Flüsterwald – Die komplette 1. Staffel in 4 Bänden (Bundle) - Andreas Suchanek - E-Book

Flüsterwald – Die komplette 1. Staffel in 4 Bänden (Bundle) E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Flüsterwald Staffel l - Die komplette erste Staffel Die Abenteuerreihe ab 9 Jahren mit Suchtfaktor - Spannende Wendungen, viel Witz und maximaler Lesespaß! Für alle Fans von Narnia und den Spiderwick-Geheimnissen! Flüsterwald I-1: Das Abenteuer beginnt Ein mitreißendes Fantasyabenteuer und der Beginn einer neuen Reihe, die man nicht mehr aus der Hand legen will.  Mitten in der Nacht schreckt Lukas plötzlich aus dem Schlaf hoch. Ein koboldartiges Wesen schleicht durch sein Zimmer und will mit einem Sack voll Diebesgut flüchten. Empört macht sich Lukas an die Verfolgung – mitten in den Wald hinter seinem Haus. Er ahnt noch nicht, dass er damit den Bannkreis zu einer verbotenen Welt durchbrochen hat … zu einer Welt, in der Menschen von schattenartigen Warks gnadenlos gejagt werden. Doch warum konnte Lukas die Grenze zum Flüsterwald überqueren und welche Geheimnisse verbergen sich zwischen den Zweigen der Bäume? Flüsterwald I-2: Der verschollene Professor Die erfolgreiche Fantasyreihe geht endlich weiter. Mit wunderschönen Illustrationen, kurzen Kapiteln und maximaler Spannung! Lukas ist begeistert: Durch die Geheimtreppe in seinem Zimmer besitzt er einen Zugang zum Flüsterwald, der nachts mit den fantastischsten Wesen lebendig wird! Dort hat Lukas wundervolle neue Freunde gefunden und es passt ihm daher gar nicht, als sich ein Mädchen aus seiner Klasse beharrlich an seine Fersen hängt. Ella aber verfolgt einen eigenen Plan: Sie sucht ihren Großvater, der im Wald verschollen ist. Die einzige Spur ist ein seltsames Rätsel, das er hinterlassen hat. Lukas und seine Freunde wiligen ein, ihr zu helfen. Doch das wird gefährlicher als gedacht ... Flüsterwald I-3: Durch das Portal der Zeit Band 3 der erfolgreiche Fantasyreihe - es geht weiter! Seit Lukas den Flüsterwald entdeckt hat, ist sein Leben ein einziges Abenteuer. Gemeinsam mit seiner Mitschülerin Ella und seinen neuen Freunden - einer mutigen Elfe und einem wissbegierigen Menok - taucht er immer tiefer in die Geheimnisse des Waldes ein. Diesmal lassen sie sich sogar auf eine Zeitreise ein, um in der Vergangenheit nach dem Schlüssel für einen magischen Fluch zu suchen. Doch die Sache hat einen Haken ... Flüsterwald I-4: Der Schattenmeister erwacht Endlich: Das große Staffelfinale der beliebten Abenteuerreihe mit Suchtfaktor! Seit Lukas auf dem Dachboden ein Portal zum Flüsterwald entdeckt hat, ist nichts mehr, wie es vorher war. Gemeinsam mit seinen neuen Freunden – seiner Mitschülerin Ella, der Elfe Felicitas und dem wissbegierigen Menok Rani – hat er schon viele magische Abenteuer erlebt. Doch nun ist der dunkle Magier zurückgekehrt. Und er plant nichts Geringeres, als das Herz des Waldes und obendrein den gesamten Flüsterwald zu zerstören. Auf die vier Freunde wartet eine fast unmögliche Aufgabe!

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Seitenzahl: 723

Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Berlin 2025Ueberreuter Verlag GmbH, Ritterstraße 3, 10969 [email protected] 978-3-7641-9373-7
Dieses E-Book-Bundle enthält folgende Titel:
 
Flüsterwald – Das Abenteuer beginntVollständige E-Book-Ausgabe der 2020 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin erschienenen BuchausgabeE-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2020ISBN 978‑3-7641-9266-2Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2020ISBN 978‑3-7641-5175-1
 
Flüsterwald – Der verschollene ProfessorVollständige E-Book-Ausgabe der 2021 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin erschienenen BuchausgabeE-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2021ISBN 978‑3-7641-9278-5Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2021ISBN 978‑3-7641-5176-8
 
Flüsterwald – Durch das Portal der ZeitVollständige E-Book-Ausgabe der 2021 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin erschienenen BuchausgabeE-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2021ISBN 978‑3-7641-9293-8Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2021ISBN 978‑3-7641-5212-3 
 
Flüsterwald – Der Schattenmeister erwachtVollständige E-Book-Ausgabe der 2022 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin erschienenen BuchausgabeE-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2022ISBN 978‑3-7641-9304-1Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2022ISBN 978‑3-7641-5222-2 
 
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.Cover- und Innenillustrationen: Timo GrubingLektorat: Emily Huggins, Kathleen Neumannwww.ueberreuter.de

Über das Buch

Eine Geheimtreppe zu einem versteckten Dachboden, Aufzeichnungen über magische Wesen und Fläschchen mit blau leuchtendem »Flüsterpulver«: In Lukas’ neuem Zuhause gibt es allerhand Rätselhaftes zu entdecken. Als eine unheimliche Gestalt mitten in der Nacht in sein Zimmer einbricht und mit einem Sack voller Diebesgut flüchtet, nimmt Lukas kurzerhand die Verfolgung auf. Die Spur führt ihn in den Flüsterwald, wo eine verborgene Welt auf ihn wartet – und ein Abenteuer, das er niemals vergessen wird.

Ein Fantasyabenteuer, das man nicht mehr aus der Hand legen will.

Andreas Suchanek

Buch 1:

Das Abenteuer beginnt

Mit Illustrationen

von Timo Grubing

Rani (Menok)

*Nachwuchsautor, forscht über Menschen

*spielt für sein Leben gerne und ist schokoladensüchtig

Lukas (Mensch)

*Leseratte und Abenteurer

*muss sich in einer neuen Stadt zurechtfinden

*seine Familie hat keine Ahnung vom Flüsterwald oder von Magie

Felicitas (Elfe)

*zaubert gerne (was nicht immer klappt wie geplant)

*fühlt sich im Internat einsam und unternimmt deshalb öfter (verbotenerweise) Streifzüge

Punchy (Katze)

*heißt mit vollem Namen: Pedora Ulinde Naftet von Chibalka

*Aufpasserin von Felicitas

*hat Nerven aus Stahl

Inhalt

Prolog

Ein neues Zuhause

Die Villa

Licht in der Nacht

Der seltsame Fremde

Das Bildnis aus Stein

Eine Treppe im Bücherregal

Das geheime Studierzimmer

Von Elfen und anderen Fabelwesen

Nur ein Albtraum?

Ich verlange meine drei Wünsche!

Das Elfeninternat

Der Wark

Der magische Würfel

Lukas, der Elf

Die Blinzelbahn

Die dunklen Jahre

Im Bau der Bolde

Der lustige Lukas

Schatten der Vergangenheit

Eine Idee

Klingt nach einem Plan

Die Bibliothek

Da geht’s lang!

Lauft!

Wie ein Luftballon

Silberglanz

Der Bereiniger

Zeitschatten

Bis zur letzten Krallenspitze

Die Heldin der Stunde

Das Schlaflied

Abschiedsworte

Ein Montagmorgen

Pulver und Tränke

Epilog

Prolog

Dunkle Wolken ballten sich über dem kleinen Städtchen Winterstein zusammen. Regen prasselte herab und durchnässte jeden, der nicht schnell genug die eigenen vier Wände erreichte. Wind peitschte wütend durch die Gassen und trieb achtlos weggeworfenes Zeitungspapier vor sich her. Blitz und Donner stritten um die Vorherrschaft.

Genauso mochte er es.

Die Dunkelheit griff nach der Welt, vertrieb die Menschen und eroberte, was ihr gehörte.

Er zog die Kapuze tiefer in die Stirn. Die letzten Häuser von Winterstein blieben hinter ihm zurück. Statt auf Pflastersteinen ging er längst über matschige Pfade. Jedes Mal, wenn einer seiner Stiefel sich aus der nassen braunen Erde löste, gab es ein schmatzendes Geräusch.

Seine eiligen Schritte trugen ihn auf direktem Weg zum Ort seiner Sehnsucht. Nur ein einziges Haus stand noch so weit draußen. Jetzt, wo der bisherige Bewohner fort war, mochte der Weg endlich frei sein. Es galt, die Grenze zwischen Stadt und Wald zu beseitigen. Das alte Herrenhaus war der Schlüssel.

Der Regen verstärkte sich noch, als er vor dem Tor innehielt. Jeder Tropfen, der auf den Regenmantel traf, hallte überlaut in seinen Ohren wider. Das schmiedeeiserne Tor ragte vor ihm auf. Zu beiden Seiten wuchsen steinerne Säulen empor. Auf der linken stand eine Elfenkrieger-Statue, auf der anderen ein Wolfmagier.

Als er näher trat, erwachte das Gestein.

»Dieser Weg bleibt dir versperrt!«, sagte der Elf.

Die kleine Rüstung des Wesens war niedlich anzusehen. Es juckte ihn in den Fingern, die Kreatur zu zerquetschen. Auch wenn es nur eine Statue war, die kein echtes Leben in sich trug.

»Dann also nicht heute«, murmelte er. »Aber mein Tag wird kommen.«

Ein Blitz erhellte die Dunkelheit.

Er warf einen Blick hinüber zum Waldrand. Zwischen den dichten Buchen, Eichen und Fichten tanzten Lichter, huschten Schatten umher.

Bald.

Er wandte sich ab und kehrte zurück nach Winterstein. Diese kleine unschuldige Stadt, die keine Ahnung davon hatte, was ihr bevorstand.

Ein neues Zuhause

Als seine Mutter zum tausendsten Mal aufseufzte und mit schriller Stimme »Nein, wie idyllisch!« rief, wusste Lukas, dass er verloren hatte. Die Umzugskartons waren längst gepackt. Trotzdem hatte er bis zuletzt gehofft, dass seine Eltern noch zur Besinnung kamen. Vergeblich.

Der altersschwache Opel Astra hielt ebenfalls durch. Vermutlich würde er erst am Ziel endgültig den Geist aufgeben, wie er es sonst ständig tat. Damit war jeder Fluchtversuch chancenlos.

»Nein, wie idyllisch«, seufzte seine Mutter erneut, wobei sie mit ihrem rechten Zeigefinger Löcher in die Luft stach. »Dort drüben.« Ein weiterer Stich. »Seht ihr das, Kinder? Eine echte Vogelscheuche.«

Lukas fragte sich, ob in ihrer Brille magische Gläser eingebaut waren. Eine andere Erklärung für dieses Verhalten gab es einfach nicht. Denn das Strohteil dort drüben war ebenso hässlich wie die grauen Regenwolken, die am Horizont heranzogen. Gleiches galt für die weiten, matschigen Felder.

»Ja, toll«, blaffte er.

»Mama, was ist ›Idülisch‹?«, fragte das kleine Monster neben ihm, wobei es seinen uralten zerrupften Stoffhasen wie einen Rettungsring umklammert hielt.

»Lukas, wir haben doch darüber gesprochen.« Seine Mutter schenkte ihm ihren berühmten Psychologenblick, bei dem er sich immer total bescheuert vorkam. »Nimm die Veränderung an.« Ihr Blick wanderte zum Schwestermonster. »I-dyl-lisch«, sie betonte jede Silbe, »bedeutet, dass etwas schön ist.«

»Und wo ist das hier?«

Die Lider seiner Mutter flatterten. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihre Geduld langsam aufgebraucht war.

»Alles hier ist auf seine eigene unverwechselbare Art schön, mein Schatz.«

»Aber …«

»Und jetzt wollen wir deinen Vater nicht weiter ablenken. Er muss sich auf die Straße konzentrieren.«

Ein zustimmendes Grunzen vom Fahrersitz brachte Lisa zum Schweigen. Lukas lag eine Erwiderung auf der Zunge, die er jedoch hinunterschluckte. Eine Diskussion war ganz offensichtlich sinnlos, außerdem waren sie fast am Ziel angekommen.

Das Auto rumpelte eine steile Bergstraße hinab und er erhaschte einen ersten Blick auf die spitz zulaufenden Giebel der Häuser von Winterstein. Es war noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Das Kaff verdiente die Bezeichnung ›Stadt‹ eindeutig nicht. Das Kopfsteinpflaster der Straße bildete unebene Hubbel aus, die das Auto ordentlich durchschüttelten. Seiner Mutter rutschte sogar die Brille von der Nase, was sie jedoch nicht weiter kommentierte.

Die Häuser mussten von einem Architekten errichtet worden sein, der zu viele Heimatfilme gesehen hatte. Da hingen allen Ernstes Blumenkästen unter den Fenstern. Die Klappläden besaßen herzförmige Aussparungen und die hüfthohen Gartenzäune waren weiß lackiert. Wobei man die Farbe nur noch mit viel gutem Willen so nennen konnte.

»Mum«, sagte Lukas entsetzt. »Sind das Gaslaternen?!«

Erstmals wirkte auch seine Mutter beunruhigt. »Hm. Äh … anscheinend bevorzugen die Bewohner von Winterstein eine … äh … rustikale Lebensweise.« Dabei warf sie Lukas’ Vater einen Seitenblick zu, der diesen tiefer in den Fahrersitz rutschen ließ.

Sie rumpelten in brütendem Schweigen weiter.

Ob wir überhaupt Internet haben? Strom? Warmes Wasser?

Langsam wurde Lukas panisch.

Schließlich blieben die letzten Häuser hinter ihnen zurück und die Familienkutsche ruckelte eine Anhöhe hinauf. Sein Vater hielt vor einem schmiedeeisernen Tor, von dem längst die Farbe abblätterte. Zu beiden Seiten wuchsen Steinpfeiler in die Höhe, auf deren Spitzen kleine Figuren saßen. Sie stellten irgendwelche Fabelwesen dar. Dahinter verlor sich ein Kiesweg zwischen dichten Hecken. Seine Eltern stiegen aus und begutachteten das angeschlagene Schild auf dem linken Pfeiler.

»Doktor Archibald von Thun«, las seine Mutter laut vor. »Am Waldweg 13.« Als sie sich wieder zu ihnen umwandte, lag ein ganz und gar künstliches Lächeln auf ihren Lippen. »Hier sind wir richtig, Kinder. Der Vorbesitzer hat nur sein Namensschild nicht entfernt.«

Offensichtlich, Mum.

Sein Vater öffnete das Tor. In eisigem Schweigen fuhren sie weiter. Seine Mutter hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Wenn Lukas das tat, nannte sie es immer ›passiv-aggressiv‹, was ihn zur Weißglut trieb. Das betitelte sie dann wiederum mit ›frühpubertärer Phase‹.

Er bekam Mitleid mit seinem Pa, das er jedoch schnell beiseiteschob. Immerhin war der schuld daran, dass sie hier gelandet waren. Der Vorsitzende des Schulrates von Winterstein hatte ihn höchstpersönlich angerufen und ihm die Lehrerstelle an der hiesigen Schule schmackhaft gemacht, wie Lukas’ Vater immer wieder stolz betont hatte. Und als dann kurz darauf das Angebot zum Kauf eines eigenen Hauses einging – was immer schon der Traum seiner Eltern gewesen war –, gab es kein Halten mehr. Dass seine ach so tolle Stelle an der einzigen Schule weit und breit war und Lukas daher ebenfalls dorthin wechseln musste, spielte natürlich keine Rolle. Etwas Peinlicheres gab es ja wohl nicht.

Meinen Ruf kann ich in die Tonne treten.

Es war sein schlimmster Albtraum.

Was da vor ihnen thronte, wuchtig und baufällig, konnte man kaum als ›Haus‹ bezeichnen. Und wie der Pool aussehen würde, den seine Mutter in jeder Diskussion als etwas ganz Tolles angepriesen hatte, wollte er sich gar nicht erst ausmalen.

»Ja also, dann …« Sein Vater blickte entsetzt auf das Gebäude. »Wir sind da.«

Die Villa

Die Lippen seiner Schwester zuckten verdächtig. Lukas löste seinen Gurt und sprang aus dem Auto. Wenn das Schwestermonster anfing zu plärren, wollte er nicht in der Nähe sein. Sie war mit ihren sechs Jahren einfach so … kindisch.

»Also schön.« Es war so weit, seine Mutter hatte ihren Schock überwunden und übernahm das Kommando. »Diese aufziehenden Regenwolken gefallen mir gar nicht. Gehen wir rein und schauen uns um.«

Lukas rannte zum Kofferraum und zog seinen Rucksack daraus hervor. Den würde er niemals zurücklassen. Dann folgte er seinen Lebensabschnittsdiktatoren – sein Pa hatte Lisa auf den Arm genommen – ins Haus.

Glücklicherweise trog der erste Eindruck. Die Dielen knarzten zwar, als sie eintraten, doch sie glänzten auch frisch gebohnert. Weder Staub noch Spinnenweben waren zu sehen, im Gegenteil: Es roch nach Bohnerwachs, Zitronenreiniger und Veilchen. Hinter der Eingangstür wartete ein kleiner Erker mit einer eingepassten Garderobe. Ein flauschiger Teppich lag auf dem Boden, der ihre Schritte dämpfte, als sie durch den Flur zur Küche gingen. Und die war durchaus gemütlich.

An der Seite stand ein Holztisch, auf den jemand eine Schale mit Obst gestellt hatte. An den Wänden hingen Emaille-Schilder mit alten Werbesprüchen. Der Herd erhob sich in der Mitte des Raumes und war von überallher zugänglich. Auf den Regalen gab es kleine Holzdosen, aus denen der Duft von frischen Kräutern und Gewürzen in seine Nase stieg.

Die Terrassentür war leicht angelehnt und gab den Blick auf einen herrlichen Garten frei. Die Beete waren gepflegt, Blumen sprossen. Zwischen den Bäumen hing eine Schaukel, die im Wind sacht hin und her schwang.

Lukas fröstelte.

»Mum, ich schaue mir mein Zimmer an«, sagte er. Da sie noch dabei war, die Küche mit ihrem Blick zu sezieren, murmelte sie eine abwesende Zustimmung. Normalerweise hasste sie es, wenn er Mum sagte. Dann folgte eine lange Erklärung darüber, dass sie seine Mutter war und nicht aus einem englischsprachigen Land stammte.

Sein Pa war schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Lisa flitzte an ihm vorbei und machte sich auf die Suche nach ihrem Kinderzimmer.

Die Holzstufen der Treppe knarzten, als Lukas hinter ihr nach oben stieg. Im ersten Stock gab es ein Badezimmer mit gusseiserner Wanne, wie er im Vorbeigehen erkannte. Die Frage nach dem warmen Wasser kam ihm wieder in den Sinn, doch er verschob sie auf später.

Auf dem Gang verteilt standen die Umzugskisten, zwischen denen er sich hindurchschieben musste. Danach folgte Lisas Zimmer, das diese gerade akribisch untersuchte. Als Nächstes kam eine Rumpelkammer, die mit allerlei Plunder vollgestellt war, der eigentlich in einen Trödelladen gehörte.

Schließlich übertrat er die Schwelle zu seinem eigenen Reich. Der Raum war … anders, als Lukas erwartet hatte. Nicht schlechter. Aber eben anders. Die Wand gegenüber der Tür bestand aus einem einzigen ovalen Fenster. Davor ragte eine Fensterbank ins Zimmer, auf der Kissen ausgebreitet lagen. Die perfekte Leseecke. Links daneben stand ein wuchtiger Schreibtisch aus schwarzem Holz, der ab jetzt ihm gehörte. Seine Eltern hatten das Haus mitsamt der Möbel gekauft. Und auch wenn einiges davon hoffentlich bald auf dem Sperrmüll landete, wollte er diesen Tisch auf jeden Fall behalten.

Daneben gab es ein in die Wand eingelassenes Regal, auf dem sich dicke Folianten stapelten. Lukas ging näher heran. Die Wälzer waren von einer fingerdicken Schicht aus Staub bedeckt, die Einbände abgewetzt. Sie mussten verdammt alt sein. Wieso war im übrigen Haus geputzt worden, hier aber nicht? Gerade, als er nach einem der Bücher greifen wollte, polterte jemand ins Zimmer.

Das abrupte Aufkreischen ließ ihn zusammenzucken. Lisa sprang auf das riesige Bett, das auf der anderen Seite stand.

»Ich will auch so eines.« Hüpf. »Das ist toll.« Hüpf. »Mein Zimmer ist viel schöner.« Hüpf. »Aber deins ist auch nicht schlecht.« Hüpf.

»Runter von meinem Bett!« Er sprang nach vorne. Doch Lisa war zu schnell, tauchte unter seinen Händen hindurch und rannte davon. Schon auf dem Gang begann sie, lauthals zu schluchzen. »Mama, Lukas ärgert mich!«

Die genervte Stimme seiner Mum schallte empor. »Lukas, lass deine kleine Schwester in Ruhe!«

Er verdrehte die Augen. Die Fäuste geballt blieb er im Türrahmen stehen. Lisa streckte ihm die Zunge heraus, dann flitzte sie die Treppe hinunter. Er stapfte zurück ins Zimmer und knallte die Tür wuchtig ins Schloss. Erfreut stellte er fest, dass an der Innenseite ein Riegel angebracht war. Selbst wenn seine Eltern ihm den Schlüssel abnahmen – Ich will keine verschlossenen Türen in diesem Haus, pflegte sein Vater zu sagen –, konnte er trotzdem absperren.

Entgegen seinem Vorsatz begann ihm die alte Bruchbude zu gefallen. Er trat ans Fenster. Von hier oben konnte er nicht nur den Garten überblicken, auch der kleine Fluss hinter dem Haus war zu erkennen und dort, gerade noch sichtbar, ragten die dichten Bäume des Waldes empor.

Für einen Augenblick glaubte er, einen dunklen Schemen im Dämmerlicht auszumachen, der sich vor den Fichten, Eichen und Sträuchern abzeichnete. Im nächsten Moment war er verschwunden. Lukas rieb sich die Augen und gähnte.

Jetzt sehe ich schon Gespenster.

Er kickte seine Turnschuhe davon, warf den Rucksack aufs Bett und sich selbst daneben. Draußen wurde es immer dunkler. Dichte Wolken waren aufgezogen. Das Firmament glich einem Wasserglas, in das jemand Tinte gekippt hatte. Nur Sekunden später prasselten dicke Regentropfen gegen das Fenster. Es donnerte und blitzte, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte.

Während er dem Regen lauschte, wurden seine Augen schwer und nur Minuten darauf war er eingeschlafen.

Licht in der Nacht

Lukas wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Vielleicht ein Blitz oder der Donner. Möglicherweise auch die Regentropfen, die noch immer gegen die Scheibe prasselten.

Er lag unter der Bettdecke, konnte sich aber nicht daran erinnern, sich zugedeckt zu haben. Da auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett ein Wasserglas stand, hatte seine Mum wohl vorbeigeschaut.

Lukas wollte gerade aus der Jeans schlüpfen und gemütlich weiterschlafen, als er das Licht entdeckte. Es schimmerte durch einen Spalt unter dem Bücherregal. Was war das? Zwischen seinem Zimmer und dem seiner Schwester gab es außer der Rumpelkammer doch gar keinen weiteren Raum. Nur Wand.

Oder war irgendwie eine Speziallampe hinter das Regal montiert, die auf Bewegung reagierte? Etwas so Fortschrittliches hätte er hier nie vermutet.

Lukas ging auf die Knie und lugte unter das Regal. Er musste blinzeln. Vorsichtig hob er die Hand vor die Augen und spreizte leicht die Finger. Neben dem Lichtschein erkannte er Treppenstufen aus Holz. Sie führten nach oben.

War das eine geheime Treppe, über die man auf den Speicher gelangen konnte? Aber warum begann sie hinter dem Bücherregal in seinem Zimmer?

Lukas rüttelte am Rahmen des Regals.

Augenblicklich erlosch das Licht.

Er erhob sich und untersuchte die Bücher. Irgendwo musste ein geheimer Hebel verbaut sein, ein verborgener Mechanismus, der die Tür aufklappen ließ. Er bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass möglicherweise jemand durch sein Zimmer gegangen war, um hinauf auf den Speicher zu steigen.

Wie konnte man ein Haus nur so idiotisch bauen? Man musste die Tür erst einmal finden, um auf den Dachboden zu gelangen. Wo lag da der Sinn?

»Lisa, bist du das?!«

Keine Antwort.

»Wer ist da?«

Lukas griff erneut nach dem Regal.

Wusch!

Das Nächste, was er bewusst wahrnahm, war der Sonnenschein, der durch das Fenster hereinfiel.

Warum liege ich auf dem Boden?

Sosehr er sich auch konzentrierte, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wieso er hier vor dem Regal lag. War er etwa geschlafwandelt? Aber warum tat sein Kopf weh?

»Lukas!«, erklang die Stimme seiner Mutter, gefolgt von einem Klopfen an der Tür. »Bist du wach?«

»J…ja«, stammelte er und rappelte sich auf.

Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen und seine Mum stürmte herein. Mittlerweile war er überzeugt davon, dass sich ein Außerirdischer jeden Morgen in ihrem Körper einnistete. Während sein Pa, das Schwestermonster und er selbst Morgenmuffel waren, bezeichnete seine Mum dies als die beste Zeit des Tages. Bedauerlicherweise versuchte sie stets, ihre positive Energie auf alle anderen zu übertragen. Da wurden Aufgaben verteilt, jeder zu Gesprächen animiert und Pläne geschmiedet. War er dann endlich wach genug, um zu begreifen, wozu sie ihn überredet hatte, war es längst zu spät. So kam es zu Wandertouren, Einkaufsmittagen, Yogastunden, Aufräumarbeiten und Gartenpflege. Mittlerweile verlegte er sich grundsätzlich auf grummelndes Schweigen.

»Wir gehen zum Markt«, verkündete sie so energiegeladen, dass er am liebsten geflüchtet wäre.

»Muuum. Es ist Saaamstag.«

»Sag nicht ›Mum‹. Ein bisschen frische Luft tut dir gut.« Schon stand sie neben ihm und wuschelte durch seine Haare. Er hasste es. »Dir ist sicher nicht entgangen, dass unser Kühlschrank leer ist. Wenn du also Kakao und Müsli zum Frühstück willst, dann kommst du jetzt mit. Ich kann das nicht alles alleine tragen.«

Im Geiste sah sich Lukas mit gebeugtem Rücken riesige Kisten zum Haus schleppen, während seine Mutter neben ihm entlangstiefelte und die Landschaft betrachtete, in der einen Hand eine Tüte mit Früchten, in der anderen ihre Handtasche.

»Deute ich dein Schweigen korrekt als Zustimmung?«

»Hmmm.«

»Wunderbar. Ich wusste doch, dass ich mich auf meinen starken, hilfsbereiten Sohn verlassen kann.«

Lukas ahnte längst, dass eine hohe Zahl von lobenden Adjektiven reine Manipulation war. Das hatte sein Pa eines Abends wütend am Esstisch behauptet, als der Direktor seiner alten Schule ihn zum Vorstand des Planungskomitees für eine Sonntagsveranstaltung gemacht hatte.

»Du hast zehn Minuten im Bad, beeile dich, deine Schwester ist bereits wach. Und du weißt ja, wenn sie einmal im Bad ist und merkt, dass du auch hineinmagst, wird das für die nächste Stunde nichts mehr.«

Was genau genommen ein Grund war, sich Zeit zu lassen. »Toll, jetzt soll ich nicht nur ohne Frühstück Sklavendienste leisten, ich muss auch noch um das Bad kämpfen – schon wieder! Ich dachte, wir hätten in diesem Haus zwei!«

»Ach, lass das Trotzen.« Das waren ihre Lieblingsworte. Schon war sie halb aus der Tür. »Wenn ich nur an die Pubertät denke, bekomme ich Kopfschmerzen. Ach so.« Sie blieb noch einmal stehen. »Wir haben tatsächlich zwei Bäder. Im Erdgeschoss fließt allerdings nur kaltes Wasser. Du kannst gerne dort duschen.«

»Ich hasse dieses Haus!«

»Ich weiß, Schatz. Beeil dich. Und zieh eine frische Jeans an.«

Der seltsame Fremde

Eines musste er seiner Mum lassen: Sie besaß meistens eine Engelsgeduld. Am Samstagmorgen schien Winterstein kurzerhand zur Weltmetropole zu mutieren. Zumindest, wenn man die Anzahl der Autos bedachte, die auf den Straßen unterwegs waren. Da die Innenstadt gesperrt war, ging es auf den Zufahrtsstraßen zu wie bei einem Wettrennen. Jeder wollte den nächsten freien Parkplatz ergattern. Dabei wurde gehupt, geschnitten und das Gaspedal schon mal ein wenig zu tief getreten.

Während Lukas’ Pa in solchen Fällen ordentlich fluchte, blieb seine Mum gelassen.

»Weißt du«, erklärte sie, »all diese armen Menschen wissen gar nicht, dass ihre Aggressivität sie altern lässt. Aber an so etwas beteiligen wir uns einfach nicht. Was ist das Familienmotto?«

»Wir bleiben samstagmorgens lieber im Bett«, erwiderte Lukas trocken.

Augen wurden verdreht, ein Seufzen erklang. »Ich kann gar nicht verstehen, warum du so bockig bist. Die Sonne scheint, all diese netten Menschen bummeln durch die Stadt, die Luft ist frisch und klar …«

Er schwieg.

Zu diskutieren war sinnlos. Wenn seine Mum fröhlich sein wollte, war sie das. Vermutlich hätte sie in diesem Zustand selbst eine Kläranlage als ›absolut fabelhaft‹ bezeichnet.

Irgendwann, nachdem sie drei anderen Autofahrern den Vortritt gelassen hatten, fanden sie einen Parkplatz. Von dort erreichten sie über eine Brücke die Innenstadt.

Schmale Gassen durchzogen die Altstadt und denkmalgeschützte Häuser schmiegten sich aneinander. Der untere Marktplatz hatte irgendeine historisch total wichtige Bedeutung und war vollgestopft mit Ständen, die wenig mit Essbarem zu tun hatten. Eine Frau mit roten Wangen bot selbst gedrehte Kerzen aus Bienenwachs an. Ein älterer Mann mit Rauschebart saß zwischen selbst geschreinertem Holzspielzeug. Hinter einer ausladenden Theke verkaufte eine pausbäckige Frau Schreibfedern nach historischem Vorbild mit kleinen Tintenfässchen.

Eine breite Fußgängerzone führte zum oberen Marktplatz, wo es frisches Obst, Gemüse und Blumenstände gab. Auch der Metzger der Stadt hatte dort einen Stand aufgeschlagen. Es war einfach Pech, dass sie hier unten angekommen waren.

»Nein, wie schön«, sagte seine Mutter prompt. »Hast du das gesehen? Wie originell! Ganz grandios!« Sie blieb an jedem Stand stehen und las jedes angebrachte Schild.

Von der Fußgängerzone führten kleine Gässchen tiefer in die Stadt hinein. Im Zentrum des Platzes erhob sich ein Springbrunnen. In den Boden waren Blöcke aus Messing eingelassen und bildeten einen Streifen, der sich als Linie bis zum oberen Marktplatz zog. Ein Schild verriet, dass es sich um das Ergebnis einer Kunstaktion handelte.

»Ein Symbol für die Verbindung zwischen Alt und Neu, dem historischen Teil der Stadt und der Zukunft. Ganz fabelhaft.«

Lukas’ Magen knurrte. »Mum!«

»Ist ja schon gut.«

Sie schoben sich durch die Menschenmenge. Lukas hatte seine Müdigkeit nur zum Teil abgeschüttelt. Ohne sein Müsli, eine Tasse Kakao und ein paar ruhige Minuten konnte der Tag nicht vernünftig beginnen.

Glücklicherweise verlegte sich seine Mum darauf, Unterhaltungen mit den Verkäufern zu führen, und drückte ihm lediglich die Taschen in die Hand. Schweigend trottete er hinter ihr her. Durch die Gespräche erfuhr er, dass die Bücherei in der Nähe des unteren Marktplatzes lag – er wollte dort unbedingt vorbeischauen –, dass die Schule am südlichen Rand der Stadt auf ihn wartete – er würde also jeden Morgen durch die gesamte Innenstadt radeln müssen –, und dass der kleine Bahnhof nördlich zu finden war.

Lukas hegte Fluchtgedanken.

Normalerweise würde er jetzt zusammen mit Michael, seinem besten Freund, bei Muffins und Kakao auf dem Balkon sitzen. Als Halb-Amerikaner bestand der darauf, dass sein Name englisch ausgesprochen wurde. Wann er Michael wiedersehen würde, stand in den Sternen. Plötzlich fühlte sich Lukas schrecklich einsam. Seine Laune sackte ins Bodenlose.

Konnte das hier überhaupt noch schlimmer werden?

Ein Schrei erklang. Oben wurde zu unten, die Taschen fielen zu Boden und Lukas knallte auf die Pflastersteine. Äpfel kullerten davon. Zwischen den Scherben einer Flasche rann Milch über das Kopfsteinpflaster.

»Pass doch auf!« Eine zerlumpte Gestalt funkelte ihn böse an. Zottelige Haare standen in alle Richtungen ab. Vom Mantel des Mannes ging ein ranziger Geruch aus.

Lukas rappelte sich schnell auf. »Entschuldigung.«

Mit fahrigen Händen wühlte der Unbekannte in den Lebensmitteln und zog schließlich triumphierend grinsend einen farbigen Stein hervor. »Mein Schutzstein.«

Mittlerweile starrten zahlreiche Verkäufer zu ihnen herüber. Neben dem Stand mit den Bienenwachskerzen lehnte ein Mädchen an der Wand und taxierte den unbekannten Mann mit bohrendem Blick. Als Nächstes wandte sie sich Lukas zu, betrachtete ihn von oben bis unten.

»Geht es dir gut?«, fragte seine Mum.

»Alles klar.«

Sie drehte sich dem Mann zu. »Mein Sohn wollte Ihnen Ihren Schutzstein nicht wegnehmen. Vielleicht schauen Sie demnächst mal in meiner Praxis vorbei?« Sie zog eine Karte aus ihrer Hosentasche und schob sie kurzerhand in eine der Manteltaschen ihres armen Opfers.

Während der Mann verdutzt auf die Karte blickte, klaubte Lukas die Lebensmittel wieder zusammen. Seine Mum kaufte eine neue Flasche Milch und sie gingen zurück zum Auto. Nachdem alles verstaut war, beschlossen sie – nicht, dass er ein Mitspracherecht gehabt hätte –, ein paar Bienenwachskerzen zu erstehen.

Immerhin durfte er sich solange die Bücherei ansehen.

Das Gebäude war durch zwei Gässchen vom Marktplatz getrennt und von außen recht unscheinbar. Eine Glastür, eingepasst in einen Steinbogen, führte in einen hellen Raum. Die Bücher verteilten sich auf drei Ebenen, die über Metalltreppen erreichbar waren. Gegenüber der Tür saß eine ältere Dame hinter einem Pult. Ihr graues Haar war zu einem Dutt gebunden, ihre Augen von Lachfalten eingerahmt. Sie las in einem Buch und kicherte immer wieder leise.

Lukas beschloss, sie erst einmal nicht zu stören. Er stieg die Treppenstufen empor. Der Geruch von altem Papier und Leim lag in der Luft. Verschlissene Einbände standen zwischen neuen Ausgaben, Taschenbücher neben Hardcovern. Die verschiedensten kunstvoll gestalteten Umschläge zogen ihn förmlich an.

Zu Hause hatte er sich oft mit Micha – den er eigentlich nicht so nennen durfte – in die Bücherei zurückgezogen. Dort hatten sie ihre Hausaufgaben gemacht. Es war ruhig und die vielen Bücher in der Umgebung beflügelten Lukas’ Fantasie. Was ihn zugegebenermaßen auch oft abgelenkt hatte. Diese Bücherei war anders. Älter.

Ganz oben entdeckte er einen Steg, der zu einem steinernen Torbogen in der Wand führte. Eine völlig sinnlose Konstruktion, denn innerhalb des Bogens gab es nur festes Mauerwerk. Falls man sich nicht in einen Geist verwandeln konnte, gab es hier kein Durchkommen.

»Kann ich dir helfen?«

»Waaaahh!« Lukas fuhr herum.

Vor ihm stand die ältere Dame, die offensichtlich nicht länger mit ihrem Buch beschäftigt war. Sie trug ein knielanges Kleid, darüber eine gestärkte Bluse. Auf einem Schild an ihrer Brust stand ›A. Stein‹.

»Ich bin neu hier in der Stadt.«

»Und du bist wer?«

»Oh, Entschuldigung. Lukas Lamprecht. Ich wohne mit meinen Eltern am Waldweg 13.«

»Ich verstehe«, sagte Frau Stein. »Ihr seid ins Haus des Professors gezogen.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Ja, genau. Kannten Sie den Professor?«

»Eine seltsame Geschichte. Er ist eines Tages einfach verschwunden.« Sie wechselte das Thema. »Und nun möchtest du hier in der Bücherei eine Mitgliedschaft?«

Lukas nickte. »Ich habe mich nur darüber gewundert.« Er deutete auf den Torbogen.

Frau Stein lachte. »Ja, eine Fehlkonstruktion.«

Sie führte ihn nach unten, wo er einen Anmeldebogen ausfüllte und eine vorläufige Mitgliedskarte bekam. Da seine Mutter wartete, suchte er heute keine Bücher zusammen. Schnell rannte er zurück zum Parkplatz.

Dabei ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, was Frau Stein gesagt hatte. Der Vorbesitzer des Hauses war also einfach verschwunden.

Seltsam.

Das Bildnis aus Stein

Lukas verschlang drei Schalen mit Müsli, dazu eine Banane und zwei Brötchen. Zusätzlich mussten vier Gläser Kakao dran glauben. Zufrieden lehnte er sich zurück und genoss das Sättigungsgefühl.

Sein Pa las entspannt die Zeitung, die am Morgen vor der Haustür gelegen hatte. »Vermutlich hat der Vorbesitzer vergessen, sie abzubestellen«, hatte er gesagt. »Ich kläre das am Montag.«

»Ich werde mal mit Frau Tillerson sprechen«, warf seine Mum ein. »Wird sowieso Zeit, dass wir sie kennenlernen.«

»Wer ist das?« Bisher hatte Lisa still in der Ecke gesessen und ihren Stoffhasen an sich gedrückt, den sie ›dummer Lukas‹ nannte. Allerdings nur, wenn niemand außer Lukas anwesend war.

»Das ist die Haushälterin, Schatz«, erwiderte seine Mum. »Sie hat hier alles geputzt und den Garten gepflegt. Bis wir uns eingerichtet haben, geht sie uns zur Hand.«

»Putzt sie mein Zimmer?«, fragte Lisa sofort.

»Das macht ihr schön selbst«, kam es prompt von seinem Pa.

Gut so. Lukas wollte nicht, dass eine Fremde in seinem Zimmer herumwuselte. Er stand auf und trottete die Treppe hinauf. Endlich etwas Ruhe.

Das Wichtigste zuerst: Er schnappte sich jene Kisten im Gang, die seine Sachen enthielten, und trug sie in sein Zimmer. Dann schloss er die Tür und schob den Riegel vor.

Sein Vater hatte den Router bereits angeschlossen und so startete Lukas seinen Laptop und verband ihn mit dem W-Lan. Seine Angst, hier kein Internet zu haben, blieb unbegründet. Es lief stabil.

»Endlich wieder Zivilisation!« Er öffnete die Chat-Programme, doch Micha war nicht online.

Während die Sonne höher stieg, begann Lukas mit dem Auspacken. Zuerst wollte er die alten Bücher aus dem Regal nehmen, die der Vorbesitzer des Hauses hinterlassen hatte. Seltsamerweise wollte ihm das nicht recht gelingen. Immer, wenn er an das Regal trat, um eine der Schwarten herauszuziehen, fiel ihm etwas anderes ein, was zuerst erledigt werden musste.

Am Ende ging er dazu über, seine Bücher neben dem Fenster mit der Lesebank an der Wand aufzustapeln. Das wirkte sowieso tausendmal cooler. Er überzog sein Bett, packte die Schulunterlagen aus und verstaute sie kurzerhand darunter. Während der Ferien schob er den Gedanken an die neue Schule weit von sich. Schließlich holte er Hammer und Nägel aus dem Erdgeschoss. Damit ausgerüstet war es ein Leichtes, die Haltestangen für die Skateboards über dem Bett anzubringen. Als zusätzliche Regalbretter machten die sich super.

Langsam nahm das Zimmer Form an.

Irgendwann hatte er keine Lust mehr. Ein paar der Kisten wanderten unausgepackt in die Ecke. Seine Eltern waren dabei, ihr Schlafzimmer herzurichten, und das Schwestermonster schlief. Er holte sich aus der Küche ein belegtes Brot, schnappte sich seinen Rucksack und verließ das Haus durch die Terrassentür. Zeit, die Gegend zu erkunden!

Wie angekündigt gab es einen Pool hinter dem Haus. Genauer: ein Schwimmbecken, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Risse durchzogen die Platten, die blaue Farbe war großflächig abgesplittert. Verfaulte Blätter lagen in Wasserlachen am Boden, Geäst dazwischen.

Der Garten wurde von einer hüfthohen Mauer eingerahmt, auf der ein Metallgitter emporwuchs. Die Zeit und eine Menge Rost hatten das Eisen porös werden lassen. Auf dieser Seite wuchsen Sträucher dicht an dicht, das Gras spross. Im Gegensatz zu dem Kräutergarten, der penibel gepflegt aussah, glich der restliche Garten einem Urwald.

Er öffnete das Gartentor. Dahinter wartete ein kleines Wäldchen aus Fichten und Eichen. Sie mussten bereits viele Jahrzehnte alt sein.

Lukas sprang über das Wurzelwerk, schob einen Strauch beiseite und stand auf einem freien Feld. Auf der anderen Seite plätscherte der Fluss, dahinter begann der Wald. Er rannte ein paar Schritte und blickte zurück. Nur die Giebeldächer des Hauses waren noch zu erkennen, sein Zimmerfenster lugte durch eine Lücke im Geäst der Bäume hervor.

»So viel Grün.«

Vom dichten Beton der Großstadt zum ländlichen Idyll. Hier gab es keine U-Bahn, keine Hochhäuser oder hässliche Hausfassaden. Kein Studentenviertel und keine Villengegend.

Schnell wandte er sich ab und drängte das aufkommende Heimweh beiseite. Er war jetzt hier und musste das Beste daraus machen. Immerhin hatte sein Pa wieder eine Stelle und Mum konnte ihre Praxis hier eröffnen. Menschen mit Problemen gab es überall, pflegte sie immer zu sagen.

Der Fluss entpuppte sich als lustiger kleiner Bach, der zwischen Steinen dahinplätscherte. Wie eine Markierung, die den Wald vom umliegenden Land abgrenzte.

Lukas folgte dem Lauf ein Stück und kam so an einen halb zerfallenen Steg, der von dieser Seite bis fast zur anderen führte. Ein Sprung genügte, um den Rest zu überbrücken.

Er stand vor dem Wald.

Die Blätter raschelten im Sommerwind, tausend Stimmen flüsterten. In der Luft lag ein Geruch nach trockenem Holz und frischem Laub. Lukas trat aus der Sonne in das Zwielicht der Bäume.

Eine andere Welt umfing ihn. Überall um ihn herum gab es Geräusche. Etwas knackte im Unterholz, über ihm zwitscherten Vögel. Das Geäst griff ineinander und bildete ein dichtes Blätterdach.

Lukas fröstelte.

Vorsichtig kletterte er über eine Wurzel und drang tiefer in den Wald vor. Irgendwo musste ein Weg sein. In jedem Wald gab es Wanderwege, die von Besuchern genutzt wurden.

Tatsächlich fand er kurz darauf einen Trampelpfad. So musste er nicht länger Büsche beiseiteschieben oder über Felsen klettern. Die Sträucher am Wegesrand waren so dicht, dass er kaum etwas dahinter erkennen konnte. Sonnenschein fiel durch das Blattwerk und erschuf Lichttupfen auf dem Grün der Büsche.

Lukas erreichte eine Weggabelung. Über ihm sprang ein Eichhörnchen von einem Baum zum nächsten. Er entdeckte den Eingang zu einem Kaninchenbau und einmal glaubte er, einen Fuchs zu sehen. Den Blick auf das Eichhörnchen gerichtet, ging Lukas weiter.

Und übersah eine Wurzel.

»Waahhhh!«

Mit rudernden Armen purzelte er zwischen zwei Büschen hindurch. Dahinter wartete ein Abhang. Er versuchte noch, sich an einem der Äste festzuhalten, doch seine Finger griffen ins Leere.

Sich überschlagend rollte er den Hang hinunter. Seine Stirn machte Bekanntschaft mit einem Stein. Die Welt um ihn herum explodierte in einem Wirbel aus Farben und Formen. Benommen fiel er auf die Erde.

Als Lukas wieder zu sich kam, schien der Wald den Atem anzuhalten.

Stille.

Er setzte sich auf.

Blut rann aus einer Wunde an der Stirn. Es brannte höllisch und seine Lippen waren geschwollen. Die Jeans waren am linken Hosenbein aufgerissen und mit Erde beschmiert, sein Hoodie sah nicht besser aus.

»Toll.«

Er kam auf die Beine. Kurz wurde ihm schwindelig. Der Wald schien um ihn herumzutanzen. Lukas schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, war alles wie zuvor. Er nahm die Umgebung in Augenschein.

Er war in einer Senke herausgekommen. Ein Trampelpfad führte tiefer in das Buschwerk. Da er auf keinen Fall wieder den Abhang hinaufklettern konnte, folgte er dem Pfad. Dieser schlängelte sich zwischen Büschen, Bäumen und Felsen hindurch. Es ging mal nach oben, mal nach unten.

Schließlich mündete er auf einer Lichtung.

Staunend trat Lukas näher.

Im Zentrum erhob sich ein Podest, auf dem jemand Statuen aus dem Stein gehauen hatte. Doch es waren keine Fürsten, Könige oder Kaiser, keine Ritter oder Tiere. Jemand hatte Fabelwesen erschaffen. Geschöpfe, die einem Fantasyroman entsprungen schienen.

Lukas machte einen Schritt voran.

Ein Flimmern legte sich über den Stein, wie erhitzte Luft über dem Asphalt an einem Sommertag. Er konnte die Konturen nicht mehr genau erkennen. Der Schwindel kehrte zurück.

Die Welt versank in Schwärze.

Eine Treppe im Bücherregal

Lukas blinzelte. Verwirrt setzte er sich auf. Eine Armeslänge entfernt plätscherte der Bach. Er musste auf dem Feld ausgerutscht sein, war mit dem Kopf gegen einen Stein geschlagen und bewusstlos geworden. Vorsichtig betastete er seine Stirn. Kein Blut. Risse überzogen seine Jeans, die Turnschuhe waren von Erde bedeckt.

»Mum wird mich umbringen.«

Er rappelte sich auf. Eigentlich hatte er den Wald erkunden wollen, doch das wurde heute nichts mehr. Die Sonne versank bereits am Horizont und tauchte den Himmel in einen rötlichen Schein. Der Wind frischte auf. Seltsam, hier lagen gar keine Steine. Woran hatte er sich dann den Kopf gestoßen?

Egal.

Lukas kehrte zum Haus zurück. Durch das kleine Wäldchen, das schmiedeeiserne Gartentor und über die Verandatür in die Küche. Vorsichtig lugte er ins Wohnzimmer. Seine Mum war gerade dabei, ihre heiß geliebten Figuren aus Bimsstein auf dem Regal aufzustellen. Sie war stolz darauf, die kleine afrikanische Herde aus Elefanten, Zebras, Giraffen und allerlei anderen Tieren kürzlich vervollständigt zu haben. Dahinter fanden die neuen Kerzen aus Bienenwachs Platz. Sein Pa lag auf der Couch und schlief, was ihm missmutige Seitenblicke einbrachte.

Leise schlich Lukas zur Treppe.

Eine Stufe knarzte.

»Lukas!«, erscholl sogleich der Ruf seiner Mum.

Ich muss mir die Stufe merken, dachte er grimmig.

»Was ist?!«

»Bist du schon fertig mit Auspacken?«

»Fast!«

Sie erschien an der Treppe. »Was ist denn mit dir passiert?!«

»Ausgerutscht.«

»Geht es dir gut?«

Er nickte.

Seine Mum ließ es sich nicht nehmen, ihn von oben bis unten zu mustern und nach Wunden zu suchen, nickte schließlich aber zufrieden. Er war entlassen.

Der Rest des Tages verging im Flug. Lukas räumte ein paar weitere Kisten aus, sie aßen gemeinsam zu Abend und als draußen bereits tiefste Dunkelheit herrschte, kroch er ins Bett. Morgen war Sonntag. Das bedeutete lange schlafen, Brötchen im Sonnenschein auf der Terrasse essen und die Füße hochlegen. Danach wollte er unbedingt den Wald erkunden.

Mit diesem Vorsatz schlief er ein.

Und wurde mitten in der Nacht von einem Geräusch geweckt.

Zuerst hatte er das eigenartige Gefühl, das schon einmal erlebt zu haben. Kurz fragte er sich, wo er sich befand. Richtig, das neue Haus. Aber weshalb war er wach geworden? Normalerweise konnte ein Elefant neben ihm trompeten, er schlief wie ein Stein. Lukas setzte sich auf.

Ein samtiges, blaues Licht drang unter dem Bücherregal hervor. Stirnrunzelnd ging er davor auf die Knie und schaute durch den Spalt zwischen Parkett und Regalboden. Tatsächlich! In dem geheimnisvollen Licht erkannte er Treppenstufen, die nach oben führten.

Doch wohin?

Es gab keinen Speicher, das hatte sein Pa heute beim Frühstück noch erwähnt. Das Haus besaß lediglich einen Keller. Einen ziemlich heruntergekommenen, um genau zu sein. Seine Mum hatte beim Abendessen seinen Pa gebeten, dort zu streichen und ein wenig aufzuräumen. Der hatte nicht begeistert geklungen und die Antwort war mehr ein Grunzen gewesen als ein deutliches »Ja«. Bekannte Taktik.

Führten die Treppen auf das Dach?

Aber wieso hatte der Vorbesitzer dann das Regal anstelle einer Tür eingebaut? Wie bekam man es auf?

Probeweise rüttelte Lukas daran. Nichts. Er griff nach dem Rahmen und zog. Keine Chance.

»Es muss einen Mechanismus geben, der es öffnet«, überlegte er laut und betastete die Bücher.

Der Schein verstärkte sich. Lukas wurde schwindelig, er taumelte. Reflexartig suchte er nach einem Halt. Und fand ihn in den Büchern. Seine Finger berührten einen Einband, er stützte sich ab. Oder er wollte es tun.

Der Wälzer glitt in die Wand und ein Klacken erklang, gefolgt von einem surrenden Geräusch. Das Regal fuhr zur Seite.

Lukas wich zurück, stolperte und landete auf dem Bett.

Das Schwindelgefühl war fort.

Verdattert starrte er auf die Treppenstufen, die frei vor ihm lagen. Seine Erinnerung kehrte schlagartig zurück. Das Leuchten war bereits am ersten Tag zu sehen gewesen. Er hatte es völlig vergessen. Wie war das möglich?

Vorsichtig ging er näher.

Als er direkt vor der untersten Stufe stand, flammten Lampen an der Wand auf. Bauchige Glaskolben, die Kupferdraht umhüllten. Die Glühbirnen wirkten, als habe sie jemand aus dem vorherigen Jahrhundert in das Heute transportiert. Sie flackerten zwei Sekunden, dann stabilisierte sich der Schein.

Gab es hier etwa eine Lichtschranke? Es musste so sein. Wie sonst hätten die Lampen auf seine Anwesenheit reagieren können?

Es waren etwa zwanzig unebene Stufen, die in die Höhe führten. Auf dem Holz lag eine dicke Staubschicht. Es musste einige Zeit her sein, dass jemand nach oben gestiegen war.

Lukas schluckte.

Ihm kam in den Sinn, dass der frühere Bewohner des Hauses – Professor Archibald von Thun – spurlos verschwunden war. Konnte es sein, dass er den Mann dort oben finden würde? In den Krimis, die er las, geschah so etwas oft.

Für einen winzigen Augenblick überlegte Lukas, seine Eltern zu wecken. Kopfschüttelnd verwarf er den Gedanken. Er hatte einen Geheimgang entdeckt! In seinem Zimmer! Möglicherweise gab es dort oben … er hatte keine Ahnung was. Aber egal, er wollte es auf jeden Fall alleine entdecken.

Im Schein der Lampen suchte er die Innenseite ab und fand tatsächlich einen Hebel in der Wand. Das musste der Öffner für die Geheimtür auf der anderen Seite sein. Probehalber zog er daran. Er ließ sich problemlos betätigen.

»Hallo?! Ist da wer?!«

Keine Antwort.

Lukas streifte eine Jogginghose über, dazu ein Paar Turnschuhe. Außerdem holte er die Taschenlampe aus seinem Rucksack. Er wollte schließlich nicht im Dunkeln stehen, wenn die Lampen abrupt erloschen. Bei dem Gedanken überzog eine Gänsehaut seinen Nacken.

Sicherheitshalber kritzelte er eine Notiz auf ein Blatt Papier.

Habe geheime Treppe entdeckt. Wenn man das Buch rauszieht, klappt das Regal zur Seite.

Sollte ihm etwas zustoßen, würde seine Mutter den Zettel finden und konnte jeden Schritt nachvollziehen. Auf diese Art vorbereitet kehrte er zurück zur Treppe.

Die erste Stufe knarzte, als er darauf trat. Es war ein seltsam unwirkliches Geräusch. Wieder musste er an den blauen Schein denken. Wo war der hergekommen? Hier gab es außer den Wandlampen keine weiteren Leuchtkörper.

»Na schön, eins nach dem anderen.«

Mit einem letzten Blick zurück in sein Zimmer, stieg er die Treppenstufen empor.

Das geheime Studierzimmer

Lukas erreichte das obere Ende der Treppe.

Vorsichtig lugte er in den Raum. Auch hier ragten Halterungen mit Lampen aus der Wand hervor und erschufen mit ihrem warmen Schein Licht und Schatten.

Das Zimmer war mit einem flauschigen Teppich ausgelegt, der jeden seiner Schritte dämpfte. Er verlief über die gesamte Breite des Stockwerks. Gegenüber des Treppenaufgangs, der hier oben nicht mehr als ein quadratisches Loch im Boden war, stand ein wuchtiger Schreibtisch. An den Wänden zogen sich Regale in die Höhe. Jenes zu Lukas’ Rechter war angefüllt mit Folianten, Papyri, modernen und uralten Büchern. Auf dem gegenüber lagen und standen Flakons und Tiegel unterschiedlicher Größe.

Einige der Fläschchen leuchteten.

Staunend strich Lukas mit der Hand über die Einbände der Bücher. Auf vielen erkannte er Worte in fremder Sprache, die er nicht lesen konnte.

Der Schreibtisch definierte das Wort ›Chaos‹ neu. Ein Wust aus Papieren lag dort verstreut und die Tinte in dem kleinen Fässchen war zu einer krümeligen Schicht vertrocknet, eine Schreibfeder steckte darin. An der Seite lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem lateinische Sätze geschrieben standen.

Auf der anderen Seite des Treppenaufgangs gab es eine Sitzecke. Dort stand ein abgewetztes, aber gemütlich erscheinendes Sofa. Daneben drei Stühle.

Und noch etwas fiel Lukas auf. Etwas ganz und gar Unmögliches.

Die Wände des Raums wuchsen gerade in die Höhe, obwohl er eindeutig direkt unter dem Dach lag. Ein Giebeldach. Eigentlich hätten die Wände schräg sein müssen.

Und nicht nur das.

Verblüfft ging er auf das kreisrunde Fenster zu. Es war zwischen zwei Regalen in die Wand eingelassen und führte zum Garten hinaus. Lukas konnte das Schwimmbecken sehen. Das Mondlicht spiegelte sich im matschigen Wasser. Er wusste von seiner Expedition am Mittag jedoch, dass von außen auf dieser Höhe kein Fenster eingelassen war.

Wie konnte das sein?

Lukas sank in den Schreibtischsessel.

Hier also hatte Professor von Thun gearbeitet. Was hatte er wohl getrieben? Ein Füllfederhalter lag neben einem Blatt Papier. Wenn seine Mutter das nächste Mal wieder von Lukas’ Sauklaue sprach, würde er ihr einfach dieses Papier unter die Nase halten. Man konnte kaum ein Wort lesen.

Mit ein wenig Mühe gelang es ihm aber doch.

Er kommt.

Ich muss fliehen.

Das Siegel ist in Gefahr.

Die Sache wurde immer mysteriöser. Lukas erhob sich und ging zu den Regalen mit den Flakons und Tiegeln. Glücklicherweise waren sie beschriftet.

»Flugtrank«, las er. »Wirkdauer: 3 Stunden.«

Er schüttelte den Kopf. Der Professor musste völlig verwirrt gewesen sein. Möglicherweise war er im Glauben, einen Zaubertrank getrunken zu haben, von einem Abhang gehüpft.

»Verschwindepulver«, stand auf einem Tiegel.

Lukas wandte sich ab.

Und schrie auf.

Hinter ihm ragte zwischen den Regalen eine Standuhr empor. Sie war gerade eben noch nicht da gewesen. Es schlug zur vollen Stunde. Erschrocken taumelte er zurück …

… und krachte gegen das Regal.

Einer der Tiegel rutschte vom Brett und knallte an Lukas’ Stirn. Blaues Pulver bestäubte ihn von oben bis unten. Er musste niesen.

»So ein Mist!«

Er hustete.

Glücklicherweise war der Tiegel nicht zerbrochen. Lukas schob den Rest des Pulvers mit der Hand wieder hinein und stellte ihn ins Regal zurück. Auf dem kleinen Zettel stand: »Flüsterpulver.«

»Toll, morgen früh kann ich nur noch flüstern. Das wäre doch was für Lisa.«

Er kicherte.

Neugierig ging Lukas auf die Standuhr zu. Sie war etwas größer als er selbst. Ein Pendel schwang gemächlich von links nach rechts, umrahmt von verziertem Holz. Das untere Ende des Pendels hatte die Form eines Wasserspeiers. Der Professor musste einen Hang zu Fantasygeschichten haben. Das erklärte wohl auch seine Versuche, Zaubertränke herzustellen. Anstelle der Zahlen waren seltsam anmutende Zeichen auf dem Ziffernblatt angebracht. Im Zentrum wölbte sich eine Halbkugel aus Glas hervor.

»Vielleicht habe ich die Standuhr zuerst übersehen?«, überlegte Lukas. So musste es gewesen sein.

Er strubbelte sich das Haar. Blaue Wolken bildeten sich in der Luft, Pulver rieselte zu Boden. Er würde sich morgen früh gleich duschen müssen, um das Zeug wieder loszuwerden.

Sein Blick wanderte über die Buchrücken auf dem anderen Regal. Es gab dicke und dünne, solche ohne Titel und welche mit. Dazwischen zusammengeheftete Bündel oder eingerollte Papyri.

»Die Kreaturen des Flüsterwalds«, las er.

Es war einer der dicken Wälzer. Gebunden in rotes Leder, versehen mit goldener illuminierter Schrift. Auf gelbstichigen Seiten gab es Abbildungen von fantastischen Wesen, darunter standen in schnörkeliger Handschrift Informationen.

Lukas gähnte.

Seine Aufregung ließ langsam nach. Er wollte zurück ins Bett. Das Buch würde er mitnehmen. Und morgen konnte er sich das Ganze hier genauer anschauen. Er musste unbedingt mehr über Professor von Thun herausfinden.

Anscheinend war der Mann nicht nur verschwunden, er hatte auch von einer Gefahr für ein ominöses Siegel geschrieben. Was immer das bedeuten mochte. Es musste doch jemand nach ihm gesucht haben, nachdem sein Verschwinden aufgefallen war. Irgendwo ließen sich Informationen finden, da war Lukas sicher.

Er stieg die Treppen hinab.

Die geheime Tür war noch immer geöffnet. Zukünftig würde er darauf achten müssen, sie hinter sich zu schließen. Nicht auszudenken, wenn Lisa sie fand. Oder seine Eltern. Die würden den Raum doch sofort zum Sperrgebiet erklären und die Tiegel und Flakons aus dem Haus schaffen. Immerhin konnte es sich dabei um explosive Stoffe handeln.

Lukas betrat sein Zimmer und zog an dem Buch im Regal. Es klackte, Zahnräder ratterten. Leise schabend schloss sich die geheime Tür.

Zufrieden kickte Lukas die Schuhe zur Seite und kroch ins Bett. Das Buch schob er darunter. Morgen erwartete ihn ein spannender Tag.

Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Nicht ahnend, dass er einen furchtbaren Fehler begangen hatte.

Von Elfen und anderen Fabelwesen

Als Lukas am nächsten Morgen erwachte, war er verwirrt. Hatte er sich die Ereignisse der Nacht nur eingebildet? Alles ein seltsamer Traum?

Zuerst schaute er unter das Bett. Der ledergebundene Foliant lag noch immer dort. Vorsichtig strich er mit den Fingern über den Einband.

»Es war also echt.«

Er schlug die Bettdecke beiseite, rannte zum Bücherregal und zog an dem Buch, das die Geheimtür öffnete. Tatsächlich glitt das Regal beiseite, die Treppe lag wieder frei.

Er konnte es kaum glauben.

Prompt musste er niesen.

Richtig! Das blaue Pulver hing ihm noch immer in den Haaren. Ein Blick aufs Handy verriet, dass es bereits elf Uhr am Morgen war. Seine Mutter hatte sich vermutlich längst im Schneidersitz niedergelassen und meditierte. Sein Vater las die Zeitung. Lisa würde wohl verzückt irgendwelchen Hörspielen lauschen.

Erneut zog er an dem Buch. Es klackte und ratterte, das Regal rastete wieder ein.

Schnell flitzte Lukas ins Bad, warf die Tür hinter sich ins Schloss und atmete auf. Der Wasserhahn quietschte, als er ihn aufdrehte. Ein einsamer Tropfen fiel herab und patschte ins Waschbecken.

»Das ist jetzt nicht wahr!« Von der Treppe rief er hinunter: »Das Wasser geht nicht!«

»Ich weiß!«, rief seine Mutter zurück. »Auch dir einen guten Morgen. Der Klempner kann erst am Montag vorbeischauen.«

»Was?!«

»Du wirst es überleben. Wenn du dir noch länger Zeit lässt, stirbst du aber an einem grausigen Hungertod. Das Frühstück ist fast aufgegessen.«

Lukas fluchte leise. Er rannte zurück in sein Zimmer, strubbelte die Reste des blauen Pulvers, so gut es eben ging, aus seinem Haar und schlüpfte in eine Jeans. Ein letzter Blick in den Badezimmerspiegel, dann riskierte er es.

Am Frühstückstisch nahm niemand von ihm Notiz.

»Ich treffe morgen den Direktor«, verkündete Lukas’ Vater von der Couch, wo er in seiner Zeitung las. »Er will mir die Schule zeigen, bevor es übernächste Woche losgeht.«

»Das ist ja ausgezeichnet. Vielleicht will Lukas –«

»Nein, Lukas will nicht!«, blaffte er.

»Aber, Schätzchen.« Seine Mutter erhob sich aus dem Schneidersitz, kam zu ihm herüber und hob die Hand, um ihm das Haare zu durchwuscheln.

»Lass das«, fauchte er.

Sie seufzte. »Ist der Pubertätsmodus mal wieder aktiv?«

»Was ist Pubetät?«, krähte Lisa. Sie saß auf dem Sessel, hielt ihren Plüschhasen umklammert und beobachtete ihn genau.

»Das, mein Schatz, ist eine schlimme Krankheit«, kam es von der Couch.

»Hör nicht auf deinen Vater.« Lukas’ Mutter warf ihm einen bösen Blick zu. »Pubertät ist Erwachsenwerden.«

»Oh.« Lisa strahlte. »Das will ich auch.«

»Nein, mein Engel, das willst du auf gar keinen Fall«, drang es hinter der Zeitung hervor.

Der Blick von Lukas’ Mutter hätte Eisen zum Schmelzen bringen können. Sein Vater schien es durch die Zeitung zu bemerken und ließ das Papier sinken. »Der Direktor wird ein paar wichtige Dinge mit mir besprechen wollen. Da langweilt Lukas sich nur. Er bekommt seine Führung am ersten Schultag.«

Der Gedanke, dass sein Vater an der Schule unterrichtete, auf die er gehen würde, verdarb ihm den letzten Rest seiner guten Laune. Schnell schlang Lukas sein Müsli hinunter, was ihm ein ›Hetz doch nicht so‹ von seiner Mutter einbrachte. Bei der nächsten Gelegenheit verschwand er wieder nach oben.

Er hatte Wichtigeres vor.

Lukas verriegelte die Tür und zog das Buch über die Kreaturen des Flüsterwalds hervor.

Die Seiten knisterten, als er es aufschlug. Ein graziler Junge mit Flügeln war auf dem Papier abgebildet, daneben ein Mädchen. Darunter stand ein Text über das Volk der Elfen.

Der typische Vertreter des Elfenvolkes ist von kleinem Wuchs, sollte jedoch keinesfalls unterschätzt werden. Durch die natürliche Magie, die diesen Wesen innewohnt, besitzen sie die Fähigkeit zu fliegen. Sie sind aber auch zu ganz anderen erstaunlichen Dingen fähig. Ich konnte selbst beobachten, wie ein kompletter Baum innerhalb von Sekunden gewachsen ist, Stamm und Geäst formten sich zu einer Behausung. Wenn Elfen wütend werden, setzen sie ihre Magie durchaus auch offensiv ein

(Lukas nahm sich vor, dieses Wort nachzuschlagen)

und attackieren einander. Hierbei geht es jedoch nie so weit, dass jemand ernsthaft verletzt wird.

Obwohl sich Lukas bisher nicht viel aus Elfen gemacht hatte, war seine Neugier geweckt. Das Buch tat so, als gäbe es diese Fantasiewesen wirklich. Das war … spannend. Den Kopf auf die rechte Hand gestützt, las er weiter.

Die Sonne ließ sich heute nicht blicken. Die Wolken wurden immer dichter und kurz darauf schlugen Regentropfen gegen die Scheibe. Aus einem zaghaften Tock-Tock wurde ein prasselnder Schauer, der in ein Gewitter überging. Blitz und Donner tobten über das Firmament.

Lukas wechselte vom Bett auf die Lesebank am Fenster. Er schob eines der Kissen in seinen Rücken, winkelte die Beine an und vertiefte sich in das Buch.

Er konnte nicht aufhören zu lesen. Der Professor hatte eine trockene, wissenschaftliche Art, die Dinge zu beschreiben. Es las sich tatsächlich, als habe er ein Fachbuch vor sich. Doch langsam gewöhnte Lukas sich sogar an die schludrige Handschrift.

Er unterbrach die Lektüre nur für das Mittagessen und brachte aus der Küche Verpflegung für den Rest des Tages mit herauf. Kakao, Tee und Plätzchen stellte er auf das kleine Tischchen neben der Fensterbank. Und während der Regen unermüdlich gegen die Scheiben prasselte, vertiefte er sich weiter in die Völker des Flüsterwalds.

Der Professor hatte ein facettenreiches Bild der unterschiedlichsten Fabelwesen gezeichnet. Und nicht nur das. Auch Orte waren in Form von Tuschezeichnungen auf die Seiten gebannt. Verblüfft runzelte Lukas die Stirn, als er auf die Skizze einer steinernen Skulptur stieß. Mehrere Fabelwesen waren gemeinsam auf einem Podest verewigt.

»Das habe ich doch schon mal gesehen.« Seine Stirn begann zu pochen. Es fühlte sich an, als habe er eine Wunde, aber als er die Stelle mit der Hand betastete, war da nichts. »Eigenartig.«

Der Tag verstrich wie im Flug.

Irgendwann schloss Lukas das Buch, verstaute es unter dem Bett, brachte das Abendessen schweigend hinter sich (Lisa quasselte sowieso die ganze Zeit) und verschwand im Bad. Das Wasser ging immer noch nicht, aber neben dem Waschbecken stand eine Flasche Mineralwasser. Ein Notbehelf, um die Zähne zu putzen. Er spritzte sich zusätzlich noch das Gesicht ab, bevor er sich wieder in das Bett kuschelte.

Blitz und Donner hatten sich zurückgezogen, doch der Regen klatschte beständig weiter gegen das Glas. Lukas’ Augen wurden schwer.

Mitten in der Nacht weckte ihn erneut ein Geräusch. Entsetzt fuhr Lukas auf.

Jemand stand in seinem Zimmer.

Nur ein Albtraum?

Lukas blinzelte.

Im ersten Augenblick wusste er nicht, was ihn geweckt hatte. Das Mondlicht fiel in sein Zimmer und zauberte einen mystischen Schein auf die Wände. Alles schien normal. Doch wieso war er dann wach geworden?

Jemand atmete.

Lukas zuckte zusammen. Nur einen Schritt entfernt erblickte er ein Wesen. Blaue Haare wuchsen wild in die Höhe, eine Knubbelnase saß ihm im Gesicht, die Finger waren dick wie Kartoffeln.

Lukas schrie.

Der Unbekannte machte einen Satz zurück und schrie ebenfalls. »Ah! Du siehst mich!«

Das Wesen rannte zum Fenster. Über die Schulter hatte es einen Sack geworfen. Im nächsten Moment knallte es frontal gegen das dicke Glas und purzelte zu Boden. Mit einem Kling landete eine Bimssteinfigur auf dem Parkett.

»Du bist ein Dieb!«, keuchte Lukas.

Und dann bemerkte er das Buch, das er vom Dachboden genommen hatte. Das Wesen hielt es fest mit einer Hand umklammert. Nun fuhr es in die Höhe, klaubte den Sack auf und wandte sich erneut dem Fenster zu. Lukas glaubte bereits, dass es noch einmal gegen das Glas springen wollte, doch stattdessen murmelte es ein Wort und pustete. Sein Atem umwölkte das Fenster wie Nebel. Die Kreatur machte einen Satz und sprang hindurch.

Im nächsten Augenblick verschwand der Nebel.

»Das ist ein Albtraum«, flüsterte Lukas. »Es muss so sein.«

Er eilte zum Fenster.

Das Wesen war für seine Größe überraschend schnell. Soeben flitzte es aus dem Garten in das Wäldchen. Dahinter wartete der Wald. Zwischen dem dichten Grün leuchteten blaue Tupfen auf, rote Lichter schwebten über den Baumwipfeln. Lukas sah schemenhafte Gestalten zwischen den Bäumen umherwandern.

Langsam wich er zurück.

Und trat auf die Bimssteinfigur.

»Aua!« Er ging in die Knie und hob den kleinen Elefanten auf. »Ich habe mir das nicht eingebildet.«

Er rannte zu seinem Bett und zog den Rucksack hervor. Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass alle überlebenswichtigen Utensilien darin verstaut waren. Schnell schlüpfte er in Jeans, Hoodie und Turnschuhe.

Auf dem Weg nach unten registrierte er verblüfft, dass trotz des Lärms niemand wach geworden war. Normalerweise hatte seine Mum einen leichten Schlaf. Doch aus dem Zimmer seiner Eltern drangen sanfte Schnarchgeräusche.

So schnell es ging, schlich er die Treppe hinab. Unten angekommen nahm er den Haustürschlüssel, warf die Tür hinter sich ins Schloss und flitzte um das Haus herum in den Garten.

Der Wind hatte aufgefrischt. Es raschelte und knackte überall in dem Wäldchen. Irgendwo sang jemand ein Lied. Es war lustig und unbeschwert, durchsetzt mit traurigen Stellen.

»Was geht hier nur vor?«, murmelte Lukas, während er durch das Wäldchen hetzte.

Er überquerte das Feld im Eilschritt, benutzte die kleine Brücke nicht, sondern sprang einfach auf die andere Seite. Schon stand er vor dem Wald.

Was er von seinem Fenster aus gesehen hatte, war hier noch deutlicher. Es schien, als sei das Unterholz zum Leben erwacht. Überall waren Geräusche, bewegten sich Zweige, tanzten Lichter umher. Am Boden wallte Nebel auf, umgab die Baumgrenze wie ein schützender Ring.

Lukas machte einen Schritt hinein.

Als habe jemand einen Schleier fortgezogen, leuchteten die Farben des Waldes um ihn herum auf. Auf der Umgebung lag ein beständiger Schein, der die Dunkelheit vertrieb. Laubgeruch stieg in seine Nase, irgendwo plätscherte es. Stimmen drangen an sein Ohr. Eine Gruppe von Personen sprach, doch er sah niemanden.

Verblüfft stellte Lukas fest, dass hinter ihm ein seltsames Wabern die Luft verzerrte. Als habe jemand eine Barriere aus Milchglas um den Wald gezogen. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Auf der anderen Seite spürte er kalte Nachtluft.

Doch er wollte nicht zurück.

Dieses seltsame Wesen mit der Knubbelnase hatte sein Buch gestohlen und obendrein die Figuren seiner Mum. Vermutlich befand sich in dem Sack noch mehr Diebesgut.

Lukas ging vorsichtig weiter.

Wo am Tag zuvor dichtes Geäst und Sträucher gewachsen waren, erkannte er jetzt Dutzende Pfade, die sich durch das Unterholz schlängelten.

Versuchshalber hielt Lukas sich die Nase zu, schloss den Mund und versuchte, trotzdem zu atmen. Es funktionierte nicht. Er hatte einmal gelesen, dass man auf diese Art prüfen konnte, ob man träumte. Denn in einem Traum bekam man weiterhin Luft.

Das alles hier musste also echt sein.

Er erinnerte sich an den verblüfften Ausdruck im Gesicht des Wesens und den Ausruf: »Du kannst mich sehen.« Wieso war die Kreatur darüber so entsetzt gewesen? Und wie war sie durch das Glas gesprungen?

Mit einem Mal wirkten die Mixturen des verschwundenen Professors gar nicht mehr so verrückt auf Lukas. Ein wenig von dem blauen Pulver klebte ihm noch immer in den Haaren. Das Zeug war verdammt anhänglich. Ob das etwas mit allem zu tun hatte?

Er kletterte über eine Wurzel. Eine Schar seltsam anmutender Vögel flatterte über ihm vorbei und verschwand zwischen den Baumwipfeln. Er hätte schwören können, dass sie sich unterhielten. Und hörte er da nicht Hufgetrappel? Der Wald kam ihm vor wie eine Stadt, die am Tag schlief und bei Nacht unbemerkt von den Menschen zum Leben erwachte.

Beinahe hätte er die Figur übersehen.

Lukas bückte sich und hob die Bimssteinfigur auf. Die Giraffe. Er nahm einen der Handschuhe aus seinem Rucksack – die benötigte er momentan sowieso nicht – und steckte sie hinein. Der Dieb musste hier vorbeigekommen sein. Wenn er noch mehr Gegenstände verlor, würde er eine Spur hinterlassen, der Lukas folgen konnte.

Mit neu erwachtem Eifer lief er weiter. Es ging in eine Senke hinab und wieder hinauf, direkt durch das gewaltige Wurzelwerk eines Baumes. Staunend blickte Lukas auf das Gebilde aus dichtem Geäst und natürlich gewachsenen Höhlen. Hoch über ihm raschelte es, winzige Pfoten kratzten auf dem Holz.

Er versuchte, etwas zu erkennen, doch die Blätter verbargen die Sicht.

»Hallo?«

Das Rascheln stoppte.

Lukas wartete einen Moment, dann ging er weiter. Oder genauer: Er wollte weitergehen. Etwas surrte, Äste schossen aus dem Erdreich, verformten sich zu einer Gitterkugel und schlossen ihn darin ein. Wie von Zauberhand schwebte sein Gefängnis in die Höhe, bis es einen Meter über dem Boden zum Stillstand kam.

Wieder erklang das Kratzen von Pfoten. Zwischen den Blättern des Baumes wurde braunes Fell sichtbar. Mit einem gewaltigen Satz landete eine Kreatur vor ihm. Verdutzt starrte Lukas sie an.

»Faszinierend«, sagte das Wesen.

Ich verlange meine drei Wünsche!

Was da am Boden saß und zu Lukas in seinem schwebenden Gefängnis aufblickte, sah aus wie ein Biber. Das Wesen besaß flauschiges Fell, eine Knubbelschnauze sowie zwei kleine Ohren. Im Gegensatz zu seinen gewöhnlichen Artgenossen saß jedoch eine Brille auf der Schnauze des Winzlings. Zudem hielt er in zwei Pfoten, die je fünf Finger besaßen, ein Büchlein. Sein Schwanz ringelte sich in die Höhe und hielt einen Stift umschlungen, mit dem er Notizen in das Buch schrieb.

»He! Lass mich runter!«, forderte Lukas.

Das bebrillte Wesen watschelte auf seinen beiden Hinterpfoten aufrecht von links nach rechts und blickte in die Höhe. »Ganz fabelhaft. Ein Mensch. Eindeutig.«

»Ich bin Lukas.«

»Er spricht. Die Größe lässt auf ein Baby im frühen Entwicklungsstadium schließen.« Das Wesen räusperte sich. »Ich verlange, dass du meine drei Wünsche erfüllst.«

»Aha.«

»Gering ausgeprägter Wortschatz«, notierte der Brillenträger. »Das scheint meine Theorie zu bestätigen, dass Menschen lediglich essen, schlafen und durch ihre Betonstraßen wandern.« Das Wesen verstaute den Stift in einer Felltasche, ebenso das Notizbuch. »Wirst du mir meine drei Wünsche erfüllen, Mensch?«

»Drei Wünsche?«

»In der Tat. Die Legende besagt, dass ein gefangener Mensch das tun muss. Mein Name ist Rani, von der Gattung der Menoks. Und ich verlange, dass du deiner Pflicht nachkommst.«

»Hör mal, das ist alles ein Missverständnis«, erklärte Lukas. »Ich bin neu hierhergezogen. In das Haus am Waldrand. So ein komischer Kauz mit Knollennase und blauem Haar hat bei mir eingebrochen und ein paar Figuren geklaut, die meiner Mutter sehr wichtig sind. Und ein Buch.«

Der Menok nickte wissend. »Bestimmt einer der Bolde.«

»Bolde? Kobolde?«