Flüchtige Freunde - Anna Caritj - E-Book

Flüchtige Freunde E-Book

Anna Caritj

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Beschreibung

Halloween — die Nacht, in der man alles und jeder sein darf. Auf dem Collegecampus bereitet man sich aufgeregt auf das wilde Treiben vor. Leda, Studentin im dritten Jahr, will eigentlich cool bleiben, aber als Ian signalisiert, sie auf einer Party treffen zu wollen, lässt sie sich doch in die allgemeine Aufregung mit hineinziehen. Am nächsten Morgen wacht sie mit einen Filmriss und einem tiefen Riss in der Lippe auf. Was genau ist letzte Nacht passiert? Als dann eine Kommilitonin vermisst wird, versucht Leda obsessiv herauszufinden, wo sie stecken könnte. Immer unschärfer werden ihre Motive für diese Nachforschungen: Sucht Leda noch Charlotte? Oder eigentlich sich selbst?

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Übersetzung aus dem Englischen von Christiane Sipeer

 

Für Mom

 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Leda and the Swan bei Riverhead Books/Penguin Random House, New York

© Anna Caritj 2021

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: plainpicture/Pupa Neumann

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Leda und der Schwan

1

Samstag, 31. Oktober

2

Montag, 2. November

3

Mittwoch, 4. November

4

Donnerstag, 5. November

5

Freitag, 6. November

6

Samstag, 7. November

7

Montag, 9. November

8

Dienstag, 10. November

9

Mittwoch, 11. November

10

Freitag, 13. November

11

Samstag, 14. November

12

Samstag, 14. November

13

Montag, 16. November

14

Montag, 16. November

15

Mittwoch, 2. Dezember

16

Montag, 7. Dezember

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Ein jäher Stoß: die Schwingen schlagen noch

Über der Taumelnden, Lenden liebkost

Von dunkler Schwimmhaut, Schnabel ums Genick,

Hält er sie, hilflos, Brust auf seiner Brust.

 

Wie schieben so verzagte Finger nur

Die Federpracht aus fast gelöstem Schoß?

Wie kommt ihr Leib, so weiß umrauscht, umhin,

Das fremde Herz zu spüren, wo es liegt?

 

Ein Schauder in der Lendengegend zeugt

Zerstörte Mauern, Feuer, Turm und Dach

Und Agamemnon tot.

So ausgetrickst,

So übermannt vom rohen Blut der Luft,

Nahm sie sein Wissen auf mit seiner Macht,

Eh sie der kalte Schnabel fallen lassen kann?

»Leda und der Schwan«, William Butler Yeats (1924)[1]

1

Samstag, 31. Oktober

Leda band sich die neonpinken Laufschuhe, während Engel, Astronauten und Superhelden sich auf die erste Runde »Süßes oder Saures!« machten. Sie gingen vor der Treppe der Psi-Delta-Verbindung vorbei, richteten ihre Heiligenscheine, zerrten Polyesterschwänze hinter sich her, rannten (oder bekamen zu hören: Nicht rennen!), wurden auf dem Arm getragen: eine staunende Hummel, eine Erbsenschote. Im Astronomieseminar hatte Leda gelernt, dass die Welt 4,5 Milliarden Jahre alt war und die Menschheit den kosmischen Plan kaum angeknittert hatte. Das Leben war klein, so viel stand fest. Aber in solchen Augenblicken kam es ihr gewaltig vor – wenn sie Kinderstimmen hörte, das Zwitschern der Meisen und Polizeisirenen, die irgendwo heulten –, beinahe lieblich. Es kam ihr gewaltig vor, wenn sie einfach die Tür öffnen und die letzten roten Blätter des Hartriegelstrauchs betrachten konnte, die klaren Sonnenstrahlen und die weißen Rechenperlen, die am Himmel vorbeizogen. Da stand Leda, und die Welt um sie herum summte. Da stand Leda auf der Schwelle des Tages und fragte sich, ob heute alles beginnen oder zu Ende gehen würde. Etwas kam ins Rutschen, das spürte sie.

Die Kinder strömten auf den Lawn – den viereckigen, begrünten und in Terrassen angelegten Hof des Colleges, umgeben von zehn Pavillons und um die fünfzig Zimmern für Studierende der höheren Jahrgänge, deren Bewohner, wie Leda annahm, bereits vor der Tür standen und Süßigkeiten verteilten. Als Kind war Leda auch zu diesem Spektakel gegangen. Als sie einmal gemerkt hatte, wie ihre Mutter ihr einen Schokoriegel stibitzte, hatte die kauend gewitzelt, sie wolle nur testen, ob er vergiftet sei.

Inzwischen war Leda zu alt für Süßes oder Saures. Sie dehnte sich mit dem Kopf nach unten und gespreizten Beinen vor dem Haus. Sie roch bemoosten Stein und gefallenes Laub. Kopfüber sah sie eine Piratenbande über die Ampel an der Ecke Memorial Road und University laufen. Sie beobachtete ein T-Bone-Steak, wie es zum Planschbecken der Nachbarn rannte, in dem noch unberührte Bierdosen in geschmolzenem Eis lagen. Das Elternteil des Steaks (eine Kuh) fing das Kind wieder ein und trug es durch taubedeckte rote Plastikbecher hindurch zurück auf den Gehweg.

Leda dehnte sich und berührte mit der Schädeldecke beinahe den Boden. Sie sah an ihren sommersprossigen Beinen empor, den kurzen Shorts, dahinter eine V-Formation schreiender Gänse und windgetriebene Wolken. Morgen, schätzte sie. Wobei die Zeit eigentlich keine Rolle spielte. Es war Samstag. Sie gähnte kopfüber und hielt sich die Hand vor den Mund. Komische Geste, wo doch niemand in der Nähe war.

Sie trottete zum benachbarten Varsity Field, um die Waden zu dehnen. Mit den grauen Säulen und den Sitzbänken aus Beton hatte es etwas von einem klassischen römischen Theater, und die verfallene Atmosphäre, die allgemeine Heruntergekommenheit, sorgte dafür, dass die Studenten es sich hier gern gemütlich machten, eine Runde schliefen, benutzte Tampons zurückließen oder Sex hatten, wobei das Leda eher ungemütlich schien – immerhin lagen überall Glasscherben. Die Bögen und Kolonnaden gehörten zum Stil, auf den sich ihre Universität seit zweihundert Jahren etwas einbildete, obwohl die Architektur hier eher verwahrlost wirkte. Das Feld lag außerhalb des Campus und war umgeben von Verbindungshäusern (heißt: Horden Betrunkener).

Am anderen Ende standen unscheinbare Backsteinwohnheime. Dahinter konnte Leda O-Hill (O wie Observatorium) sehen, eine ihrer beiden liebsten Laufstrecken. Die Route führte durch einen dichten Wald und endete am Linsenteleskop der Universität. Ziel der zweiten Strecke war ein Friedhof aus Bürgerkriegszeiten in der Innenstadt. Die war zwar kürzer, dauerte jedoch jedes Mal länger als O-Hill, weil Leda gern zwischen den Gräbern umherstreifte und gedankenverloren nach Familiennamen suchte. Sie entdeckte nie welche. Das entscheidende Grab – das ihrer Mutter – lag sechzig Kilometer entfernt.

Leda kehrte dem Hügel den Rücken, stellte die Zehenspitzen auf eine Stufe und schob die Fersen nach unten. Jemand hatte Glitter verschüttet, der Kies schimmerte. Über ihr flatterten fünf Höschen an einer Leine, die zwischen zwei Säulen der dorischen Kolonnade gespannt war. Auf der anderen Straßenseite lugte die Sonne über das Dach der Kappa-Chi-Verbindung. Griechische Buchstaben und Kürzel von Geheimbünden zierten alle Seiten des Gebäudes. Ein Mädchen mit Paillettenoberteil saß auf einem Bierfass vor einem aufgemalten Chi auf der Veranda. Das weiße X breitete sich hinter ihr aus wie Flügel.

An einem Pfahl im Vorgarten baumelte eine fleischartige Maske. Im Inneren des Frat-Hauses knisterte etwas wie ein Rückkoppelungsgeräusch. Leda wollte sich gerade unter der Höschengirlande hindurchducken und loslaufen, als Klaviermusik aus der Verbindung schallte. Zwei Tauben schossen gen Himmel wie Feuerwerkskörper. Das Paillettenmädchen schaute ihnen nach, und die Musik leierte, jetzt waren es Synthesizer, dann wieder Klavier. Vielleicht eine verbogene Schallplatte, oder es war Ledas Gehör, das den Klang fehlinterpretierte, Durakkorde, die zu Mollakkorden verschwammen, keine eindeutige Tonart. Dann hob die Klaviermelodie wieder an, dazu der schwummerige Gesang:

You can dance …

Ein Zug ratterte hinter dem Sportplatz vorbei und übertönte »Dancing Queen«. Als Leda mit den Füßen zu schlurfen begann – ein müder Tanz –, hörte sie die Musik kaum noch. Der Zug zischte hinter dem Maschendrahtzaun vorbei, in den Waben wiederholte sich das schwarz-rot-graue Muster. Normalerweise winkte Leda dem Lokführer zu, eine alberne Angewohnheit aus Kindertagen, aber heute sah sie niemanden im Fenster.

See that girl …

Das Paillettenmädchen verschwand, als Leda um die Ecke bog. Sie kam an weiteren Fraternitys und einigen Sororitys vorbei. Sie überquerte die Beta Bridge mit ihren Generationen von Farbschichten, die nach der Zugdurchfahrt in anhaltende Stille gehüllt war. Ein Auto fuhr vorbei und hinterließ einen Luftstoß. Vor ihr auf dem Gehweg spazierte ein winziger Power Ranger mit seiner Mutter. Leda lief. Sie sprang über Glasscherben – zerschmettert wie Kies – und überquerte die Straße, dort lagen ebenfalls Scherben. Die Rotunda erhob sich in der Ferne, aber sie bog in eine Nebenstraße ab und verlor sie aus den Augen. Sträucher wucherten auf den Bürgersteig. Über dem Verandageländer einer Studentinnenverbindung hingen Handtücher mit Disneyprinzessinnen: Jasmin, Belle, Dornröschen.

In der Fraternity Row überholte sie eine andere Joggerin. Dann noch eine. Sie kam an einem Esstisch vorbei, der unter einer Stechpalme hervorragte und mit künstlichen Spinnweben und orangefarbenen Perlen bedeckt war. Sie kam an drei Styroporbehältern mit etwas vorbei, das nicht nach Essen aussah. Sie kam an vier Jungs vorbei, die auf dem Dach eines Verbindungshauses saßen, aus roten Bechern tranken und Würstchen aßen. Zwar trug nur einer von ihnen eine Toga, aber alle vier warfen sich in Pose wie Möchtegerngötter. Einer schleuderte seine Sonnenbrille vom Dach und brüllte etwas. Leda lief unbeirrt weiter. Sie wollte ihnen nicht das Vergnügen ihrer Aufmerksamkeit gönnen. Sie summte: Young and sweet … Die Straße wurde breiter. Hinter ihr grölten die Götter vom Dach, weil sie so wenig Beachtung gefunden hatten.

»Fotze«, rief ihr einer hinterher. »Schlampe!«

Leda salutierte. In den drei Jahren am College hatte sie schon Schlimmeres zu hören bekommen. Die Bezeichnungen, mit denen Frauen, Männer – alle – bedacht wurden, waren wie die Namen von Tieren und Pflanzen: angenehm praktisch, eine Vereinfachung der unzähligen Ausprägungen der Welt. Denn vor all diesen Bezeichnungen, bevor sie sich wirklich an etwas erinnern konnte, war sie ein Kind mit einem Plastikkürbis in der Hand gewesen: klein und wundersam und auf dem Weg ins Hier und Jetzt. Genau wie alle anderen.

Sie gähnte erneut. Hielt sich die Hand vor den Mund, damit niemand ihre Zunge und Zähne sehen musste. Sie hatte gehört, dass kürzlich ein Mädchen von einem dieser Frat-Dächer gefallen war. Anscheinend keine Göttin. Auch kein Engel. Bloß besoffen.

Eine Kirchenglocke begann zu läuten, als die Fraternity Row in eine belebtere Straße mündete. Hier gab es noch mehr Jogger: noch mehr Shorts und Neonsneaker. Ein Bus keuchte heran und senkte sich auf den Zebrastreifen, Leda wartete, ihr Kopf hüpfte im dunklen Schmutz der Scheibe auf und ab, der rote Pferdeschwanz wippte. Sie summte mit dem Motor, immer wieder dieselbe Strophe von »Dancing Queen«. Die Kirchenglocke läutete weiter. Es war doch nicht Morgen. Überraschung: Leda hatte verschlafen. Die Uhr an der Bank zeigte genau zwölf Uhr an.

Kinder strömten auf den Lawn. Dahinter schleppten Eltern Kürbiseimerchen und Lunchboxen. Inmitten des Trubels erkannte Leda Studierende der Universität, die sich genauso sorgfältig verkleidet hatten wie die Kinder. Sie rannte an drei von ihnen in Fechtanzügen vorbei – sie hatten die Masken heruntergezogen und vollführten in weißen Handschuhen wackelige Stöße mit ihren Floretten. Sie lief an der Anthropologie vorbei, von deren Fries steinerne Tierköpfe herabblickten: ein Walross, ein Tapir, ein Nashorn und irgendeine Bestie mit offenem Maul.

Leda erklomm die breite Treppe der Rotunda und joggte über die Terrasse, befand sich nun auf einer Höhe mit weißen Giebeln und den Kronen der Magnolienbäume. Ihre Sohlen quietschten über den Marmor. Ihr Spiegelbild, kaum mehr als ein Farbklecks, blitzte in den Fenstern der Rotunda auf. Sie umrundete das Gebäude und lief unter baumdicken Säulen und einem Gewimmel aus Kapitellen entlang. Über ihr schwebte ein Ballon – erst einer, dann drei, dann unzählige.

Die Welt war hellwach; der Tag hatte längst ohne sie begonnen. Das passierte ihr immer wieder: Die Zukunft brach an, als wäre die Welt auf der anderen Seite der Treppe zur Rotunda (die schimmernden Ginkgos, die steinerne Kapelle, die durch die Fenster der Bibliothek sichtbaren Bücherstapel) ein Vorhang, der sich zurückziehen ließ. Was dahinter zum Vorschein kam … war offensichtlich nichts Schlimmes. Bloß überraschend. Wie jetzt, als sie um eine stinknormale Ecke bog und sich inmitten bunter Schminke, Pailletten und Zopfperücken wiederfand. Laute Stimmen. Fröhliches Geschrei. Grinsende Kürbislaternen in der Mittagssonne.

Niemand sonst schien überrascht. Niemand sonst schien den endlosen, stetig zunehmenden Tumult auf der Welt zu bemerken. Aber Leda musste anhalten. Alles in sich aufnehmen. Es war, als hätte die Zeit einen Riss bekommen, aus dem ein Teil der Vergangenheit austrat und durch den die Zukunft hereinsickerte. Das Fest war Jahr für Jahr das gleiche. Ihre Mutter hätte auch jetzt noch hier sein können: mit ihren roten Clogs, der Nikon um den Hals. Sie sah die Lesebrille in ihrem Haar vor sich, die Wolltasche und ringsum dieselben weißen Säulen, geschmückt mit orangefarbenen Luftschlangen. Aber ihre Mutter selbst – ihr tatsächliches Gesicht – konnte sie sich nicht so leicht vorstellen.

Leda hielt sich an einem Geländer fest.

Von der Wiese rief jemand: »Lee!«

Neben einem der riesigen Bäume auf dem Lawn (ein Ahorn, den roten Blättern nach zu urteilen) spiegelten sich Menschen in silbernen Ballons – sie kauten an Sugardaddy-Lollis, zogen ihre Strumpfhosen hoch, ließen Plastikmesser aus der Scheide und wieder zurückgleiten. Oftmals waren die College-Studenten kaum von den Kindern zu unterscheiden. Leda hielt sich immer noch am Geländer fest. In manchen Ballons spiegelte sich auch der weiße Himmel. Da war die Welt: hell, heiter und dennoch aufgeblasen und leer.

Die Stimme auf der Wiese verstummte nicht. »Leda, du Schlampe! Kleine Nutte. Lee!«

Natürlich waren die Ballons nicht wirklich leer. Nur weil sie das Helium und was auch immer sonst nicht sehen konnte, hieß das ja nicht, dass nichts da war.

»Juuhuu, Lee!«

Leda blinzelte. Unter ihr schwenkte eine blonde Hexe einen geschnitzten Kürbis. Ein Peanut Butter Cup fiel aus dem Kürbismund, und ein Gerippe – ein Mann im Ganzkörperanzug mit aufgedrucktem Skelett – hob die Süßigkeit auf, zeigte Leda seinen Schädel und verschwand in der Menge.

Die Hexe schob ihre Brüste zurecht. »Leda, wo ist dein Kostüm?«

»Hab es an.« Leda kam langsam wieder zu sich, als sie ihre Freundin und Psi-Delt-Schwester Carly am Fuß der Treppe traf.

»Sehr witzig. Hältst du mal kurz?« Carly lud den Kürbis auf Ledas Arm ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Carly war Ledas »Große« – kurz für »große Schwester«, also ihre Mentorin, seit Leda der Verbindung beigetreten war –, und somit war Leda als Carlys »Kleine« an die Knechtschaft gewöhnt (nur Spaß, na ja, vielleicht auch nicht). Nun rückte Carly sich den spitzen Hut gerade und pflückte eine Plastikspinne aus ihrem aufgeladenen Haar. »Ich hätte einfach einen Plastikkürbis nehmen sollen, aber ich dachte, so ist es, na ja, hexenmäßiger. Und jetzt fallen mir gleich die Arme ab.«

Irgendwo spielte jemand ununterbrochen wahnsinniges Gelächter ab. Leda balancierte den feuchten, schweren Kürbis auf dem Arm. Ein Gespenst im weißen Laken huschte vorbei und entschuldigte sich: »Ladys«, während ein Junge mit zu großem Football-Helm sich vor Leda stellte und sang: »Süßes oder Saures!« Leda hielt ihm den Kürbis entgegen, und er nahm sich ein Peanut Butter Cup.

»Danke.« Der Junge packte die Süßigkeit in seinen Kissenbezug.

»Ich dachte, das Ding wäre in null Komma nichts leer«, sagte Carly. »Aber die Kids hier sind so verdammt wohlerzogen. Nehmen sich mit spitzen Fingern ein kleines Stück. Klaut keiner mehr die ganze Schüssel?«

»So wie du?« Leda trat von einem Fuß auf den anderen.

»Außerdem ist es noch nicht mal dunkel. Der Spaß bestand doch darin, bei Fremden zu klingeln, oder? Dann saß da immer jemand im Dunkeln auf der Veranda, tot oder eingeschlafen oder so, mit der Süßigkeitenschüssel auf dem Schoß, und dann musste man sich anschleichen und danach …«

»Süßes oder Saures!«

Leda hielt den Kürbis einem Feentrio hin. Die Mädchen nahmen sich je eine Süßigkeit, fuchtelten mit ihren Zauberstäben in Ledas Richtung und rannten mit fliegenden Beinen davon.

»Echt tragisch«, antwortete Leda, jetzt wieder ganz bei sich. »Sie machen uns Halloween kaputt.«

»Da sollte wirklich jemand was unternehmen. Außerdem sind neunzig Prozent der Kostüme total bescheuert.«

»Du bist eine Hexe, Carly.«

»Die Hexe ist ein Klassiker. Unbestritten. Und von historischer Bedeutung.«

»Hast du Mary gesehen?«

An sich eine harmlose Frage, aber Carly ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihre ehemalige Schwester schlechtzumachen. »Oh Mann.« Carly verdrehte die Augen. »Mary hat schwarze Flügel an. Sie hat mir zwar gesagt, was sie darstellen soll, aber ich hab es wieder vergessen. Sieht nicht mal hübsch aus. Wahrscheinlich ist sie besoffen oder so.«

Mary wohnte dieses Jahr am Lawn, konnte aus der Tür direkt auf das lang gezogene, rechteckige Rasenstück treten. Eine Ehre – um dort zu residieren, musste man hohes akademisches Ansehen genießen. Aber Ledas Verbindungsschwestern meinten in letzter Zeit, Mary sei komisch geworden.

Carly trug Lipgloss auf. »Nimmst du ihn mir ab?«

»Was?«

»Den Kürbis. Die Süßigkeiten. Ich kann kaum noch die Arme heben, Lee.«

»Würde ich ja gerne, aber ich laufe noch bis O-Hill.«

»Nein, du nimmst meinen Kürbis und gehst Mary Hallo sagen, deren einzige positive Eigenschaft ihre Nachbarschaft zu Ian Gray ist, der heute nichts als eine weite Toga über seinem ansehnlichen Oberkörper trägt.«

Leda versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Klingt ja sensationell.«

»Er ist so süß«, sagte Carly. »Und er steht auf dich.«

Ian besuchte die A School, wobei das A für Architektur stand. Er war blond, Schwimmer und hatte blaue Augen und ein zugewandtes Gesicht, das zu sagen schien: Ich höre dir zu oder Du bist wunderschön.

Leda fragte: »Wer sagt das?«

»Lee.« Carly sah sie mit aufgerissenen Augen an, als wäre Leda begriffsstutzig. »Das merkt doch jeder. Also bitte.«

Carly war nicht die Einzige, die in letzter Zeit über Ian sprach. Die Ehrenamtler von Psi Delta schwärmten ständig davon, dass er in diesem oder jenem Dorf Häuser baute, dass er die Gebäude nicht nur entwerfen, sondern auch errichten wollte. Letzten Sommer war ihm bei einem Freiwilligeneinsatz angeblich der Blinddarm geplatzt, und er hatte sich in einem Zelt mit nichts als lokaler Betäubung operieren lassen müssen (obwohl die Einzelheiten sich leicht unterschieden, je nachdem, wer die Geschichte erzählte). Wieder genesen kehrte er zurück, um das angefangene Haus fertig zu bauen.

Er ist so engagiert, bekam Leda pausenlos von ihren Schwestern zu hören. Und sieht auch noch gut aus.

Jemand rief: »Platz da!«

Die Fechter eilten mit gekreuzten Floretten vorbei. Einer sprang den ersten flachen Hügel des Lawn hinab. Der Rasen war stufenförmig angelegt, sodass Leda von ihrem Standpunkt aus die Berge hinter den Dächern der Lawn-Zimmer, der Pavillons mit ihren Kuppeln und von Bell Hall sehen konnte, die am anderen Ende des Rechtecks gegenüber der Rotunda lag. Der Fechter landete leichtfüßig auf dem gepflasterten Weg am Fuß des Hügels, zwei weitere nahmen die Verfolgung auf. Ihnen hinterher stürmte eine schreiende Horde Mini-Ninja-Turtles.

»Hast du uns überhaupt mal zusammen gesehen?«, fragte Leda Carly.

»Das muss ich gar nicht.«

»Wir sind im selben Astronomiekurs, zusammen mit etwa zweihundert anderen Leuten. Wir sitzen nicht mal auf derselben Seite des Raumes.«

»Tja, dann weißt du erstens schon mal, wo er sitzt, und zweitens habe ich gehört, dass er dir geschrieben hat.«

»Und?« Leda spürte, wie sie rot wurde. Ja, er hatte ihr geschrieben, und sie hatte kokett nicht geantwortet. Aber es war nur eine Schwärmerei, ganz ehrlich, sie war nicht verliebt in ihn. Dennoch keine Kleinigkeit, gesehen zu werden, bemerkt zu werden. Sie fühlte sich angenehm aus dem Konzept gebracht, als hätte diese eine Nachricht ihre ganze Welt verschoben.

»Ich finde dich undankbar.« Carly zupfte an ihrem Dekolleté. »Du solltest wenigstens geringfügig begeistert tun. Ich an deiner Stelle würde niederknien.«

Leda konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie sich mit Carlys Kürbis auf den Weg zu Marys Zimmer machte. Natürlich hätte Carly sie niemals dort hingeschickt, wenn nicht ausgerechnet Ian neben ihrer Ex-Schwester wohnen würde. Normalerweise taten Carly und die anderen Psi Delts so, als existierte Mary gar nicht mehr. Schwester, hatte Carly einmal gesagt, als sie betrunken war, ist bloß ein Wort.

Aber Mary war Ledas erste Freundin am College gewesen. Das erzählte sie natürlich nicht Carly, aber kein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter war Mary der erste Mensch gewesen, der (zumindest ansatzweise) Ledas tief sitzende Einsamkeit vertreiben konnte.

Marys Tür war offen, ebenso wie die der anderen Lawn-Zimmer. Der Rasen war gewissermaßen ihr Vorgarten. Und der überdachte, gepflasterte Weg mit der endlosen Kolonnade ihre Terrasse, auf der heute kreischende Kinder herumtobten. Mary saß auf ihrer Treppe und ließ ein Rudel kleiner Löwen Süßigkeiten aussuchen. Sie trug ein Samtkleid und grünen Glitzerlidschatten. Kunstblut lief ihr aus dem Mund. Ein Sukkubus, sagte sie, als die Löwen weg waren. Es sah doch hübsch aus. Sogar sexy. Das Kostüm entsprach einfach nicht den Richtlinien von Psi Delta.

»Carly meinte, du hättest Flügel«, sagte Leda und schob sich eins von Marys Bonbons in den Mund.

»Carly ist besoffen.«

»Witzig.« Leda stellte Carlys Kürbis ab und warf einen Blick in Richtung Ians Zimmer. »Genau das hat sie über dich auch gesagt.«

Ians Lawn-Tür hatte dunkle Fensterläden, die mit einem Bungeeseil offen gehalten wurden. Neben seiner Treppe war sein universitätseigener Schaukelstuhl an der Fassade festgekettet, daneben ein universitätseigener Holzstapel. Im Innern des Zimmers – das wusste Leda – sah es genauso aus wie bei Mary: ein Fenster, ein Kamin. Ein Hochbett, ein Holzschreibtisch. Es waren alles Einzelzimmer – gelehrt und spartanisch, ein Traum für verkopfte Nerds wie Mary.

Mary folgte ihrem Blick. »Ich glaube, Ian wollte noch mehr Süßkram kaufen. Die Kinder kriegen den Hals nicht voll.«

Leda umrundete Ians Holzstapel. »Auf Carlys sind sie nicht so scharf.«

»Carly kommt ja auch wie eine echte Hexe rüber.«

»Werde ich ihr ausrichten.« Leda lächelte und tippte sich an die Lippe. »Was soll das Blut?«

»Na ja, ich bin ein Dämon, oder? Eine ganz schöne Sauerei, Männern die … sagen wir mal Zeugungskraft auszusaugen.« Mary grinste blutrünstig. »Und sag jetzt bloß nicht, was du garantiert denkst. Das Zeug ist nicht schlimm. Schmeckt nach Kirsche.«

Leda versiegelte sich mit Unschuldsmiene die Lippen. Trotz ihrer Klugheit hatte Mary Angst vor Blut. Genauer gesagt machte ihr die Tatsache zu schaffen, dass sie einen Körper hatte. Wenn sie sich verletzte – sei es nur ein kleiner Schnitt, ein Splitter oder eine Sicherheitsnadel, die ihr in den Daumen pikste, ohne dass es überhaupt blutete –, umwickelte sie die Stelle mit Papiertüchern oder ballte so lange die Faust, bis jemand anderes es sich ansah.

»Dornröschen ist schuld«, sagte Mary. »Sie sticht sich in den Finger, und dann? Ist sie tot? War doch so, oder?«

»Na ja, kleine Mädchen sollten irgendwelchen Stacheln eben nicht zu nahe kommen …«

Mary schlug sich gegen die Stirn. »So habe ich Dornröschen echt noch nie betrachtet! Im Ernst. Wieso noch mal hast du nicht Englisch als Hauptfach genommen?«

Typisch Mary. Leda hatte gemeinsam mit ihr einige Pflichtkurse in Englisch absolviert, sich dann aber für Spanisch als Hauptfach entschieden. Sie ignorierte die Bemerkung und bewegte sich beiläufig in Richtung Ians offener Tür. Drinnen brannte ein Feuer im Kamin. Sein Schreibtisch war übersät mit Büchern und Skizzierpapier. Neben dem Schrank stand ein Skelett.

»Oh …« Leda machte einen Schritt rückwärts, als das Gerippe sich in Bewegung setzte. Ein Mann im Skelettkostüm. Leda konnte seine Augen nicht sehen, aber er war etwa so groß wie Ian. »Entschuldigung. Ian?«

Das Gerippe trat auf sie zu und atmete geräuschvoll durch den Nylonstoff über Nase und Mund. Er tippte sich zum Gruß gegen die Schläfe, schlüpfte aus dem Zimmer und mischte sich unter die Menge.

Leda kehrte zu Mary zurück und zeigte ihm hinterher. »Hast du das gesehen?«

»Was?«

»Da war ein Typ in Ians Zimmer.«

Mary begutachtete ihr Kunstblut im Spiegel. »Ich glaube, die Schwimmer sind da. Ein paar von denen haben eben auf dem Rasen Handstand gemacht, in Poseidonkostümen oder so.«

»Das war aber ein Gerippe.«

»Cool. Wie originell.« Mary wickelte ein Schokoladen-Karamell-Bonbon aus ihrer Süßigkeitenschale aus und bot Leda ebenfalls eines an.

»Nein danke. Aber einen Lolli nehme ich gerne.« Leda packte das Ding aus und biss krachend darauf. »Gehst du nachher auch zu der Schaumparty?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Schaum noch nie Teil der Tradition von All Hallows’ Eve, Samhain oder sonst irgendwas war.«

Solchen Scheiß redete Mary in letzter Zeit.

»Klappe, Mary. Komm zur Party.«

Mary schüttelte lächelnd den Kopf, und Leda ließ sich von der glitzernden, bemalten Menge in schweflig riechenden Bodysuits mitreißen. Sie wagte einen letzten Blick in Ians leeres Zimmer, zerkaute die Reste ihres Lollis und sagte innerlich Komm zur Party auf wie einen Zauberspruch.

Die Massen trugen sie mit sich fort, mal fließend, mal stockend. Leda blieb stehen, als vor ihr drei Giraffen endlos im Kreis galoppierten. Eine heulende Cinderella mit blauen Puffärmeln prallte ihr in die Kniekehlen. Bei nächster Gelegenheit verschwand Leda in einer Seitengasse und joggte vorbei an Gartenmauern fort vom Lawn. Ihre Schuhe landeten auf hellem Kies und Herbstlaub. Aus dem Kies wurde Asphalt. Die besäulten Gebäude wichen Backsteinwohnheimen, je weiter sie sich vom Herzen der Universität entfernte. Sie kam an der Sporthalle vorbei, in der sie ihren Studentenjob absolvierte. Dabei saß sie am Tresen und sah zu, wie Studierende und Dozenten ihre Ausweise scannten. Manchmal musste sie abschließen. Manchmal sauber machen. Wenn nichts los war, schaute sie durch die Innenfenster hinter ihrem Tresen auf das olympische Schwimmbecken zwei Etagen tiefer.

Kurioserweise nutzte sie die Sportmöglichkeiten hier gar nicht. Sie trainierte einfach nicht gern drinnen, lief ungern auf der Stelle und wollte auch nicht schnaufend einen willkürlichen Punkt fixieren (den Thermostat, die Knöpfe am Fernseher, die Anleitung des Defibrillators). Sie brauchte Hindernisse, über die sie springen konnte. Sie brauchte Wind, Regen, Eis oder Hitze. Sie brauchte das Gefühl, vor etwas wegzulaufen. Fang mich, hatte sie immer ihre Mutter angebettelt, verängstigt, vergnügt. Fang mich.

Sie kam am Football-Stadion vorbei und bog in eine Gegend mit Wohnheimen abseits des Campus ein, das Geräusch ihrer Schritte auf dem Asphalt das einzige weit und breit. Ein Stück die Straße entlang befand sich der Zugang zum Wanderweg. Sie sprintete darauf zu und nahm etwas ins Visier, das sie erst für einen Vogel hielt, dann für ein großes Blatt, sich schließlich jedoch als gepolsterter BH herausstellte, der über der Kette am Eingang hing.

Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, aber sie hatte nicht mehr so viel Zeit, wie ihr lieb gewesen wäre. Klar, es war Samstag, aber sie musste trotzdem zurück nach Hause und ein Lied für den Chor üben. Dann noch Astronomie-Hausaufgaben machen, ein Stück für Chilenische Literatur lesen und Martí oder Paz oder einen anderen schwierigen Dichter auswendig lernen. (Das ging nur noch heute, morgen hatte sie garantiert einen Kater.) Dann stand das Vorglühen vor Moonies Schaumparty im Cathouse gegenüber an. Das Cathouse war kein Bordell oder so was – einfach eine Menge Mädchen unter einem Dach, ähnlich wie Ledas Verbindung. Dennoch war sie noch nie dort gewesen; die Psi Delts legten großen Wert darauf, sich nicht mit Verbindungslosen abzugeben. Aber heute waren sich ein paar Schwestern einig, dass im Cathouse vorzuglühen unheimlich sein könnte, halloweenmäßig. Außerdem, Alkohol ist Alkohol. Auch wenn Ian mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf der Party sein würde, hielt Leda es für eine gute Idee, ein bisschen zu spät zur Schaumparty aufzutauchen (um sich rarzumachen).

Inzwischen war die Straße nicht mehr befestigt, sie musste Wurzeln ausweichen und um Steine herumlaufen. In den Bäumen schimpften und sangen winzige Vögel. Sie holte tief Luft. Die Sonne linste durch die lichten Baumwipfel. Sie rannte Serpentinen entlang. Sie spürte ihren Herzschlag in den Oberschenkeln, in den Füßen. Als der Weg eben genug war, um nach oben zu schauen, sah sie die Sonne den kahlen Gipfel bescheinen. Sie lief schneller, ihr Puls raste, und sie ließ den Wald hinter sich. Alte Goldrutenstängel schlugen ihr gegen die Waden, als die Wiese in gemähtes Gras überging, dann, endlich, das Observatorium.

Das Observatorium war ein weißer Augapfel, der in den Himmel starrte. Leda schlüpfte unter dem Tor hindurch, rannte am Gebäude vorbei, trat gegen den Fuß eines rostigen Wasserturms und machte sich auf den Rückweg bergab. Über ihr ließen sich zwei Raben auf der Thermik treiben. Sie erhöhte ihr Tempo, beobachtete die schwarzen Vögel am blauen Himmel. Hinter dem blauen Vorhang schienen die Sterne; sie konnte sie zwar nicht sehen, aber das hieß nicht, dass sie nicht da waren. Ein Rabe krächzte: Ian. Sie lachte laut auf – beschwingt, sorglos. Einer jener seltenen Momente, in denen sie das Gefühl hatte, genau am richtigen Ort zu sein. Sie wusste, wo sie hinwollte. Kies glitt unter ihren Füßen beiseite, ihr Atem heiß und ihr Herz froh darüber, dass es schlug.

An der Straße stand ein Pick-up-Truck mit tickendem Motor neben dem Eingang. Die Windschutzscheibe reflektierte undurchsichtiges, weißes Licht. Leda rannte an der Beifahrertür vorbei. Der Wagen war leer. Hinten auf der Ladefläche streckten vier Jagdhunde die Köpfe aus einer Metallbox. Sie schnappte erschrocken nach Luft, und die Hunde stürzten, so gut sie konnten, auf sie zu und bellten. In Dice County, wo Leda aufgewachsen war, waren Trucks mit dicken Reifen, Gewehrhalterung und Jagdhunden ganz normal, aber nicht hier in der Stadt. Sie ergriff die Flucht – die Hunde fletschten die Zähne und jaulten, von ihrem Besitzer keine Spur. Sie sprintete durch die Goldruten auf den Waldrand zu. Wie merkwürdig – diese Angst unterschied sich kaum von der Aufregung, die sie kurz zuvor verspürt hatte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Hunde heulten. Sie konnte dem Drang zu schreien gerade noch widerstehen.

 

Psi Delta, ein renoviertes Haus im Plantagenstil, das aus einer Küche, einem Gemeinschaftsraum und fünfzehn Zimmern bestand, lag abseits des Unigeländes. Für ein Verbindungshaus war es nicht besonders groß, und man musste auch nicht hier wohnen, um Mitglied zu sein. Aber Leda hatte es so gewollt. Es klang kitschig, zugegeben, aber sie hatte ein Zuhause gesucht. Eine Familie.

In Sachen Zimmer hatte sie Glück gehabt. Die meisten anderen waren Zweier, aber Leda hatte eines der wenigen Einzelzimmer zugelost bekommen. Obendrein hatte es eine Veranda, die sie sich mit ihrer Schwester Naadia teilte, einer pakistanischen PoWi-Studentin im vierten Jahr. Naadia war klug und ernst, aber außerhalb der Uni schien sie ein königliches Leben zu führen. In den Sommerferien hatte sie sich auf Jachten in den Emiraten fotografieren lassen und dabei ernsthaft goldene Bikinis getragen. In ihrem Zimmer hing eine Weltkarte mit Nadeln in allen Ländern, die sie bereist hatte. Für Leda war es völlig utopisch, sich das leisten zu können, obwohl die Vorstellung ihr durchaus gefiel, einfach ihre Sachen zu packen und ab nach … Kolumbien vielleicht. Oder Griechenland. Oder Ägypten.

Ein schöner Traum. Aber jetzt war Leda hier, und zwar stinkend und schwitzend. Sie rannte nach oben in ihr Zimmer, um sich auszuziehen. Im Schrank musste sie erst den alten chinesischen Drachen ihrer Mutter vom Wäschekorb schieben, damit sie die nassen Sachen hineinwerfen konnte. Ihre Mutter hatte den Drachen bei einer Haushaltsauflösung gekauft, und anstatt ihn in ihren gemieteten knapp zehn Quadratmeter großen Bereich im Antiquitätenkaufhaus mitzunehmen – eine modrige Lagerhalle, in der Leda als Kind unzählige Stunden verbracht hatte –, hatte ihre Mutter ihn mit nach Hause genommen und aufgehängt. Er hatte Papierschuppen am Körper wie eine Schlange. An seinem Kopf waren große Augen mit Lidern, die man auf- und zuklappen konnte. Leda hatte (immer noch) ein bisschen Angst vor ihm – die großen, abgerundeten Zähne in seinem Fischmaul; die zugekoksten Augen; das hohle Innere.

Ihre Mutter hatte sich alle möglichen Geschichten über den Drachen ausgedacht. Der Drache war weise und allwissend: Er wusste, wann es Zeit war, die Kartoffeln im Garten auszubuddeln, und er wusste, ob Leda sich die Zähne geputzt hatte oder nicht. Er liebte Popcorn (mit Milk Duds) und Scheiblettenkäse. Er ging auf Reisen, sobald sie das Haus verließen, rund um den Globus, durch die ganze Galaxis.

Nun lebte der Drache in der hintersten Ecke von Ledas Wandschrank. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie immer noch nicht den Mut, ihn zu entsorgen.

Im Gemeinschaftsbad trank Leda mit großen Schlucken aus dem Wasserhahn, während die Dusche sich aufheizte. Sie trat hinein, wusch sich das Salz von der Haut und roch hinterher nach Froot Loops, war rot und nass. Sie zog sich an und sang Adam lay ybounden vor ihrem Notenständer, den Bleistift gezückt, um überraschende Pausen und schwierige Rhythmen zu markieren. Die Vertonung war langsam wie ein gregorianischer Gesang, die Akkorde sollten schwebend durch einen leeren Raum hallen. Das Stück würde a cappella von einer ausgewählten Gruppe dargeboten werden, für die Leda vorgesungen hatte. Bei dem Konzert würden sie und die anderen Mitglieder des Chors elektrische Kerzen in ihren Roben versteckt halten. Dann würden sie die Lämpchen drehen, bis sie leuchteten, und im selben Moment den Mund öffnen und ihre Stimmen erklingen lassen.

Ihr Chorleiter war bekannt für Theatralik. Er war bekannt dafür, auf seinen Tisch zu steigen und unter anderem zu rufen: Wir kommunizieren hier! Diese Äußerung war meistens eher Ermahnung als Lob; wir sollten eigentlich kommunizieren, meinte er.

Was willst du sagen?, schrie er dann. Was willst du SAGEN?

Nun sang Leda: »Blessed.« Sie sang: »We moun singen.« Ihre Stimme erfüllte den Raum. Das Bett war wie immer ungemacht. Ihre beiden Bettdecken lagen verdreht und einzeln da. Aus den Augenwinkeln sahen sie aus wie menschliche Körper. Sie sang:

Blessed be the time

That apple taken was,

Therefore we moun singen.

Deo gratias!

Auf seinem kleinen Tisch in ihrem Kopf schüttelte ihr Chorleiter die Faust. Was wollte sie sagen? Sie riet: Welche Schönheit, welche Kunst, welche Ehrfurcht die Sünde hervorbrachte! Gracias, Gott! Aber sicher war sie sich nicht. Außerdem, bringen Sünden immer erhabene Kunst mit sich? Sie bezweifelte es, wenn sie an ein örtliches Graffiti mit einem Brathähnchen mit menschlichen Brüsten und Engelsflügeln dachte oder an die »Gedichte« die ihre Verbindungsschwestern auf dem Whiteboard im Gemeinschaftsraum kreierten (zum Beispiel: Rosen sind rot/Titten sind rosa …).Nein, Ledawollte nicht jedermanns Klagelied hören. Doch die meisten Menschen konnten dem Apfel nicht widerstehen, nicht wahr? Und ob es ihr nun gefiel oder nicht, alle hatten etwas, worüber sie singen konnten.

Natürlich konnte man auch den Apfel essen und schweigen. Es war so leicht, sich zu »versündigen«, ohne darauf zu achten. Das taten viele, wie Mary, die ihr eigenes Blut nicht sehen wollte. Dabei war Mary nicht einmal verrückt; auch Ledas erste Reaktion, wenn sie sich schnitt, etwas zerbrach oder mit jemandem schlief, hieß: wegsehen. Sie waren beängstigend, diese Bruchstücke der Wirklichkeit, die ihr vor Augen führten, dass sie ihr Körperwar. Dann wandte sie den Blick zur Decke und hielt den schmerzenden Teil von sich. Sie schloss die Augen, als suchte sie die andere Leda (die »wahre« Leda), die nicht aus Nervenenden, Gewebe, Knochen und Blut und Organen bestand, die irgendwie pulsierten und sie auf wundersame Weise am Leben erhielten.

Diese wahre Leda musste es doch geben, oder? Eine Essenz, eine Seele, einen Geist. Aber es verwirrte sie immer, wenn Menschen darüber sprachen – »dein wahres Ich« oder »dein eigentliches Selbst«.

Unten sangen Ledas Schwestern das Kinderlied »Witches’ Brew« und brüllten im Chor: »Alakazamakazoo!« Wahrscheinlich aßen sie Halloween-Süßigkeiten und übertrieben es dabei, wie es eigentlich Kindern vorbehalten sein sollte.

Leda betrachtete ihre verdrehten Laken und sang: »Ne had the apple taken been …«

Ihre Stimme klang zu tief. Sie sang es noch einmal. Dann öffnete sie das Fenster. Die Welt roch nach säuerlichem Müll. Eine Trauertaube klagte zu »Witches’ Brew« und einer Runde Presslufthammer. Das Nachbarhaus war kürzlich abgerissen worden, und die Bauarbeiten (oder eher Abbauarbeiten) gingen langsam voran. Oder zurück. Wie auch immer. Heute wurde ein Betonweg aufgerissen, darunter kam purer, roter Lehm zum Vorschein.

Hinter der Baustelle lag ein normales Viertel mit ein paar Verbindungshäusern, alten Villen, die in Mietwohnungen unterteilt waren, und der einen oder anderen Professorenbehausung. Es gab auch Gemeinschaftshäuser ohne Verbindungsbezug – bloß ein Haufen Studenten, die ihre Fertiggerichte in derselben Küche lagerten. Das Cathouse war das naheste von dieser Sorte, voller Mädchen mit Tattoos und schmerzhaft aussehenden Piercings, die Hauptfächer wie Women’s Studies oder Philosophie belegten. Sie veranstalteten lange, laute Partys. Wenigstens konnten sie das. Wenigstens mussten sie nicht von Haus zu Haus ziehen wie Sternsinger oder Leda und alle anderen Verbindungsschwestern. Alkohol war in sämtlichen Sororitys auf dem Campus verboten. Genau wie Partys. Das Verbot kam von ganz oben – das entschieden die Landesverbände. Vielleicht ging es ums Image. Vielleicht bekam man so bessere Konditionen bei der Versicherung. Oder vielleicht war es, wie Mary sagte, einfach guter alter Sexismus.

Unwillkürlich hatte Leda aufgehört zu singen. Sie schielte nach ihrem Handy auf der Fensterbank. Sie sah nach. Nichts. Aber am Abend (nachdem sie mit dem Singen fertig war, ihre Hausaufgaben erledigt hatte – Poesía Moderna, Astronomie …) wurde sie mit einer Nachricht von Ian belohnt.

Hey Leda, sorry, dass ich dich verpasst hab.

 

Etwas leuchtete in ihrem Innern auf, obwohl sie sich – zum ersten Mal – fragte, woher er eigentlich ihre Nummer hatte. Dann klopfte es. Sie wirbelte herum, warf das Handy aufs Bett und öffnete die Tür mit einem bescheuerten Grinsen im Gesicht (fühlte sich so an).

Vor der Tür zuckte Mary zusammen. »Du siehst krank aus.«

»Wer hat dich reingelassen?«

»Carly. Nicht ganz freiwillig, das kannst du mir glauben.« Mary trat ein, das Kunstblut um ihre Lippen war verschmiert. Sie sagte ernst: »Ich habe beschlossen, mit zu deiner Party zu kommen.«

»Wow.« Leda schloss die Tür. »Bitte nicht so begeistert.«

»Ich krieg schon ’ne Gänsehaut, nur weil ich mal wieder im Revier von Psi Delta bin.« Mary riss sich die Schuhe von den Füßen und warf sich auf Ledas Bett, wobei sie einem Häufchen aussortierter Sport-BHs und Leggings auswich. »Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst, Lee – das ganze Elasthan, das ganze Getue.«

»Elasthan ist bequemer als Jeans«, entgegnete Leda.

»Sei ehrlich. Hast du auch schon eine Perlenkette, Lee?«

»Eine unechte.« Aber hübsch, verkniff sich Leda.

»Na ja, wenigstens gibst du es zu.« Mary rutschte zur Seite. Unter ihrem Hintern zog sie Ledas hingeworfenes Handy hervor und tippte den Code ein. »Weißt du, ich komme nur zu der Party, weil du mich gebeten hast. Wenn jemand fragt, sag, ich bin eine Nonne. Und sag dazu, dass Enthaltsamkeit Teil des Kostüms ist.«

»Machen Englischstudenten keine Partys?«

»Doch. Aber da wird man nicht nach Optik bewertet, bevor man reingelassen wird.«

»Du hast doch bloß Angst, dass die Frat-Typen dich nicht sexy finden.«

»Ich hab Angst, dass sie mich sexy finden. Apropos Sex.« Mary hielt Ledas vibrierendes Handy hoch. »Ian ruft an.«

Leda schnappte sich das Telefon, schaute aufs Display und steckte es weg.

»Du gehst nicht ran?«

»Dein Ernst?« Das war aus dem Jungs-Proseminar, das alle im ersten Jahr an der Uni absolviert hatten (alle außer Mary, wie es aussah). »Künstliche Verknappung, Mary.«

»Also bist du die Ware?« Mary setzte sich auf. »Leda, du verwirrst mich.«

»Ja, kann sein. Dein Mund ist verschmiert.«

Mary ging zum Spiegel. Leda durchsuchte ihren Kleiderschrank nach einem Kostüm und riskierte zwischendurch einen Blick auf den verpassten Anruf auf ihrem Handy, als Mary nicht hinsah. Der Drachen starrte sie durch Sommerkleider hindurch auf Kniehöhe an. Unten war die Kindermusik inzwischen durch jaulende Synthies ersetzt worden.

»Ich geh einfach von Kopf bis Fuß in Rot.« Leda hielt ein Kleid hoch. »Dann lass ich mir von anderen sagen, was ich bin. Darf man als Rothaarige so viel Rot tragen?«

Mary kramte einen roten Liquid Eyeliner aus ihrer Kosmetiktasche und bot ihn Leda an.

»Ist ja grässlich.« Trotzdem setzte sie sich aufs Bett und ließ sich von Mary das Auge aufreißen. Als das erste fertig war, fragte sie: »Was ist Ian eigentlich?«

»Sein Kostüm?« Mary biss sich auf die Lippe. »Zeus oder so was.«

Leda spürte, wie sich ihr Augapfel unter Marys Fingern bewegte. »Carly meinte, er hat eine Toga an.«

»Na ja, Zeus trägt auch Togen, oder?«

Leda kicherte. »Irgendwie albern, dass Götter überhaupt Klamotten tragen.«

Mary trat zurück. »Lass die Augen offen.«

»Vielleicht könnte ich als Göttin gehen.« Leda betupfte sich die Augen und blinzelte. Im Spiegel sah sie, dass der Eyeliner wirklich knallrot war. »Oder als fromme Sterbliche, die Zeus’ besondere Aufmerksamkeit weckt.«

»Du und tausend weitere Sterbliche. Ich weiß auch nicht, wie das als Kostüm aussehen würde.«

Leda ließ die Füße baumeln. »Vielleicht kann Zeus ja wenigstens herabsteigen und mich segnen.«

»Vielleicht, Lee.« Mary hielt mit dem Lippenstift in der Hand inne. Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. »Vielleicht verliebt ihr euch ja, so unwahrscheinlich das ist, und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen.«

»Ähm.« Ledas Herz raste. »Wer hat denn von Verlieben gesprochen?«

Liebe war nicht das Ziel, oder? Das schien zu groß, zu riskant.

»Dann eben nicht verlieben, aber wenn du ihn magst, würde ich an deiner Stelle einfach den Mund aufmachen. Findest du nicht? Du kannst doch nicht einfach beten, dass dieser ›Unsterbliche‹ dir einfach von alleine weiter schreibt. Zeus verlangt Opfer, nicht wahr? Da musst du schon ein paar Schafe töten.«

Leda ging zum Schrank und zupfte ihr Kleid zurecht. »Schon klar.«

»Dann halt nicht.« Mary verschloss ihren Lippenstift. »Ich bin Atheistin; mir ist das gleich.«

Mary war schon immer klug gewesen. Das störte Leda im Gegensatz zu anderen Delts nicht; es machte ihr nichts aus, in jeder Hinsicht intellektuell herausgefordert zu werden. Vielleicht war sie es einfach gewohnt, sie und Mary hatten im ersten Jahr dasselbe Wohnheim zugewiesen bekommen und sich so gut wie augenblicklich angefreundet. Vielleicht weil sie einen ähnlichen Humor hatten, beide gern lasen oder weil sie sich am College beide verloren fühlten und auf der Suche nach einem Anker waren. Marys Eltern unterrichteten an einer Westküstenuni, und sie hatte solches Heimweh gehabt, dass Leda sie im Frühling ihres ersten Jahres überzeugen konnte, sich um die Aufnahme in eine Sorority zu bewerben. Das wäre dann wie ein zweites Zuhause, hatte sie Mary erklärt.

Inzwischen war es offensichtlich, dass Leda Marys Meinung nach austreten sollte, dass das Ganze irgendwie unter ihrer Würde war. Aber Leda brauchte ein Zuhause. Brauchte eine Familie. Für sie war Schwester nicht bloß ein Wort.

Draußen ging die Sonne langsam unter. Nebenan waren die orangefarbenen Maschinen erstarrt wie lebloses Vieh, von hinten beleuchtet. Leda und Mary blieben noch eine Weile auf der Veranda, bevor sie losgingen. Als sie klein gewesen war, hatten Leda und ihre Mutter oft auf der Veranda gesessen und die Rinder der Nachbarn beobachtet. Irgendwie tröstlich, dass die Tiere immer dort draußen waren und sich durch die Dunkelheit bewegten. Sie schienen nie zu schlafen. Manchmal, wenn sie angestrengt horchte, meinte Leda, ihre Mägen zu hören, den Sand und Lehm, der unter ihren Hufen zusammengepresst wurde.

Nun dröhnte in der Ferne verschwommene Popmusik. Hinter den Fenstern des Cathouse wimmelte es von menschlichen Gestalten. Mary drückte Ledas Hand. Sie setzten sich in Bewegung. Unten im Gemeinschaftsraum krächzte Glock, der Sorority-Kakadu: »Drunk ass!«, als sie hereinkamen. Ein paar Schwestern umarmten Leda, andere sangen ihren Namen und fragten, ob sie wirklich zum Vorglühen ins Cathouse wolle.

»Sei vorsichtig«, warnte eine.

»Wer sind die überhaupt?«, wollte eine zweite wissen. »Wir kennen die ja nicht mal.«

Und eine dritte: »Ich hab gehört, die sind auf Heroin.«

Mary zog die Augenbrauen hoch. Gauben die das wirklich? Sie hatte sich früher schon darüber ausgelassen, wie misstrauisch die Schwestern auf Andersartigkeit reagierten. Ihr Argwohn konnte durch Kleinigkeiten geweckt werden – unterschiedlicher Style oder abweichende Interessen – oder ernstere Dinge – eine andere Hautfarbe, ein anderes Geschlecht, eine andere soziale Schicht. Manchmal schien ihre Angst unterbewusst, wie eine beinahe unschuldige Furcht vor Neuem. Aber manchmal, so wie jetzt, trat sie ganz unverhohlen in den Vordergrund. Lächerlich.

Dennoch ignorierten sie Mary, nahmen keinerlei Notiz von ihrem Look.

»Es ist doch Halloween.« Leda versuchte, diplomatisch zu bleiben. »Das soll ja gruselig sein. Außerdem kenne ich Moonie auch nicht und gehe trotzdem auf seine Party.«

Mary sagte: »Ja, wieso machen wir das eigentlich noch mal?«

»Alkohol.« Leda öffnete den so gut wie leeren Kühlschrank. »Der wahren Liebe erster Kuss oder Gleichwertiges.«

»Ach, stimmt ja.« Mary tippte auf ihr Handy ein. »Damit ein Mann uns mit Küssen wieder zum Leben erwecken kann.«

»Wie bitte?« Genie, eine Psi Delt in Hörweite, wirkte entsetzt.

»Wie in Dornröschen«, stellte Mary klar. »Oder Schneewittchen.«

Das schien Genie zu beruhigen, die damit beschäftigt war, sich einen Meerjungfrauenschwanz über die Füße zu ziehen. In der Ecke bearbeitete Glock sein Xylofon, skandierte »Drunk ass«, stellte seine Haube auf und schlug mit den Flügeln.

Im Kühlschrank befanden sich Milch, ein Stück Käse und ein verkrustetes Glas eingelegte Bohnen. Leda nahm die Bohnen heraus, kämpfte mit dem Deckel und wandte sich zu Carlys »Wie fühle ich mich gerade?«-Tafel um – ein Schaubild mit gelben Emotions-Smileys, das sie auf einer Selbsthilfe-Website gekauft hatte. Jeden Morgen und Abend trat Carly vor das Bild und kreiste die zu ihren Gefühlen passenden Smileys ein. Heute hatte sie sich für Glückselig, Verkatert und Unschuldig entschieden. Keine ungewöhnliche Konstellation für Carly.

Was würde Leda einkreisen? Der Verliebt-Smiley sah aus, als hätte er eine Ohrfeige kassiert. Der Unentschlossen-Smiley zog eine Augenbraue hoch. Ledas Handy vibrierte in ihrer Tasche. Das Bohnenglas ging auf.

gehst du zu moonie?

 

Leda schluckte die Schmetterlinge herunter – übel, aufgeregt. Sie schrieb vielleicht und biss auf eine saure Bohne.

»Sterblicher oder Unsterblicher?«, fragte Mary.

Leda zwirbelte herausfordernd den Rest der Bohne.

»Leda, wer ist es? Ich hab dich nach Luft schnappen hören.«

Leda grinste, schob sich das Handy in den Ausschnitt und aß die Bohne auf. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht« – sie vollführte eine Pirouette und einen Knicks – »aber ich will mich jetzt abschießen.«

Es war zwar noch etwas früh, aber deshalb hieß es ja vorglühen. Leda zog Mary durch die Haustür nach draußen.

Im Viertel hallten und dröhnten bereits die Bässe. Autoscheinwerfer flackerten zwischen Bäumen und Gebäuden wie Zauberkerzen, die sich nach dem Auspusten wieder entzündeten. Ein Typ pinkelte in einen Hortensienbusch. Mädchen in High Heels kämpften sich den ebenerdigen Bürgersteig entlang. Eine Gruppe Hexen stolperte gegen eine Campus-Notrufsäule mit blauem CALL- und rotem EMERGENCY-Knopf. Davor hatte jemand eine Tüte Candy Corn verschüttet wie eine Opfergabe. Leda und Mary liefen knirschend darüber, während die Hexen alle Mühe hatten, einander aufrecht zu halten. Mary und Leda wechselten einen Blick und zwangen sich, nicht zu lachen.

Für Leda war das Streben nach Alkohol quasi ein Wahlfach. Weil Alkohol in der Verbindung verboten war, hieß es kreativ und fleißig sein. Manchmal stiegen kaum Partys, da konnte man nicht wählerisch sein. So kam es, dass Leda sich mitunter betrunken an unschönen Orten wiederfand – in fremden Gegenden, in Gassen, in Fraternitys, wo sie niemanden kannte. Bars waren zu teuer und oftmals genauso zwielichtig. Von daher war das Cathouse in Ledas Augen keinesfalls die schlechteste Option, um sich einen anzutrinken. Außerdem waren sie ja zu zweit. Leda und Mary würden aufeinander achtgeben, wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkam, beispielsweise Ian. (Das verstand Mary sicher.)

Abgesehen davon passte das Cathouse zu Halloween. Es war dunkel und hatte niedrige Decken. Es gab gefärbte Haare. Düstere, untanzbare Musik. Kostüme, die überhaupt nicht hübsch waren und die Trägerin teilweise komplett verhüllten. Schon befremdlich, die Person in dem Anzug nicht sehen zu können. Das erinnerte Leda daran, dass sie einige ihrer unangenehmsten sexuellen Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte, deren Gesichter sie sich gar nicht erst eingeprägt hatte.

Aber das College war eben kein Kloster, da schloss man sich nicht in seinem Zimmer ein. Für Leda war das Alleinsein ohnehin die beängstigendere Möglichkeit. Wenn man allein war, holte einen die langsam vergehende Zeit ein.

Mary verpasste Leda einen Stoß mit dem Ellbogen, rief etwas und ließ sich von der Party aufsaugen, als hätte die Strömung sie fortgerissen. Die Menge spülte Mary an einem alten Röhrenfernseher vorbei, auf dem Nightmare Before Christmas lief, der alte Tim-Burton-Film. Vor dem Fernseher schienen die Leute zu trinken, sobald die Wörter Kürbis oder Halloween fielen. An dieser Stelle des Films sangen Leichen und Vampire: »This is Halloween; this is Halloween. Halloween! Halloween! Halloween! Halloween!«

Jemand rief: »Wasserfall!« – das hieß »trinken, bis jemand Stopp sagt«.

Auch nicht anders als eine Frat-Party.

Leda schob sich ins Zimmer. Ein Mädchen mit hüftlangem Haar führte eine Art Tai-Chi-Move vor, bei dem sie eine unsichtbare Kugel an ihren Bauch zog. Ein Ziegendämon aß Trauben. Auf einem Couchtisch spielten ein paar Leute Jenga. Der Turm wankte, als ein Mädchen mit Wikingerhelm einen Stein herauszog. Am Ende des Ecksofas, auf dem die Jenga-Spieler saßen, tauchte eine geflügelte Nike (von Kopf bis Fuß in Nike gekleidet) die Hand in einen Korb mit Kondomen. Auf einem handgeschriebenen Schild stand: Schützt euch. Geschlechtskrankheiten sind GRUSELIG. Leda nahm die Pille nicht; sie hatte es versucht, aber damit war sie bestenfalls emotional und schlimmstenfalls gestört gewesen. Gerade schnappte sie sich ein Kondom, da tauchte ein Getränk vor ihr auf. Sie ergriff den Becher mit derselben Hand, in der sie das goldene Viereck hielt, drehte sich um und hatte schon einen entsprechenden Spruch auf der Zunge, aber vor ihr stand nicht Mary.

Ian sagte: »Dich kenne ich doch.«

Leda tat, als würde sie lachen, zwischen ihnen der Drink und das Kondom. Was machst du denn hier?, wollte sie fragen, erwiderte stattdessen aber cool: »Dich kenne ich auch.« Sie wollte das Kondom zurücklegen, verfehlte aber den Korb.

Ian lächelte kaum merklich. Sie schauten beide auf das fallen gelassene Verhütungsmittel hinunter. Er hob es auf und gab es ihr mit ritterlicher Geste zurück. Leda legte es wieder in den Korb. Ian steckte die Hände in die Taschen, seine Wangen waren gerötet. An ihm wirkte das irgendwie eher selbstbewusst als verlegen.

In der Nähe krachte der Jenga-Turm zusammen. Die Spieler johlten. Ein Mädchen mit weißem Kleid und weißer Federboa hatte den Einsturz verursacht.

Ein Spieler rief: »Alle außer dir haben gewonnen!«

Das Mädchen hob die Hände und räumte ihre Niederlage ein. »Ich hab verloren.«

Ian beobachtete das Mädchen ebenfalls, also lächelte Leda das Lächeln, das ihre Schwestern und sie manchmal vor dem Spiegel übten. Da sah Ian sie wieder an. Leda nippte an dem Getränk, das er ihr gebracht hatte. Zu süß. Sie überlegte, sollte sie Kennst du jemanden hier? oder Tut mir leid, dass ich dich mit Kondomen beworfen habe sagen. Ian trank ebenfalls einen Schluck. Er sah gut aus in seiner Toga. Sie dachte auch darüber nach, ob sie das nicht sagen sollte. Es war seltsam, so sprachlos zu sein. Es war seltsam, dieses Gefühl, ihr würde das Herz aus der Brust ragen – plötzlich ganz verletzlich, ganz schutzlos.

Sie schwiegen immer noch, sahen einander an. Jetzt lief Synthie-Musik. Manchmal war Musik in solchen Situationen hilfreich; dann war es zu laut, um langweilige Sachen zu fragen wie: Wie läuft das Semester? oder Welche Kurse hast du belegt?

Stattdessen brüllte Leda: »Ich hab eine Frage!«

»Was?« Ian beugte sich vor, hatte sie nicht verstanden.

Sie wiederholte es noch lauter. »Ich hab eine Frage!« Sie klang ruhig, hoffte sie, obwohl sie schreien musste. Sein Ohr war nur Zentimeter von ihrem Mund entfernt. »Woher hast du meine Nummer?«

»Ach so.« Ian fuhr sich durchs Haar, es wirkte feucht. Sein Bizeps spannte sich an. »War das unheimlich?«

Leda zuckte die Schultern und berührte ihr eigenes Haar. Es war elektrostatisch geladen. »Schon möglich.«

Zwischen ihnen schob sich eine riesenhafte Gestalt im Gorillakostüm hindurch. Das Ganze dauerte einen Moment. Ein Stück entfernt bauten die Jenga-Spieler den Turm wieder auf. Die für seinen Einsturz Verantwortliche sah zu. Ihr schwarzes Haar bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrem weißen Kostüm. Chinesin, dachte Leda. Ein Stück weiter erspähte Leda Carly in ihrem Hexenkostüm umgeben von einem Trüppchen Psi Delts, die sich ihre Verunsicherung nicht anmerken lassen wollten.

Als der Gorilla vorbei war, rief Ian: »Das sollte ich dir eigentlich nicht verraten!«

Leda zog eine Augenbraue hoch.

Ian zögerte, dann sagte er hinter vorgehaltener Hand: »Carly.«

Leda sah wieder zu Carly, die sie nun ebenfalls beobachtete. Carly und die anderen Psi Delts feuerten sie lautlos an. Das hatte sie seit der Highschool nicht mehr erlebt, als alle anderen die eigenen Liebesangelegenheiten besser zu durchschauen schienen als man selbst. Leda wurde rot. Selbst auf dieser eigenartigen Party fühlte sie sich geborgen und geliebt. Eigentlich ein bisschen beängstigend, wie der Vertrauensbeweis bei den Aufnahmeritualen, wenn man sich nach hinten fallen ließ. Dabei stand man mit dem Rücken zu den Schwestern auf einem Tisch, ganz nah an der Kante. Dann musste man die Arme vor der Brust kreuzen und sich wie eine Puppe nach hinten kippen lassen, während man darauf vertraute, dass die Schwestern einen davor bewahrten, sich den Kopf aufzuschlagen. Und das hatten sie mit vereinten Kräften getan, und Leda war wieder aufgestanden. Seitdem glaubte sie, dass sie jederzeit von einer Art Netz aufgefangen würde, auch ohne ihre Mutter.

»Und … was wolltest du mit meiner Nummer?«, fragte Leda Ian.

»Ganz einfach.« Ian lächelte. »Ich mag dich.«

Als Ian nicht hinsah, formte Leda in Carlys Richtung mit den Lippen: Du bist tot. Carly zog ein Gesicht, das dem Unschuldig-Smiley ihres Emotions-Diagramms bemerkenswert ähnlich sah, der Mund eine sittsame Linie, die runden Augen himmelwärts und weltabgewandt.

Nun schob sich Ians Gesicht vor Carlys, war plötzlich ganz nahe. Er roch nach Chlor.

»Dann bist du also kein Stalker«, sagte Leda.

Ian lächelte. »Noch nicht.« Er berührte sie am Handgelenk, und Leda spürte ihren Puls hochschnellen. So blieben sie eine ganze Weile stehen – nur Zentimeter voneinander entfernt –, bis der Jenga-Turm erneut in sich zusammenstürzte. Die Spieler zerstreuten sich, mischten sich unter die Menge im Raum und trennten Leda und Ian voneinander. Die Steine ließen sie einfach liegen.

Mary erschien mit zwei Getränken und deutete auf den Becher in Ledas Hand. »Was ist denn das?«

Leda zeigte in Ians Richtung, aber die Masse hatte ihn schon fortgeschoben. An seiner Stelle stand ein Mädchen in einer Sensenmann-Kutte. »Bist du der Teufel?«, fragte sie.

Leda tat, als fühlte sie sich nicht angesprochen, aber die Sensenfrau wartete auf eine Antwort.

»Weil du nur Rot anhast.«

»Nein.« Ledas Blick fokussierte sich (blondes Haar hing aus der Todeskapuze) und verschwamm wieder. »Tut mir leid.«

»Dann Feuer«, riet die Sensenfrau.

Leda trat einen Schritt zurück. »Nee.«

»Die Feuerwehr. Feueralarm. Achtung. Notfall!«

Auf ihrem Rückzug prallte Leda mit Nofretete und Superman zusammen, die gerade Selfies machten. Supermans Handy blitzte auf, und Leda blinzelte. War das hier ein Spukhaus oder was? Sie spürte die Wand hinter sich und einen Arm. Marys Gesicht tauchte auf, und Leda hielt sich an ihr fest. Irgendwo lachte jemand kreischend auf.

Leda brüllte Mary ins Ohr: »Klo!«

Aber da war wieder der Tod und zeigte mit der Sense in Richtung Treppe. »Ich zeigs dir.«

Widerwillig folgte Leda ihr. Oben blieb das Mädchen vor einer offenen Tür stehen. Das Bad war besetzt. Ein Junge hockte auf dem Klodeckel, neben ihm telefonierte ein pummeliges Mädchen im freizügigen Krankenschwesternkostüm.

Die Sensenfrau fragte: »Ist er immer noch aufm Trip?«

Die Krankenschwester zuckte die Schultern und hob kaum den Blick. »Sorry, Mom, ich verstehe dich so schlecht. In der Bibliothek ist total viel los.«

Leda fragte die Sensenfrau: »Hat er eben so geschrien?«

Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.« Bei Licht erkannte Leda, dasss ihr blondes Haar auf einer Seite abrasiert war. »Wir haben schon rumgefragt. Keiner kennt ihn.«

»Nein, Mom.« Die Krankenschwester hielt ihr Handy wie ein Walkie-Talkie. »Ich lerne.«

Der Junge fiel unvermittelt von der Toilette und umklammerte den schmuddeligen Badvorleger. Dann stöhnte er lang gezogen und leise.

Die Krankenschwester überprüfte ihre Zähne im Spiegel. »Und wie gehts Daddy?«

»Vergiss es.« Leda wollte gerade verschwinden, als der Junge ihren Blick auffing. Er hatte schöne graue Augen – Strudel wie die Milchstraße, in denen sich die Deckenlampe spiegelte. Er hielt ihren Blick. Leda machte einen Schritt rückwärts.

Die Krankenschwester sagte: »Niemand hat die Gicht, Mommy.«

»Hey, übrigens«, rief die Sensenfrau Leda hinterher. »Bist du mit Ian hier?«

Leda stockte, wusste nicht, was sie sagen sollte. Nein lautete die Antwort natürlich, aber das brachte sie nicht über die Lippen. Die grauen Augen des Jungen blieben weiterhin auf sie geheftet. Was sah er? Auf einmal liefen ihm Tränen über die Wangen. Er öffnete den Mund und schrie wie ein kleines Kind.

Leda rannte zur Treppe, hinter ihr kicherte buchstäblich der Tod. Woher kannte das Mädchen Ian überhaupt? Und was hatte der Junge in Leda gesehen, dass er so schreien musste?

Egal. Halloween sollte ja gruselig sein. Am unteren Ende der Treppe hatte Leda es bereits vergessen. In gewisser Weise war es ein Neuanfang, vom Fuß einer Treppe aus einen Raum voller Menschen zu betreten. Sie konnte sich vorstellen, wie zum Beispiel »Dancing Queen« lief. Sie konnte sich vorstellen, wie Ian ihre Hand nahm und einen choreografierten Tanz mit ihr aufführte. War sie mit Ian hier? Sie ging ins Zimmer und glaubte einen Augenblick daran, spürte das Disneyprinzessinnenfilmlicht, das sie einhüllte wie ein weiter Rock – bis sie Ian am Eingang entdeckte, wie er sich mit dem Mädchen unterhielt, das den Jenga-Turm zum Einsturz gebracht hatte.

Dann stand Mary neben ihr, das Kunstblut war immer noch verschmiert.