Fluchtpunkte der Erinnerung - Natan Sznaider - E-Book

Fluchtpunkte der Erinnerung E-Book

Natan Sznaider

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Beschreibung

Was unterscheidet Rassismus und Antisemitismus? Natan Sznaider über das Verhältnis des Holocaust zu den Verbrechen des Kolonialismus.

International wird schon lange über das Verhältnis von Kolonialverbrechen und Holocaust diskutiert. Werden jüdische Opfer in der Erinnerung gegenüber den afrikanischen Opfern bevorzugt? Die Debatten rund um das Humboldt Forum zwingen nun auch Deutschland, sich der kolonialen Vergangenheit zu stellen. Was unterscheidet Rassismus von Antisemitismus? Hannah Arendt und Edward Said waren nicht die Einzigen, die schon früher solche Fragen gestellt haben. Bei ihnen findet Natan Sznaider Ideen und Argumente, um die heutige Diskussion voranzubringen. Wird es am Ende möglich sein, der Opfer des Holocaust und des Kolonialismus zu gedenken, ohne Geschichte zu relativieren?

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Über das Buch

International wird schon lange über das Verhältnis von Kolonialverbrechen und Holocaust diskutiert. Werden jüdische Opfer in der Erinnerung gegenüber den afrikanischen Opfern bevorzugt? Die Debatten rund um das Humboldt Forum zwingen nun auch Deutschland, sich der kolonialen Vergangenheit zu stellen. Was unterscheidet Rassismus von Antisemitismus? Hannah Arendt und Edward Said waren nicht die Einzigen, die schon früher solche Fragen gestellt haben. Bei ihnen findet Natan Sznaider Ideen und Argumente, um die heutige Diskussion voranzubringen. Wird es am Ende möglich sein, der Opfer des Holocaust und des Kolonialismus zu gedenken, ohne Geschichte zu relativieren?

Natan Sznaider

FLUCHTPUNKTE DER ERINNERUNG

Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus

Hanser

»Was willst du denn jetzt noch wissen?«, fragt der Türhüter, »du bist unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?« Der Türhüter erkennt,  dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war  nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

Franz Kafka, 1915, »Vor dem Gesetz«

Einleitung Die Folgen einer Preisverleihung: Achille Mbembe in Deutschland

Bis Mitte März 2020 war in Deutschland die Welt der Kultur noch in Ordnung — so hatte es wenigstens den Anschein. Das Virus machte die Runde, aber das war ein Problem für die Virologen und Mediziner, die es bald unter Kontrolle bringen sollten. Und es gab den Fall eines berühmten afrikanischen postkolonialistischen Theoretikers mit dem für deutsche Ohren exotischen Namen Achille Mbembe. Der war ein gern gesehener Gast auf Kulturfestivals, er hatte schon 2015, also fünf Jahre bevor nun dieses Schauspiel einsetzt, den Münchener Geschwister-Scholl-Preis erhalten. Dieser Preis zeichnet ein Buch aus, »das von geistiger Unabhängigkeit zeugt, das geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und ästhetischen Mut zu fördern und auch unserem gegenwärtigen Verantwortungsbewusstsein wichtige Impulse zu geben«, wie es auf der Website der Stadt München heißt.1 Der Preis wurde Achille Mbembe am 30. November 2015 für die ein Jahr zuvor erschienene deutsche Übersetzung seiner Critique de la raison nègre aus dem Jahre 2013 verliehen. Kritik der schwarzen Vernunft sollte ein grundlegender Text für die in Deutschland noch zu institutionalisierenden »Black Studies« in transatlantischer Tradition werden. Da war es auch keine Überraschung, dass einer der führenden britischen Vertreter dieser Forschungsrichtung, Paul Gilroy, die Laudatio auf Achille Mbembe hielt. Die Preisrede vom 30. November 2015 und die Laudatio folgten einer in Deutschland lange gepflegten intellektuellen Tradition, aber etwas war neu an diesem Abend. Denn der Preis, der an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnern soll, würdigte jetzt also die »Black Studies« und das postkolonialistische Denken. Und Achille Mbembe ging in seiner Preisrede noch weiter. Er sprach von der »Universalisierung der Conditio Nigra«, von einem strukturellen Rassismus, der vor Jahrhunderten mit der Globalisierung des Kapitalismus begann. Der »Neger«, eine rassistische Zuschreibung, die in der Alltagssprache nicht mehr benutzt werden sollte, wird damit zu einer universalen Kategorie jenseits von Schwarz und Weiß, er wird zu einer Kategorie des überflüssigen Menschen an sich. Damit öffnete Mbembe die Tür, die ihm einige Jahre später zugeschlagen werden sollte. Denn er hatte mit seiner Rede eine Gegenfigur zur Kategorie des universalisierten Juden geschaffen, wie wir sie im Denken von zum Beispiel Hannah Arendt finden können. Arendt beschrieb 1943 die Situation der jüdischen Flüchtlinge so:

»Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren heute die Avantgarde ihrer Völker. […] Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr, sondern die jüdische Geschichte ist verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen.«2

Welche Minderheiten nun zur universalen Kategorie werden, das ist wohl eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts. Sind es die Juden und damit der Versuch ihrer Vernichtung, oder sind es die »Neger«, die Schwarzen, die Kolonisierten, die Nichtweißen, die, wenn man Mbembe folgt, im Mittelpunkt der Weltgeschichte stehen?

Einige Monate vor Mbembes Preisrede, am 31. August 2015, wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Regierungserklärung zur Flüchtlingskrise eine neue Willkommenskultur ausrufen und Deutschland als ein weltoffenes Land positionieren. Ihr Leitspruch »Wir schaffen das« wurde zum Inbegriff dieser Kultur. Merkel erinnerte immer wieder an die Verpflichtung aus der deutschen Vergangenheit3 — und meinte damit auch jene jüdischen Flüchtlinge, von denen Hannah Arendt schrieb. Die deutsche Gegenwart aber sah vor allem die syrischen und muslimischen Flüchtlinge. Just als Achille Mbembe den Geschwister-Scholl-Preis erhielt, verband sich der Diskurs des Antisemitismus mit dem neuen Diskurs des Rassismus.

Denn auch als Einwanderungsland konnte sich Deutschland dem postkolonialen Diskurs nicht mehr verschließen. Es begann ein Prozess der Aufarbeitung der eigenen kolonialistischen Vergangenheit in den ehemaligen Gebieten von »Deutsch-Südwestafrika«. Eine konkrete Aktualität erhielt diese Problematik dann in den Diskussionen über das Humboldt Forum im rekonstruierten Berliner Stadtschloss. Kritiker verknüpften den Streit über die Provenienzen der dort gezeigten Sammlungen mit dem postkolonialen Diskurs — was wiederum im Kontext der generellen Infragestellung der Legitimität der Institution »Ethnologisches Museum« in Europa stand. Für Deutschland stellte sich mit diesen Debatten auch die Frage, ob sich die Erinnerungskultur langsam von der Erinnerung an den Holocaust lösen beziehungsweise sie in einen neuen, weiteren Diskurszusammenhang stellen könnte, der ebenso den Kolonialismus im Allgemeinen und in seiner deutschen Variante umfasst. Dazu würden jetzt nicht mehr nur nationale Erinnerungen gehören, sondern auch ethnische, religiöse, transnationale und genderorientierte. Aber gerade in Deutschland konnte und kann ein solches Ansinnen nicht unwidersprochen bleiben.

Geht es also in dieser Geschichte um Rassismus oder Antisemitismus? Das sind nun wirklich keine Spitzfindigkeiten, denn hier geht es um Schlüsselfragen, die mitten ins Herz moderner Gesellschaften treffen. Deutschland ist da keine Ausnahme. Und das sind nicht nur wissenschaftliche Fragen, die von historischen Vergleichen und politischen Analysen bestimmt werden. Es sind auch Glaubensfragen, die mit Leidenschaft und religiösem Temperament diskutiert werden. Geht es um die Bindungsgeschichte Isaaks oder um die Kreuzigung Jesu? In jedem Fall geht es um Bilder und wie sie gelesen werden. Die Bilder von unschuldigen Juden, die als Vieh in Zügen durch Europa transportiert werden, um vernichtet zu werden, und die Bilder von unschuldigen Sklaven, die auf Schiffen über den Atlantik transportiert werden, um auf der anderen Seite wie Vieh verkauft zu werden.

Dass es 2020 zum Skandal kam, war also vorhersehbar. Wissenschaftliche und religiöse Fragen wurden nun zum Gegenstand einer spannenden öffentlichen Inszenierung. Die Bühne war bereit, und die Schauspieler und Schauspielerinnen spielten ihre vorgeschriebenen Rollen. Es begann eigentlich recht harmlos. Das Kulturfestival Ruhrtriennale lud zum Eröffnungsvortrag im August 2020 Achille Mbembe ein. Einen Geschwister-Scholl-Preisträger, einen Redner, der einen interessanten Vortrag für ein politisch aufgeschlossenes Festival halten würde — könnte man meinen. Damit war aber noch kein Skandal vorauszusehen. Aber es kam anders. Ende März 2020 sprachen sich der seit 2018 amtierende Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus Felix Klein und der FDP-Landespolitiker Lorenz Deutsch entschieden gegen den Festredner aus und baten die Intendantin des Festivals, Stefanie Carp, die Einladung abzusagen. Das war in der Tat mehr als ungewöhnlich. Warum sollten sich ein offizieller Amtsträger und ein Politiker in ein Kulturevent einmischen? Die Liste der Vorwürfe war lang: Achille Mbembe sei durch die Relativierung des Holocaust aufgefallen, setze den Staat Israel mit dem Apartheidsystem Südafrikas gleich, stelle das Existenzrecht Israels in Frage. Andere behaupteten sogar, er sei Antisemit. Mbembe war über diese Vorwürfe empört und wies sie zurück. Mehr als das, im Gegenzug solidarisierte sich eine Gruppe jüdischer Wissenschaftler und Künstler mit ihm.4 Sie verteidigten sein Recht auf freie Meinungsäußerung und pochten auf den Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus, der ihnen auch für ihr eigenes politisches Selbstverständnis wichtig war. Für dieses politische und kulturelle Milieu war Achille Mbembe ein schwarzer und kritischer Intellektueller, die Solidarität zu ihm mehr als selbstverständlich. Sie forderten in einem offenen Brief die Abberufung Kleins. Der Streit war also entfacht. War er auch provoziert und inszeniert? Denn kurz danach bewegte man sich in Deutschland auf vertrautem epistemologischen Terrain, auch »Feuilletonkrieg« genannt, in dem Dutzende Experten sich entweder »dafür« oder »dagegen« positionierten. Und da es um Antisemitismus und Israelkritik ging, eskalierte die Debatte sehr schnell. Es ging nicht mehr nur um die Frage, ob Achille Mbembe ein Antisemit sei, was schon besorgniserregend genug wäre, sondern ob er im Rahmen einer groß angelegten linken Kampagne gegen Israel agiere und ob der Postkolonialismus überhaupt ein seriöses akademisches Studienfeld oder nur ein rhetorischer Mantel für die Verbreitung antijüdischer und antiisraelischer Gefühle sei.5 Mbembe war entrüstet über diese Anschuldigungen und warf wiederum Felix Klein Rassismus vor. Sind Rassismus und Antisemitismus in der Tat antagonistische Pole, die sich nicht nur gegenseitig ausschließen, sondern auch gegenseitig bestimmen, oder können sie gemeinsam verstanden und beschrieben werden?

Die Debatten spitzen sich schon deshalb zu, weil beide Seiten für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Haltung die Lehren aus einer grausamen Geschichte zu ziehen und also auf der richtigen Seite zu wandeln. Allerdings führen verschiedene Wege zur richtigen Seite der Geschichte. Für den westlichen Teil der Welt ist der Bezugspunkt eines neuen moralischen Absolutismus nach 1945 der Holocaust. Diejenigen, für die der Weg zur richtigen Seite der Geschichte anders verlief, sehen den Holocaust als historische Folie und Hintergrund, vor der nahe und ferne Grausamkeiten und Gräueltaten gelesen werden müssen, auch wenn sie woanders stattgefunden haben und stattfinden. Unterschiedliche Weltanschauungen beruhen darauf, die dann auch zu unterschiedlichen, manchmal konträren Schlussfolgerungen führen. In jedem Fall geht es um das Nie wieder. Viele Deklarationen nach 1945 gehen von diesem Nie wieder, der Nichtwiederholung der Katastrophe, aus:

»da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt«.6

Nie wieder sagt hier die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Hier wird das Nie wieder unter dem Dach der Menschenrechte zur politischen Anklage gegen jeglichen Völkermord, Kolonialismus, Apartheid und Diktatur. Nie wieder Gewaltherrschaft von Menschen über Menschen ist wohl bis heute eine der bekanntesten Beschwörungsformeln.

Aber es gibt auch ein alternatives Nie wieder:

»Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach und in Europa Millionen von Juden vernichtete, bewies unwiderleglich aufs Neue, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muss, in einem Staat, dessen Pforten jedem Juden offenstehen, und der dem jüdischen Volk den Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie sichert.«7

Nie wieder sagt dort die israelische Unabhängigkeitserklärung, und vor allem sagt sie auch Nie wieder wir. Der Holocaust ist ein historisches Verbrechen gegen die Juden. In diesem Nie wieder geht es um ein Gruppenschicksal, ein Menschenschicksal, aber auch um Einzelschicksale (Nie wieder Opfer). Der Kern hat sich verschoben von dem generellen Nie wieder zu: Nie wieder Opfer sein. Der israelische Staat deklariert sich mit dieser Erklärung als sicherer Hafen für die Juden, denen nie wieder das Opferschicksal widerfahren soll. Das ist ein weltanschaulich sehr anderes Nie wieder. Der Staat Israel wird dadurch zu einer partikularen Lösung eines partikularen Problems. Dieses Nie wieder schließt daher jede Universalisierung aus. Denn nach dieser Weltanschauung machte gerade die partikulare jüdische Erfahrung, nirgends auf der Welt willkommen zu sein, den Holocaust erst möglich. Und das Nie wieder wird realisiert in einer konkreten Handlung: der Schaffung eines sicheren Orts, der auch dann vor der Opferrolle schützt, wenn alle anderen Orte unerreichbar werden. Dieser Ort wird nun von den Juden selbst kontrolliert. Doch das Prinzip der Menschenrechte steht dem Partikularismus entgegen. Wenn Menschenrechte nicht für alle Menschen gültig sind, dann sind es eben keine Menschenrechte. Wir stehen also konkurrierenden Formen des Nie wieder gegenüber. Nie wieder mobilisiert, Nie wieder moralisiert, Nie wieder hat immer recht, denn wer will wieder Tyrannei, Völkermord, Kolonialismus, Faschismus und Holocaust? Darum also ging es im Sommer 2020.

In diesem Essay möchte ich diese Debatte in einem größeren historischen und soziologischen Rahmen verankern. Ihre Argumente fielen nicht vom Himmel und waren schon lange intellektuell vorbereitet. 2020 ging es um mehr als die Bestimmung von wissenschaftlichem Wissen. Es ging um Politik und auch um Moral, um Verantwortungs- und auch um Gesinnungsethik, oft nicht voneinander zu unterscheiden. Die Fragen waren elementar: Wie soll die Vergangenheit verstanden werden, wie eine Zukunft, die ihre Lehren aus der Vergangenheit zieht? Und weil es auch um die besondere deutsche Schuld geht und die darauf beruhende kollektive Verantwortung, sind natürlich auch die scheinbaren universalen Maximen sehr schnell partikular zu verstehen. Wie kann es also universale Antworten auf deutsche Fragen geben? Gerade hier rückt der Staat Israel wieder in den Fokus. Achille Mbembe diente hier als Deckerinnerung, und schnell drehte sich die Debatte um Kolonialismus, Zionismus und Antisemitismus. Und damit wurden auch Töne freigesetzt, die in Deutschland — aus guten Gründen — strengen Tabus unterliegen. Wie sieht es aus mit Diskussionsfreiheiten und Tabus in Deutschland und in anderen europäischen Ländern? Die kolonialistische Vergangenheit machte es noch schwieriger, über Tabus zu sprechen. Es gibt außer den allgemeinen Menschenrechten und dem partikularen Staat Israel ein verwandtes Paar von Gegensätzen, die ins Herz dieser Debatte treffen. Ist es der Holocaust, oder sind es die kolonialistischen Verbrechen, die den Archetypus für die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte darstellen? Und welche Konsequenzen hat die Antwort auf diese Frage für die Einstellung zum Staat Israel?

Für viele europäische und westliche Denker ist der Holocaust das größte Verbrechen in der europäischen Erinnerung. Außerhalb Europas jedoch und gerade dort (wie zum Beispiel in der arabischen Welt und Afrika), wo die Folgen des Kolonialismus wirtschaftlich und politisch am heftigsten zu spüren sind, stehen die Erinnerungen an kolonialistische Verbrechen im Zentrum. Kann es sein, dass das »eigene« Leid nicht verallgemeinert werden kann? Und wenn diese beiden so genannten »Narrative« aufeinandertreffen, dann konkurrieren sie nicht nur miteinander, sondern sind oft auch in einer Weise konnotiert, dass jegliche Form des Vergleichs die eigene Erfahrung herunterspielt. Sicher hat man versucht und versucht man auch weiterhin, eine Synthese dieser Erfahrungen zu denken, aber diese Versuche — wie von Hannah Arendt zum Beispiel — werden oft als zu kontrovers und zu ideologisch abgewertet. Es gibt in der Forschung durchaus Ansätze, die Holocaust und Kolonialismus gleichzeitig bedenken und aufarbeiten. Ihnen gemeinsam ist die Suche nach einem tieferen Verständnis von verflochtener Geschichte. So gibt es postkolonialistische Ansätze, in denen zentrale Fragen der jüdischen Geschichte wie Assimilation, Exil, Minderheitenrechte, Heimatlosigkeit und Emanzipation grenzüberschreitend gelesen werden können. Diese Herangehensweise steckt auch wegen ihrer Tabuisierung in Deutschland noch in ihren Anfängen.

So kann man sich auch guten Willens den Arbeiten von Achille Mbembe annähern. Er stellt diese Fragen aus seiner eigenen Perspektive, die er selbst als raison nègre (und also nicht raison noire) bezeichnet, was wörtlich übersetzt Negervernunft (und nicht nur »Schwarze Vernunft«) heißt. Bewusst nimmt er schon mit diesem Begriff die kolonialistische Denkstruktur auf, die rassistisch gründend annimmt, dass Nichtweiße zur Vernunft nicht fähig seien. Aber das nicht allein. Eine der Konsequenzen, die sich aus dieser Perspektive und vor dem Hintergrund der jahrhundertealten Erfahrung der Unterdrückung durch Europa und Europäer ergibt, ist die Leichtigkeit, Israel als weiße, europäische Kolonialmacht zu begreifen. Antisemitismus und Holocaust stehen da eher im Hintergrund. Zweifellos wurde dem nicht nur in Deutschland heftigst widersprochen, weil viele Juden innerhalb und außerhalb Israels diesen Staat als Befreiung, ja als den Garanten ihres Lebens verstehen.

Die Debatte des Sommers 2020 hat nur die Konkurrenz dieser Narrative betont, und es ist offensichtlich, dass der Staat Israel von jeder Seite anders betrachtet und beschrieben wird. Für die eine Seite der Debatte war Achille Mbembe ein afrikanischer Intellektueller, der gegenüber dem Staat Israel nicht nur sehr kritisch eingestellt ist, sondern diesen Staat und seine Besatzungspolitik als kolonialistisch einschätzt, während die andere Seite der Debatte darauf pocht, dass es eine Grenzlinie gibt zwischen legitimer Kritik an Israel und nichtlegitimer Verneinung des Existenzrechts Israels. Für seine Kritiker hat Mbembe diese Linie überschritten. Wo sie denn genau verläuft, war schon immer ein Problem in dieser Debatte, denn es gibt keinen fixen Punkt der Grenzlinie der Kritik. Mbembe selbst macht kein Hehl daraus, Israel als eine kolonialistische Siedlergesellschaft zu beschreiben, was natürlich für jene unerträglich ist, die Israel als sicheren Fluchtpunkt für die Juden verstehen. Hier kommt es darauf an, woher und wohin der Blick gerichtet ist und welche historische Perspektive eingeschlagen wird. Diejenigen, die den Staat Israel als eine brutale und gewalttätige politische Formation verstehen, eine unterdrückende Siedlergesellschaft, fokussieren ihren geografischen Blick auf den Nahen Osten, sehen Macht und keine Machtlosigkeit, Souveränität und keine Heimatlosigkeit. Es ist ein räumlicher Blick auf den Nahen Osten. Wenn aber der Blick sich auf die jüdische Geschichte ausweitet, wenn aus dem Raum nun Zeit wird, dann stehen Verfolgung und Machtlosigkeit, ja sogar Vernichtung im Vordergrund. In der einen Perspektive sind Juden weiß und gehören zur westlichen Geschichte der Kolonisierung nichtweißer Menschen. In der anderen Perspektive gehören Juden nicht zu der weißen Hegemonie, sondern wurden selbst als kolonisierte Minderheit in Europa verfolgt. Und daher kann der Zionismus, jene Bewegung also, die auf die Ausübung jüdischer politischer Souveränität pochte, selbst als eine antikolonialistische Befreiungsbewegung beschrieben werden.

Wie können diese beiden Perspektiven — wenn überhaupt — miteinander verbunden werden? Hier geht es sowohl um Politik als auch um die wissenschaftliche Beschreibung dieser Politik. Und in dieser wissenschaftlichen Beschreibung sind Postkolonialismus und Holocaust-Studien sehr umstrittene akademische Felder. Beide Disziplinen versuchen zugleich wissenschaftlich und politisch zu agieren. Die deutsche Mbembe-Debatte brachte diese Felder, die gerade in Deutschland wenige Bezugspunkte haben, in direkten Kontakt zueinander, und das führte zum Frontalzusammenstoß. Deutschland ist, trotz massiver Einwanderung, noch immer eine ethnische Gemeinschaft mit einer sehr geschlossenen Erinnerung an vergangene Verbrechen, die wiederum von einem Ring von Tabus umschlossen ist. Felix Klein und Achille Mbembe sind eigentlich keine Zeitgenossen, sondern argumentieren aus verschiedenen generationellen Weltanschauungen heraus.

Gerade postkolonialistische und jüdische Stimmen pochen auf ihren Partikularismus. Mbembe ist ein Intellektueller aus dem Kamerun, der in Südafrika lebt. Seine Bezugsrahmen in seinem Forschungsfeld der »Postcolonial Studies« sind Südafrika und Apartheid, also institutionalisierte Rassentrennung, ein Begriff, der den Raum Südafrika verlassen hat und nun institutionalisierten Rassismus universalisiert. Auf der anderen Seite ist Felix Klein ein offizieller Repräsentant des deutschen Staates, und in dieser Funktion sieht er es als seine Pflicht, Israel vor Angriffen von außen zu beschützen. Gerade der Vergleich mit Südafrika steht in dieser Debatte im Fokus. Das Apartheidregime Südafrikas, das erst 1994 endete, galt als rassistisches und daher nichtlegitimes Regime. Der Vergleich mit Israel sieht Israel dann konsequenterweise auch als rassistisch und nichtlegitim. Ein Beispiel dafür ist die Ende 1975 verabschiedete UNO-Resolution 3379, die Israel als einen rassistischen Staat verurteilte. Die Resolution wurde zwar Ende 1991 wieder zurückgenommen, aber die Gleichsetzung Israels mit Südafrika war damit nicht aus der Welt und damit auch nicht die Verbindungen zwischen den Boykottbewegungen gegen Südafrika und gegen Israel.

Für eine andere Generation in Deutschland freilich erinnert »Boykott« noch immer an die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, was der am 17. Mai 2019 vom Deutschen Bundestag angenommene Antrag mit dem Titel »BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten — Antisemitismus bekämpfen« klarstellt8:

»Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch. Die Aufrufe der Kampagne zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler sowie Aufkleber auf israelischen Handelsgütern, die vom Kauf abhalten sollen, erinnern zudem an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte. ›Don’t Buy‹-Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole ›Kauft nicht bei Juden!‹ und entsprechenden Schmierereien an Fassaden und Schaufenstern.«9

Damit wurde auch der unmittelbare Zusammenhang zwischen Boykott gegen Israel und Boykott gegen Juden in der NS-Zeit hergestellt. Das konnte natürlich nicht unbeantwortet bleiben. Eine Initiative öffentlicher Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen reagierte auf diesen Beschluss mit ihrer eigenen Beschreibung der Wirklichkeit, die sie dann im Dezember 2020 »Initiative GG5.3 Weltoffenheit« nannte.10 Es war eine Antwort der Kulturelite an die politische Elite, verbunden mit der Machtfrage, wer in diesem Streit die Deutungshoheit innehabe, indem auch die Fronten zwischen Politik auf der einen Seite und Wissenschaft und Kultur auf der anderen Seite abgesteckt wurden.

Sicher mussten die zentralen Akteure in der Debatte universell argumentieren, um ihr Publikum zu überzeugen. Aber wenn man die Argumentation der beiden Standpunkte genauer beleuchtet, dann versuchen beide Seiten, Partikulares universell zu erklären. Auf der einen Seite glauben die aufgeklärten Eliten an einen globalen menschenrechtlichen Diskurs, entstanden aus dem Schock des Holocaust. Aus dem Holocaust heraus werden dann Verbrechen gegen die Menschheit verstanden und auch mitgefühlt, die das partikulare Verbrechen universalisieren. Der Begriff des Völkermords ist hier entscheidend. Allerdings entsteht so auch die Problematik, dass die begrifflichen Trennschärfen von Auschwitz als dem singulären Verbrechen verloren gehen. Damit werden für selbstverständlich gehaltene Wahrheiten in Frage gestellt und gerade spezifisch deutsche Tabus gebrochen. Ist es entsprechend der Einmaligkeit von Auschwitz und der deutschen Staatsraison konstruktiv für die Debatte, wenn Felix Klein im Auftrag der Bundesregierung diese Selbstverständlichkeiten in Deutschland verteidigen will? Und ist es nicht vielmehr Teil eines demokratischen Prozesses, dies wiederum in Frage zu stellen? Könnten beide Seiten von ihrem jeweiligen Standpunkt aus recht haben? Ist das in einer solchen Debatte überhaupt möglich, oder ist es möglich, jenseits der politischen Einstellung hier die Wahrheit zu finden?

Darum wird es in diesem Essay gehen. Wie eine Art Drehtür wird sich die Geschichte um diese Geschichten drehen, wenn es darum geht zu zeigen, dass theoretische Überlegungen nicht ohne die Erfahrung dieser Menschen erzählt werden können. Wir werden dabei auf europäische und nichteuropäische Denkweisen stoßen, die sich mitunter gegenseitig ausschließen, manchmal ergänzen, oft widersprechen. Sie alle versuchen, die gleiche Realität in ihrer spezifischen Weise zu beschreiben. Es ist wie bei Bildern einer Ausstellung, die Besucher betrachten, um sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild zu machen. Jedes Kapitel wird von Denkern und Denkerinnen begleitet, die so auch am Inhalt der Kapitel mitwirken. Aber nicht nur um Denker und Denkerinnen wird es gehen, sondern auch um geografische und politische Räume, wie Deutschland, Frankreich, Afrika, die USA und den Nahen Osten. Ich werde mit der in Deutschland während der Weimarer Zeit entstandenen Wissenssoziologie beginnen. In meiner Beschreibung ist diese Denkart spezifisch für ein jüdisches Milieu gewesen, das diese wissenssoziologischen Beschreibungen für sich entdeckte, um Denken im Fluss zu beschreiben. Dieses Kapitel wird von Karl Mannheim begleitet. Mannheim ist gleichzeitig auch der theoretische Wegbegleiter, der mit seiner Wissenssoziologie den theoretischen Rahmen dieses Essays mitformte. Es geht mir darum zu zeigen, dass der soziologische Ansatz der Wissenssoziologie aus der Dialektik zwischen Assimilation und Emanzipation der Juden entstanden ist. Der Schlüsselbegriff für Mannheim ist die Perspektive. Und die Perspektive, also die Sicht auf die Welt und die Art, sie zu interpretieren, ergibt sich aus den Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat. Dies implizierte zugleich eine Kritik an einer grundlegenden Vorstellung von Wissenschaftlichkeit, nach der diese eine privilegierte Position außerhalb des von ihr Beobachteten habe, so dass man mit dem richtigen wissenschaftlichen Apparat von außen nach innen schauen kann — dass es also einen Ort gibt, von dem aus man die Wahrheit erfahren kann. Es sind genau diese Debatten, die unter jüdischen Intellektuellen und zwischen jüdischen Intellektuellen und ihrer Umwelt geführt wurden, die diese Themen als existenzielle Fragen ständig aufgriffen und so auch das Fenster zu Fragen des Kolonialismus öffnen können. Das Kapitel 2 wird von Alfred Dreyfus, Franz Kafka und Hannah Arendt begleitet. Hier werde ich die Krise der jüdischen Emanzipation in Europa skizzieren und versuchen zu ergründen, wie diese Krise mit dem Postkolonialismus zusammenhängt. Daran anschließend widmet sich Kapitel 3 dem Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus im Denken von Hannah Arendt, die wir in diesem Kapitel auch als Aktivistin und nicht nur als Denkerin treffen. Diese Spannung zwischen Denken und Aktivismus umschreibt auch die heutige Debatte um Holocaust und Kolonialismus. Das Kapitel setzt sich mit diesem Begriffspaar auseinander und versucht zu zeigen, dass Arendt in der Tat beide Übel dieser Welt sowohl zusammen als auch getrennt beschrieben hat. Mit Hannah Arendt wird dann wieder die Brücke zu außereuropäischen Minderheiten geschlagen und folglich auch Arendts intellektuelles Verhältnis zum Kolonialismus in Afrika und zu Afroamerikanern in den USA beleuchtet. Und wie so oft bei Arendt ist dieses Verhältnis ambivalent und offen für viele Missverständnisse. Das vierte Kapitel wird von den frankophonen Denkern des antikolonialistischen Befreiungskampfes begleitet. Aber sie sind nicht die einzigen Begleiter. Wir verfolgen die Interaktionen im Denken von Juden und Schwarzen. Frantz Fanon, Claude Lanzmann, Jean-Paul Sartre und Jean Améry begleiten dieses Kapitel. Die nächsten drei Kapitel widmen sich der Möglichkeit und den Unmöglichkeiten hybrider Identitäten im Zusammenhang von Kolonialismus, Postkolonialismus, Antisemitismus und Zionismus. Diese Kapitel werden von Albert Memmi, Aimé Césaire und Edward Said begleitet. Die Konsequenzen dieser Denkstrukturen werden über die verschiedenen Beschreibungen des Staates Israel und seiner Gründung vorgestellt. Ist Israel ein Projekt der Emanzipation oder ein kolonialistisches Projekt? Kann es beides gleichzeitig sein? Im achten Kapitel blicken wir wieder auf Deutschland und versuchen das globale Deutschland unter dem Blickwinkel des Kolonialismus zu verstehen. Und im abschließenden Kapitel werden die Fragen der Einleitung nochmals neu gestellt. Wie kann und soll man aktuelle Debatten historisch und soziologisch begreifen?

Leben in und mit der Unmöglichkeit

Karl Mannheim: Ungar, Jude, Deutscher

Man würde es sich zu einfach machen, beiden Seiten recht zu geben. Ich möchte in diesem Essay zeigen, wie es historisch und soziologisch zu dieser intellektuellen Starre zwischen den Diskussionen um Holocaust und Postkolonialismus gekommen ist. Ich will versuchen, die Formen des Wissens über Holocaust, Völkermord und Kolonialismus, wie es die Jüdischen Studien und die Postcolonial Studies hervorbringen, begreiflich zu machen und zu zeigen, wie unterschiedlich diese Realitäten beschrieben werden. Dass ich mich hier auf einen wissenssoziologischen Ansatz beziehe, ist kein Zufall, denn dabei handelt es sich nicht um eine beliebige soziologische Tradition, sondern um einen Blick auf die Welt, wie er sich in den jüdischen Lebenswelten der Weimarer Republik vor der Katastrophe des europäischen Judentums ausgebildet hat.1 Aus dieser Perspektive sollen die Auseinandersetzungen zwischen Partikularismus und Universalismus beobachtet werden.

Beginnen wir mit Karl (Károly) Mannheim. Dessen Blick war nicht nur ein soziologischer, es war ein jüdischer Blick, der Blick des Fremden, des gleichzeitig dazu- und nicht dazugehörenden Menschen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Budapest geboren, war er Sohn eines von dort stammenden jüdischen Textilhändlers und einer in Ungarn lebenden Jüdin aus Deutschland. Mannheim studierte zwischen 1911 und 1916 deutsche und französische Literaturgeschichte. In den Jahren 1916 und 1917 stand er in enger Verbindung mit Georg Lukács, war Teil des so genannten »Sonntagskreises«, zu dem sich vor allem jüdische Intellektuelle wöchentlich trafen, um Themen der Philosophie und Kunst zu diskutieren. 1918 promovierte er über ein Thema der Erkenntnistheorie, danach arbeitete er kurz während der Ungarischen Räterepublik als Lehrbeauftragter an der Universität Budapest. Nach der Niederschlagung der Räterepublik emigrierte Mannheim über Wien nach Deutschland. Die Räterepublik dauerte 133 Tage. Viele Juden waren bei dieser revolutionären Bewegung dabei, was dann die konterrevolutionäre Bewegung unter Miklós Horthy zum Anlass für antisemitische Hetze nahm. Das betraf auch Mannheim.2 Seine freundschaftliche Beziehung zu Georg Lukács, die sich daraus ergebende Verbindung zur kurzlebigen Revolutionsregierung von Béla Kun, all das machte aus Károly nun Karl  Mannheim, der als Kollaborateur mit der Revolution 1919 das Land verlassen musste, obwohl er nie Revolutionär war. Und seine Sprache wurde Deutsch. Er war als Ungar, als Jude, als Exilant, als Flüchtling, als Intellektueller ein so genannter freischwebender Intellektueller, der politisch unabhängig war. Mannheim interessierte sich für die Strukturen des Denkens, für dessen Hintergründe, Kontexte, Sinnzusammenhänge. In seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1925 über den Konservatismus als politische Ideologie unterscheidet er zwischen dem, was er »Traditionalismus« nennt — einer unreflektierten psychologischen Grundhaltung, die auf die Bewahrung des Bestehenden pocht —, und dem »Konservatismus« als einer reflektierten Reaktion auf die Moderne, die sich im ständigen Dialog mit dem Liberalismus der Aufklärung befindet.3 Der Grundgedanke, dass politische Denkstrukturen einander in Wechselwirkung definieren, geht dann auch in seine 1929 erschienene Essaysammlung Ideologie und Utopie ein, die seinen Ruf als neuer Star der Soziologie in Deutschland festigte. Die Soziologie sollte die Philosophie als Erkenntniswissenschaft ablösen, denn Mannheim glaubte nicht, dass man noch nach einer fundamentalen Wahrheit suchen könne.

Möglicherweise hat schon dieses Denken mit einer mehr oder weniger bewussten Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft zu tun: Karl Mannheim war Jude, aber kein gläubiger Jude. Er ging nicht in die Synagoge, glaubte eher nicht an Gott. Er sah die Soziologie als eine Übung, ohne einen festen Ausgangspunkt der Erkenntnis in Bewegung zu denken. Mannheims Judentum freilich wurde nur selten als zentrale Voraussetzung seiner Wissenssoziologie verstanden. Sie galt eher als eines jener für das Klima der Weimarer Republik so typischen kulturellen Experimente. Aber wenn wir die Wissenssoziologie als Zugang zum Streit der Weltanschauungen auch als einen jüdischen Ansatz verstehen, können wir gesellschaftliche Debatten, die uns sonst eher als beliebig erscheinen, besser verstehen und damit auch einen Schlüssel zu den aktuellen Debatten finden. Einige seiner Kollegen wollten Mannheims Soziologie als jüdisch begreifen und verstehen.

»Er hatte manche Eigenschaften eines alttestamentlichen Propheten. […] Ich hatte mit ihm über das Wesen der Freiheit gestritten; ich glaube, dass ich nicht fehl gehe, dass seine Freiheitsidee etwas anderes war als das, was denjenigen, deren Vorfahren nicht aus dem Ghetto stammten, vorschwebt.«4

Dies schreibt Leopold von Wiese in einem Nachruf auf Karl Mannheim, veröffentlicht im ersten Jahrgang der neuen Kölner Zeitschrift für Soziologie1948. Der deutsche Soziologe Leopold von Wiese war Vorsitzender der 1946 wiedergegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der jüdische Soziologe Karl Mannheim floh 1933 aus Deutschland und verstarb 1947 in London. Anlässlich der Wiedergründung der Gesellschaft konstatierte von Wiese über die Jahre davor in Deutschland:

»Und doch kam die Pest über die Menschen von außen, unvorbereitet, als heimtückischer Überfall. Das ist ein metaphysisches Geheimnis, an das der Soziologe nicht zu rühren vermag.«5

Von Wiese, so heißt es, war mit Anstand durch die NS-Zeit gegangen. Er und Mannheim kannten sich, und in der Tat stritten sie schon während der Weimarer Zeit über das Wesen der Freiheit und andere soziologische Fragen. Was trennte diese beiden Soziologen, der eine 1876 im niederschlesischen, damals deutschen Glatz, der andere 1893 in Budapest geboren? Was meinte von Wiese mit den »Eigenschaften eines alttestamentlichen Propheten«, und was hatte er wohl im Sinn, als er über die verschiedenen Freiheitsideen sprach? Welche Freiheitsidee passt besser zu denjenigen, deren Vorfahren aus dem Ghetto stammen? Bedient diese Aussage von Wieses schlicht ein antisemitisches Klischee, oder steckt dahinter vielleicht doch eine soziologische Beobachtung über die Denkweise der Juden?

Mannheims Karriere ist durchaus nicht typisch für die akademischen Karrieren von Juden in dieser Zeit. Er habilitierte sich bei Alfred Weber, dem Bruder von Max Weber, in Heidelberg in den Jahren 1922 bis 1925 und unterrichtete dort als Privatdozent, bis er 1930 den Ruf als Professor für Soziologie an die Universität Frankfurt erhielt, was für einen Juden in dieser Zeit nicht selbstverständlich war. Vielleicht kann man trotzdem vorsichtig behaupten, die Weimarer Soziologie sei eine »jüdische Wissenschaft« gewesen, wie sie nicht nur von rechten Kreisen während der Zeit der Weimarer Republik be- und verurteilt wurde. Dieses Attribut war bereits lange vor dem nationalsozialistischen Regime geläufig. Ob es sich bei dieser Soziologie um eine jüdische handelte, das ist eine Frage, die nicht nur die Soziologie Mannheims betrifft, sondern zugleich das Tor zu den Rätseln und Unbegreifbarkeiten des Verhältnisses der jüdischen Kultur zum deutschen und europäischen Raum aufschließt. Und es geht natürlich um die Frage des Partikularismus, der Einzigartigkeit jüdischer Geschichte und Erfahrung. Diese Fragen werden bis heute gestellt, und sie stehen auch im Hintergrund für die Fragen zur jüdischen Emanzipation und des Zionismus als nationale Befreiungsbewegung. Daran knüpft sich die Frage nach dem modernen Begriff der Nation und wie innerhalb der Nation individuelle Freiheit garantiert werden kann. Kann daher eine bestimmte Form der Soziologie als ein Ausdruck moderner, säkularer jüdischer Kultur verstanden werden? Gab und gibt es eine jüdische Nation ohne Territorium, die verstreut und über Grenzen hinweg in und außerhalb Europas lebte und lebt? Wenn man es mit eher aktuellen diskursiven Begriffen beschreiben wollte, waren Juden eine intern kolonisierte Minderheit. Mannheim war ein assimilierter Jude, also ein Jude, der nach außen hin nicht als Jude zu erkennen war. Ein Jude — in den Worten von Wieses —, dessen Vorfahren wohl aus dem Ghetto stammten, der aber selbst Teil einer bürgerlichen Welt war. Mannheim gehörte zu diesem europäischen, deutschen Bürgertum, und er gehörte auch nicht dazu. Es ist natürlich kein Zufall, dass es der jüdische Soziologe Georg Simmel war, der den »Fremden« zu einem soziologischen Typus erklärte, der gleichzeitig dazugehört und auch nicht, »der heute kommt und morgen bleibt, [… der] die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat«.6 Deshalb waren die Juden für Simmel das klassische Beispiel für dieses Dilemma des Dazugehörens. Man sieht so aus wie die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, aber man gehört nicht wirklich dazu. Simmel geht es hier um die unsichtbare Differenz.

Gerade dieses Nichtdazugehören bildet die Basis für Mannheims Wissenssoziologie, die auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins und die Entschiedenheit des antisemitischen Staates traf, diese jüdischen Kulturen im Herzen Europas auszumerzen. Diese Konturen des Nichtdazugehörens sind auch beim Streit um Mbembe wieder sichtbar geworden. Sichtbar wird dann die Sichtbarkeit der Differenz in der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Rassismus.7 Es ist wohl diese Unterscheidung zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, die heute das Wissen um die Affinität zwischen Soziologie und jüdischer Erfahrung in den Hintergrund schiebt. Mannheim glaubte, dazuzugehören.

Daher suchte er nach einer Möglichkeit, das Denken unter der Bedingung der ständigen Veränderung zu denken. Alles konnte passieren. Gewissheiten lösten sich auf, Bekanntes wurde zu Unbekanntem und das Unbekannte Teil des alltäglichen Lebens. Diesen Wirrwarr der Zeiten wollte Mannheim mit seiner Soziologie durchdringen: Wie lebt man in einer komplexen Gesellschaft, und wie geht man um mit der (Über-)Fülle an Eindrücken, in der kein Zusammenhang zu erkennen ist? Entscheidend war für ihn, wie sich das Leben mit und in der Pluralität gestalten sollte. Seinen Gegnern musste dies als klare Provokation erscheinen.8 Sie propagierten, das Leben müsse einfach und erkennbar bleiben. Demaskierung und Enthüllung sind Schlüsselbegriffe für Mannheim — wie auch für seine Kritiker. Doch während diese den Gestus der Demaskierung nutzten, um auf das hinzuweisen, was aus ihrer Sicht hinter dem schillernden Auftreten dieses neuen Theoretikers lag — hier nutzten sie das ganze Repertoire zugleich romantischer wie antisemitischer Rhetorik —, ging es dem Sozialanalytiker Mannheim darum, die gesellschaftliche Funktion von Theorien zu verstehen und damit auch die Kritik an seinen Theorien selbst soziologisch und reflexiv verstehen zu können.

Wie manche seiner Kollegen versuchte auch Mannheim den Liberalismus der Weimarer Zeit durch pluralistisches Denken zu retten. Aber das forderte natürlich Widerspruch heraus. Viele Gegner der Soziologie waren gleichzeitig auch Gegner des jüdischen Einflusses auf den deutschen Geist. In einer Zeit, in der Modernität auch den Übergang von »Gemeinschaft« zu »Gesellschaft« bedeutete, wurde daraus ein Vorwurf gegen die Juden. Sie bildeten noch immer eine enge Gemeinschaft und unterminierten damit die allgemeinen Ansprüche der Staatsbürgerschaft, nutzten jedoch gleichzeitig die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft — so jedenfalls nach Ansicht jener, die in den Juden Feinde der Nation sahen. Juden waren in einem Doublebind gefangen. Sie wurden als zu partikular angesehen, um universelle Bürger zu sein, und als zu universell, die Grenzen der Staatsbürgerschaft überschreitend, eigentlich zu kosmopolitisch, um partikulare Bürger zu sein. Mannheim glaubte, dass sowohl in der neuen Wissenssoziologie als auch in der Politik Distanzierung vom eigenen Standpunkt notwendig sei, um Kompromisse bei der Lösung von Konflikten zu finden. Distanz ist daher für Mannheim kein Zustand, sondern eine Haltung und Handlung. In Ideologie und Utopie handelt ein Kapitel bezeichnenderweise von der Frage »Ist Politik als Wissenschaft möglich?«. Es ging ihm nicht um eine statische, sondern um eine dynamische Synthese, da für ihn nicht nur in der Politik alles im Werden war. Und es ist die freischwebende Intelligenz, die diese Synthese denken muss. Nur so kann Politik funktionieren. Nicht um Wahrheit geht es in der Politik, sondern um das Finden von Kompromissen in und mit den verschiedenen Weltsichten. Aber es kam anders. Als sein erstes Semester in Frankfurt zu Ende ging, wurde die NSDAP zweitgrößte Partei im Reichstag. Die Bedrohung der Juden lag schon in der Luft. Fast alle, die in irgendeiner Form mit Mannheim zu tun hatten, waren sich darüber im Klaren, obwohl natürlich niemand die Zukunft erahnen konnte. Schon 1929 hatte Mannheims Assistent Norbert Elias, der später nicht viel über jüdische Dinge schrieb, einen Artikel in einem jüdischen Gemeindeblatt veröffentlicht, in dem er Mannheims und seine eigene soziologische Sichtweise auf den Antisemitismus anwandte. Er schloss den Essay in einem resignierten Ton ab, denn er sah eigentlich nur die Alternativen, entweder nach Palästina auszuwandern oder sich mit dem strukturellen Antisemitismus abzufinden:

»In jedem Fall ist die klare Einsicht in die eigene Lage besser als ein noch so trostloser Selbstbetrug. Eines ist dem deutschen Juden als Antwort auf den Antisemitismus immer noch möglich: sich an eine unaufdringliche, entschlossene und selbstbewusste Haltung zu gewöhnen, die allein seiner Lage angemessen ist.«9

Mannheim glaubte nicht an das autonome Denken. Menschen sind soziale Wesen, ihr Denken soziale Prozesse. Sie stehen sich mit ihren jeweiligen Weltanschauungen und den grundsätzlichen Denksystemen gegenüber. Da ist es nicht genug, rational über die Wahrheit entscheiden zu können. Wie kann man zu einem Kompromiss kommen, wenn kein Glaube an eine gemeinsame Welt mehr existiert? Um neue Gesellschaftstheorien und deskriptive Konzepte zu schaffen, muss der Betrachter in der Lage sein, die Perspektive zu wechseln, nicht einfach festzuhalten an einer gegebenen Position. Dazu bedarf es eines öffentlichen Raumes, in dem sowohl Juden als auch Nichtjuden »neutral« miteinander debattieren können. Dieser wurde von den Nazis zerstört. Im April 1933 wurde Mannheim als Jude entlassen. Er verließ kurz danach Deutschland.

1928 veröffentlichte Mannheim den Aufsatz »Über die Generationen«.10 Mit dieser neuen Wendung wollte Mannheim verstehen, wie sich der Wandel der Welt im Bruch zwischen den Generationen manifestiert. Auch hier reflektierte er unausgesprochen seinen eigenen jüdischen Hintergrund. Den konkret zu thematisieren blieb seinem Studenten Jacob Katz vorbehalten.11 Katz, wie Mannheim ein aus Ungarn stammender Jude, hatte bei Mannheim seine Dissertation begonnen. Nach dessen Entlassung 1933 beendete er sie bei einem »arischen« Kollegen. In seiner Arbeit behandelte er die Geschichte der Assimilation von Juden in Deutschland und in Europa. Dabei griff er Mannheims Idee der freischwebenden Intelligenz auf und untersuchte, wie sich deutsche und jüdische Intellektuelle mit völlig unterschiedlichem Hintergrund in einem so genannten »neutralen Raum« treffen und miteinander interagieren können, ohne ihre eigenen Identitäten aufzugeben. Beispiele für solch neutrale Räume findet er in den Salons und Logen. Dort mussten die Juden und Jüdinnen ihre spezifischen Lebensformen ablegen, etwa den Gebrauch des Jiddischen.12 Ist es ein Zufall, dass genau in dieser Zeit — um 1930 — Hannah Arendt mit ihrem damaligen Ehemann Günther Stern (besser bekannt als Günther Anders) Lehrveranstaltungen von Mannheim in Frankfurt besuchte? Ihr Buch über das Leben der Jüdin Rahel Varnhagen begann Arendt um 1929, veröffentlicht wurde es erst 1957: ein Buch über Frauen und Jüdinnen und die Assimilation, ein Drama des 19. Jahrhunderts, aber auch eine Studie über das Scheitern der jüdischen Emanzipation, das für Arendt immer im Vordergrund ihrer Überlegungen stand.13 Schwer vorstellbar, dass Arendts Überlegungen nicht von Begegnungen mit Karl Mannheim und Jacob Katz geprägt waren. Katz und Arendt waren sich darin einig, dass die jüdische Geschichte nicht durch die Assimilation von der Dunkelheit ins Licht geführt wurde. Assimilation stellte das jüdische Leben vor weitere Probleme. Es ging darum, wie man mit der aufklärerischen Forderung nach Assimilation umgehen sollte. Genau diese Problematik, losgelöst vom jüdischen Hintergrund, griff einige Jahrzehnte später der postkolonialistische Diskurs auf.

Jacob Katz und Hannah Arendt waren sich darüber im Klaren, dass es auch nach ihrer Emanzipation für Juden nicht einfach war, sich dem Vorwurf zu entziehen, eine »Nation innerhalb einer Nation« zu bilden. Entscheidend für unsere Debatte ist, dass gerade die Wissenssoziologie darauf besteht, dass Menschen, die man »Zeitgenossen« nennt, weil sie eine bestimmte Lebensweise und eine Art, die Welt wahrzunehmen, teilen, nicht notwendigerweise in derselben Zeit leben. Es gibt zwar so etwas wie einen Generationszusammenhang (wie Karl Mannheim