Flügel des Eros - Eckart von Naso - E-Book

Flügel des Eros E-Book

Eckart von Naso

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Beschreibung

Eine Melodie von Jugend und Liebe durchzieht diesen Roman von Eckart von Naso – leidenschaftlich und zärtlich zugleich. An einem Sommerabend des Jahres 1923 begegnen zwei Freundinnen, Monika und Marion, dunkel die eine, blond die andere, dem jungen Christian Toggenburg und finden in ihm, der sich von beiden Mädchen in besonderer Weise angezogen fühlt, einen phantasievollen Wandergefährten durch das schlesische Riesengebirge. Das gemeinsame Lebensgefühl und der Zauber der Landschaft führen die drei schnell und bindend zusammen. In Berlin, wo man sich wiedersehen wird, wartet auf jeden von ihnen – mit allen Hoffnungen und Enttäuschungen – der Beruf: Frauenärztin will Monika werden, Marion Pianistin, Christian Schriftsteller. Und weiter wartet auf jeden von ihnen die Liebe. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 415

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Eckart von Naso

Flügel des Eros

Roman

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Inhalt

Christian Toggenburg stand vor [...]Es ging in den [...]Marion lag schon im [...]Über Nacht hatte sich [...]Ehe sie die Mansarde [...]Zwei lagen wach. Ihre [...]Und jetzt singen Sie [...]Ein Mädchen ging durch [...]Sie sind unruhig, Christian.» [...]An einem der strahlenden [...]Ist der Morgen sehr [...]Christian, in seinem schon [...]Marion, im Begriff, die [...]Einige ganz neue Zukunftsaussichten [...]Monika saß um Mitternacht [...]Marion trat in den [...]Sie sind Dr. Monika Kreuzritter?» [...]Unter den rotgoldenen Laubbäumen [...]Seit etwa fünf Wochen [...]Es verging eine Zeit, [...]Nach einer nahezu schlaflosen [...]Christian, die Hand auf [...]Sie bummelten die hell [...]Der große Wagen mit [...]Pünktlich 16.50 Uhr, es dunkelte [...]Es war bei Eybens [...]Auf der Pragerstraße in [...]Zur selben Stunde saß [...]Die Weihnachtsfeiertage waren zur [...]Das Wetter war über [...]Wenn ich mit Menschen- [...]Rosa Toffeleit stand in [...]Als der D-Zug aus [...]Christians Stimmung war nicht [...]Ein betäubender Lärm, aus [...]Der Tag, der dem [...]Wenn die drei sich [...]Unschlüssig, ob sie die [...]Inzwischen hatte Monika über [...]Es war 10.10 Uhr. Während [...]Monikas Stellung innerhalb der [...]Am Tage vor Palmsonntag [...]Als Christian am Montag [...]Als er sich aber [...]Marion lag im Bett, [...]Bei dem Schülerabend von [...]Die Nachfeier bei Silvia [...]Als Buchner in seine [...]Allmählich hatte sich der [...]Rigoletto war über der [...]Am 12. Juli saßen sich [...]Bald nach der Ankunft [...]Eigentlich hatten sie schon [...]Christian, in die lange [...]Meer und Strand dampften [...]Der D-Zug Marienburg–Berlin jagte [...]Langsam setzte draußen die [...]In der Frühe des [...]Dann stand Marion in [...]Inzwischen hatte sich im [...]Die Wolken lagen schwer [...]Monika ging durch den [...]Der letzte Abend in [...]Der Vikar Hermann Kreuzritter [...]Christian stand hoch oben [...]In St. Gallen lieferte er [...]Marion saß an ihrem [...]Die Tage in Garmisch [...]Am Morgen nach der [...]Monika, seit ungefähr einer [...]Als Monika zwei Tage [...]Marion Eyben blieb in [...]Seit ihrer Rückkehr vom [...]Als Monika nach einer [...]Da Monika zwischen ihrem [...]Es war Mitternacht, die [...]Seit der Dresdner Hochzeit [...]Es schien Monika unglaubhaft, [...]An einem Nachmittag, als [...]Die Taufe in Dresden [...]Sie kamen vom Waldsee [...]Es kam der letzte [...]Seit dem Sommer in [...]Marion saß in einem [...]An einem schönen Septembertage [...]Marion saß vor ihrer [...]Am nächsten Vormittag, in [...]Eine Woche später kam [...]Monika saß über das [...]Sie trugen sie alle [...]Es waren zwölf Jahre [...]Der weihnachtliche Abend war [...]Es war zwischen Weihnachten [...]Sie betraten die Wohnung [...]

Christian Toggenburg stand vor einem gelben, altmodisch verzierten Postkasten, wie man ihn in kleineren Ortschaften bisweilen finden konnte, und hielt einen recht gewichtigen Brief in der Hand. Er bückte sich, um die Stunde der Leerung zu erforschen, überlas den Text der Anschrift noch einmal genau und warf den Brief nach kurzem Zögern ein, wobei er gedankenverloren mit der Hand nachhalf, weil sich der Brief nur schwer in den Schlitz zwängen ließ.

Als er wieder aufblickte, sah er sich den glänzenden schwarzen Augen einer jungen Frau gegenüber, die im gleichen Moment wie er von der anderen Seite einen Brief eingeworfen hatte. Christian nahm ihren Blick auf und, ohne es eigentlich zu wollen, lächelten beide sich über dem Dach des Kastens zu. Jetzt trat auch das blonde Mädchen, die Begleiterin der Dunklen, vor, nahm das Lächeln auf, das ebenso der Freundin wie dem Unbekannten gelten konnte, und warf als dritte einen Brief in den Schlitz.

Daraufhin sahen sich die beiden Mädchen an, als hätten sie etwas Wichtiges getan, wandten sich um und gingen davon, in die Dämmerung des Juliabends hinein – groß und schlank die Dunkle, kleiner und von weicheren Formen die Rötlich-Blonde –, ohne sich weiter um den jungen Mann auf der anderen Seite des Postkastens zu kümmern.

Dieser indessen fühlte einen schnellen, stechenden Schmerz, als er sah, wie die beiden sich entfernten, ohne die geringste Notiz von ihm zu nehmen. Und weil er eine ihm selbst nicht ganz verständliche Furcht empfand, etwas Unwiederbringliches zu verlieren, wenn er den beiden nicht mehr begegnen würde, folgte er ihnen in angemessenem Abstand nach.

Der Abend war vom starken Duft der Linden erfüllt, und gegen das Opal des Himmels stand der Kamm des schlesischen Gebirges, schattenhaft zwar, doch milchig beglänzt, während der Gipfel von einem Wolkenschleier umzogen blieb. Mählich wurden im Tal und an den Hängen die Lichter angezündet, daß die wellige Landschaft wie von Glühwürmchen übersät schien, und der kleine Gebirgsort selbst, dem seine Teppichwebereien einen bescheidenen Ruhm innerhalb der deutschen Grenzen beschert hatten, ließ seine nicht eben zahlreichen Bogenlampen flammen. Die besondere Anziehungskraft aber ging von einer Gartenwirtschaft aus, die, durch bunte Lampions herausgeputzt, nicht nur ein bemühtes Kurorchester, sondern darüber hinaus eine bescheidene Vergnügungsstätte bieten konnte, deren Mittelpunkt ein Karussell bildete.

Es waren die ‹G’schichten aus dem Wienerwald›, die gespielt wurden, als Christian Toggenburg um den Preis einiger hunderttausend Mark des täglich schwindenden Inflationsgeldes den Garten betrat, wohin auch die Mädchen nach kurzer Überlegung ihre Schritte gelenkt hatten.

Etwas Merkwürdiges war geschehen. Mochte es das Lächeln der jungen Mädchen am Briefkasten gewesen sein oder der Abend selbst mit seinen Linden und der Silhouette des Gebirges am verblassenden Himmelsrand; mochte es die Summe von mancherlei Sehnsüchten sein, die an solchen Abenden aufsteigen und sich den menschlichen Sinnen mitteilen – Christian befand sich in der eigentümlichen Stimmung zwischen Lebensrausch und Melancholie, bereit, sich der einen oder anderen hinzugeben; je nachdem sich der kaum bewußte Wunsch seines abendlichen Ausfluges erfüllen würde. Keineswegs hatte er die Absicht, die beiden Mädchen auf eine alltägliche und immer banale Art anzusprechen – eine Form der Annäherung übrigens, die sie sich allem Anschein nach verbeten hätten. So wartete er in Geduld, was weiterhin geschehen würde, während er in dem ziemlich großen, menschenbelebten Garten entlang promenierte, um zunächst einmal die beiden Gesuchten wiederzufinden.

Jetzt grade tauchten sie für einen Moment zwischen den Büschen auf, von einer der spärlichen Bogenlampen beleuchtet, um gleich wieder von einer anderen Buschreihe verschluckt zu werden. Nun aber hatte er ihre Spur entdeckt und verlor sie nicht mehr.

Erst als der Walzer der Kurkapelle schwieg, setzte mit lauterem, doch nicht eben häßlichem Getön am anderen Ende des Gartens die Karussellmusik ein. Die Besucher, die bisher einigermaßen zufällig durcheinander gewogt waren, sammelten sich jetzt in breiterer Welle, um dem Tanz der hölzernen Pferde und Wagen zuzuströmen. Dort im Kreise der Schaulustigen, nur wenige Schritte seitlich von ihm entfernt, standen die beiden Mädchen und sahen dem Spiel zu, während die ersten Jugendlichen sich schon auf Schimmel und Rappen schwangen. In die immer schnellere Drehung hinein klang, über zehn schlimme Kriegs- und Nachkriegsjahre gespenstisch bewahrt, der Schlager nicht nur einer anderen Zeit, sondern einer vollkommen anderen Welt: ‹Puppchen, du bist mein Augenstern …›

Christian Toggenburg sah nicht die vorbei jagenden Reiter und Fahrenden an, er hörte den Schlager nicht, nicht das Abklingeln und Anklingeln der jeweils neuen Tour. Er sah in einer zugleich ergebenen und entzückten Art zu den Mädchen hin, deren jede ihm eine Erfüllung schien. Und er begann, in Gedanken ihr Bild zu malen: wie sie geworden waren, so, wie er sie eben sah – die Dunkle mit den glänzenden schwarzen Augen, die so hochgewachsen war, und die kindliche Anmut der Rötlich-Blonden, deren Körper verriet, was sie von sich selbst noch nicht wußte.

Auf einmal geschah es. Die Klingel verkündete die nächste Tour. Die Blonde sah die Dunkle fragend an, die Dunkle nickte belustigt. Sie traten schnell aus dem Kreis der Schaulustigen heraus auf die korpulente Frau zu, die Eigentümerin und Kassenwart zugleich war. Die Kleine reichte den gewünschten Geldschein hin und setzte sich rittlings auf das weiße Pferd, während die Dunkle den Rappen bestieg. Und da beide, nach der Mode der Zeit, enge Röcke trugen, waren sie jetzt langbeinige, begeisterte Reiterinnen, Amazonen gleichsam, denen weder Blicke noch Zurufe etwas anhaben konnten, weil sie – wie Christian bemerkte – von Natur vollkommen sicher waren. Als jetzt die Runde beginnen sollte, die Glocke anschlug und der Sohn der korpulenten Frau die Mechanik betätigte, sprang im letzten Augenblick, wobei er einen Geldschein durch die Luft flattern ließ, Christian auf die sich schon drehende Scheibe und landete, dicht vor den Mädchen, auf einem braunen Pferd.

Es konnte der Sprung sein oder die Lust an der Drehung, die schneller wurde mit jedem Moment, die Mädchen lachten, und Christian lachte auch. Er wendete sich und schrie über den Lärm des Karussells hinweg: «Wie schön, daß ich Sie hier noch einmal treffe.»

«Noch einmal?» fragte die Blonde.

«Ja! Am Briefkasten und jetzt zu Pferd.»

«Ach», rief die Dunkle, «Sie waren das?»

«Ja, ich!»

Das Karussell drehte sich in windender Fahrt. Dann spürte man die Bremsen. Die Glocke klang.

«Reiten wir weiter?» Die Dunkle nickte.

«Dann», rief Christian übermütig, «darf ich Ihnen mein Pferd anbieten, es ist schneller. Wir probieren einfach alle Pferde durch.»

Sie bezahlten und sausten weiter. Christian ritt jetzt neben der Rotblonden den Rappen. Die Dunkle saß auf dem braunen Pferd vor ihnen. Und in der Bergnacht zwischen ‹Puppchen› und Klingelzeichen jagten sich alle drei im Kreise des Karussells.

«Noch einmal, ein letztes Mal», rief die Dunkle. «Ich besteige den Schimmel, du» – sie sprach zur Freundin – «reitest den Braunen. Und er», sie sah Christian an, «ist der Rappe. Dann haben wir alle Farben und Temperamente durchprobiert.»

Wieder zahlten sie. Wieder drehten sie sich auf ihren hölzernen Rössern. Wieder klangen Schlager und Klingelzeichen auf. Dann stiegen sie ab.

«Leben Sie wohl, Sie hübschen Reiterinnen auf hübschen Pferden», sagte Christian und wollte gehen – in der Hoffnung freilich, daß man ihn zurückriefe.

«Vielleicht», sagte die Dunkle, «bleiben wir noch etwas zusammen. Der Abend ist warm und schön, wie lange nicht, zur Unterhaltung geschaffen. Und wir sind Nachtvögel, meine Freundin und ich.» Als sie sich aber zu dritt an einen freien Tisch setzten, wußte keiner von ihnen, daß drei Schicksale sich berührt, sogar gekreuzt hatten.

Es ging in den nächsten Minuten etwas stiller zu als bisher. Der Wirbel, den das Karussell erzeugt hatte, war verebbt. Doch das Ungewöhnliche blieb, und die Gegenwart der Mädchen verwirrte Christian immer noch unbegreiflich. Es war sonst seine Art nicht, sich von Erlebnissen mit Frauen verwirren zu lassen. Aber diese beiden – so verschieden sie sein mochten – zogen ihn, vielleicht durch ihre Gemeinsamkeit, seltsam an. Das Gefühl einer ihm fremden Demut wollte ihn stumm machen, als die Kellnerin an den Lampion-erleuchteten Tisch trat und eine Karte präsentierte. Augenblicks zerriß der unsichtbare Schleier, der Mädchen und Mann trennen wollte. Die Gemeinschaft der drei trat in ihre zweite, jetzt schon gelöste und gleichsam kameradschaftliche Phase ein. Zu dritt beugte man sich über die stark abgenützte, in der Preisskala mehrfach verbesserte Karte, wobei es sich ergab, daß Christian, da er an einem schmalen Ende des Tisches saß, von den Köpfen zur Linken und Rechten wie eingerahmt erschien, und der zarte Geruch eines Haarwassers wehte an ihm vorüber.

Man hatte bereits zu Abend gegessen und mußte anstandshalber nur etwas trinken. Es gab Bier und Brause, Kaffee und Tee. Aber Christian schien nicht zufrieden. Die Dunkle blickte hoch. «Fällt Ihnen etwas Besseres ein? Sie sehen aus, als hätten Sie Phantasie.»

Christian lachte. «Phantasie wohl, aber kein Geld.»

«Das macht die Zeit», sagte das Mädchen leichthin, «so geht es den meisten von uns.»

«Immerhin», rief Christian, «für diesen Abend reicht es noch. Ich darf Sie zu einer Spezialität unserer Berge einladen.» Er winkte der Kellnerin und bestellte drei ‹Stonsdorfer›, gut gekühlt.

Als die Hebe wenig später die bauchigen Gemäße mit der grünen Flüssigkeit brachte, deren jede gerade noch für den billigen Preis von 80000,– Inflations-Mark käuflich war, hob Christian sein Glas. «Trinken wir auf das Karussell und seine Reiter.»

Sie tranken einen Schluck und setzten die Gläser ab. «Scharf», sagte die Blonde, «aber schön.» Sie hustete. Ein schneller, seitlicher Blick traf Christian. «Ihnen macht es nichts aus?»

«Ich trinke ihn gern. Es ist soviel Schlesien darin: Luft und Kraft und Kräuter der Berge.»

«Ja», sagte die Dunkle, «es scheint, er paßt zu Ihnen. Eigentlich aber sollten wir uns jetzt näher kennenlernen. Ich bin Monika Kreuzritter und Medizinerin, vierundzwanzig Jahre alt. Die Kleine neben Ihnen heißt Marion Eyben und spielt Klavier. Sie spielt sehr musikalisch und schön, reifer, als ihre achtzehn Jahre vermuten lassen.»

«– Und Monika», warf Marion sofort ein, «ist schon eine Doktorin und approbiert. Sie ist schrecklich klug.»

«Jetzt sprichst du Unsinn», mahnte die andere.

«Und ich?» fuhr Christian auf. «Sie beide sind etwas oder werden es schon, ich, Christian Toggenburg, achtundzwanzig Jahre alt, bin im Augenblick gar nichts, nur ein cand. phil. a.D. und ein Oberleutnant d.R.a.D., aber ich habe keine Angst. Deshalb werde ich schon durchkommen.»

«Und wohin», fragte Monika, «wollen Sie einmal kommen?»

«Ich will schreiben können, was ich sehe und höre, manchmal auch, was ich fühle, denn mein Gefühl, so glaube ich fest, unterscheidet sich in nichts vom Gefühl aller Menschen und Tiere, soweit diese fühlen können.»

Einen Moment wurde es still. Dann fragte Marion: «Also sind Sie ein Dichter oder wollen es werden?»

«Kein Dichter», wehrte Christian ab. «Dichter sind die Toten, deren Werk abgeschlossen ist. Ich lebe. Mir genügt es, ein Schriftsteller zu sein.»

Hier setzte die Kurmusik wieder ein, und in der Programmfolge des Walzer-Abends war jetzt der ‹Rosenkavalier› an der Reihe. Die zärtlichen Sexten des 2. Aktes schwebten in die warme Sommernacht aufwärts.

«Es ist wunderschön», sagte Monika leise, und man wußte nicht, ob sie den Abend, den Walzer oder die Gemeinschaft am Gartentisch meinte.

«Wunderschön», wiederholte Marion.

Schon stieg über den Worten ein anderes auf: das Unausgesprochene, nur Gefühlte, nur Gelebte, der Rausch, nichts weiter als da zu sein und zu atmen, unten in einem Biergarten am Tisch zu sitzen und sich doch den Sternen oben nahe zu wissen.

Plötzlich schienen Marions grünliche Augen versonnen: «Ich bin gespannt, was aus unseren drei Briefen wird: Aus deinem Brief, Minka, meinem Brief und dem dritten Brief, den Christian geschrieben hat.» Sie lachte, zu ihm gewendet: «So werden wir Sie jetzt wohl nennen müssen.»

Monika nahm den Namen sogleich auf: «Also, Christian – ich habe mich heute bei Geheimrat Bumm um die Fachausbildung als Frauenärztin an der Universitätsklinik in Berlin beworben.»

«Ich», fuhr Marion fort, «habe mich heute um die Aufnahmeprüfung für Klavier an der Hochschule für Musik in Berlin beworben. Endlich hat es mein Vater erlaubt.»

Ein paar Sekunden sah Christian die beiden Mädchen belustigt an. «Wir gehören wahrhaftig zusammen, denn ich habe mich um den Buchpreis des Kleist-Verlages in Berlin beworben und das Manuskript heute abend mit Ihren Briefen zugleich abgeschickt.»

«Ist es möglich», staunte Marion, «daß drei Schicksale sich in ein und demselben Briefkasten, in der gleichen Stunde, an einem ganz belanglosen Punkt des Erdbodens begegnen? Denn Minka und ich, wir sind mit dieser hübschen Gebirgsstadt nur für ein paar Sommertage verbunden. Und wie steht es mit Ihnen?»

Christian entgegnete, er habe hier seit kurzem bei einer Tante gewohnt, der Witwe eines Majors, deren Pension nach den üblichen Verzögerungen erhöht worden sei. So hätte er das Manuskript seines Buches fertigschreiben können.

Es war Monikas dunkle Stimme, die jetzt fragte, ob er gezwungen sei, weiterhin bei dieser Tante zu leben. Das wäre schlimm, erwiderte er lachend. Alte Menschen würden, selbst wenn sie um Güte bemüht wären, doch recht sonderlich und schwer zu ertragen. Noch verfüge er über den Rest eines – freilich täglich schwindenden – Vermögens. Dann und wann verdiene er durch Artikel und Kurzgeschichten, die er an Zeitungen verkaufe. Er habe sich in vielen Sätteln versucht. «Manche meiner Kameraden aus dem Weltkrieg sind inzwischen reiche Leute geworden. Aber für den Schwarzmarkt und ähnliche Geschäfte bin ich zu dumm.»

Monikas glänzende dunkle Augen hielten ihn fest. «Seien Sie froh. Übrigens verstehe ich Sie gut. Ich bin die Tochter eines Pfarrers, keines, der Sprüche macht und sich in der Enge der Durchschnittschristen gefällt. Er ist ein mächtiger Kanzelredner, überhaupt ein großer Mensch. Und er hat uns Kinder in der Freiheit seines Geistes erzogen –»

«Dann», unterbrach sie Christian lebhaft und warf die immer widerspenstige Haarlocke aus der Stirn, «passen wir wohl alle drei nicht in die ‹Freiheit› der heutigen Welt – aber gut zusammen.»

Schon begannen einige der Besucher abzuwandern, denn vom Gebirge her hatte sich ein leichter Wind aufgemacht, jener, der das Nahen der Nacht verkündete. Überall aber, wenn die Musik schwieg und die Geräusche des Gartens stiller wurden, hörte man das seltsam Hallende, das von den Höhen kam und sich in den Tälern fing, ausgesandt von den Wäldern und wie von unterirdischen Wassern begleitet.

Nach einer Weile fragte Marion: «Eines muß ich wissen. Vielleicht fragt man es nicht, und ich frage es doch, weil ich neugierig bin. Wie heißt der Titel Ihres Buches?»

Einen Augenblick zögerte er. Dann sprach er den Namen aus: «Steuben!»

Jetzt blieben beide Mädchen stumm, bis Marion sich ein Herz faßte. «Ich bin wahrscheinlich sehr ungebildet, verzeihen Sie, aber wer ist das – Steuben?»

«Ach», sagte er verwundert, «Sie kennen ihn gar nicht?»

«Irgendwann», fiel Monika ein, «muß ich von ihm gehört haben. Ist das nicht ein Mann aus Amerika?»

Christian zeigte in diesem Augenblick ein etwas melancholisches Lächeln. Dann strafften sich seine Züge wieder, und sein Gesicht war ruhig, fast heiter. «Neulich hat mir ein guter Freund gesagt: Wer zum Teufel schreibt denn heute ein Buch über Steuben! Heute schreibt man über den Kampf der Freikorps in Oberschlesien oder die rheinischen Separatisten. Möglich, daß er recht hat.» Plötzlich, mit einem Anflug von Hochmut, schloß er: «Ich habe eben über Steuben geschrieben.»

«Dann erzählen Sie uns auch von ihm.»

«Er kam aus der soldatischen Zucht der friderizianischen Armee und war ein glänzender Offizier auch im Siebenjährigen Krieg, aber Preußen war ihm zu eng. Dann erst, als er Europa überwunden hatte und in der Neuen Welt landete, stieg sein Stern zum Scheitelpunkt auf. Heute steht das Denkmal des preußisch-amerikanischen Generals in Washington, in einem schönen Park, dem Weißen Haus benachbart.» Wenn er so von seinen eigensten Dingen sprach, wurde dieser Christian plötzlich ein anderer. Er schien älter, sehr ernsthaft und ohne Absicht verwandelt. Nach einer Pause schloß er: «Größe und Glanz dieses Mannes haben mich in einer Welt ohne Glanz und Größe gelockt. Er ist ein Gleichnis.»

Auch die Mädchen hatten die Veränderung an ihm bemerkt, wobei Monika ihn aufmerksamer als bisher betrachtete, Marions Temperament sogleich in das Thema selber eingriff. «Aber», rief sie, ihre rötlich-blonden Locken bewegten sich, «wir leben im Jahr 1923. Was Sie geschrieben haben, liegt an einhundertfünfzig Jahre zurück – eine graue Vorzeit für uns sehr junge Menschen. Werden wir», sie unterstrich das Wort wir, «das Buch lesen wollen?»

Christian, eher belustigt, antwortete: «Sollte es je erscheinen, so lesen Sie es jetzt vielleicht, weil Sie den Autor kennen. Möglich, daß es Ihnen dann sogar gefällt.»

«Aber eines verstehe ich nicht: Warum überhaupt ein Gleichnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Warum nicht die Gegenwart selbst? Warum Siebenjährigen Krieg? Auch bei uns geht es wild genug zu. An Morden fehlt es nicht. Denken Sie an die Feme unserer Zeit, an Erzberger und Rathenau.»

Ein paar Sekunden sah Christian die Fragerin nachdenklich an. «Sie haben sehr recht, zu fragen. Warum nicht die Gegenwart, wenn ich hundertundfünfzig Jahre zurückgehen muß, um sie zu finden? Aber ich brauche den großen geschichtlichen Raum, wenn ich über meine eigene Unzulänglichkeit wegkommen will, ich brauche die Weite und den Horizont der Jahrhunderte. Noch unser Chaos, will mir scheinen, ist schrecklich bürgerlich. Bisher jedenfalls kann ich mich nicht entschließen, Themen aufzugreifen, in denen Hotelhallen, Filmheldinnen oder Tanztees eine Rolle spielen. Solche Stoffe langweilen mich unsäglich. Außerdem – und das will ich Ihnen zum Schluß verraten – habe ich keine konstruktive Phantasie. Ich kann nicht ‹erfinden›, deshalb brauche ich den vorgelebten historischen Stoff. Aber», unterbrach er sich und war wieder der unbekümmerte junge Mann, «das langweilt Sie.»

«Keineswegs», rief Marion, «aber wir werden jetzt leider herausgesetzt.»

Die drei am Tisch gehörten zu den letzten Besuchern des Gartens. Auch die Musik hatte sich schon mit dem Marsch der ‹Alten Kameraden› verabschiedet, und gerade ging die Kellnerin von Lampion zu Lampion, um die Lichter auszulöschen und die noch vorhandenen Stümpfe zu sparen. Denn morgen würden die Kerzen wieder um hundert Mark teurer sein.

«Morgen», sagte Monika und erhob sich mit den beiden anderen zusammen, «ist unser letzter Ferientag. Wir wollen zur Schneekoppe hinauf», sie wartete einen Augenblick und schloß: «Marion und ich.»

«Vielleicht», kam Christians Stimme, «darf ich den Bergführer spielen und Ihre Rucksäcke tragen?»

Die Mädchen verständigten sich mit einem Blick. Den Bergführer dürfe er spielen, die Rucksäcke aber trügen sie selbst. Zu dritt verließen sie den Garten. Vor dem Gasthof trennten sie sich, nachdem sie Zeit und Treffpunkt für den kommenden Tag verabredet hatten.

Marion lag schon im Bett und sah der Freundin zu, die den schweren griechischen Knoten gelöst hatte und das jetzt lang herabhängende Haar kämmte. In dunklen Wellen fiel es ihr über den Rücken und die jugendlich kräftige Brust.

Vom Bett kam Marions Stimme: «Das war ein merkwürdiger Abend, meinst du nicht?»

«Ja», sagte Monika langsam und fuhr fort, sich zu kämmen, «ein merkwürdiger Abend und eigentlich auch nicht merkwürdig, so, als hätte er nicht anders sein können.»

«Und das Merkwürdigste», rief Marion lebhaft, «sind die drei Briefe in ein und demselben Kasten. Wenn man es jemandem erzählte, würde er es für die Erfindung eines Schriftstellers halten, aber es ist doch wirklich und wahrhaftig passiert.»

«Ja», meinte Monika, indem sie Kamm und Bürste weglegte, «darum pflegt man zu sagen: ‹Das Leben schreibt sich seine Romane selbst›.»

Sie drehte das Oberlicht ab und legte sich ebenfalls zu Bett.

«Gefällt er dir?» fragte Marion unvermittelt.

Monika überlegte. «Er gefällt mir ganz gut.»

«Zuerst sieht er mit seinem blonden Lockenschopf aus wie ein griechischer Athlet in einer Galerie. Dann werden die tiefliegenden Augen noch tiefer, und er ist ein anderer, ein Dichter, obwohl er kein Dichter sein will. Und dann ist er wieder ein verwegener junger Mann, etwas hochmütig, sogar etwas frech.»

«Ich weiß nicht», sagte Monika, «wenn er von seinen Sachen spricht, ist er weit fort, eher melancholisch als hochmütig und scheinbar sehr allein in seiner Welt.» Ein paar Minuten hingen sie ihren Gedanken nach.

«Glaubst du, daß man diesen Christian lieben könnte?» begann Marion von neuem.

«Du stellst komische Fragen, Kleine. Wenn man liebt, fragt man nicht, ob man es vielleicht tun könnte. Man liebt.»

«Ja, du hast die Erfahrung. Du kennst die Männer und», setzte sie leise hinzu, «die Liebe. Ich kenne beide noch nicht.»

«Kenne ich sie eigentlich – die Männer und die Liebe? Oder kenne ich nur etwas, das auf ihrem Wege liegt?» Nach einem Schweigen sagte sie noch: «Mir gefällt der Dichter besser als dein schöner griechischer Athlet.»

«Bei mir ist es umgekehrt.»

«Dann gefällt er uns ja beiden, jeder auf eine andere Art. Und wir brauchen nicht zu streiten.» Sie gab Marion einen Kuß und löschte die Nachttischlampe aus.

Über Nacht hatte sich das Wetter geändert, so sternklar der Abend gewesen war. Denn das Riesengebirge, obzwar es nur auf 1600 m ansteigt, ist als einziges Mittelgebirge alpin in seinem Charakter, seiner Großartigkeit und seiner Tücke. So kam es, daß sich die drei Wanderer am frühen Morgen einigermaßen zünftig mit Wettermänteln und Rucksäcken am verabredeten Platz trafen, um bei leise rieselndem Regen trotzdem munteren Schrittes ihrem ersten Ziel – dem Kurort Krummhübel – zuzustreben.

Wenn Menschen sich am Abend unter besonderen Umständen kennengelernt haben, wird der nächste Morgen, zumal bei Regen, mit einer gewissen Sicherheit die Entzauberung bringen. Das Gegenteil war hier der Fall. Christian im Kostüm des Naturburschen, das Hütchen im Genick, so daß die blonde Locke regennaß in der Stirn klebte, bewunderte die Mädchen in der Vermummung ihrer Kapuzen und Mäntel. Die Fröhlichkeit war allgemein.

Als sie in Krummhübel ankamen und zur Linken den Wegweiser bemerkten, der den kürzesten und steilsten Weg zur Koppe anzeigte, blieb Christian einen Augenblick stehen. «Hier im ‹Gehänge› spielt der zu Unrecht vergessene Roman eines Dichters, dem ich besonders zugetan bin.»

Marion fragte: «Und wie heißt Ihr Dichter und sein Roman?»

«Theodor Fontane – der Roman heißt ‹Quitt›. Es ist die Geschichte eines Wilderers, der im ‹Gehänge› einen Förster erschossen hat, fliehen kann und nach vielen Jahren in Amerika durch eine Kugel den gleichen, einsamen Tod sterben muß, wie der Förster hier im schlesischen Gebirge. Früher, als Gymnasiast und Student, bin ich immer wieder hier herumgestiegen, es gibt kaum einen Weg oder Steg, den ich nicht kenne. Und gerade das ‹Gehänge› hatte es mir angetan. Aber heute wollen wir einen noch schöneren Weg gehen.»

Vorher aber, meinte Marion, sollte man eine Frühstückspause einlegen. Sie mache heute den Schatzmeister. Und mit belustigtem Stolz kramte sie aus ihrer Manteltasche den ersten Millionenschein, den ihr der Vater durch Eilboten geschickt hatte. Denn rings im Umkreis des Gebirges war man zu solcher Höhe des Papiergeldes noch nicht gelangt.

Wieder einmal, meinte Monika, während sie im Hotel ‹Rübezahl› einkehrten, lebe man von Marions großherzigem Vater. Das sei sie nun schon seit Jahren gewöhnt.

Sogleich warf die andere ein: «Und das mit Recht. Als ich sechs Jahre war, hat Minka mich aus der Nordsee gefischt. Seitdem kennen wir uns, seitdem sind wir Freundinnen und sozusagen unzertrennlich.»

Ein Windstoß fuhr um das Haus, als sie in der gemütlichen Gaststube saßen und das Frühstück bestellt hatten. Der Regen hatte nachgelassen, jetzt aber flogen Fetzen von Nebeln an den Fenstern vorbei.

Das sei, meinte Christian, das wahre Riesengebirgswetter. Wenn der Sturm den Nebel aufrisse, ließe er alle Dinge größer erscheinen, überlebensgroß. Dann blieben die Sommergäste in ihren Quartieren, warteten auf blauen Himmel und Sonne, läsen Zeitungen und legten Patience. «Dem Einsamen aber erschließt sich die mächtige Einsamkeit der kahlen, endlos scheinenden Kammhöhen, die, vom Geruch des Kienholzes erfüllt, in Wolken dampfen.» Christian unterbrach sich und schloß geheimnisvoll: «Dann plötzlich, zwischen Nebelfetzen, Regenböen und Sturm, steht der Berggeist Rübezahl vor uns und treibt seinen Schabernack.»

Jetzt wollte man mehr von Rübezahl wissen, weil Monika und Marion zum ersten Mal in den schlesischen Bergen waren und überall das Symbol Rübezahl geschnitzt oder abgemalt vorfanden.

Christian, wieder im Element des Erzählers, das Monika besonders gefiel, erklärte: «Es gibt viele Zaubermänner und Geisterkönige, die bei den Völkern der Erde umgehen und sich gleichen oder ähneln. Rübezahl aber gibt es in der ganzen Welt nur ein einziges Mal und bei mancherlei schlesischen Berggebieten nur im Riesengebirge allein.»

Welches sein Ursprung sei, fragten die Mädchen weiter. «Alle Märchen und Sagen sind einstmals in den Herzen und Köpfen der Menschen entstanden. Und wie ehedem die Griechen sich eine Götterwelt nach ihrem eigenen, menschlichen Bilde geschaffen haben, so die Schlesier ihren Rübezahl. Denn er ist von allen Geistern der freundlichste, nie zu bösen, gefährlichen Taten, nur zu Späßen aufgelegt, ein Nöck, der es gut mit den Menschen meint, wenn er ihnen auch gern ein Bein stellt und sie an der Nase herumführt. Nicht weil ich in Schlesien geboren und aufgewachsen bin, sage ich das: Er ist ein schlesischer Geist, der nur in Schlesien gefühlt und erdacht sein konnte.»

Ehe sie aufbrachen, spielte Marion dem neuen Freund ihren Millionenschein in die Hand, den Christian wiederum mit Grandezza auf den Tisch legte. Der Kellner war über die unbekannte Banknote so erschrocken, daß er den Wirt rief. Dieser hielt den Schein argwöhnisch gegen das Licht, um sich anschließend die Millionäre noch einmal genauer anzusehen. Die Prüfung schien befriedigend ausgefallen, denn jetzt nahm er den Schein mit einer gewissen Ehrfurcht in Zahlung.

Der Aufstieg zur Schneekoppe begann. Monika und Marion hatten die Kapuzen ihrer Regenmäntel fallen lassen. Nun griff der Wind in ihr Haar, er zauste es und gab den Frauen etwas Stürmendes, da auch die kurzen, sportlichen Röcke gegen ihre ausschreitenden Schenkel gepreßt wurden. Wie moderne, langbeinige Göttinnen der Jagd kämpften sie sich gegen den Sturm an, und Christian dachte wieder, daß sich dieses Tatkräftige in beiden ausprägte. Von beiden aber ging die vibrierende Lebendigkeit aus, die ihn im ersten Augenblick am Briefkasten schon bestürzt hatte.

Sie traten in die Region der Wälder ein. Nebel flogen um sie her, und die Stämme bogen sich im Wind. Schwieg aber der Wind, als hielte er den Atem an, so blieb das geheimnisvoll Hallende, als begänne das Innere der Berge zu atmen. Sie stiegen zu dritt gleichmäßig zügig, jetzt meist schweigsam und ohne Aufenthalt. Als sie aber auf einer Lichtung zum ersten Mal stehen blieben und sich umsahen, kam ein Laut des Entzückens von beiden Mädchen. Der Wolkenvorhang riß, und unter ihnen, gleichsam unendlich weit von Sonne beglänzt, breitete sich in pastellenen Farben das Schachbrett der Wiesen und Felder aus, von Waldstücken umbuscht, von Dörfern und kleinen Städten behütet, als wären sie aus Spielzeugschachteln entnommen. Wie in sanften Wellen floß das Land hin, um drüben mählich wieder anzusteigen und sich fern am Horizont zu verlieren. Dann und wann blitzte, einer Signallampe vergleichbar, ein Licht auf, wenn die Sonne sich in einem Dachfenster spiegelte.

Die Mädchen waren überrascht. «Das ist schöner, als wir es gedacht haben.»

Christian sagte: «Ich bin im Frieden und Krieg ziemlich weit herumgekommen. Aber dieses Heimliche im Machtvollen fand ich immer nur hier. Und jetzt, wenn wir die Waldgrenze verlassen werden, fängt das Hochgebirge erst an.»

Auf einmal tat sich vor ihnen eine der Naturerscheinungen auf, an denen das Riesengebirge so reich ist. Steil und nackt, gesäumt nur vom Gesträuch des Knieholzes, stieg der Weg zum Kamm aufwärts, vorüber am Großen Teich, der in die kahle Weite des Berglandes eine nicht zu vermutende Abwechslung brachte.

Die Mädchen standen und betrachteten das Schauspiel von Gebirge und See, Geröllhalden und spärlich begrünten Bergmassen, deren Weite das Überwältigende blieb. Und in die Teich-Schlucht stürzte sich der Wind und pfiff seine Melodie.

«Aber das ist großartig», sagte Monika, «gar nicht wie Schlesien sonst, das mir eher ein sanftes, abgeschirmtes Land zu sein schien. Hier ist alles drohend, grenzenlos.»

Schon ragte aus den Nebeln der Umriß einer Felsmauer auf, die an dieser Stelle den Kamm krönte. Es war der ‹Mittagstein›.

Weil es für Christian zum Programm einer Kammwanderung gehörte und die Mädchen mit Vergnügen zustimmten, erkletterten sie zu dritt dieses griffige Felsgebirge, das in etwa vierfacher Manneshöhe aus dem flachen Kamm aufstieg. Da sie oben standen, beglückt nun, wenigstens etwas von wirklicher Bergarbeit geleistet zu haben, geschah es, daß plötzlich der Nebel wich und mit der gleichen Plötzlichkeit die Sonne durchbrach. Miteins lag das Gebirge in der vollkommenen Schönheit seiner Formen und Farben vor ihnen: das hochthronende Koppenmassiv und rings die Hütten am Hange des Kammes, der in weiter Schwingung zur Rechten und Linken ausgriff, bis in die Tiefen der Täler unendlich ruhevoll hingestreckt. Und Kienfeuer aus den Wäldern schwelten herauf, von Holzarbeitern angezündet, stark und würzig in ihrem Geruch.

Christian stand zwischen den Mädchen auf der schmalen Plattform des Felsens. Und da sie alle drei in einem gleichen Gefühl diesen Durchbruch des Lichtes wie ein Geschenk der Natur empfanden, wurde das Gefühl in jedem von ihnen geradezu körperlich spürbar, so zwar, daß sie näher zusammenrückten und Christian ihnen die Arme um die Schultern legte. Dabei zog er beide Mädchen an sich, so daß er einen Augenblick Monikas Kopf in seinem Arm spüren konnte, ihre Wange und die weiche Dichtigkeit ihres Haarknotens, während Marion die Berührung mit einem Lachen aufnahm, das dem luftigen Standort, der Sonne und ihrer eigenen Jugend galt. Dann juchzte sie einmal in die Weite hinaus, ohne zu bemerken, daß Monika sich etwas langsamer aus Christians Arm löste. Alle drei wendeten sich jetzt. Wieder stieg Christian voran. Und da zweimal der Tritt für eine Frau beim Abstieg zu tief war, ließ er die Mädchen behutsam in seine Hand treten, um ihren Füßen den sichersten Halt zu geben. Dabei begegnete er Monikas Blick, empfand ihn als neu und hielt ihn fest. Dann stand sie neben Marion unten am Fuß des ‹Mittagsteines›, um die Wanderung wie bisher mit heiterem Gleichmut fortzusetzen.

Es dämmerte schon, als die drei sich der Wiesenbaude näherten, die sie als Nachtquartier ausersehen hatten. Sie waren lange auf dem Gipfel der Schneekoppe geblieben, wo sie die deutsche wie die tschechische Baude besucht hatten, die, friedlich nebeneinander gelegen, für Völkerverbrüderung zu werben schienen. Dann, von Christians plötzlich aufgetauchter Abenteuerlust angesteckt, waren die drei kühner geworden und, ohne den gut angelegten Herdenweg zu benutzen, in das grüne Aupatal der ehemals böhmischen Seite heruntergeklettert, um später in neuem Aufstieg die Wiesenbaude zu gewinnen.

Als sie aber dort eintrafen, rechtschaffen müde und für eine fröhliche Abendmahlzeit bereit, empfing sie nicht nur ein ungewöhnliches Stimmengewirr, das aus den Gastzimmern bis in den Flur drang, sondern auch die erschreckende Nachricht, daß kein Bett für die Nacht mehr frei sei.

Christian bat, man möge ihm den Wirt holen, den er von mancherlei Besuchen her kannte. Es verging eine Zeit, die drei standen einigermaßen betreten im zugigen Flur herum. Insonderheit Christian, Reisemarschall und Urheber des Planes, überlegte, was zu tun sei, als der Wirt mit freundlichem Lächeln erschien, Christian die Hand schüttelte und die Damen begrüßte, wobei sein ebenso listiges wie lustiges Auge zwischen Monika und Marion prüfend entlang lief. Ja, gerade heute sei der Kegelklub von Königgrätz noch in das schon gut besetzte Haus ‹eingefallen›, und zu seinem größten Leidwesen könne er deshalb Herrn Toggenburg und den Damen nicht dienlich sein.

Er schwieg, auch die drei schwiegen. In diesem Moment der Stille hörte man den Wind mit wütenden Stößen um das Haus heulen und den Regen, der in plötzlichem Sturz auf das niedrige Flurdach prasselte. Es war für Christian der Deus ex machina des antiken Dramas. Wortlos zeigte er nach oben, dann zum Flurfenster, hinter dem die Dämmerung einer nächtlichen Dunkelheit gewichen war. Fragend sah er den Wirt an.

Dieser wiegte bedenklich den Kopf. Es sei, sagte er, in der Tat unmöglich, den jungen Damen eine weitere Kammwanderung bei solchem Wettersturz zuzumuten. Wiederum habe er nur eine sonst nicht benützte Mansarde anzubieten, in der man immerhin zwei noch übriggebliebene Feldbetten aufschlagen könne, und ein Gartenstuhl mit Fußstütze sei auch vorhanden, falls es den Herrschaften genehm sei, zu dritt …

«Herzlichen Dank – gemacht!» unterbrach ihn Christian, wobei er erst Monika, dann Marion ansah. Monika schien weder zuzustimmen noch abzulehnen und hatte ein schwer zu durchdringendes Gesicht. Marion lachte. Das sei endlich mal etwas anderes: Freilager zwar nicht im Fels, doch im Dachgeschoß einer Baude – noch dazu mit einem fremden Herrn.

Inzwischen, sagte der Wirt, werde er die Mansarde richten lassen. Herr Toggenburg und die Damen möchten solange im Gastzimmer Platz nehmen. Dabei öffnete er mit einladender Handbewegung die Tür zum großen Speiseraum.

Was bisher Stimmengewirr, fernes Lachen und Gemurmel gewesen war, schlug jetzt über den dreien wie ein Wasserfall menschlicher Laute und Geräusche zusammen. Nicht nur, daß man das eigene Wort kaum verstand, durchschritt oder besser gesagt durchschnitt man jetzt die Luft, in der sich Essensdünste, Tabakrauch und mancherlei sonstige Gerüche mischten.

Es waren fröhlich gerötete Gesichter, die sich den Ankömmlingen zuwendeten, als diese am äußersten Ende eines der langen Tische noch einen etwas beengten, gerade darum erheiternden Platz fanden. Inmitten des Nebentisches zeigte ein übergroßer Kegel an, daß dort der Königgrätzer Klub seinen Ausflug feiere. Übrigens vertrugen sich damals Gebirgsdeutsche und Gebirgstschechen meist noch auf alte nachbarliche Art wie Schlesier und Böhmen unter dem k.u.k. und dem königlich preußischen Regime.

Auch in der Wiesenbaude war der obligate Zitherspieler am Werk, und zu Ehren der drei neuen Gäste legte er einen Radetzkymarsch hin, daß sämtlichen Gästen die Marschmusik in die Beine fuhr und sie zur altvertrauten Melodie mit Händen und Füßen den Takt schlugen.

Solchem Getümmel und Getöse zum Trotz waren die drei am Tischende zunächst wie auf einer Insel allein. Der Mann und die Mädchen bestellten jetzt auf Anraten von Christian eines der Nationalmenus aller böhmischen Bauden: Backhend’l und Ungarwein.

Ab und zu begab sich der Zitherspieler in den Nebenraum, wo er zum Tanz aufspielte. Das Klavier, an das er sich setzen durfte – ein Stolz der Wiesenbaude –, hatte der Wirt durch eine glückliche Spekulation in deutscher Inflationsmark erworben.

Die drei am Ende des Tisches waren in Gespräche versunken, wie man sie nach Backhend’l und Szamorodner zu führen pflegt, und jeder einzelne von ihnen fühlte die Feiertags-Beseligung, die große Leichtigkeit des Lebens: fern dem Alltag, fern den Sorgen. Sie achteten auf ihre Umgebung nicht mehr, denn sie waren in die anregenden Bereiche der Wissenschaft, der Poesie, der Musik eingegangen. Dafür achtete ein Herr mittleren Alters mit Schnurrbart vom Kegelklub auf die drei am Nebentisch. Er erhob sich, da grade der Lunawalzer aus dem Nebensaal erklang, verbeugte sich nicht ohne Kavalierssicherheit vor der erstaunten Marion und bat um den Tanz.

Da sie aber immer zum Lachen bereit und noch dazu vom Szamorodner beschwingt war, lachte Marion auch jetzt, sah die Freundin fragend an, erhielt eine ebenfalls heitere Zustimmung und entschwand am Arm des Unbekannten. Durch die geöffneten Türen sah man sie in einem zünftigen Dreher über den Tanzboden fliegen.

«Warum sehen wir zu?» fragte Christian. «Oder tanzen Sie nicht gern?»

Monikas Antlitz wurde einen Moment undurchsichtig, als sie antwortete: «Gern wohl, doch nicht gut. Ich hatte wenig Gelegenheit dazu.» Plötzlich brach ein Lächeln der Freude in ihren Augen durch. Es lief weiter, über Wangen und Lippen und machte den Mund begehrenswert schön. Sie erhob sich wie er und legte die Hand auf seinen Arm. Dabei sagte sie: «Was in vierundzwanzig Stunden alles geschehen kann!»

Während sie zur Tanzfläche gingen, wo das übliche Gedränge herrschte, fühlte Christian die Schulter des Mädchens an seiner Schulter, und da er den Arm um sie legte, beglückte ihn die Schmalheit ihres Rückens, die sich seiner Hand durch die leichte Leinenbluse ergab. Und für ein paar Augenblicke, da das Gewühl der Tanzenden ihnen den Weg verstellte, glitten sie fast auf der Stelle weiter, Körper an Körper und seltsam eins in der verhaltenen Bewegung des Schreitens, die frei und leicht wie aus einem gleichen Pulsschlag anhob, lief und verharrte.

«Wir verstehen uns gut», sagte Christian leise. «Überhaupt sind Sie wunderbar, Monika. Sie spüren schon die geahnte Bewegung des Partners und nehmen sie auf. Ist das immer so – auch im Leben? Und warum eigentlich haben Sie behaupten wollen, Sie tanzten nicht gut?»

Hier wehte eine Hand und ein Lächeln an ihnen vorbei. Es war Marion, die der Schnurrbärtige offenbar nicht aus den Armen ließ. Da aber der Walzer in einen Foxtrott übergegangen war, fanden seine Tanzkünste den Takt nicht mehr, und er schwitzte, daß sein steifer Kragen bereits weich wurde.

Christian, in überschäumender Laune, rief Marion, die in lustiger Verzweiflung die Augen verdrehte, ein Trostwort zu. Es ging im Lärm unter.

In diesem Moment brach die Musik ab, und beide Mädchen kehrten an ihren Tisch zurück, Marion am Arm des Schnauzbärtigen, der sich mit Kratzfuß bedankte, Monika an Christians Arm. Beide aber, Monika und Marion, hatte der Tanz in besonderer Weise gelockert. Und da sie noch eine der kleinen Flaschen bestellten, waren sie nicht nur zu dritt in einer wirbeligen und glückhaft benommenen Art vergnügt, sie wurden jetzt auch gut Freund mit den Nachbarn am Tisch, mochten es Landsleute oder Männer und Frauen aus dem neuen Staatsgebiet sein.

Auf einmal begannen die Gäste am Nebentisch zu singen. Andere fielen ein. Es waren Volkslieder oder Lieder vom Berge, und in ihnen ging das Herz des Böhmerlandes um, das immer das Land der Musikanten gewesen ist.

Als sie geendet hatten, geschah etwas Überraschendes. Marion sprang vom Stuhl auf, ging durch die Reihen der Menschen und Tische hindurch in den Nebensaal, wo Tanzlustige promenierten, setzte sich auf den Klavierschemel und schlug einen Doppelakkord an. Christian, nahebeistehend, sah ihre Hände und Augen an. Die Hände liefen mit ungewöhnlicher Kraft über die Tasten. Aber die Augen waren seltsam fern – fern den Menschen im Saal, fern sich selbst. Es war die Achtzehnjährige nicht mehr, nicht mehr das junge, immer zum Lachen bereite Mädchen, das mit dem Schnurrbärtigen getanzt hatte. Marion spielte die Revolutions-Etüde von Chopin, und der hinreißende Schwung der Komposition teilte sich den Zuhörern mit.

Sie klatschten, als Marion aufgehört hatte, wie toll. Schon aber war der Bann gebrochen. Ein fröhliches, junges Mädchen rutschte vom Schemel, freute sich über die Beifallsäußerungen und bat den Zitherspieler, seinen Platz am Klavier einzunehmen, da sie Lust hätte, wieder zu tanzen. Dabei legte sie Christian schon eine Hand auf den Arm. Dieser, ehrlich ergriffen und von der anderen, unbekannten Marion noch ganz überrascht, dankte ernsthaft für ihr Spiel.

Marion lachte. «Heben Sie die Noten alle auf, die mir eben – so spät in der Nacht – unter das Klavier gefallen sind, dann können Sie eine neue Etüde komponieren. Aber ich mußte einfach spielen, ich mußte.»

Jetzt schlug wieder der Zitherspieler die Tasten zu einem Slow-Fox, und während der Schnauzbärtige auf Monika zustürzte, tanzten Christian und Marion. Diese tanzte anders als Monika, eigenmächtiger, wie es sehr musikalische Frauen manchmal tun. Auch ging etwas Brausendes von ihr aus, nicht das verhalten Vibrierende, das er bei Monika erlebt hatte. Noch war Marion zwar eine Botin des pfeilbewehrten Gottes, aber getroffen von einem seiner Pfeile war sie nicht.

Der Abend wurde lang und stieg immer noch an. Die Mädchen gingen von Arm zu Arm, als gehörten sie auch zur böhmischen Seite hin. Einmal, als Christian wieder mit Monika tanzte, forschte er: «Sie haben mir auf meine Frage noch nicht geantwortet. Warum sagten Sie eigentlich, Sie tanzten nicht gut, da Sie ganz wunderbar tanzen?»

«Das sage ich Ihnen ein anderes Mal.»

Ehe sie die Mansarde aufsuchten, traten sie noch einmal vor die Hüttentür. Finsternis war um sie, und der Wind, der von den weiten Flächen kam, stürzte über sie her. Weil sich aber der Mond nur versteckt hielt, konnte man am Himmel den weißlichen, wie vernebelten Lichtfleck sehen, und Wolken jagten darüber hin.

«Es wird Zeit», sagte Monika, «aber wer zeigt uns den Weg zum Dachgeschoß?» Die Baude mit ihren erleuchteten Fenstern lag wie ein Tier mit Glühaugen im undurchdringlichen Dunkel des Kammplateaus. Doch an der Tür stand schon der Wirt, bereit, seine späten Gäste in ihr Quartier zu begleiten. «Sie haben mir», sagte er zu Marion, «Freude und Ehre zugleich angetan. Ich danke Ihnen, daß Sie meine Gäste mit Ihrem Klavierspiel so gut unterhalten haben.» Es wäre, fuhr er fort, als man schon die winkligen Treppen aufwärts stieg, nur gut, daß er beizeiten um ein brauchbares Instrument besorgt gewesen – bei einer solchen Künstlerin. Marion klopfte abergläubisch auf das Treppenholz und dachte an die bevorstehende Prüfung, die ihr heute nacht keine Furcht machen konnte. Leise rief sie der Freundin zu: «Hast du es gehört: eine solche Künstlerin!»

Als sie im Dachgeschoß angelangt waren, öffnete der Wirt vor ihnen die Tür. Um Vorsicht dürfe er nur mit den Kerzen bitten. Damit entzündete er deren drei. Jedem der Höhenbewohner hatte er eine eigene Kerze zugedacht, und jede stand auf einem Holzschemel.

Die Stille, die ein paar Augenblicke lang den Abschiedsworten des Wirtes folgte, hatte ihre Ursache in einer gewissen Befangenheit, die von allen dreien zugleich Besitz ergriff. Lärm und Laune waren wie mit einem Schlage ausgelöscht, und die Tatsache, hier wie ans Ende der Welt ausgesetzt zu sein – ein junger Mann zwischen zwei jungen Mädchen –, machte sie stumm. Dann war es der Wind, der klagend, oftmals heulend um das Dachgeschoß fuhr und es trotz geschlossener Fenster durchwehte. Er belebte die Unterhaltung von neuem.

«Es zieht schrecklich», rief Marion, «sogar die Kerzen flackern.» Sie trug den Mantel lose umgehängt und zog ihn fester über die Schultern. «Wahrscheinlich wird es kalt werden.»

«Bestimmt wird es kalt hier oben», meinte Monika ruhig und hielt sachliche Musterung ab, wobei sie die beiden schmalen Feldbetten dicht zusammenrückte. «Wir müssen uns einrichten. Hier ist unser Lager mit Decken wie in einer Alpenhütte, und da ist der Liegestuhl für Christian.»

Dieser, um die leichte Befangenheit zu überspielen, die sogar ihn ergriffen hatte, sagte mit etwas betonter Lustigkeit: «Wenn die Damen Monika und Marion Ihre Abendtoilette machen wollen, warte ich gern vor der Tür.»

«Wir sind doch nicht albern», rief Monika. «Man wird hier zusammen schlafen, wie man in der Eisenbahn schläft – primitiv und guten Mutes. Bleiben Sie ruhig hier.» Sie entledigte sich ihrer Bergschuhe, legte sich auf ihr schmales Bett und zog die Decke über sich.

Marion folgte dem Beispiel der Freundin. Dabei fand sie ihr Lachen wieder: «Sehr hart, aber sehr gemütlich! Leider bin ich gar nicht müde.» Und zu Christian gewendet, der sich gerade auf seinem Liegestuhl ausstrecken wollte, fragte sie, ob er noch eine Decke brauchen könnte. «Wir haben so etwas wie ein Bett, aber Sie werden frieren.»

Christian meinte fröhlich, er sei ein alter Kriegsmann, der Mantel genüge ihm. Im übrigen sei auch er nicht müde. Er sah zu den Mädchen hin. Sein Gesicht im flackernden Kerzenschein schien ganz jung. Man hätte ihm seine achtundzwanzig Jahre kaum zugetraut. Marion dachte wieder: der Kopf eines jungen Griechen, ähnlich dem Hermes-Kopf, der über Vaters Schreibtisch hängt.

Aber Monika sah den Griechen nicht, das Bild nicht, sie sah den Mann Christian selbst, sie, die Dunkle, angerührt von dem Hellen, Strahlenden, das von ihm ausging. Wie er dort in seinem Gartenstuhl saß, die Beine auf der Fußstütze ausgestreckt, sah sie jede Einzelheit, das blondgewellte Haar, die breite Stirn über den tiefliegenden Augen, die grade Nase, den schön geschnittenen sinnlichen Mund, der so fest und energisch war wie das Kinn. Was ist mit mir, dachte Monika. Bin ich eigentlich verrückt, daß ich diesen Mund küssen möchte? Das ist mir doch noch nie passiert.

Beide Mädchen saßen jetzt halbaufgerichtet aneinandergedrängt und blickten zu ihm hin, wie er zu ihnen. Christian mußte lachen. Dieses Lachen gerade – Monika hatte es schon gestern abend gemerkt, ohne sich darüber klarzuwerden – war unwiderstehlich. «Wie zwei Hasen im Nest! Man sollte es fotografieren: Dunkel und Hell im Nachtquartier einer Baude.» Plötzlich fiel ihm etwas ein. Im gleichen Augenblick war er der andere Christian, ernsthaft, weiter fort von den Menschen, wie immer mit einem Anflug von Melancholie. «Kennen Sie die kleine Heinesche Ballade vom Ritter, der seinen Knappen ausschickt, beim Stallbub zu erforschen, welche von König Duncans Töchtern Braut sei? So heißt es weiter:

«Und spricht der Bub, die Braune ist’s,

So bring mir schnell die Mär,

Doch spricht der Bub, die Blonde ist’s,

So eilt das nicht so sehr.

 

Dann geh zu Meister Seiler hin

Und kauf mir einen Strick,

Und reite langsam, sprich kein Wort

Und bring mir den zurück.»

In diesem Augenblick fuhr ein so wütender Windstoß um das Dachgeschoß, daß eines der Lichter verlöschte. Es war Christians Kerze. Aus dem Dunkel heraus, da sein Gesicht nur noch als ein heller Fleck zu sehen war, sagte er: «Es gab eine Zeit, in der ich dieses Gedicht sehr geliebt habe. Die wenigsten kennen es, sie begnügen sich bei Heines Balladen mit ‹Belsazar› und den ‹Grenadieren›. Aber es ist tiefer gefühlt als beide, vollkommen verzweifelt und noch in der Verzweiflung so wunderbar einfach gesagt.»

«Er hat also die Blonde nicht so wie die Braune geliebt?» fragte Marion. «Doch geliebt hat er auch sie – der Ritter?»

«Geliebt hat er beide», sagte Christian. In dem Schweigen, das seinen Worten folgte, hörte man wieder den Wind. Leiser fuhr er fort: «Es ist eine von den Nächten, die nicht wiederkommen. Wir werden daran denken, noch wenn wir alt sind.» Er unterbrach sich. «Aber dann sollten wir uns noch besser kennenlernen. Sie beide wissen einiges von mir, ich weiß einiges von Ihnen. Doch weiß ich nicht, woher Duncans Töchter kommen, die Braune und die Blonde. Vielleicht erzählen Sie es mir.»

Monikas ruhige Stimme sprach: «Gut, ich will anfangen zu erzählen.»

Die Stimme kam aus den tanzenden Schatten zwischen Dunkelheit und Flackerschein der Kerzen. Was hier an ihnen geschah, dachte Christian, war unwirklich und wirklich zugleich. In dieser Nacht über dem schlesischböhmischen Kamm geisterte das Zauberische, das zugleich schön, verlockend und voller Gefahr ist. Und es schien ihm, als wandelten sich im Schattenspiel der Mansarde die Züge und Gestalten der Mädchen ins überirdisch Traumhafte, als hätte der Gott der Liebe sie ausgeschickt, ihn stärker zu verwirren.

«Sie wissen», hörte er Monika sagen, «daß ich die Tochter eines Pfarrers bin. Er war oben in Ostpreußen an der russisch-polnischen Grenze zu Hause – in Marggrabowa. Dort amtierte er auch, bis ihn sein Weg für immer nach Dresden geführt hat, wo wir dann Marions Eltern kennenlernten.» – «Das war», warf Marion lebhaft ein, «nach Norderney – Sie wissen es schon –, als Minka mich gerade noch aus dem Wasser zog.»

«Es ist zu lange her», wehrte Monika ab und fuhr fort: «Mein Vater, das ist das Merkwürdige, hat eine Russin geheiratet. Vielleicht war es die nahe Grenze zwischen Rußland und den Masurischen Seen, die damals zwischen ihnen die Brücke schlug. Und wenn Sie meinen, daß ich für den Tanz begabt bin, so ist es das mütterliche Erbteil in mir. Meine Mutter tanzte, wie Russinnen tanzen. Es liegt ihnen im Blut. Mein Vater sprach von den ‹Botinnen Gottes›, zu denen auch sie gehöre. Sie tanzte aber nur für uns, in der Dämmerung oder am Abend, sonst würden, sagte der Vater, alle alten Tanten und Betschwestern den Glauben verlieren. Wenn Mutter tanzte, sie war schön und dunkel, von Leben sprühend, trug sie das russische Kostüm mit der Kaposchnik auf dem Haar. Aber sie konnte auch sonst alles, im Haus und was das Pfarramt betraf, und sie war eine Meisterin mit der Nadel. Sie nähte uns russische Kostüme für die Puppen, die dann fast so schön aussahen wie sie selbst. Ja, das war meine Mutter, die mich Minka nannte.» Monika schwieg.

«War?» fragte Christian behutsam.