegen das Vergessen, die keinen wissenschaftlichen Anspruch haben. Auch ist das vorliegende Werk kein klassisches Eisenbahnbuch, aber die Eisenbahn war für Tausende von flüchtenden Menschen das wichtigste und rettende Verkehrsmittel. Zum besseren Verständnis sind einige Erläuterungen zur damaligen Dampfeisenbahn in dieses Buch aufgenommen worden.
Bei der Auswahl der Berichte habe ich – wie im ersten Band – möglichst auf Wertungen verzichtet und versucht, emotionsfrei die Fakten sprechen zu lassen. Es sind authentische Augenzeugenberichte, Zeugnisse der damaligen Geschehnisse. Wenn nicht aufgeschrieben wird, wie es wirklich war, besteht die Gefahr der Verzerrung oder sogar der Verfälschung. Infolge von Flucht und Vertreibung sind die Lebenswege der Bewohner östlich von Oder und Neiße unvorgesehen anders verlaufen. Angehörige, Verwandte, Freunde und Nachbarn – sofern sie die Flucht überlebt hatten – haben sich erst nach längerem Suchen in verschiedenen Gegenden des geteilten Restdeutschlands wiedergefunden.
Mit den Jahren wird die Erlebnisgeneration immer kleiner. Die heute noch lebenden Augenzeugen waren damals Kinder oder Jugendliche. Viele dieser Kriegskinder haben ihre damaligen Kriegserlebnisse noch nicht restlos verarbeitet. Heutige junge Menschen kennen nur den Frieden. Der Zweite Weltkrieg, die Teilung Restdeutschlands, der Mauerbau und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist für sie Geschichte und das Wissen darüber ist sehr unterschiedlich.
Die unmittelbar nach Kriegsende diesseits und jenseits der Oder-Neiße-Linie erfolgten Geschehnisse sind heute weitgehend unbekannt. Daher habe ich diese Vorgänge in dieses Buch (mit) aufgenommen.
Die heutigen Bewohner jenseits von Oder und Neiße und auch die Heimatvertriebenen sind mehrheitlich für einen Ausgleich und für Versöhnung. So wächst vor allem unter den Jüngeren in den ehemaligen deutschen Ostgebieten das Interesse an der deutschen Geschichte ihrer Wohnorte. Ich selbst habe im Rahmen meiner Familienforschung in Słupsk, dem früheren Stolp in Hinterpommern (Ostpommern), immer wieder erfreuliche Erfahrungen gemacht.
Wir erleben gegenwärtig die längste Friedensperiode in Deutschland.
Möge dies auch für alle nachfolgenden Generationen so bleiben.
Es gab viele erfreuliche Reaktionen, vorwiegend Anrufe. Aus den Zuschriften habe ich Auszüge auf meiner Webseite unter „Stimmen zum Buch“ eingestellt. In einem Hinweis wurden Angaben zum verantwortlichen Gauleiter und Kriegsverbrecher Erich Koch vermisst, was ich jetzt in diesem Buch durch einen gesonderten Artikel nachhole.
Erstaunlicherweise haben sich auch mehrere Eisenbahner gemeldet, darunter zwei etwas kritische Stimmen. Einmal wird Eisenbahntechnisches gewünscht. Dies wird jetzt durch die Darstellung der Arbeitsweise der damaligen Dampflokeisenbahn und die Entwicklung der Eisenbahn in Preußen als ergänzende Informationen für den interessierten Leser in leicht verständlicher Form nachgeholt. An dieser Stelle gilt mein Dank Rainer Claaßen, Jürgen Druske, Dirk Oelmann und Arne Woest für ihre freundliche Hilfsbereitschaft zum Thema Eisenbahn.
Dann zweifelt ein anderer (* 1953) die Angaben der Augenzeugen u. a. hinsichtlich der Zahl der vom Zugunglück betroffenen Personen an. Hierzu einige klärende Sätze: Auf den überfüllten Bahnsteigen kämpften die Menschen, die Angst im Nacken, darum, von den letzten oder auch allerletzten Zügen noch mitgenommen zu werden. Das meiste Gepäck blieb dabei auf den Bahnsteigen liegen. In den Gängen, Abteilen, Gepäcknetzen und sogar in den Klos oder zusammengepfercht in den offenen und geschlossenen Güterwagen waren Menschen, die nur einen Gedanken hatten: „Kommen wir noch über die Weichselbrücken?“ Wer hatte denn in diesem vollständigen Chaos Zeit, die Anzahl der Flüchtlinge festzuhalten! Es gibt nur Schätzungen, die unterschiedlich sein können und auch von der Art der eingesetzten Wagen abhängen. Bei den letzten Zügen konnten die Eisenbahner hinsichtlich der Loks und Waggons nicht wählerisch sein. Es wurden sogar noch schnell einige Waggons repariert und fahrfähig gemacht, um mehr Flüchtlinge transportieren zu können. Viele Flüchtlinge mussten auf den Bahnhöfen zurückbleiben und dann unter der russischen Besatzung, den später nachrückenden polnischen Soldaten und Siedlern sowie den neu eingerichteten polnischen Behörden Drangsalierungen erdulden und Leid ertragen. Für im Wohlstand aufgewachsene Menschen sind die Schilderungen der Augenzeugen aus heutiger Sicht vielfach nicht vorstellbar.
Klaus Silz (Seite 1531) teilte mir telefonisch mit, dass auch seine Mutter in dem Haus, in dem ich auf Seite 97 berichte, eingesperrt war und nach Sibirien verschleppt werden sollte. Er war auch unter den Kindern, die vor dem Haus durch Schreien und Weinen die festgehaltenen Frauen freibekamen.
Zum Titelfoto gab es zwei Hinweise zu den mit Pelzmützen bekleideten Personen. Es könnte sich hierbei um russische Soldaten handeln, denn deutsche Männer auf einem Flüchtlingszug sind aus verschiedenen Gründen nicht vorstellbar. Das Titelfoto hatte ich von Heinz Schön bekommen, der mir zur Herkunft des Fotos keine exakten Angaben machen konnte. Er hatte das Foto wohl von einem der vielen Flüchtlinge bekommen, mit denen er in Kontakt war. Es ist sicherlich richtig, dass es sich nicht um deutsche Flüchtlinge handelt. Aber die Aussage des Bildes zeigt doch, wie die Flucht in offenen Güterwagen stattgefunden haben könnte.
Auf Seite 85 ist ein Dokument der Stadt Kühlungsborn vom 26. Juni 1945 über die Anordnung zur Rückkehr von Flüchtlingen abgebildet. Da über dieses Thema vielfach Unkenntnis besteht, habe ich hierüber ein gesondertes Kapitel in den zweiten Band aufgenommen.
Nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad im Januar 1943 hat die deutsche Wehrmacht sich ständig zurückziehen müssen. Am 22. Juni 1944, dem dritten Jahrestag des Beginns des Russlandfeldzuges, erfolgte ein Großangriff auf die Heeresgruppe Mitte, die zum Zusammenbruch dieser Heeresgruppe mit dem Verlust von etwa 25 erfahrenen Divisionen führte. Bis zum Herbst 1944 hatte sich die Front bis zur Reichsgrenze vorgeschoben und Heydekrug und Memel am 9. Oktober abgeschnitten, Goldap2 wurde am 22. Oktober von der Roten Armee besetzt. Am 5. November 1944 konnte Goldap zurückerobert werden. Jetzt verlief die Front auf ostpreußischem Boden in einer Breite von ca. 150 Kilometern und einer Tiefe von ca. 40 Kilometern.
Nun kehrte eine gewisse Ruhe ein. Hitler setzte sich am 20. November 1944 endgültig aus der Wolfsschanze3 ab und bezog nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin sein neues Hauptquartier Adlerhorst4. Aufgrund der zu erwartenden russischen Winteroffensive forderte die Heeresleitung eine Verstärkung der Truppen. Ebenso wurden Evakuierungsvorschläge für die Bevölkerung unterbreitet. Beides lehnte Hitler ab. Er ließ sogar im Dezember 1944 Panzerdivisionen nach Ungarn und nach Westen für die Ardennenoffensive abtransportieren und bei Beginn der russischen Großoffensive im Januar 1945 nochmals zwei Divisionen an die Weichsel verlegen. Die deutsche Front wurde somit ausgedünnt und Ostpreußen ernsthaft bedroht, sodass es trotz aller Warnungen der Heeresleitung zur Katastrophe kommen musste.
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze war dieser gegenüber der Wehrmacht misstrauisch geworden. Er vertraute daraufhin mehr seinen Gauleitern, die er bereits bei Kriegsbeginn zu Reichsverteidigungskommissaren ernannt hatte. Das bedeutete nach einem Erlass Hitlers, dass die Wehrmacht ihre im zivilen Bereich notwendigen Anforderungen an den Reichsverteidigungskommissar richten musste und nur noch für ihre militärischen Aufgaben zuständig war. Lediglich im Kampfgebiet konnte die Wehrmacht zivilen Dienststellen Befehle erteilen. Es kam diesbezüglich zu Kompetenzstreitigkeiten und Reibereien zwischen Koch und den Führungsstellen der Wehrmacht.
Die Bevölkerung der von der Roten Armee im Herbst 1944 besetzten Gebiete wurde vorwiegend in die Regierungsbezirke Königsberg und Allenstein evakuiert und erhöhte dort die Einwohnerzahl; dieser Umstand erwies sich später bei der Flucht als zusätzliche Erschwernis. Als dann am 13. und 14. Januar die russische Großoffensive einsetzte, begann auch die Flucht der Zivilbevölkerung, wobei die rechtzeitige Flucht durch verspätete Räumungsbefehle des Gauleiters Erich Koch und seiner NS-Behörden erschwert oder sogar verhindert wurde.
Zur Verteidigung Ostpreußens machte Gauleiter Koch seinem Führer Adolf Hitler den Vorschlag, ungefähr 20 Kilometer vor der Grenze auf einer Gesamtlänge von 1000 Kilometern einen sechs Meter breiten und sechs Meter tiefen Graben auszuheben. In seinem Buch „Pommern auf der Flucht 1945“ schreibt Heinz Schön u. a.:
„Nachdem Hitler den Bau genehmigt hatte, holten die Ortsgruppenleiter der NSDAP, dem Befehl Kochs folgend, Zehntausende Männer von ihren Arbeitsplätzen, schulpflichtige Hitlerjungen, Männer des Reichsarbeitsdienstes, alte Männer, Betriebsleiter, Beamte, Angestellte und Arbeiter, ohne Rücksicht darauf, ob sie kriegswichtige Funktionen ausübten und deshalb vom Wehrdienst freigestellt worden waren. Einspruchsmöglichkeiten gab es nicht. Ein Massenaufgebot an Menschen, Pferden und Wagen rückte über die ostpreußische Grenze vor und begann mit dem Bau.
Am 24. August 1944 meldete Koch Hitler, dass der Schutzwall in den befohlenen Grundzügen fertiggestellt sei. Kein Meter deutschen Bodens werde preisgegeben, Ostpreußen sei deutsch und werde immer deutsch bleiben. Wenn nötig, werden Mann, Frau und Kind die Heimat mit nackten Fäusten verteidigen.“5
Auch der für Pommern zuständige Gauleiter Franz Schwede-Coburg ließ im Herbst 1944 einen Verteidigungswall errichten, den sogenannten „Pommernwall“. Hierzu wurden Massen von Männern, Frauen und Hitlerjungen mit der Reichsbahn oder mit Lkws in den Raum Deutsch-Krone gebracht. Beide Schutzwälle waren für die Rote Armee keine Hindernisse, um an allen Fronten auf Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und Pommern vorzustoßen und diese Provinzen in nur 115 Tagen zu besetzen, und zwar in der Zeit vom Beginn der Winteroffensive am 13. Januar 1945 bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945.
Es gab Anzeichen für eine russische Herbstoffensive 1944, die Ostpreußen bedrohte. Am 25. September 1944 unterzeichnete Hitler den „Erlass zur Bildung des Volkssturms“.
Heinz Schön schreibt hierzu in seinem Buch „Königsberger Schicksalsjahre“:
„Nach Hitlers Erlass mussten sich alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren, die bisher aus Gesundheits-, Alters- oder berufsbedingten Gründen vom Wehrdienst freigestellt waren, zur Verteidigung der Heimat bei den Parteidienststellen melden, die damit eine weitere organisatorische Aufgabe erhielten. Mehr als sechs Millionen Männer in Ostpreußen und im Reich folgten dem Aufruf des Reichskanzlers und meldeten sich in den Parteidienststellen der NSDAP. Als erster Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar in Deutschland konnte Erich Koch am 17. Oktober 1944 Hitler melden: ‚Mein Führer: Das erste Volksturmbataillon steht.‘
Kochs Bataillon bestand aus 499 Mann, in vier Kompanien gegliedert. Den Tross, also eine Militärische Versorgungseinheit mit Unterstützungsaufgaben im rückwärtigen Bereich bildeten zwei Wagen mit hauptsächlich polnischen Fahrern. Ausgestattet waren die Männer mit Gewehren, Panzerfäusten und leichten Maschinengewehren. Uniformen wurden nicht ausgegeben. Die Männer trugen Zivil mit der Armbinde „Deutscher Volkssturm“, sie erhielten auch keine Erkennungsmarken wie alle deutschen Soldaten der Wehrmacht. Für die Aufstellung, Bewaffnung und Versorgung der Volkssturmeinheiten waren die Dienststellen der Partei – also der NSDAP – zuständig. Es war für Erich Koch selbstverständlich, dass er die Führung des ostpreußischen Volkssturms übernahm.“6
Die russische Offensive gegen die Ostfront
Die Volkssturmmänner fehlten den Familien. Nun mussten die Frauen ohne die Hilfe ihrer Männer die alleinige Verantwortung tragen und mit den Kindern und oft auch alten Eltern auf die gefahrvolle strapaziöse Flucht bei Schnee und Eis gehen.
Eigentlich sollte hier ein von Heinz Schön für dieses Buch verfasster Artikel stehen. Hierzu ist es nicht mehr gekommen, denn am 7. April 2013 ist er im Alter von 86 Jahren verstorben. Bei meinen Besuchen hatte er mich mehrmals angesprochen, doch einen Ergänzungsband zu meinem Buch über die letzten Flüchtlingszüge zu schreiben. Er selbst wollte mit einem Artikel über den Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar von Ostpreußen Erich Koch hierzu beitragen, zumal er zusammen mit dem Journalisten Armin Fuhrer ein Buch7 über Erich Koch geschrieben hatte. In diesem Buch wird Gauleiter Erich Koch wie folgt charakterisiert:
„Der brutale und gnadenlose Machtmensch, dem sogar Stalin wegen seiner Unmenschlichkeit gegen die Ukrainer gerne einen Orden verliehen hätte, wird für den Tod von weit mehr als einer Million Menschen verantwortlich gemacht, nicht eingerechnet Zehntausender von Ostpreußen, die er zum Kriegsende an der rechtzeitigen Flucht vor der heranrückenden Roten Armee hinderte. Gleichzeitig war Koch ein rücksichtsloser Aufsteiger, der insbesondere auch in finanzieller Hinsicht immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht war und unter dem Deckmantel einer Stiftung ein riesiges Industriekonglomerat zusammenraubte.“
Erich Koch war Gauleiter, Reichsverteidigungskommissar und Oberpräsident von Ostpreußen sowie Präsident und Vorsitzender mehrerer Institutionen, somit lag alle Macht in Ostpreußen in seinen Händen. Koch wollte den Ernst der Lage nicht erkennen und drohte mit Strafen bei Fluchtversuchen ohne seine Genehmigung. Anfang Januar 1945 hat er sogar seine Drohungen verschärft, indem jetzt auch die Vorbereitungen für eine Flucht unter Strafe gestellt wurden. Er verweigerte hartnäckig die vorsorgliche Evakuierung der Zivilbevölkerung, obwohl die russischen Armeen ständig im Vormarsch waren. Fluchtbefehle mussten von ihm persönlich genehmigt werden. Hierdurch ergaben sich Verzögerungen. Oft trafen die Anordnungen der Gauleitung in Königsberg und seiner NS-Behörden erst ein, wenn die Menschen sich schon ohne Befehl hastig auf die Flucht hatten begeben müssen, weil diese von zurückweichenden deutschen Soldaten zur Flucht aufgefordert worden waren und die sowjetischen Truppen schon in unmittelbarer Nähe weiter vorrückten. Es gab keine geregelte Räumung, was zu Chaos und Verwirrung führte. Vielfach wurden die Flüchtenden von den russischen Panzerspitzen überrollt und die Treckwagen zur Seite geschoben.
Erich Koch hatte seine eigene Flucht seit Wochen gut vorbereitet. Mit einem Fieseler Storch lässt er sich zur Halbinsel Hela fliegen und begibt sich dort auf den nur für ihn reservierten Eisbrecher „Ostpreußen“. An Bord sind auch Mitarbeiter der Gauleitung und Parteifunktionäre. Flüchtlinge, die mitgenommen werden möchten, dürfen nicht an Bord. Auf See werden die Parteiuniformen in Wehrmachts- oder Zivilkleidung getauscht. In Flensburg verlässt Koch am 7. Mai 1945 als Major Berger das Schiff und lebt unerkannt in Hasenmoor bei Hamburg bis zu seiner Verhaftung im Mai 1949.
Erich Koch hat durch sein unmenschliches Verhalten viel Schuld auf sich geladen, feige und heimlich Ostpreußen verlassen. Er wurde von den britischen Besatzungsbehörden 1950 an Polen ausgeliefert, wo er 1986 im Alter von 90 Jahren im polnischen Staatsgefängnis Barczewo, dem früheren Wartenburg in Ostpreußen, verstarb. Koch wurde wegen in Polen begangener Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt, dieses Urteil wurde später in lebenslange Haft umgewandelt. Seine in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen waren nicht Gegenstand der Verurteilung, d. h., hierüber wurde nicht verhandelt.
1Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf den ersten Band.
2Kreisgemeinschaft Goldap: Aufgrund des Räumungsbefehls vom 20. Oktober 1944 verlassen am 21. Oktober 1944 die letzten Deutschen die Stadt.
3Führerhauptquartier in einem Wald bei Rastenburg.
4Führerhauptquartier im Schloss Ziegenberg bei Bad Nauheim.
5Schön, Heinz: Pommern auf der Flucht 1945, Berlin 2013.
6Schön, Heinz: Königsberger Schicksalsjahre. Der Untergang der Hauptstadt Ostpreußens 1944–1948, Kiel 2012.
7Schön, Heinz; Fuhrer, Armin: Erich Koch – Hitlers brauner Zar. Gauleiter von Ostpreußen und Reichskommissar der Ukraine, München 2010.
Infolge des schnellen Vorrückens der Roten Armee verblieben zur Flucht über Land im Norden nur noch die Weichselbrücken bei Marienburg und Dirschau. Vor den Straßenbrücken verursachten Pferdegespanne, Fahrzeuge aller Art und Wehrmachtsfahrzeuge chaotische Zustände.
Auf den Bahnhöfen von Marienburg und Dirschau und vor den Eisenbahnbrücken stauten sich die Züge. Auch bei Güldenboden vor Elbing kam es zum Stau von Flüchtlingszügen aus Königsberg und dem Hinterland. Alle Flüchtlinge hatten hauptsächlich nur einen Gedanken und den Wunsch, über die Weichsel zu gelangen. Hinzu kamen Gerüchte und die damit verbundene Angst, die Brücken könnten gesprengt werden. Dies wird im nachstehenden Bericht recht eindrucksvoll geschildert.
Brücken bei Dirschau im Jahre 2011
Die fünf Brüder der Familie Koepke, 1938, v. l. n. r.: Otto (* 1928), Walter (* 1926), Erwin (* 1922), Helmut (* 1926) und Heinz (* 1925). Alle schauen fröhlich in die Zukunft. Ein Jahr später begann der Krieg.
In friedlicher Ruhe gehen wir unserer Arbeit nach. Der russische Großangriff am 16. Januar 1945 auf Warschau ist für meine Begriffe weit weg. Doch die Ereignisse überstürzen sich plötzlich. Am 18. Januar um 22 Uhr kam die RAD-Leiterin Gertrud Tietz zu uns und brachte die Nachricht zum sofortigen Aufbruch.
18. Januar: Viele Bauern mussten nach Deutsch Eylau, die Wehrmacht brauchte Pferde. So mussten einige Bauern noch Pferde abgeben. Mein Vater in seiner Eigenschaft als Bauernführer musste unangenehme Entscheidungen treffen. Pferde mussten ausgetauscht werden und Frauen und Kinder ohne eigene Fahrgelegenheit auf die einzelnen Wagen verteilt werden. Während mein Vater nachts durch das Dorf radelte, um die Bevölkerung zum Aufbruch zu wecken, half mir ein Pole, den Wagen zu beladen.
Familie Koepke, 1944, v. l. n. r.: Vater Erich Koepke (* 1894), Otto (* 1928), Mutter Martha (* 1896), Walter (* 1926) und Erwin (* 1922). Die beiden Brüder Helmut (* 1926) und Heinz (* 1925) sind an der Front. Die Schwester Gerda (1942–1944) wurde nachträglich in das Foto hineinkopiert.
19. Januar: Morgens um 9 Uhr versammelten sich alle Wagen. 25 Wagen fuhren in Richtung Saalfeld und wir mit fünf Wagen in Richtung Deutsch Eylau.
20. Januar: Wir erreichen Riesenburg. Es ist etwa 14 Uhr, als gerade das Lazarett aufgelöst wird. Ein langer Zug von verwundeten Soldaten zieht über die Straße. Von Rote-Kreuz-Schwestern gestützt und auf Handschlitten werden die Soldaten zum Bahnhof gebracht. Die weißen Binden an Kopf, Beinen und Armen leuchten weit und zeigen ein Bild der Verzweiflung und Hilflosigkeit. Zum ersten Mal erfasst mich eine Untergangsstimmung. Dazwischen die Pferdewagen mit den vielen Menschen. Es ist ein Chaos, nicht laut, eher leise. Keiner spricht ein Wort, nur das Rollen der Räder und das Getrabe der Pferde erklingt im Rhythmus: weiter, nur weiter.
In meinen Gedanken die Weichselbrücke irgendwo hinter Stuhm oder Marienburg. Ich habe mit meinen 16 Jahren noch nie eine große Brücke gesehen und bilde mir ein, hinter dem großen Fluss sind wir in Sicherheit.
21. Januar: Heute kommen wir kaum weiter, die Straßen sind überfüllt. Bei Nikolaiken vor Stuhm geht nichts mehr. Eine Kreuzung wird zum Nadelöhr. Wagen aus den südlichen und nördlichen Kreisen wollen auf die Straße, die nach Stuhm führt. Natürlich wollen die Trecks zusammenbleiben. Es gibt keine Polizei, die für Ordnung sorgt. Das Faustrecht greift in die Zügel der Pferde. Den Erwachsenen liegen die Nerven blank. Die Angst vor den Russen setzt alle Regeln der Vernunft außer Kraft. Mir ist hundelend bei diesem Anblick.
22. Januar: Über Stuhm kommen wir nach Weißenburg; der Weichseldamm, gefährlich hoch und schmal, führt in Richtung Groß Montau. Stundenlang steht der Treck auf der Stelle, keiner kann ausweichen. Wir übernachten im Freien.
23. Januar: Am Morgen geht es langsam weiter. Nur nicht aus der Spur kommen – abgestürzte Fahrzeuge warnen vor leichtsinniger Fahrweise. Die langersehnte Weichselbrücke taucht groß und mächtig vor uns auf. Bewacht von der Feldgendarmerie. Hier kommt keiner vorbei. Der geringste Verdacht auf Fahnenflucht wird überprüft. Nach Passieren der Brücke kommt Freude auf, wir sind in Sicherheit.
Nachtrag: Dem energischen Schuhmachermeister Heyda, der den Treck mit 25 Wagen anführte, ist es zu verdanken, dass die überwiegende Mehrheit der Freudenthaler Dorfbewohner den Westen erreichte. Die andere Gruppe mit fünf Wagen hatte in Lienfelde einige Todesfälle, die zu großen Zeitverzögerungen führten. Am 27. Februar in Zanow vor Köslin ist die Flucht für Otto Koepke zu Ende, denn er muss mit großen Schmerzen von seinem Vater nach Rügenwalde ins Krankenhaus gebracht werden und wird dort am Blinddarm operiert. Am 5. März wird Otto Koepke frühzeitig aus dem Lazarett entlassen, es ist jedoch zu spät. Köslin ist von den Russen eingeschlossen, die anderen vier Wagen mit den Familien Brunch, Bartel, Nabe und Schwerm fahren weiter und kommen noch durch Köslin und erreichen Westdeutschland. Otto Koepke gelingt es trotz vieler Schwierigkeiten, am 26. August 1945 über Stettin in die westdeutsche Besatzungszone zu gelangen.
Wir waren eine große Familie mit vier Kindern, und zwar meine Mutter Erna Jera, mein Stiefvater Otto Jera, ein selbstständiger Tischlermeister, und meine Brüder Otto (zehn Jahre), Klaus (acht Jahre) und Dieter (sieben Monate). Mein Vater war schon auf der Arbeit in seiner Werkstatt, als uns am Kaffeetisch die Nachricht erreichte, dass wir Pimpfe vom Jungvolk uns sofort in Uniform auf dem Marktplatz11 vor der evangelischen Kirche einzufinden hätten. Schnell rannte ich zu meinem Vater und überbrachte ihm diese Nachricht, um mich zugleich von ihm zu verabschieden. Mein Stiefvater hatte Wehrmachtsaufträge auszuführen, aus diesem Grund war er zu Hause.
Die Schreinerei/Tischlerei in der Bahnhofstraße 11, Treuburg, 1979
In Uniform antreten war für uns Pflicht und Dienst, sogar die Schule musste hinten anstehen. Meine Mutter half mir beim Ankleiden, gab mir noch gute Ratschläge und ein paar belegte Brote, und schon war die Zeit zum Abschiednehmen da. Viele Eltern haben ihre Kinder begleitet. Es war ein buntes Durcheinander. Es ertönte ein Pfiff, der uns sagte: „Alles antreten!“ So standen wir da in Reih und Glied. Alle Eltern, die ihre Kinder begleitet hatten, standen in einem großen Abstand uns gegenüber. Der Fähnleinführer begrüßte uns mit seiner lauten Stimme und gab den Tagesbefehl bekannt: „Abmarsch zum Ernteeinsatz auf dem Land!“
Ein Lied wurde angestimmt, und mit Gesang marschierten wir Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 13 Jahre aus Treuburg hinaus. Nach ungefähr drei Stunden erreichten wir ein großes Gut, es war so ungefähr um die Mittagszeit. Die Köchin war gerade mit der Zubereitung des Mittagessens fertig, wir nahmen an einem großen Tisch Platz und stillten erst einmal unsern Hunger. Unsere Gruppe wurde aufgeteilt. Allmählich beschlich mich eine Angst, als kleiner Junge alleine ohne Kameraden auf dem Land zu sein. Hier auf dem Gutshof war ich ein Fremder, der noch nicht einmal den Namen dieses Gutes kannte.
Ein Knecht kam dann zu mir und erklärte mir meine Arbeit: An den aufgestellten Garben das untere Ende der zweiten Garbe greifen und die erste Garbe damit zusammenbinden. Für mich als Städter und zwölfjähriger Bub eine fremde und nicht leichte Aufgabe. Die Arme waren allmählich aufgekratzt und die Uniform war auch nicht mehr sauber, meine Gedanken kreisten dauernd hin und her. Aber urplötzlich stand die Zeitwende vor mir, ein Pferd mit einem stolzen Reiter in einer schicken SS-Uniform. Das war so ein großes Denkmal, ich kam mir vor wie eine kleine Feldmaus. Es war der Gutsherr, der seine Abendinspektion machte. Mit fester und befehlender Stimme vom hohen Ross herunter verkündete er mir: „Beende deine Arbeit, gehe zurück aufs Gut, dort ist schon alles geregelt.“
Kaum war ich in der großen Küche des Gutshauses angekommen, nahm mich sofort die Küchenchefin in Empfang und versorgte mich erst mal mit einem Nachtessen. Alle waren so hektisch und aufgeregt, aber sie machten ihre Arbeit. Trotzdem – etwas stimmte nicht. Nachdem ich gegessen hatte, bekam ich von der Küchenchefin einen kleinen Geldbetrag, um nach Hause zu fahren. Ein Knecht zeigte mir die Straße und die Richtung zum Bahnhof. Es war sehr dunkel, nur die Sterne beleuchteten mir die Straße. Meine Angst wurde immer größer und die Sorge, den Bahnhof nicht zu erreichen, machte mich bange. Die Beine wollten auch nicht mehr mithalten, aber ich musste weiter. Meine Sinne spielten mir auch schon Bilder vor, die ich gar nicht glauben wollte. Ein Stern wurde immer größer und größer, ich blieb stehen und rieb mir meine Augen. Ich konnte es erst gar nicht glauben: Es war ein Licht. Es wurde immer größer und größer und entpuppte sich als die Leuchte am Eingang eines Bahnhofs. Langsam kam ich dem Gebäude näher, die Umrisse erschienen mir, soweit ich alles im Dunkeln erkennen konnte, bekannt. In dieser verdammten schwarzen Dunkelheit, ich musste so aufpassen, dass ich nicht stolperte, ahnte ich, den Bahnhof von Griesen, dem Ort, in dem meine Tante Guste wohnte, zu erkennen.
Langsam näherte ich mich der Lampe über der Eingangstür zum Bahnhof. Behutsam drückte ich die Tür auf und trat in die Bahnhofshalle ein, die schummrig beleuchtet war. Auf der einen Seite war ein Schalter eingerichtet und tatsächlich war der mit einem Beamten besetzt. Meine Angst wich ein wenig und ich ging auf den Schalter zu, hinter dem der Beamte saß. Freundlich begrüßte er mich und fragte nach meinem Begehren. Erstaunt fragte er, wo ich mitten in der Nacht, noch dazu in Uniform, herkäme. Nachdem ich dem Beamten alles erklärt hatte, erzählte er mir, der Zug fahre in einer Stunde und es bestünde Fliegeralarm. Dass überhaupt noch ein Zug nach Treuburg fahre, wäre mein Glück.
Der Beamte war aus dem Dorf Griesen und es wäre für mich ein Leichtes gewesen, mit ihm zu gehen und bei meiner Tante zu übernachten. Aber mein Gefühl sagte mir: „Fahr nach Hause.“ Die Unterhaltung mit dem Beamten nahm mir ein wenig das Angstgefühl. Auf einer Bank nahm ich Platz. Das Angstgefühl kam wieder zurück, vom Magen hinauf hoch zum Hals. Hinter dem Fahrkartenschalter gab es Bewegung, der Beamte stand auf, nahm eine Laterne und verließ seinen Platz. Einen Moment später betrat er die Wartehalle, kam auf mich zu und sagte mir, dass der Zug jeden Augenblick einlaufen werde. Wir gingen zusammen auf den Bahnsteig, er mit seiner Laterne und ich mit meiner Angst. Diese unheimliche Dunkelheit machte mir zu schaffen. Den Zug oder besser die Lokomotive bekam ich erst zu sehen, als sie an mir langsam vorbei fuhr. Mit einem lauten Quietschton kam das Gefährt zum Stehen. So tastete ich mich an einen Wagen heran, machte die Türe auf und stieg ein. Der Zug war leer: Das zu wissen, machte mir noch mehr Angst. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis der Zug mit etwas Rucken anfuhr und langsam ins Rollen kam. Die Holzbänke waren hart und allmählich wurde es mir kalt. Der Zug nahm überhaupt keine Geschwindigkeit auf und ich wollte doch so schnell wie möglich nach Hause. Auf freier Strecke blieb der Zug dann stehen, und in dieser Dunkelheit konnte man nichts erkennen. Wieder fuhr der Zug ein Stückchen weiter, so ging das ein paar Mal, bis der Zug in den Bahnhof meiner Heimatstadt Treuburg einfuhr. Es muss schon Mitternacht gewesen sein, eine Uhr besaß ich damals noch nicht. Vom Bahnhof bis zur Bahnhofstraße 22 brauchte man zehn Minuten, und trotzdem nahm der Weg kein Ende. Meine Mutter empfing mich mit Tränen in den Augen, meine Geschwister drumherum nahmen mich in den Arm und hielten mich ganz fest. Ein Weilchen später, nachdem wir uns alle beruhigt hatten, erzählte mir meine Mutter, dass wir und alle Familien mit mehr als zwei Kindern morgen in aller Frühe abgeholt würden.
Die Bahnhofstraße in Richtung Marktplatz, Treuburg, 1979
Meine Mutter musste schon den ganzen Tag lang gepackt haben. Viele Gepäckstücke standen bereit. Ein etwas größerer geflochtener Wäschekorb wurde gerade gefüllt. Mit einer großen Decke wurde alles zugedeckt und mit einer Wäscheleine verschnürt. So half ich noch bei den letzten Handhabungen und wir legten uns zum Schlafen ins Bett. Es waren die letzten Stunden in unserer schönen großen Wohnung. Viel Ruhe zum Schlafen bekamen wir nicht. Die Gedanken in meinem Kopf schwirrten dermaßen durcheinander und ich hörte, dass meine Mutter weinte. Die Ungewissheit, irgendwo hingebracht zu werden, nicht zu wissen, was der nächste Tag für uns bereithält, war groß und meine Mutter machte sich viele Sorgen. Der Morgen graute und wir mussten alle aufstehen. Meine Mutter hatte für jedes von uns Kindern einen Rucksack gepackt und ein wenig Handgepäck, außerdem musste jeder soviel an Kleidung anziehen, wie er konnte. Ein letztes Frühstück in trauter Runde am eigenen Tisch; ich glaube, keiner von uns bekam den Ernst der Lage mit. Mein kleiner Bruder, sechs Monate alt, lag in seinem Kinderwagen und wimmerte vor sich hin. Welche Gefühle in meiner Mutter steckten, kann man nicht beschreiben. Sie durchstreifte noch einmal alle Zimmer und nahm Abschied von allem, was uns lieb und teuer war. An die Strapazen mit vier Kindern und Gepäck dachte sie noch nicht. Die Tränen flossen und wir Kinder scharten uns um sie. Die Klingel an der Wohnungstür riss uns alle hoch, tatsächlich kamen zwei Männer in Uniform, sie halfen uns beim Tragen und brachten uns zum Bahnhof.
Der Bahnhofsvorplatz, die Wartehalle, alles war voller Menschen mit ihrem Gepäck. Die Aufregung unter den Leuten war groß. Angst und Ungewissheit herrschte unter ihnen. Die Frauen weinten bei der Verabschiedung ihrer Ehemänner, die hatten ja die Aufgabe, unsere Heimat zu verteidigen. Der Zug stand schon am Bahnsteig und wartete auf uns Treuburger, die nicht einsteigen wollten. Der Zug war bereit, aber die Leute nicht. Die Menschen hasteten hin und her, keiner wusste, wie es weiter geht, aber langsam füllte sich der Zug doch und wir haben es dann auch geschafft, einen Platz zu bekommen. Keiner wusste, in welcher Richtung der Zug sich in Bewegung setzte, geschweige, wo wir ankommen würden. Der Bahnsteig leerte sich und der Zug war bis zum Platzen voll. Den Frauen und Kindern flossen die Tränen am Gesicht herunter. Ehemänner standen auf dem Bahnsteig wie kleine Jungs und verbargen ihre tränennassen Gesichter.
Es ruckte ein paar Mal heftig und die Lok schaffte es, den langen und schweren Zug zum Rollen zu bringen. Langsam hörten auch die Tränen auf zu laufen und es kehrte eine gewisse Ruhe ein. Nach ein paar Stunden kamen mehrere größere Schilder mit der Aufschrift Rössel. Das war eine Stadt in der Mitte von Ostpreußen. Der Zug wurde langsamer, nach einer Weile, es war ein kleiner Vorort von Rössel, kam er ganz zum Stehen. Hier mussten wir alle aussteigen, die Familien scharten sich mit ihrem Gepäck zusammen. Langsam leerte sich der Bahnsteig und die Menschenhäufchen wurden immer weniger. Der Bahnsteig war schon lange leer, der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu, müde und mutlos lernte meine Mutter, was es heißt, mit vier Kindern evakuiert zu werden. Von Zeit zu Zeit kamen Leute auf uns zu, redeten mit meiner Mutter, scheinbar hatte keiner so viel Platz, uns in seinem Häuschen aufzunehmen. Es war schon bald dunkel, als eine Aufsicht mit einer weiteren Person zu uns kam, uns Mut zusprach mit den Worten „Ihr werdet auch noch unterkommen.“ Mein kleiner Bruder Dieter fing immer wieder an zu weinen, er hatte Hunger und musste trockengelegt werden. So war das mit Hitlers kinderreichen Familien, die auf eine Unterkunft warteten und keiner wollte sie. Wir Kinder fingen an zu weinen, da half auch kein Trost meiner Mutter, wir waren einfach am Ende unserer Kraft und wollten ein Dach über dem Kopf. In diesem Moment stellten wir fest: Eine deutsche Mutter mit vier Kindern war auch für Hitlers Schergen nicht einfach unterzubringen. Der Organisator kam wieder zu uns und brachte noch einen Mann mit, es entstand eine lebhafte Unterhaltung mit dem Ergebnis, alle nahmen ein Gepäckstück und wir mussten folgen. Es stellte sich heraus, dass der Mann ein kleines Haus hatte und wir zwangseingewiesen wurden. Die Leute hier in Rössel waren noch weit weg von dem Gedanken entfernt, selbst bald flüchten zu müssen.
Jeder hatte seinen Platz und der Alltag bekam erneut seinen Sinn. Viele Treuburger reisten wieder nach Hause, um nach dem Rechten zu sehen. So schickte mich meine Mutter ein paar Mal mit einer großen Liste voller Wünsche in Begleitung von Bekannten nach Hause. Keiner von uns kam auf den Gedanken, dass wir Treuburg für immer verlassen würden. Mein Stiefvater kam auf Urlaub und hatte die Idee, sein Werkzeug zu verstecken. Wie immer: Der älteste Sohn musste helfen. Also fuhren wir nach Hause. Wir rückten in der Werkstatt die Hobelbänke beiseite, mein Vater brach den Fußboden auf, der nur aus Bretterdielen bestand, sodass wir eine Grube von zwei mal zwei Metern ausheben konnten. Mein Vater hat gegraben und ich musste den Aushub mit einer Schubkarre nach draußen bringen und vor der Werkstatt verteilen. Alle Kleinwerkzeuge und Materialien wurden in Ölpapier eingepackt und in der Grube verstaut. Das Ganze wurde mit Ölpapier abgedeckt und der Fußboden wieder aufgenagelt. Die Werkbänke kamen zurück an ihren Platz, und mein Vater hoffte, bei seiner Wiederkehr alles vorzufinden. So ruhten nach acht Tagen Arbeit die Nägel, der Leim, die Schrauben und Zangen unterm Fußboden in der Werkstatt. Mit Hobelspänen wurde alles wieder „alt“ gemacht, damit keiner merkte, hier ist ein Versteck. Wir nahmen Abschied von unserer Wohnung und Heimatstadt und erreichten dann unseren Zug, der nach Rössel abfahrbereit stand.
Jetzt wohnten wir schon knapp drei Monate in dem kleinen Häuschen bei unseren Wohltätern und wir fühlten uns ganz gut. Aber auf einmal waren alle sehr aufgeregt und nervös, keiner wusste, was er tun sollte: Die Front kam ja immer näher. Es war Ende Oktober 1944 und wir hatten uns gerade ein bisschen eingelebt, da kam schon wieder der Befehl „Sammeln zum Weitertransport“. Abermals mussten wir unsere Sachen packen und auf den Zeitpunkt der Abreise warten. Es sollte nach Westen gehen, aber wohin genau wusste niemand. Mein Stiefvater war jetzt bei seiner Einheit. Der Abschied von der Familie in Rössel, die uns drei Monate Unterkunft gewährt hatte, war nicht leicht, denn wir hatten uns aneinander gewöhnt. Außerdem ahnten sie, dass ihnen das gleiche Schicksal bevorstand. So tappten wir zum angeordneten Zeitpunkt mit all unseren Sachen zum Bahnhof. Dort wimmelte es wieder von Menschen, wir mussten aufpassen, dass keiner verloren geht. Wieder ruckte der Zug ein paar Mal und fuhr dann langsam an. Alles war plötzlich so aufgeregt. Wir wussten, dass wir bald über die Weichsel fahren würden. Meine Mutter weinte leise und sagte immer wieder: „Wenn wir über die Weichsel evakuiert werden, kommen wir nicht mehr zurück in unsere Heimat.“ Leider hatte sie recht. Der Zug verringerte seine Fahrt, wurde langsamer und langsamer. Jeder erkannte auch ohne genaue Ortskenntnis, dass wir durch den ehemaligen „polnischen Korridor“ fuhren und der Zug nicht schneller als Schritttempo fahren durfte. Draußen am Gleisbett standen deutsche Soldaten und bewachten die Bahnstrecke wegen der polnischen Partisanen.
Der Eingang zum Treuburger Bahnhof, 1979
Auf einmal ahnten wir, wohin uns der Zug bringt. So manche Ortsnamen erkannten wir, sie lagen nahe an der Ostsee und sagten uns, wir fahren durch Pommern. Auch diesmal, es war schon später Nachmittag, wurde der Zug immer langsamer, bis er endlich zum Stehen kam. Wir waren in einem kleinen Vorort in der Nähe von Stargard in Pommern. Wieder rief der Bahnvorsteher „Alles aussteigen!“ Wir schleppten unsere Gepäckstücke eins nach dem andern nach draußen und saßen wie ein Häufchen Elend erneut auf einem fremden Bahnhof. Es dunkelte schon langsam und ein bisschen kalt war es auch. Ein Bauer kam auf uns zu und bat uns höflich, mit ihm zu kommen, er hätte eine Bleibe für uns. Ein kleiner Haufen, eine Mutter mit vier Kindern, wurde einfach vom Bahnhof abgeholt. Wir konnten das nicht glauben. Der Bauer, ein großer starker Mann mit derben Händen, packte gleich ein paar Gepäckstücke und ging mit uns zu seinem Pferdewagen. Es dauerte gar nicht lange und wir bogen von der Straße in sein Grundstück ein. Wir befanden uns in einem Innenhof, der von einem Wohnhaus und Stallungen gebildet wurde. Wir bekamen in einem Gebäudeteil eine Unterkunft mit einem großen Zimmer und einer kleinen Küche sowie Toilette zugeteilt, wo wir uns niederlassen konnten. Für uns Kinder war der Bauernhof das reinste Paradies. Ein Erlebnis nach dem anderen tat sich auf. Hühner, Hunde, Katzen, Kühe, Schweine und Pferde hatten meine Brüder als reine Stadtkinder noch nicht gekannt.
Aber wieder zurück zur Wirklichkeit, auch hier holte mich von Neuem der Ernst des Lebens ein. Es war vor allem die Schule, die aber nur zwei Klassen hatte. Nachts wurde es schon richtig frostig und der November zeigte uns schon, dass es Winter wurde. Drei kleine zugefrorene Seen waren ideal zum Schlittschuhlaufen, wir hatten viel Winterspaß. Das Donnern in weiter Ferne haben wir gar nicht so mitbekommen, dann zweifelten wir an unserer Wahrnehmung – Donner den ganzen Tag. Wir Kinder spielten trotzdem weiter und hatten mit Schnee und Eis viel Spaß. Jedoch kam dieses Donnern immer näher. Man sagte uns, in einem Bergwerk werde gesprengt. Aber bald glaubten wir das auch nicht mehr. Eines Tages erzählte mir mein Kumpel, nicht weit von uns sei eine Eisenbahnkanone stationiert und die Front käme immer näher. Sein Vater würde nicht darüber sprechen, aber es würde nicht lange dauern, bis wir den Ort verlassen müssten. Wir Kinder tobten und spielten trotzdem weiter und ließen uns von der Schießerei nicht irremachen. Irgendwie war das aber unsere letzte ausgelassene Jugendspielzeit, die wir noch erleben konnten. Der Dienst beim Jungvolk wurde mit einem Lob und Dank auf den Führer in der letzten Dienststunde beendet. Die Schule wurde auf die gleiche Weise geschlossen. Was wir damals noch gar nicht begriffen: Hier sollte die Evakuierung von Treuburg enden.
Durch das klare kalte Winterwetter drang immer ein Dröhnen der Artillerie. Keiner wusste, wo das genau war, denn in einem Winkel von etwa 60 Grad haben sich die Abschüsse verändert. Das Schießen wurde immer lauter, es war ein Eisenbahngeschütz, das die russische Front beschoss. Unser Bauer, bei dem wir wohnten, kam eines Tages zu uns und brachte uns schonend bei, dass wir auch seine Heimat zusammen mit ihm verlassen müssten. Viel Zeit blieb uns nicht. Meine Mutter fing gleich mit der Packerei an, sie hatte ja schon Übung darin. Also wieder Flucht vor den Russen. Auch der Bauer machte seine Wagen klar zum Beladen. Ein Kastenwagen und ein Einspänner standen zur Verfügung. Der Kastenwagen wurde mit einem Stangengerüst versehen und darüber wurde eine Plane gespannt. Nachdem wir die Lebensmittel gut verstaut hatten, wurden noch ein paar Säcke Hafer für die Pferde geladen. Es war früher Vormittag, wir waren emsig mit dem Beladen beschäftigt und merkten dabei nicht, dass das Schießen aufgehört hatte, das machte uns sehr große Angst. Auf einmal hieß es, russische Panzer stünden vor unserer Ortschaft. Der Bauer wurde langsam nervös, denn es war wirklich Eile geboten. Das Einspännergefährt wurde als Anhänger an den Planwagen befestigt, dann luden wir unsere Rucksäcke und einen Wäschekorb auf den Einspänner und zogen eine kleine Plane darüber. Mein Bruder Otto und ich kamen auf den Einspänner. Meine Mutter und die zwei kleinen Brüder durften auf den Planwagen.
Es war schon später Nachmittag, bitterkalt und der Wind wehte ein wenig Schnee über unseren Einspänner, der ja als Anhänger am Planwagen befestigt war. Der Bauer lenkte sein Gefährt auf die Hauptstraße Richtung Westen. Wir waren ja nicht die Einzigen, die nach Westen wollten, so mussten wir warten, bis eine Lücke in diesem Tross von Planwagen mit ängstlichen und frierenden Flüchtlingen frei wurde, um auf die Hauptstraße einbiegen zu können. So rollte unser Gespann über die schlecht ausgebauten Obstalleen ohne Laterne und Rücklichter die Straße entlang. Wir waren vielleicht fünf oder sechs Stunden unterwegs und durch das Rumpeln und Poltern unseres Wagens etwas eingeduselt, als dieser einen Schlag bekam und mit uns und dem Gepäck umkippte. Der Bauer hat das gar nicht gemerkt, erst als wir uns hochgerappelt hatten und zu ihm gelaufen sind, hielt er an. Da sahen wir das ganze Missgeschick. Der Einspänner war mit dem rechten Vorderrad über einen Grenzstein gefahren, das Vorderrad war zerbrochen, dadurch war der Einspänner hochgeschleudert worden und umgekippt. Der Bauer hat nicht lange gezögert, wir suchten die Gepäckstücke zusammen und alles wurde auf den Planwagen geladen. Den Einspänner mussten wir am Straßenrand stehen lassen. Mein Bruder Otto und ich mussten jetzt zu Fuß laufen. Es war schon spät in der Nacht, als wir in einen Ort fuhren, in dessen Mitte sich ein großer Platz befand. Hier haben sich die Bauern mit ihren Pferdegespannen getroffen. Die Menschen versammelten sich alle in einem Haus mit großen Räumen. Dicht an dicht saßen oder lagen sie auf dem Fußboden und nickten einfach ein.
Es schneite ein wenig und alles war nass und glitschig, es graute schon der Himmel und ein neuer Tag begann, da erscholl schon wieder der Ruf: „Die Russen stehen am Dorfeingang!“ Gott sei Dank, es war nur ein Spähwagen und nicht die Front. Die Leute sprangen aufgeschreckt aus ihren Schlafstellungen und eilten zu ihren Fahrzeugen. Alle wollten auf einmal losfahren, das ging aber nicht. Unser Bauer hat besonnen zwei Futtersäcke mit Hafer vom Wagen geholt und die Pferde gefüttert. In dieser Zeit löste sich langsam das Durcheinander der Wagenkolonne auf. So entstand ein langer Treck von Planwagen, in dem sich unserer auch einordnete. Kilometer um Kilometer tappten wir, der Otto und ich, hinter dem Wagen her. Müde sank der Kopf auf die Brust; die Augen halb geschlossen, suchten wir etwas Schutz vor Wind und Schnee hinter dem Wagen. Die Pferde gingen ihren Trott und der Bauer ließ sie gewähren. So ging ein weiterer Tag seinem Ende zu. Die Bauersfrau war gegen die Mitnahme meiner Mutter auf dem Wagen, was wir draußen nicht mitbekamen. Meine Mutter habe ich oft weinen sehen. Sie war die Hauptleidtragende mit meinem kleinen ein Jahr alten Bruder auf dem Wagen, der auch nicht immer ruhig war. Sein Hunger und seine Notdurft mussten auf kleinstem Raum bewältigt werden.
Am nächsten Morgen ging ein Raunen durch den langen Treck. Erstaunlicherweise hielt der Treck gut zusammen, sodass eine Nachricht schnell ihren Lauf nehmen konnte. „Alles rechts ran, alles rechts ran.“ Wir waren ja schon dabei, wieder loszufahren und konnten unser Gefährt ganz gut auf die rechte Seite bewegen. Da sahen wir sie auch schon kommen, die Wehrmacht zog sich zurück und alles musste weichen. Drei Panzer vorn, dahinter kamen die Lastwagen mit den Soldaten. Alle, die nicht rechtzeitig von der Straße wegkamen, wurden von den Panzern an die Seite geschoben. Der Otto und ich waren schnell bei den Pferden und hielten ihre Köpfe in unseren Händen, so konnten wir sie beruhigen. Für den Rückzug brauchte man freie Straßen. So wurde unser Treck, soweit ich das überblicken konnte, an diesem Tag aufgehalten. Der Otto und ich mussten die Pferde am Zügel nehmen und langsam und vorsichtig das Gefährt mitten auf der Landstraße halten. Der Bauer hatte zwar die Zügel in der Hand, aber die Sicht für ihn war sehr schlecht. Der Mond zeigte uns den Weg, brachte aber auch Frost, und die Landstraße überzog sich mit Glatteis. Wir merkten bald, dass auch vor uns Planwagen fuhren. Es ging immer geradeaus nach Westen. Die Straße neigte sich bergab und für uns Buben galt nur eins, die Pferde behutsam durch die mondbeschienene Landschaft zu geleiten. Der anbrechende neue Tag brachte alles ans Licht. Auf der rechten Straßenseite ging es steil bergab, so etwa fünf bis sechs Meter. Unten sahen wir das grauenvolle Elend, ich weiß es nicht, war es die schmale vereiste Straße, die Treckwagen hat abrutschen lassen oder war es der Rückzug der Deutschen Wehrmacht. Die hat alles beiseitegeschoben, was ihr im Weg war. Etwa zweihundert Meter der Straße entlang sahen wir die verunglückten Planwagen neben- oder übereinander liegen. Aber was sollte der Bauer auch mit zwei kleinen Pimpfen in dem Durcheinander ausrichten. Der Otto und ich nahmen diese furchtbaren Bilder in uns auf. Pferde lagen mit aufgeschlitzten und aufgequollenen Bäuchen auf dem verschneiten Boden, die Frauen und Männer jammerten und weinten um ihre toten Kinder. Hilflos standen sie zwischen ihrem Hab und Gut, das beim Abrutschen von der Böschung aus dem Wagen gefallen oder noch teilweise im zerborstenen Planwagen begraben war. Auch Männer und Frauen lagen verletzt oder tot am Boden und auf Hilfe konnte keiner hoffen. So irrten die kleinen Kinder von einem Menschen zum anderen, weinend und schreiend, und suchten ihre Eltern. Dies hilflose Durcheinander bei klirrendem Frost und Schneetreiben werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Ab und zu musste ich die Pferde am Zügel nehmen und beruhigen und langsam führen. Sie merkten das und reagierten auf jede Geste von uns. Nur nicht abrutschen und das gleiche Schicksal wie unsere da unten liegenden Vorgänger teilen. Aber das Schneetreiben wurde heftiger und unser Bauer sah von seinem Kutschbock auf einmal nicht mehr die Straße. So trabte ich neben dem rechten Pferd und hielt einen gewissen Abstand zum Graben, immer bedacht, das Gefährt auf der Mitte der Straße zu halten. Keiner hatte Zeit, die Leichen und Kadaver zu beerdigen. Ein Friedhof aus Trümmern und Kummer. Leise deckte der Schnee mit seinem weißen Gewand alles zu. Otto und ich liefen jetzt schon bald acht Tage von morgens bis abends hinter dem Planwagen her.
Der Schneefall wird immer stärker, aber die Straßen werden besser. Unser Bauer muss einen sechsten Sinn gehabt haben, er bog von der Hauptstraße ab und fuhr durch ein kleines Waldstück. Wir erblickten eine weite Ebene und mittendrin ein großes Gut mit ein paar kleinen Häuschen, die links und rechts der schmalen Straße standen. Die Straße führte zum Gutsgebäude, das mit seinen Stallungen ein großes Viereck bildete. Auf diesem großen Platz standen schon einige Planwagen, die vor uns denselben Weg gefunden hatten. Der Bauer wollte eine Ruhepause für seine Pferde, die uns eine weite Strecke durch Mecklenburg gebracht hatten. Meine Mutter hatte sich mit ein paar gleichgesinnten Flüchtlingsfrauen, die auch mit ihren Bauern geflüchtet waren, zusammengetan und alle fanden: „Bis hierher und nicht weiter.“ Sie hatten einfach keine Kraft mehr, zumal im Nebengebäude ausreichend Platz für ungefähr vier Familien angeboten wurde. Das war natürlich verlockend und sie waren der Meinung, hier sind wir in Sicherheit. So endete auf diesem kleinen Fleckchen Erdoberfläche in Hohenstein unsere Flucht mit Pferd und Planwagen.
Der Bauer war weiter nach Westen gefahren. Meine Mutter und auch die anderen Frauen haben gleich angefangen, die Zimmer gründlich sauber zu machen, bevor wir mit Sack und Pack einzogen. Für uns Kinder war die Zeit auf dem Gut eine wunderbare Gelegenheit, das Gut und seine Umgebung zu erkunden. Wir Kinder hatten auch noch nicht den Ernst des Lebens und die Lage, in der wir uns befanden, erkannt; wir waren eben noch Kinder mit unserer unbekümmerten Lebensfreude. Langsam wurde es Frühling, der Schnee schmolz dahin. An Schule war weiterhin nicht zu denken; die Angst, dass die Russen bald hier sein könnten, lähmte uns enorm. Eines Tages wurden luftbereifte Pritschenwagen auf den Hof gestellt und Planen darüber gebaut, so wie wir es mit dem Bauern aus Pommern schon einmal gemacht hatten. Da wusste jeder, wir müssen wieder flüchten und die schöne friedliche Zeit ist vorbei. Nach ungefähr zwölf Wochen Aufenthalt ging alles ganz schnell. Für uns drei Flüchtlingsfamilien standen ein Wagen und ein Knecht als Kutscher bereit. Die Knechte vom Gut, sie stammten alle aus Polen, halfen uns, das Gepäck und unsere Sachen auf den Wagen zu laden. So begann im späten Frühjahr 1945 das zweite Mal der Versuch, den Russen zu entkommen. Wir fuhren den schmalen Weg vom Gut zum kleinen Waldstück an der Hauptstraße. Hier begegneten uns viele deutsche Soldaten, die ihre Waffen und Munition weggeworfen hatten und Richtung Westen flohen. Sie berichteten uns, dass die Russen nicht mehr weit weg waren. Da kam sie auch schon, die breite Front der Russen. Wir drei Familien verstreuten uns im Wald und suchten eine kleine Mulde als Versteck. Alle glaubten, die werden uns in diesem Gestrüpp nicht finden. Immer näher kam das Geschrei der Russen. Mit schlotternden Knien kletterten wir aus unserem Versteck und begaben uns dann doch mit erhobenen Händen zu den Russen, die ihre Waffen auf uns richteten. Wir wurden zu den anderen Familien getrieben, die schon auf der Hauptstraße versammelt waren. Die Hände über dem Kopf marschierten wir den schmalen Weg vom Wald zum Gut als Gefangene zurück.
In unsere Zimmer auf dem Gut durften wir nicht mehr zurück, da hatten sich schon die Russen einquartiert und im Herrenhaus eine Kommandantur eingerichtet. Die Leute vom Gut nahmen uns erst einmal in ihre kleinen Häuschen auf. Sie hatten auch Angst und so rückten wir alle eng zusammen. Am Ende der Straße stand ganz einsam und verlassen eine Holzbaracke, wo die Knechte aus Polen gewohnt hatten. Der ehemalige Gutsverwalter kam und bat uns Flüchtlingsfamilien, jeweils ein Zimmer zu bewohnen. Die Baracke bestand aus vier großen Räumen und einer kleinen Küche mit einem Herd. Da standen wir nun in einer dreckigen Baracke ohne Putzzeug. Die Frauen brachen erst mal in Tränen aus und konnten sich gar nicht beruhigen. So fing das Elend unter den Russen an. Nichts zu essen und zu trinken, aber es gab eine Wasserleitung. Wir gingen zu den Einheimischen und sprachen mit ihnen. So ließ sich einiges organisieren.
Zwei Tage später wurde uns ausgerichtet, dass die luftbereiften Rollen auf dem Gutshof stünden und wir unsere Sachen abholen könnten. Die Frauen hatten Angst, so haben wir Kinder diese Arbeit übernommen. Aber jedes Gepäckstück war aufgebrochen und alles, aber auch alles von vier Familien durcheinandergeworfen. Bald bekamen wir spitz, dass die polnischen Arbeiter alles, was sie gebrauchen konnten, auf einen Pferdewagen geladen hatten und damit in ihre polnische Heimat gefahren waren. Wir verstauten die uns verbliebenen Sachen in Taschen und Rucksäcke, die auf dem Wagen noch vorhanden waren, und brachten alles zu unseren Müttern. Wir Kinder hatten uns