Food Code - Olaf Deininger - E-Book

Food Code E-Book

Olaf Deininger

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Beschreibung

Die digitale Revolution ist auf unseren Tellern angekommen. Egal ob Lieferapps, selbstfahrende Erntemaschinen oder unser Abendessen auf Instagram, digitale Technologie bestimmt heute nicht nur, wie wir zu unserem Essen finden, sondern auch wie Lebensmittel angebaut, geliefert und gekocht werden. Arbeitet der Bauer in Zukunft noch auf dem Feld, kochen wir noch selbst, oder erledigen Roboter das für uns? Olaf Deininger und Hendrik Haase recherchieren in den Laboren der Industrie, den Thinktanks der Hochschulen und in den Garagen von Food-Startups, sie schauen durch die Hintertüren der Tech-Giganten und in die Geister-Küchen der neuen Lieferdienste. Sie kaufen im voll vernetzten Supermarkt der Zukunft ein und lassen mit der Landwirtin von morgen autonome Drohnen ­über dem Acker steigen. Sie zeigen, wie die digitale Technologie unsere Lebensmittelwelt veränder, und stellen die Chancen, aber auch die Gefahren dieser tiefgreifenden Veränderung dar.

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Über das Buch

Digitalisierung und künstliche Intelligenz revolutionieren die Art, wie wir Lebensmittel erzeugen, verteilen, kaufen und genießen. Ein faszinierender Blick in eine neue Esskultur und die Zukunft auf unseren Tellern. Die digitale Revolution ist auf unseren Tellern angekommen. Egal ob Lieferapps, selbstfahrende Erntemaschinen oder unser Abendessen auf Instagram – digitale Technologie bestimmt heute nicht nur, wie wir zu unserem Essen finden, sondern auch wie Lebensmittel angebaut, geliefert und gekocht werden. Arbeitet der Bauer in Zukunft noch auf dem Feld, kochen wir noch selbst, oder erledigen Roboter das für uns? Olaf Deininger und Hendrik Haase recherchieren in den Laboren der Industrie, den Thinktanks der Hochschulen und in den Garagen von Food-Startups, sie schauen durch die Hintertüren der Tech-Giganten und in die Geister-Küchen der neuen Lieferdienste. Sie kaufen im voll vernetzten Supermarkt der Zukunft ein und lassen mit der Landwirtin von morgen autonome Drohnen über dem Acker steigen. Sie zeigen, wie die digitale Technologie unsere Lebensmittelwelt verändern, und stellen die Chancen, aber auch die Gefahren dieser tiefgreifenden Veränderung dar.

Die Autoren

Olaf Deininger, geb. 1963, ist Wirtschaftsjournalist, Digitalexperte und schreibt für führende Tageszeitungen, Wirtschaftsmagazine sowie Fachmedien über Food, Medien, neue Technologien und Künstliche Intelligenz. Er lebt am Bodensee.

Hendrik Haase, geb. 1984, ist Publizist, Kommunikationsdesigner, Berater, Keynote-Speaker und leidenschaftlicher Genießer. Er gilt als einer der bekanntesten Foodaktivisten des Landes und lebt in Berlin.

Olaf Deininger | Hendrik Haase

FOODCODE

Wie wir in der digitalen Welt die Kontrolleüber unser Essen behalten

INHALT

Vorwort

Kapitel 1 – Am Tisch

Abendessen mit Alexa

Satt machende Pulver aus dem Web

Wenn die DNA-App den Speiseplan bestimmt

Das Internet der Körper

Eine neue digitale Esskultur

Die kulinarische Kirche namens Instagram

Kapitel 2 – In der Küche

Die neuen vernetzten Küchengeräte

Der Mixer macht Data-Mining

Die Pod-People und ihre Do-it-yourself-Machines

Künstliche kulinarische Intelligenz

Kapitel 3 – Auf dem Acker

Mit Terminator auf Schneckenjagd

Acker-Tipps aus dem Weltall

Autonome Ernte: Wenn Roboter besser pflücken können

Das Fitness-Halsband für die Kuh

Ein Mehltau aus Daten

Kapitel 4 – Lebensmittelproduktion

Die New-Food-Economy

Das Steak aus dem 3-D-Drucker und die neue Welt der Proteine

Schmeckende Maschinen

Der Traum vom Ende des Einheitsbreis

Die Lebensmittelhandwerker 2.0 – Teamwork mit Kollege Roboter

Kapitel 5 – Im Restaurant

Social-Media-Licht am Blogger-Tisch

Der Food-Truck in der Cloud

Das Restaurant am Ende der Industrialisierung

Ghost-Kitchens – wenn das Restaurant zu mir kommt

Restaurant-KI und die Wahrheit der Bilder

Kapitel 6 – Handel und Logistik / Im Lieferwagen / Unterwegs

Der Online-Bauernmarkt per Lichtgeschwindigkeit zum Kunden

Zu Besuch im Messie-Lager der Roboter

Prekäre Pizza-Boten und das Problem der letzten Meile

Wenn die Drohne Kuchen bringt

Blockchain und das neue Transparenz-Versprechen der Lieferkette

Wenn IBM weiß, wann dein Magen knurren wird

Kapitel 7 – Im Einkaufswagen

Personalisiert und kuratiert – Der Supermarkt als dritter Ort

Virtual Reality im Einkaufswagen

Wenn der Supermarkt wie Netflix funktioniert

Der Wochenmarkt auf dem Smartphone

Der Barcode schlägt zurück

Kapitel 8 – Die digital-globale Ess-Gesellschaft

Welternährung per App: Die neue Weltordnung der Kalorien

FoodTech for Africa

Die Versprechen hungriger Datensammler

Brauchen wir Big Brother, um die Welt zu retten?

Kapitel 9 – Der Weg in eine genießbare Zukunft

New Food Work: Die Chance auf kulinarische Kreativität

Wie wir in der digitalen Welt den Spaß am Essen nicht verlieren

Wie wir die Kontrolle über unsere Lebensmittel bekommen und behalten

Regulierungsbedarf im Internet of Food

Großer Dank

Bücher

VORWORT

Es war eine 10er-Packung Kaugummi: Geschmacksrichtung »fruchtig-süß«. Am 26. Juni 1974 um 8:01 Uhr scannte die Supermarktkassiererin Sharon Buchanan in der Kleinstadt Troy im US-Bundesstaat Ohio den ersten Strichcode auf einem Lebensmittelprodukt. In der Nacht zuvor hatten Techniker und Ingenieure den ersten Prototypen eines Barcode-Scanners in ihre Kasse eingebaut. Nach dem ersten Kassen-Piepton der Geschichte erschien der Preis: 69 Cent.

Heute, fast fünfzig Jahre später, erscheint vielen die Verbindung von Essen und digitaler Technologie auf den ersten Blick immer noch fremd. Dabei tauchen inzwischen selbst auf unverpackten Lebensmitteln kleine Codes auf, sei es auf den Eiern am Frühstückstisch oder auf den Bananen im Obstregal. Nach dem Smartphone-Scan versprechen uns kleine QR-Codes, mehr über die Herkunft und den Anbau unserer Lebensmittel zu verraten. Ganz selbstverständlich posten wir abends die vollen Teller in unserem Lieblingsrestaurant bei Instagram oder teilen an Weihnachten stolz das Festessen per Messenger in der größeren Familiengruppe.

Überall dort, wo heute die Technologie entwickelt wird, die viele Teile unserer Lebenswelt prägt – in den Konzernzentralen von IBM, Amazon, Google oder Alibaba –, interessiert man sich brennend für die digitale Zukunft unserer Lebensmittelwelt. Genauso wie in den Innovationsabteilungen großer Supermarkt- und Handelsketten. Tausende von Food-Start-ups, haben sich in den letzten zehn Jahren rund um den Globus gegründet – auch sie wollen die Food-Welt neu gestalten. Wir müssen uns fragen: Interessieren wir uns genauso brennend dafür, was dieser technologische Wandel mit unserem Essen macht?

Während wir diese Zeilen im Dezember 2020 schreiben, beginnt in Deutschland der zweite Lockdown. Und dieses Ausnahmejahr hat uns allen deutlich gemacht, wie eng die beiden Welten Lebensmittel und Technologie bereits miteinander verflochten sind. Millionen Bundesbürger stehen wieder öfter in der eigenen Küche und lernen Kochen mit den Tutorials auf YouTube. Die Zeit, die Menschen mit der Online-Suche nach Hofläden oder Lebensmittel-Lieferdiensten verbringen, ist sprunghaft angestiegen. Landwirte entwickelten in kürzester Zeit Onlineplattformen zur Erntehelfersuche. Gastronom* innen kreierten digital konfigurierbare Kochboxen, stiegen ins Online-Liefergeschäft ein und boten Unterstützung beim Kochen via Livestream. Viele von uns stellten fest, wie praktisch und einfach es ist, sich mithilfe von App und Laptop gut und nachhaltig zu versorgen.

Wir haben aber auch überlastete digitale Strukturen erlebt, die mit einer veränderten Nachfrage nicht mehr zurechtkamen. Wir sehen digital Benachteiligte, die an dieser »schönen neuen Welt« nicht teilhaben können, und Menschen, die im Liefergeschäft für unseren Komfort unverhältnismäßig schuften müssen. Viele Bürger*innen, aber auch Unternehmer*innen mussten feststellen, wie abhängig sie bereits von digitalen Giganten geworden sind, die als die Gewinner aus dieser Krise hervorgehen werden.

Es lohnt sich also, in den Motorraum der digitalen Maschinerie zu schauen, die den Wandel auf unseren Tellern antreibt. Der erste Computer der Welt, den Konrad Zuse 1941 in Berlin-Kreuzberg zum Laufen brachte, nahm mit seinen Schaltkreisen und Kabeln noch ein ganzes Zimmer seines Elternhauses ein. Damals war es noch offensichtlich, wenn man »im Computer« war. Er war begehbar. Im heutigen Smartphone-Zeitalter sind wir ständig online, umgeben von Daten, die permanent und überall erzeugt, verarbeitet, mit anderen Daten ergänzt und angereichert, zusammengesammelt und analysiert werden. Die Geräte verschmelzen mit unserem Alltag. Die Rechenoperationen dahinter werden dagegen immer unsichtbarer, passieren im Verborgenen und außerhalb unserer Wahrnehmung. Die Ergebnisse dieser mathematischen Berechnungen erscheinen auf den ersten Blick neutral. Doch sie bestimmen in Wahrheit unser Leben immer stärker.

Wir haben uns für dieses Buch umgeschaut: Wo sind entlang der Lebensmittelkette vom Acker bis auf unsere Teller schon heute künftige Technologien im Einsatz und wo werden sie erprobt? Wo stehen die Garagen, in denen Gründer*innen und Tüftler*innen an Zukunftstechnologien unserer Lebensmittelwelt arbeiten? Wie funktionieren diese neuen Algorithmen, wie arbeitet die künstliche Intelligenz der New-Food-Economy, und wie beeinflusst sie unseren Appetit und unsere Esskultur?

Was wir gesehen haben, ist ein grundlegender Wandel – in der Art, wie wir uns ernähren, wie wir Lebensmittel herstellen, verarbeiten, vertreiben und konsumieren. Neue Technologien, Digitalisierung, eine Gründungswelle und eine Generation von jungen Konsument*innen und Gründer*innen, die sich nicht mehr um alte Denkmuster scheren, prägen diesen Wandel. Vieles mag noch fern oder wie Scien ce-Fiction erscheinen – obwohl es längst Realität ist. Anderes ist bereits unbemerkt in unseren Alltag gesickert und bedarf dringend unserer Aufmerksamkeit.

Es gibt viele Gründe zur Hoffnung: Wir sehen neue Technologien, neue Möglichkeiten, Chancen, unser Lebensmittelsystem nachhaltiger, fairer und leckerer zu machen.

Es gibt aber auch Gründe zur Sorge: Wir sehen neue Herausforderungen und Probleme, die wahrgenommen, besprochen, angegangen und gelöst werden müssen.

Wir glauben, dass man den tief greifenden Wandel, der in unserer Lebensmittelwelt geschieht, nur dann verstehen kann, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes über den Tellerrand hinausschaut, die technologischen ›Zutaten‹ hinterfragt und mit denen spricht, die am bunten Zukunftsmenü mitkochen. Denn es betrifft uns am Ende alle.

Die tief greifenden Veränderungen können schneller auf unserer Gabel ankommen, als wir denken. Deshalb sehen wir jetzt den richtigen – und im ungünstigsten Fall vielleicht den letzten – Zeitpunkt, um über wegweisende Richtungsentscheidungen dieser Entwicklungen zu sprechen. Geht es um eine Dystopie vom Untergang? Geht es um die Utopie eines Schlaraffenlandes, das sich von selbst einstellt? Oder geht es um einen gemeinsamen, demokratischen Prozess? Vielerorts herrscht Sprachlosigkeit: Viele Institutionen wollen nicht aus ihren tradierten Denkmustern heraus, unterschätzen oder verkennen die neuen Möglichkeiten. Damit droht, dass wir in Deutschland vom internationalen Diskurs abgehängt werden und am Ende die Kontrolle über unser Essen verlieren. Dieses Buch ist daher ein Anfang. Für eine bessere und genießbare Zukunft, in der wir souverän bleiben und »gutes, nachhaltiges und faires Essen für alle« möglich wird.

Wir wünschen guten Appetit und eine anregende Lektüre.

Berlin, Bodensee, 15. Dezember 2020

HENDRIK HAASE | OLAF DEININGER

KAPITEL 1

AM TISCH

# Abendessen mit Alexa # Satt machende Pulver aus dem Web # Wenn die DNA-App den Speiseplan bestimmt # Das Internet der Körper # Eine neue digitale Esskultur # Die kulinarische Kirche namens Instagram

»Bier vor vier« ist ein Skill von Alexa Echo. Man kann ihn auf der Website von Amazon aktivieren. Dann beantwortet der intelligente Lautsprecher die Frage, ob man heute schon ein Bier trinken kann. Das darf man – wenn es nach vier Uhr ist. Etwas komplexer ist dagegen der Skill »Noblego Zigarrenmatching«. Wer diesen Skill aktiviert, kann sich am Tisch sagen lassen, welche Zigarre zum jeweiligen Getränk im Glas passt. Auch »Superfood« ist ein Skill, den man laden kann. Dann erklärt Alexa die Vorzüge von Chia-Samen, Açaí-Beeren oder Moringa-Pulver. Vorausgesetzt man fragt. Wer dagegen wissen möchte, welcher Wein zum Essen vor einem auf dem Teller passt, kann sich ebenfalls bei Alexa erkundigen. Vorausgesetzt, er hat den Skill »Weinbegleitung« geladen.

Abendessen mit Alexa

Nicht nur die Entwickler von Apps für Sportlerernährung oder Rotwein arbeiten gerade daran, ihre Inhalte und Services auf digitalen und akustischen Plattformen wie Alexa Echo oder Siri von Apple verfügbar zu machen. Wer etwa auf der Suche nach dem perfekten Abendbrot ist, kann Alexa auch nach dem »besten Bäcker in der Nähe« fragen. Die Stimme aus der schwarzen Säule nennt dann drei Bäckereien zur Auswahl und fragt, ob sie einen »hinbringen« darf. Wer antwortet, bekommt die genaue Wegbeschreibung zum gewünschten Bäcker auf sein Smartphone gesendet. Für diese Vorschläge greift Alexa auf die Daten des Empfehlungsportals Yelp zu und auf Bing, die Suchmaschine von Microsoft.

Auch die Lebensmittelindustrie, der Lebensmitteleinzelhandel, die Systemgastronomie, Restaurantketten und viele einzelne Gastronomen möchten auf Alexa verfügbar sein.

Noch nie haben wir so viel über unsere Nahrungsmittel gewusst. Und noch nie war es so einfach, mehr über das zu erfahren, was bei uns auf den Tellern liegt. Und diese Entwicklung hat erst begonnen. Denn künftig werden wir noch mehr über unser Essen wissen – und wissen können: Herkunft, Eigenschaften, Haltbarkeit, Herstellung, Zusatzstoffe, Verarbeitung, Transportwege, Transportmittel und deren Energieverbrauch. Diese Informationen stehen dann nicht etwa erst nach langwieriger und aufwendiger Recherche zur Verfügung, son dern praktisch sofort: per Alexa, Siri, mit dem Smartphone und einer Vielzahl von Apps.

Und auch unsere Lebensmittel selbst kommunizieren heute schon zunehmend untereinander, wie wir in diesem Buch zeigen werden. Auf dem Weg vom Acker bis zum Teller, in der Lebensmittelindustrie und in der Weiterverarbeitung, auf dem Laster oder Lieferwagen, im Laden, Kühlschrank und auf dem heimischen Esstisch hinterlassen die Lebensmittel digitale Spuren, geben Daten ab, nehmen Daten auf und verarbeiten Signale. Per RFID- oder mit anderen Funk-Chips, mit digitalisierter DNA, gesteuert und überwacht von Rechenverfahren wie etwa der sogenannten Blockchain, die heute schon viele Prozesse in der Herstellungs-, Verarbeitungs- und Lieferkette begleiten, und mit Systemen, welche den Verkauf mittlerweile erstaunlich präzise vorhersagen können.

Noch nie waren Essen und Ernährung aber auch so starken »Moden« unterworfen wie heutzutage. Vegetarisch, vegan oder doch lieber Fleisch? Und noch nie war die Ernährung ein so starkes Distink tionsmerkmal, wie die Soziologen sagen.

Auch das Wissen über unseren Körper, wie er funktioniert, was ihm guttut und was nicht, welche Folgen unsere Wahl der Nahrungsmittel und Ernährungsstile für ihn haben – all dieses Wissen stand den Menschen noch nie in so großem Umfang zur Verfügung. Und: Es war noch nie so allgemein verbreitet. Know-how über richtige oder falsche Ernährung ist heute Allgemeinwissen. Und auch dafür schufen digitale Hilfsmittel die Grundlage.

Was auf den Tisch kommt, was wann gegessen und wie es bewertet wird, was sich zum Trend entwickelt und was nicht, darüber lassen heute immer mehr Menschen elektronische Hilfsmittel entscheiden: Fitness-Apps regeln den Tagesablauf und die Essenszeiten, die Wahl der Lebensmittel und die Mengen auf dem Teller. Food- Tracker entscheiden, welches Nahrungsmittel gerade am besten zur aktuellen Lebens- und Leistungsphase passt. Instagram-Kanäle von Influencern präsentieren schicke Gerichte oder kulinarische Neuentdeckungen. Und Food-Blogs erklären, wo man außerhalb der eigenen vier Wände unbedingt gegessen haben muss.

Im Jahr 2018 kaufte Amazon die Online-Apotheke PillPack. Im Sommer 2020 brachte der eCommerce-Riese das Armband Halo auf den Markt, das seine Träger rund um die Uhr beobachtet. Wie die Konkurrenzprodukte von Xiaomi, Fitbit oder die Apple-Watch misst das Armband, das zur Produktgruppe der sogenannten Wearables (steht für »kann am Körper getragen werden«) zählt, Herzfrequenz, Hauttemperatur und Schritte. Wer einen Account erstellt und nicht widerspricht, dessen Daten werden automatisch ausgewertet.

Zusätzlich soll Halo den Körperfettanteil berechnen können. Für diese Bodyscan-Funktion muss man mit der Halo-App auf seinem Handy ein Ganzkörperbild in Unterwäsche oder ganz ohne aufnehmen, das die App dann auswertet. Dazu lädt das Programm die Bilder für die Körperfettanalyse auf den Server von Amazon hoch, wo sie aber nach Angaben des Unternehmens nach der Verarbeitung gleich wieder gelöscht werden. Inzwischen simuliert das Programm, wie man mit fünf oder zehn Kilogramm Körperfett weniger aussähe.

Ein Mikrofon erfasst außerdem die Stimme, eine Software analy siert beim Sprechen, in welcher Stimmung sich der Träger gerade befindet. Das kann entscheidend dafür sein, wann man etwa für Werbung empfänglich ist. Oder wann bestimmte Werbung besonders wirksam ist. Es lässt Rückschlüsse zu, ob man beim Genuss am Tisch wirklich Freude hat. Bisher gibt es Halo noch nicht frei zu kaufen. In ter essierte müssen das Armband per E-Mail beantragen und einge laden werden. Das geht bisher nur in den USA.

Über 368 Millionen Wearables sollen laut Statista, dem Onlineportal für Wirtschafts- und Marktdaten, im Jahr 2020 weltweit verkauft worden sein. Für das Jahr 2024 sagt das Portal einen Absatz von 527 Millionen Stück voraus. Der größte Umsatz wird in China erwartet. Ein Massengeschäft.

Als Fitness-Apps gelten dagegen kleine Programme, die entweder auf dem Smartphone oder eben auf dem Wearable installiert sind und Körperdaten einlesen und verarbeiten. Auch ohne direkten Kontakt zum Körper erkennen Fitness-Apps auf dem Handy etwa, ob gegangen, gerannt oder geradelt wird, ob der Nutzer gerade eine Treppe steigt oder im Wohnzimmer sitzt. Viele Wearables übertragen mit dem Mini-Funknetz Bluetooth ihre gemessenen Daten an die App auf dem Smartphone. Im Jahr 2019 nutzten in Europa laut Statista bereits rund 126 Millionen Menschen eine Fitness-App. In China waren es im gleichen Zeitraum 280 Millionen Menschen. In den USA, der Nation mit den weltweit meisten Übergewichtigen, immerhin 92 Millionen. Bis 2024 soll die Zahl der Nutzer in den USA auf 100 Millionen, in Europa auf 154 Millionen und in China auf 323 Millionen steigen, berichtet das Onlineportal für Wirtschafts- und Marktdaten Statista im Januar 2020.

»Studien haben gezeigt, dass Apps zur Ernährung und Gewichtsabnahme zusammen mit Fitnesstracking-Apps bei denjenigen, die Gesundheits-Apps verwenden, am beliebtesten sind. Ein Nielsen-Marktforschungsbericht über die Verwendung tragbarer Geräte zur Selbstkontrolle in den USA ergab, dass Frauen häufiger als Männer Diät- und Kalorienzähl-Apps verwenden«, schreibt die australische Soziologin Deborah Lupton in ihrer Veröffentlichung »›I Just Want It to Be Done, Done, Done!‹ Food-Tracking-Apps, Affects, and Agential Capacities«.

Die kleinen digitalen Helfer übernehmen immer mehr die Regie und versprechen mit dem richtigen Lebensmittel zur richtigen Zeit mehr Gesundheit, mehr Fitness, mehr Leistungsfähigkeit, besseres Aussehen, attraktivere Erscheinung, ein glücklicheres Leben.

Lebensmittelindustrie und Lebensmitteleinzelhandel haben erkannt, dass diese Programme künftig für ihr Geschäft wichtig werden können. Wenn die App schon sagt, was man essen sollte, warum Lebensmittel nicht gleich in der App an Ort und Stelle verkaufen? Wenn Ernährungs-Apps zum Massenmarkt werden, dann auch das Einkaufen im Fitness-Programm. Oder mit Alexa oder Siri. Denn die digitale Verarbeitung von gesprochenem Wort ist relativ simpel: eine Spracherkennung verwandelt die Töne in geschriebenen Text. Der wird verarbeitet. Als Ergebnis entsteht ebenfalls ein schriftlicher Text. Eine Sprachgenerierung liest diesen Text vor. Schon bald verfügt Alexa über alle Fähigkeiten und den gesamten Wortschatz, den sie braucht, um eine umfassend gebildete, wissende und vielleicht auch kluge, in jedem Fall aber geschäftstüchtige Gesprächspartnerin oder Assistentin abzugeben – mit einer hohen kommerziellen Eigeninitiative: »Soll ich das optimale Gemüse für dein Trainingsprogramm bestellen?«

Und da die Programme ein gutes Gedächtnis haben und praktisch kein Detail vergessen, fallen ihnen ganz automatisch Regelmäßigkeiten auf, die sie dann einfach in gut gemeinte Vorschläge umsetzen: »Soll ich dir eine Pizza bestellen? Du bekommst um 18:00 Uhr doch immer Hunger. Und ich habe mir gemerkt, dass ich dir in den letzten drei Jahren meistens am Dienstag eine Pizza bestellen durfte. Und heute ist Dienstag und es ist gleich 18:00 Uhr …« Wer kann so ein Angebot schon abschlagen? Und je länger man das Werkzeug nutzt, desto besser kann es auch vorhersagen, was geschehen wird: »Deinen Daten nach zu urteilen, wirst du heute um 18:10 Uhr Hunger bekommen – also in zwei Stunden. Soll ich schon mal …?«

Satt machende Pulver aus dem Web

Im Jahr 2013 beschloss der US-amerikanische Softwareentwickler Rob Rhinehart, keine normalen Lebensmittel mehr zu essen. Er wollte seine persönliche Ernährung als ein rein technisches Problem angehen und ein zeitsparendes Ernährungsprodukt für seinen Körper entwickeln. Eine Art Astronautennahrung, die alles enthält, was sein Organismus braucht. Als Grundlage dafür diente die offizielle Ernährungsempfehlung des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten (USDA). Nach diesen Vorgaben mischte er sich ein Pulver aus pflanzlichen Eiweißen wie etwa Sojamehl und Reisproteinen, aus Kohlenhydraten wie Maltodextrin, Vitamin-Präparaten und Ballaststoffen zusammen, das, mit Wasser zu einer Art Shake gemischt, seine einzige Nahrung sein sollte. Nach einigen Wochen stellte er fest, es reichte zum Leben und er fühlte sich gut dabei. Mit dieser Erfahrung, wonach er lediglich sein Konzentrat benötigte, um alle wichtigen Ernährungsbestandteile zu bekommen, gründete Rhinehart das Startup Soylent.

Rhineharts Pulvervollnahrung schuf damit nicht nur eine neue Produktgruppe, die heute Complete Food (CF) genannt wird. Er schuf damit auch einen neuen Massenmarkt und einen populären Lifestyle. Denn CF-Mahlzeiten sind im wahrsten Sinn des Wortes etwas für Erbsenzähler: Sie ermöglichen eine genaue Messung der jeweiligen Nährstoffe und damit eine genaue Kontrolle der Nahrungsaufnahme. Genau richtig für ihre Fans. CF-Mahlzeiten reduzieren außerdem die Komplexität der Auswahl, den Einkauf und die Zubereitung auf ein Minimum. Es genügt das Anrühren mit Wasser. Das findet gerade unter dauergestressten und am Computer arbeitenden Menschen großen Anklang. Complete Food ist das ultimative Fast Food: technologisch optimiert, zeitsparend, billig, unkompliziert. Getreu dem Motto: Ich muss mich um nichts mehr kümmern, denn es ist ja alles enthalten, was man braucht.

An Rhineharts Startup ist heute unter anderem die Firma GV, die Risikokapitalgesellschaft von Googles Mutterkonzern Alphabet, als Investor beteiligt. Wettbewerb gibt es auch schon: das von dem Briten Julian Hearn gegründete Startup Huel (steht für »Human + Fuel«, also Mensch + Treibstoff), das französische Startup Feed und Yfood aus Deutschland.

Die Studie zu Complete Food von Markéta Dolejšová »From Silicon Valley to Table: Solving Food Problems by Making Food Disap pear« sowie ein Selbstexperiment der tschechischen Forscherin kommen zu dem Ergebnis: »Complete Foods lehnen das als ungenau und emotional beeinflussbar betrachtete Bauchgefühl ab und folgen stattdessen der Idee, Brennstoff für den Verdauungstrakt zu sein, der auf exakten Daten basiert.« Diese Trinkmahlzeiten sind ein Beispiel für »Nutritionism«: die reduktionistische Sichtweise von Nahrung als eine Summe von Nährstoffen. Lebensmittel, Kochen, Essen sind aber komplexe Vorgänge, die soziale und kulturelle Bedeutung haben.

Auf Online-Vergleichsportalen wie etwa Blend Runner tauschen sich die Nutzer von CF über die ideale Zusammensetzung und Wirkung von Pulvernahrung aus. Man kann auf solchen Plattformen aufs Gramm genau die Rezepturen vergleichen und in Rankings nachvollziehen, welche Version derzeit als die beste von den Online-Fans bewertet wird. Ganz oben rangieren etwa »Plenny Shake v2.1« aus den Niederlanden und »Ruffood RTD v3.5« aus China.

Denn abgeglichen werden die Zusammensetzungen der Cocktails mit den persönlichen Selbstüberwachungsdaten der Fitness- und Gesundheits-Apps der Nutzer. Markéta Dolejšová stellt dazu fest: »Die Online-Weitergabe von persönlichen Körperdaten ist ein üblicher Bestandteil quantifizierter Ernährungspraktiken. Statt offizieller Lebensmittel- und Gesundheitsempfehlungen bevorzugten die Anhänger von CF datengestützte Nachweise, die durch ihre diätetischen Selbstversuche und Peer-to-Peer-Fehlersuche gewonnen wurden.«

Wenn die DNA-App den Speiseplan bestimmt

Die Analyse der Daten aus Tracking-Apps und aus Selbstversuchen mit unterschiedlichen Rezepturen sind dabei nur zwei Verfahren, um eine rationale und mathematisch quantifizierbare Rohstoff-Zusammenstellung für eine optimale, aber unkomplizierte Vollwerternährung zu erreichen. Eine Analyse der Darmflora und ihrer Mikroben bieten Startups wie etwa Viome, UBiome, Day Two und MyMicrobes an. Zu Beginn des Abonnements dieser digitalen Dienste schickt man eine Stuhlprobe ein, die analysiert wird. Auf Basis dieser Daten erstellen die Algorithmen der Startups dann einen individuellen, an die Verdauung angepassten Ernährungsplan und senden diesen persön lichen Food Code dann an die zugehörige App.

Andere Startups, wie etwa Atmo Biosciences im australischen Melbourne, nehmen mit einer »Atmo Capsule« Messungen im Körperinneren vor: »Unsere schluckbare smarte Pille ist die weltweit erste patentierte Lösung zur genauen Profilierung der Gase im Darm«, sagt Geschäftsführer Malcolm Hebblewhite. Die Kapsel erkennt und meldet unterschiedliche Gaskonzentrationen in Echtzeit, die als Indikator für bestimmte Krankheiten dienen, in der Welt der Experten »Biomarker« genannt. Das autonome Diagnosewerkzeug soll etwa Reiz darmsyndrome, chronisch-entzündliche Darm erkran kun gen, krankhafte Kohlenhydratabsorption und Kohlenhydratunverträglichkeiten erkennen können.

Auch die eigene DNA kann als Grundlage dienen, um eine optimale Ernährung zu definieren. Anbieter wie zum Beispiel 23andme, DNAfit oder Habit bieten »Lifestyle-DNA-Analysen« von eingesandten Speichelproben an. Wie tief die Analyse gehen soll, ob nur die Anfälligkeit für Übergewicht oder die Vitaminverträglichkeit getestet werden soll, hängt davon ab, wie viel der Kunde zu zahlen bereit ist. Die Ergebnisse kommen als digitale Daten direkt per App aufs Smartphone. Oder man bekommt von der Firma DNA Nudge gleich einen kompletten Einkaufsplan auf Genom-Basis: »Shop with your DNA«, lautet der Slogan. Ende 2019 konnten interessierte Londoner im Pop-up-Store des Startups DNA Nudge gleich vor Ort einen DNA-Schnelltest machen lassen, mit dessen Daten ein digitales Armband gefüttert wurde. Scannt man mit dem Gerät am Arm den Barcode von Lebensmittelprodukten ein, leuchtet eine kleine personalisierte Lebensmittelampel am Handgelenk rot oder grün auf – je nachdem, ob es laut Software zur DNA des Trägers passt oder nicht.

Wer dagegen der Ansicht ist, dass für die optimale Gesundheit eher Wirkstoffe von Pflanzen förderlich sind, der ist bei Brightseed an der richtigen Adresse. Das selbst ernannte »Google für Pflanzeneigenschaften« analysiert sogenannte Phytonährstoffe. Diese sekundären Pflanzenstoffe sind chemische Verbindungen, welche die Pflanze für sich selbst nicht braucht, die aber eine große Bedeutung für die menschliche Ernährung haben könnten – wissenschaftlich ist das noch nicht genau nachgewiesen: »Brightseed entstand aus der Überzeugung heraus, dass wir einen natürlichen und proaktiven Ansatz für Gesundheit brauchen und dass die verborgenen Nährstoffe der Pflanzen, die wir in unsere Ernährung aufnehmen können, der erste Ort sind, an dem wir suchen sollten«, sagen die Gründer. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und der Analyse von sehr großen Mengen von Gesundheitsdaten sucht Brightseed nach bislang unentdeckten Phytonährstoffen, die unsere Ernährung verbessern könnten.

Im Jahr 2007 gründeten die beiden amerikanischen Wired-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly die Website quantifiedself.com. Zunächst fanden sich dort einige Gleichgesinnte aus der Region um San Francisco zusammen, um ihre Self-Tracking-Erfahrungen online auszutauschen. In den folgenden Jahren entstanden auf der ganzen Welt weitere Quantified-Self-Gruppen. Seit 2011 finden internationale Konferenzen mit Anwendern, Entwicklern, Journalisten und Unternehmensvertretern aus der Gesundheitsbranche statt. In Deutschland existieren mittlerweile Gruppen in Aachen, Berlin, Hamburg, Köln, München und Stuttgart. Heute beschreibt sich The Quantified Self als ein Netzwerk aus Anwendern und Anbietern von Methoden und von Hard- und Softwarelösungen, mit deren Hilfe umwelt- und personenbezogene Daten aufgezeichnet, analysiert und ausgewertet werden können: »Wir haben ein gemeinsames Interesse an der Selbsterkenntnis durch Zahlen«, lautet das Credo dieser Bewegung. Ihre Vorstellung ist, dass der Mensch eine Art Maschine sei. Ganz so, wie es et liche Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert nahelegen. Darauf ist der Verdauungstrakt etwa als Fließband dargestellt, an dem Maschinen die Nahrung zerkleinern, andere Maschinen Nährstoffe aus dem Nahrungsbrei saugen, in Energie umwandeln und diese über ein Rohrsystem in den Kreislauf bringen, zu den Kraftzentren, den Muskeln.

Diese Vorstellung erlebte mit der Digitalisierung in technikaffinen Szenen und Communities ein Comeback – wenn auch in anderer Form: Der Körper ist zwar immer noch eine Maschine, aber eine intelligente, eine programmierbare und eine sensible, die optimiert werden müsse und durch das Betanken mit dem besten Treibstoff die effektivsten Ergebnisse liefert. Lebensmittel geben mehr oder weniger guten Brennstoff ab. Der Körper ist ein Überwachungs- und Optimierungsraum, den wir möglichst gut beobachten und einstellen müssen.

So versprechen viele neue digitale Produkte und auch etliche Web-Influencer Heilung oder zumindest einen »gesünderen Lebensstil«, einen Schutz vor Krankheit und eine Verlängerung des Lebens.

Nicht selten beinhaltet das Narrativ der neuen Digital-Unternehmer in diesem Bereich auch Heilungserlebnisse von mehr oder weniger schweren Krankheiten.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari spricht in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit von einer »Silicon Valley Religion« und »Silicon Valley Gurus«, für die der »Tod nur ein technisches Problem ist«, das gelöst werden kann: »Auf kommerzieller Ebene ist die Gesundheit der ultimative Markt. Andere Märkte sind endlich, sie sind erschöpfbar. Es gibt beliebig viele Autos, Schuhe oder Lebensmittel, die man besitzen kann. Aber Gesundheit ist ein unendlicher Markt – man kann nie genug davon haben.«

So entsteht ein neues Körperbild, und die Zahl der Menschen wächst, die sich und ihre Körper mithilfe von Daten aus DNA- oder Darmflora-Analysen, vernetzten Armbändern, Smartphones und an deren Gadgets selbst überwachen. Und ganz gleich, ob Fitness-, Diät- und Gesundheits-Apps die Menschen tatsächlich gesünder oder zufriedener machen, sie wachsen bei vielen regelrecht »am Körper oder am Leben fest«.

Studien der englischen Wissenschaftlerin Rachael Kent zeigen, dass die ständige Selbstüberwachung durch Gesundheits-Software und Fitness-Gadgets Angst und Suchtverhalten, Scham- und Schuldgefühle auslösen kann: »Der eigene Selbstwert hängt an Leistungsdaten, welche die App permanent ermittelt.«

Die Soziologin Deborah Lupton vermutet, dass Gesundheits-Food-Apps eine »Mensch-App-Assemblage« schaffen. Apps und Wearables werden damit »aktive Teilnehmer an der Ausprägung des Körpergefühls und Selbst-Bewusstseins«. Die Handlungskompetenz, also die Fähigkeit, sich in der heutigen Lebensmittelwelt zurechtzufinden, werde dabei auf zwei Akteure verteilt: den Menschen und seine App. Das Körperbild verändere sich, der Mensch vertraue den eigenen Sinnen, dem eigenen Bauchgefühl immer weniger, denn das erledige die Technik für ihn. Er entfremde sich von sich selbst.

Zudem zeigen die Untersuchungen von Lupton, dass die Regelwerke, Normvorgaben und Zielwerte vieler Fitness-Apps auf den »Werten« der wohlhabenden weißen Ober- und Mittelschicht der west lichen Welt basieren. Diese Gruppe wolle abnehmen oder zumindest ihr Gewicht halten und körperlich fitter werden. Nur diese Menschen haben überhaupt Zeit, die existierenden Apps mit den nötigen Informationen zu füllen. Wer diesem Körperideal nicht entspricht, wie etwa andere Ethnien, Vorerkrankte, Menschen mit einem anderen Körperbau oder mit anderen Werten, ist als Nutzer schnell frustriert. Und fühlt sich ausgegrenzt, im schlimmsten Fall diskriminiert.

Das Internet der Körper

Immer mehr Fitness-Apps, Wearables und Gadgets erheben und produzieren Daten: Bewegungsprofile, Anzahl von Schritten, erklommene Treppen, Aufwach- und Einschlafzeitpunkte, Schlafdauer, Biorhythmus, Herz- und Atemfrequenz, Stimmmodulation, verzehrte Nahrungsmittel, Kalorien, Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett. Angereichert werden sie um die digitalen Daten der Analysen unserer Darmflora und unserer DNA. Dazu kommt noch die Analyse dieser Daten: Das sind Zuwachs- und Schrumpfungsraten, Entwicklungen, Fortschritte. Außerdem Geodaten, Daten von Kontakten, Einkäufen, Transaktionen. So entstehen große Mengen vernetzter Gesundheitsdaten, die unsere digitalen Fitness-Helfer sammeln, ergänzen, ver arbeiten und abgeben.

Im ersten Schritt unterstützen sie den Nutzer vielleicht lediglich bei seiner Selbstoptimierung. In einem zweiten Schritt dienen sie möglicherweise dazu, sich mit anderen Nutzern zu messen oder sich gegenseitig abzugleichen: virtuelle Wettbewerbe darüber abzuhalten, wer am schnellsten abnimmt oder am schnellsten Muskelmasse aufbaut. Wer am schnellsten, häufigsten, längsten joggt, schwimmt, geht, rudert. Oder wer auf seinem Trimmrad im heimischen Keller als Erster seiner Online-Gruppe beim virtuellen Straßenrennen auf den legendären 2.115 Meter hohen Col du Tourmalet strampelt, den Schicksalsberg der Tour de France. Die Geräte sprechen also miteinander – und tauschen die Körperdaten ihrer Eigentümer aus.

Bereits heute existieren Suchmaschinen wie etwa Shodan.io, mit denen Internetadressen und offene Schnittstellen von Maschinen, Lkws, Baugeräten, Videokameras auf öffentlichen Plätzen, Behörden und privaten Firmen, aber auch von Kraftwerken und anderen öffentlichen Anlagen der Infrastruktur gesucht und gefunden werden können. Leicht vorstellbar, dass es so etwas für Körper-, Fitness- und Ernährungsdaten demnächst auch geben könnte. Schließlich verfügt jedes Smartphone über eine individuelle IMAI-Nummer, über die es identifiziert werden kann. So könnten Daten durch Hackerangriffe auf unabgesicherte Einfallstore der Apps herunterkopiert werden. Oder ganz offiziell beim Hersteller oder einem seiner Partnerunternehmen landen – wie es bei Facebook und Cambridge Analytica der Fall war. Wer weiß außerdem schon genau, welche Daten seine Fitness-App selbstständig im Hintergrund und ohne zu fragen an Dritte weitergibt oder welche offenen Schnittstellen von außen problemlos angezapft werden können? Haben Sie etwa die Datenschutzerklärung Ihrer neuen Smartwatch vollständig gelesen, bevor Sie damit joggen gegangen sind?

So gesellt sich zum »Internet der Dinge«, dem Internet der Maschinen, Kameras und Sensoren, ein »Internet der Körper«, sagt Andrea M. Matwyshyn, Professorin an der Stanford University in Kalifornien und Co-Autorin der Studie der US-Denkfabrik RAND »Das Internet der Körper«. Daten, die nicht nur für den Hausarzt, Fitness-Berater, Personal-Trainer oder den Coach der Thekenfußballmannschaft interessant sind, sondern auch für Krankenversicherungen, Arbeitsämter, Personalchefs oder den direkten Konkurrenten um einen lukrativen Job auf dem Arbeitsmarkt. Und natürlich: für Lebensmittelhersteller und -händler, die ihre Produkte verkaufen wollen.

Doch für Matwyshyn ist das erst der Anfang: Das Internet der Körper verbindet in der ersten Generation Fitness-Tracker mit intelligenten Brillen, intelligenten Exoskeletten (das sind Apparaturen, die Menschen unterstützen, etwa schwere Lasten zu heben etc.), Herzschrittmachern und Gehirnsensor-Stirnbändern. In der zweiten Generation kommen Körperimplantate, digitale Pillen, Cochlea-Implan tate (Hörprothesen), Geräte zum Management innerer Organe und Hirnimplantate (etwa für Epileptiker) hinzu. »Die Grenze zwischen der ersten und der zweiten Generation des Internets der Körper, zwischen gesundem Lebensstil und nicht-medizinischer Technologie beginnt bereits zu verschwimmen«, schreibt sie. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit etwa 50.000 bis 100.000 Menschen in den USA Mikrochips in ihren Körper implantiert haben.

In der dritten Generation entstehen Gehirnprothesen mit draht losen Komponenten, wie sie heute schon bei manchen Parkinson-Erkrankten eingesetzt werden. »Der menschliche Körper ist der nächste große Innovations-Raum«, prophezeit Geoffrey Woo, Gründer des Silicon-Valley-Start-ups HVMN, das einen leistungssteigernden »Ketose Ester«-Drink herstellt.

Damit entstehen jedoch neue Probleme: Software kann ausfallen oder eine Fehlfunktion haben. Neue Versionen könnten ohne ausreichende Erprobung oder Qualitätssicherung ausgeliefert werden. So wie Infrastruktur oder andere Netzwerke bereits heute regelmäßig Ziele von Hackerangriffen abgeben, gerät die Digitalplattform Mensch dann ebenfalls ins Visier. »Brainjacking« wird die böswillige Manipulation von digital vernetzten Hirnimplantaten genannt. »Gutjacking« ist die feindliche Übernahme des Magens. Computerviren könnten sich in Sonden ausbreiten, die sich im Darm von Menschen befinden und dort Darmgase messen. Dass dies gar nicht so weit hergeholt ist, zeigte sich bereits im Oktober 2013, als der ehemalige amerikanische Vizepräsident Dick Cheney in einem Fernsehinterview berichtete, seine Ärzte hätten während seiner Amtszeit darauf gedrängt, die »wireless«-Funktion seines Herzschrittmachers zu deaktivieren, da sie einen terroristischen Hackerangriff auf sein wichtigstes Organ befürchteten. Der Historiker Yuval Harari spricht von Menschen als »Hackable Animals«.

Im Körper befindliche oder mit dem Körper verschmolzene IoB-Geräte mögen zwar Ausnahmen sein – aber wie lange noch? Schon heute ist klar, dass für die Anwendung solcher Geräte ein verbind licher rechtlicher Rahmen geschaffen werden muss. Wie werden etwa Garantien für das Funktionieren der Geräte geregelt? Wo liegen die Daten und wer kontrolliert sie?

Biologische und maschinelle Intelligenz werden verschmelzen. Facebook und Microsoft arbeiten bereits an Gehirnsteuerungs-Schnittstellen, die es den Benutzern ermöglichen sollen, Computer nur mit ihren Gedanken und mithilfe von externen Gedankenerfassungsgeräten zu bedienen. Durch diese Entwicklungen, sagt Matwyshyn, werde der Körper zur digitalen Plattform. »In einer Welt, in der unsere Körper und Gehirne mit einem einzigen zusammenhängenden technologischen Netzwerk verbunden sind, beginnen wir, die Grenzen zwischen der Freiheit des Denkens als physiologischem, autonomem und abgeschlossenem Akt und der Verbreitung von Ideen und Gedanken als bewusste Tat zu verwischen«, gibt Matwyshyn in der RAND-Studie »Das Internet der Körper« zu bedenken. Denken wird also öffentlich. Es entsteht eine Art Gruppengehirn.

Im Sommer 2020 holte der Tesla-Gründer Elon Musk bei einer Präsentation seiner Firma Neuralink das Schwein «Gertrude« auf die Bühne. Das muntere Tier trug »V.09«, den neuesten Chip von Neuralink, unter seiner Schädeldecke. Und zwar in dem Gehirnareal, das mit der Schnauze verbunden ist. Sobald das Schwein damit ein Objekt berührt, sagte Musk, sehen und hören die Neuralink-Forscher auf einem Computer, welche Neuronen im Schweinegehirn aktiv sind.

Für die Rechtswissenschaftlerin Matwyshyn existieren vier große Probleme bei vernetzten Geräten des Internet of Bodies:

1. Das »Better with Bacon«-Problem

Der Zugang zum Internet wird – ob notwendig oder nicht – in sämtliche Geräte integriert. Damit können alle Geräte gehackt werden.

2. Das »The Magic Gadget«-Problem

Die Möglichkeit des Versagens oder der Fehlfunktion von Geräten wird ignoriert – mit möglicherweise katastrophalen Folgen.

3. Das »The Builder Bias«-Problem

Die Hersteller und Programmierer prüfen ihre Entwicklungen vor der Auslieferung nicht genügend auf Software-Stabilität oder auf einprogrammierte Vorurteile und Diskriminierungen. Letzteres entsteht etwa bei Minderheiten, deren spezielle Eigenheiten bei der Programmierung nicht berücksichtigt wurden. Wird alles an einem »Normalmaß« gemessen, gelten Abweichungen im wahrsten Sinn des Wortes als »nicht normal«.

4. Das »The Mandatory Soup«-Problem

Es gibt nicht genügend Alternativen zum (vernetzten) Produkt. Nutzer sind gewissermaßen gezwungen, diese Produkte zu nutzen, auch wenn diese Geräte nicht optimal erscheinen oder sich eingebaute Teile oder Funktionen nicht ausschalten lassen.

Der Gehirnchip funkte per Bluetooth aus dem Gehirn an einen Computer. Eintausend Elektroden, mit insgesamt nur fünf Mikrometer Durchmesser, sind mit Gehirnzellen verbunden. Diese »Verdrahtung« solle ausreichen, um wichtige Körperfunktionen wie Bewegung, das Sehen oder das Hören zu beeinflussen. Aufgeladen wird der Chip, der die Größe einer Knopfzellen-Batterie hat, drahtlos durch den Schädelknochen. Den Anschluss der Sensoren an die biologischen Nervenzellen übernehme ein eigens dafür entwickelter Roboter. Neuralink hoffe, die Kosten des Chips inklusive seiner Implantierung auf einige Tausend Dollar zu senken. Noch in 2021 soll der Chip bei Menschen getestet werden.

Die Mensch-Maschine-Schnittstelle soll dafür sorgen, dass Gehörlose wieder hören können, Menschen mit Rückenmarkverletzungen wieder laufen können, Depressionen und Sehstörungen der Vergangenheit angehören. Stellte man Gertrude auf ein Laufband, konnte per Software vorhergesagt werden, welcher Muskel wann aktiviert wird. Am Ende entstehe ein Fitnesstracker, so Musk ans Publikum gewandt, »nur mit feinen Drähten in Ihrem Kopf«.

Musks technologische Entwicklung – ganz gleich wie weit sie nun tatsächlich ist – führt direkt zum Thema »Gehirn im Tank«, das beispielsweise im Spielfilm Matrix aufgegriffen wurde: Wenn man feststellen kann, welche Sinneseindrücke welche Gehirnregionen oder Gehirnzellen stimulieren und auf welche Weise sie das tun, ist man gar nicht mehr weit davon entfernt, eigentlich gar keine echten Sinneseindrücke mehr zu benötigen. Man könnte Geruch, Geschmack und Emotionen direkt als Elektroimpuls per Chip ins Gehirn bringen.

»Was ist real? Wie definieren Sie real?«, fragt Andrea M. Matwyshyn. «Wenn es darum geht, was Sie fühlen, riechen, schmecken und sehen können, dann sind das einfach nur reale elektrische Signale, die von Ihrem Gehirn interpretiert werden.« John Cheney-Lippold, Professor an der Universität von Michigan, prophezeit aus diesem Grund: »Wir werden zu Daten.«

Was würde es für unsere Esskultur bedeuten, wenn unsere Lebensmittel, unser Appetit, unser Bauchgefühl von Computercodes bestimmt werden? Zerstört diese digitalisierte Esswelt mit ihrer Fixierung auf Berechenbarkeit, auf Effektivität, auf Mess- und Zählbarkeit das, was wir mit Essen verbinden, den Genuss, die Wertschätzung von Nahrungsmitteln, die Fähigkeiten der Zubereitung von Nahrungsmitteln, das soziale Miteinander?

Noch stecken einige der Forschungsprojekte und Startups in der experimentellen Phase. Andere Angebote, von denen man glaubte, dass sie erst in ferner Zukunft möglich würden, sind dagegen bereits auf dem Markt. Autonome schlaue Lieferketten, von künstlicher Intelligenz gesteuertes Empfehlungsmanagement und die Algorithmen der Social-Media-Plattformen beeinflussen unbemerkt in Form von Codes unsere Lebens- und Esswelt.

Eine neue digitale Esskultur

Die Kamera des Smartphones Galaxy S8 verfügt über einen »Food Mode«. Wer diese Einstellung aktiviert, kann sich sicher sein, dass die dampfenden Schüsseln auf dem heimischen Tisch, die fetten Steaks auf dem Holzkohle-Grill oder das italienische Tellergericht so fotografiert werden, dass es auf Instagram oder Facebook so richtig lecker aussieht.

Was früher nur Profifotografen vorbehalten war, die oft Stunden damit verbrachten, die Speisen in das richtige Licht zu setzen und sie nicht selten lackierten, damit sie appetitlich wirkten, ist zum Massenphänomen geworden. Früher war Essen auf Familienfotos höchstens Teil der Szenerie. Heute ist es der »Star« und wird dank Smartphones, Messenger-Diensten, Foto-Plattformen und Social-Media-Profilen in die ganze Welt gepostet. Die digitale Kamera gehört zum Besteck.

Es ist auch – oder vielleicht deswegen – zentrales Gesprächsthema: die nicht einfach zu beschaffenden Koteletts vom Iberico-Schwein, das dry-aged Rib-Eye vom massierten Kobe-Rind, die durch den Darmdurchgang bei einer Ziege veredelten Kaffeebohnen aus Äthiopien, seltene Knollen, autochthone (nur in bestimmten Regionen vorkommende) Gemüsearten und Rebsorten, Salat von der kleinen biologisch-dynamischen Gärtnerei im Nachbarort, deren Inhaber man persönlich kennt, Olivenöl von der ligurischen Ölmühle, die man beim letzten Urlaub dort zufällig entdeckt hat, und so weiter.

Die Bilder und Videos von Speisen und Zutaten berichten über die Menschen, die sie online posten. Und sie sind nicht nur Teil der Darstellung des eigenen Lifestyles. Denn Essen oder besser gesagt kulinarisches Wissen ist – wie zu Beginn dieses Kapitels bereits angedeutet – auch zum Distinktionsmerkmal und zum Statussymbol geworden. Weltläufigkeit, Bildung, mitunter auch Überlegenheit drücken sich in der Kenntnis von Zutaten, Herkunft, Zubereitung und Trends beim Essen aus.

Angetrieben wird dieser Trend durch die jungen Millennials, die beim Essen gerade die Deutungshoheit übernehmen. An diesem Punkt sind sich die klassischen Marktforscher der ehrwürdigen GfK (Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg), die eher modeorientierten Trendforscher, wie etwa die Wiener Food-Expertin Hanni Rützler, und Wissenschaftler wie beispielsweise Shyon Baumann, Professor für Soziologie an der Universität Toronto und Autor der 2015 veröffentlichten Analyse Foodies: Democracy and Distinction in the Gourmet Foodscape, oder der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz, Autor von Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne, einig. Menschen »performen« ihre Identität auf Plattformen. Sie werden zu kulinarischen Selbstdarstellern. Und wer seinen ethisch korrekten, gesunden und elaborierten Konsum auf Social Media nicht »performen« kann, hat kein Mitsprache recht. Auch Gesundheit wird auf Social Media «performt«, zeigt Dr. Karen Cross, Dozentin an der University of Roehampton in London, in ihrer Studie »Visioning food and community through the lens of social media« (ver öffentlicht in: Digital Food Cultures (Critical Food Studies)). Für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der in den 1970er- und 1980er-Jahren die Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Lebensstilen untersuchte, sind Tischmanieren und das Wissen über Nahrungsmittel eine Art »kulinarisches Kapital«, das sich etwa bei Aufstieg und Karriere gesellschaftlich fruchtbar machen lässt. Ein Wissen, das damals ausschließlich durch die Vorstellungen und Lebensweisen der Oberschicht geprägt war.

Das Postulat, dass Essen im Netz gut aussehen muss, um gut anzukommen, kann zu einer Verunsicherung führen und zur Orientierung des eigenen Konsums an dem, was auf Social Media »funktioniert«, was also viele Likes und Reaktionen von Followern erzeugt » «.

Sozialforscher wie Colin Campbell sehen hier »Craft-Consumer« am Werk: Menschen, die für die erfolgreiche Auswahl und Präsen tation ihrer alltäglichen Konsumentscheidungen einiges an (unbezahlter) kreativer Arbeit leisten. Durch die intensive Nutzung von Social Media und die »Instagramisierung« der Gerichte wird mitunter nur für das Foto gekocht, die Gerichte werden danach gar nicht gegessen. Damit tragen die jungen Foodies auch zur Lebensmittelverschwendung bei, schreibt der britische Guardian in seinem 2017 veröffentlichten Bericht »Instagram generation is fuelling UK food waste mountain, study finds«. Ob die Influencer auf ihren Kanälen einen perfekten und gesunden Lebensstil nur vorgeben und statt dem üppigen geposteten Salat nicht doch Pommes essen, weiß sowieso niemand.

Über Jahrhunderte wurden Rezepte, das Wissen über Ernährung oder die Zubereitung von Essen mündlich oder über Handschriften und Kochbücher weitergegeben. Ein Köstlich new Kochbuch aus dem Jahr 1598, geschrieben von Anna Wecker aus Nürnberg, gilt als das erste gedruckte deutsche Kochbuch. Lange Zeit waren Bücher, Zeitschriften und Magazine die esskulturellen Leitmedien, Mitte des 20. Jahrhunderts kam das Fernsehen dazu.

Mit dem Web 1.0 beginnt die digitale Esskultur, wie Deborah Lupton, Professorin am Zentrum für Sozialforschung im Gesundheitswesen an der University of New South Wales in Sydney, in ihrem Aufsatz »Cooking, Eating, Uploading: Digital Food Cultures« feststellt.

Mitte der 90er-Jahre entstehen erste Webseiten und Blogs, auf denen Menschen digital Rezepte publizieren, sammeln und über persönliche kulinarische Eindrücke und Erfahrungen beim Kochen schreiben. Gleichzeitig entstehen erste Diskussionsforen im Netz; Kochportale wie Chefkoch.de werden aus der Taufe gehoben. Menschen können dort nicht nur ihre Rezepte teilen, sondern auch untereinander diskutieren. Suchmaschinen wie Google ermöglichen erste globale Suchen nach Rezepten und das Kochbuch wird digital durchsuchbar.

Mit der Mobilwerdung des Internets Ende der 2000er-Jahre wird Food »shareable«, mit jedem im Handumdrehen per Smartphone teilbar. Soziale Food-Netzwerke entstehen. Dienste wie Foursquare oder Google-Maps werden zum Entdeckungsort der »lokalen« Food-Suche. Lebensmittelkonsum, Erfahrungen beim Einkaufen oder Essengehen werden ebenfalls lokalisierbar. Die Smartphone-Kamera ist beim Essen, beim Einkaufen oder Kochen obligatorisch dabei.

In den 2010er-Jahren werden in Deutschland die ersten kommerziell erfolgreichen Koch-Apps entwickelt. Gleichzeitig entstehen kulinarische Communities, wie zum Beispiel Foodboom, KitchenStories und KptnCook. Allergie-Communities und Diät-Communities finden sich weltweit durch Hashtags über unterschiedliche Kanäle hinweg. Food-Blogger und Influencer erreichen Millionen Leser und Zuschauer über ihre Blogs, Videos und Foto-Kanäle.

Influencerinnen wie etwa die Amerikanerin Vani Deva Hari bieten Foodwatch 2.0: Im Instagram-Livestream kann man Hari beim Einkaufen im Supermarkt begleiten. Mit dem Smartphone durchstöbert sie dann live die Zutatenlisten auf Packungen und kritisiert Lebensmittelhersteller für zu viele und ihrer Meinung nach gefährliche Zusatzstoffe in den Produkten. Die enorme Reichweite ihres Blogs »Foodbabe« bringt selbst Konzernriesen wie Kraft Foods zum Umdenken. So initiierte die Bloggerin eine Petition gegen die künstlichen Farbstoffe »Yellow 5 & Yellow 6«, die im Verdacht stehen, ADHS auszulösen, die von 365.000 Leuten unterzeichnet wurde. Kurz darauf ersetzte Kraft die künstlichen Farbstoffe durch natürliche Farbstoffe aus Paprika und Kurkuma.

Die 2020er-Jahre läuten die nächsten Phase der digitalen Esskultur ein: »Künstliche Kulinarische Intelligenz« lässt die online verfügbaren Rezeptdatenbanken »smart« werden. Das bedeutet: Nun sind sie personalisierbar, individualisierbar und »intelligent«. Der Computercode lernt aus vielen Datenspuren unsere Präferenzen kennen und kann daraus Vorschläge und Vorhersagen generieren. Durch künst liche Intelligenz entwickelt sich der personalisierte Food-Coach, Ernährungsberater oder Einkaufsführer.

Kulinarische Daten-Sammler wie Opentable, Instagram oder Foursquare können live Trends erkennen und Kulturunterschiede festmachen, auswerten und damit kommerzialisieren.

Deborah Lupton sieht im Zusammenschluss von »Big Food Data«, also der Auswertung vieler Daten über Lebensmittel und Ernährungsverhalten, eine Entwicklung zu immer umfassenderen und smarteren Funktionen und Services. Immer mehr Geräte wie etwa Magensensoren, das Fitnessarmband, der Sensor am Lebensmittel, die Allergie-App, KI-Emotionssensoren liefern ihre Daten, um das perfekte Gericht für den Kunden zum genau richtigen Zeitpunkt zu berechnen.

Die kulinarische Kirche namens Instagram