Forever, Ida - Endspiel - Alex Pohl - E-Book

Forever, Ida - Endspiel E-Book

Alex Pohl

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Beschreibung

»Machst du mir ein Duck Face, Baby?«

Mit dieser WhatsApp zerbrach die Welt von Adi vor über einem Jahr in Bremen. Auch nach dem Umzug nach Sonderberg ist sie nicht vor dem Cyberstalker sicher. Nach einer weiteren verstörenden Nachricht kehrt Adi nun zurück nach Bremen, an den Ort, an dem alles begann. Doch diesmal ist sie nicht allein – ihre Freunde Kris, Lizzie und Ben sind an ihrer Seite. Aber auch diese müssen sich schwierigen Entscheidungen stellen, bevor die Wahrheit endlich ans Licht kommt. Denn Adi ist nicht die einzige in Sonderberg, die ein düsteres Geheimnis hat ...

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Seitenzahl: 352

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ALEX POHL

FOREVER, IDA

ENDSPIEL

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TRIGGERWARNUNG:

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr hier einen Hinweis. Dieser enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.

Copyright © 2022 by Alexander Pohl

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Umschlaggestaltung: © Kathrin Schüler, unter Verwendung

eines Motivs von Shutterstock.com (Kelvin Degree)

he • Herstellung: bo

Lektorat: Regine Teufel

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28902-7V002

www.cbj-verlag.de

Was bisher geschah …

Erst vor wenigen Monaten ist Adi in die Kleinstadt Sonderberg gezogen, wo sie jetzt das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, genannt »Fritz«, besucht. Nach den traumatischen Erlebnissen in ihrer Heimatstadt Bremen hat sie sich mittlerweile in der Kleinstadt eingelebt und am »Fritz« neue Freunde gefunden.

Da sind Lizzie und Kris, die beiden Außenseiter, die ihre Pausen grundsätzlich nur auf dem demolierten Schulklo im Erdgeschoss verbringen. Lizzie, die bei ihrer Tante Janis wohnt, hat inzwischen verstörende neue Dinge über den Unfalltod ihrer Eltern herausgefunden, und sie glaubt, dass ihr bester Freund Kris vielleicht mehr darüber weiß und ihr etwas vorenthält.

Ben, ehemaliger Sportstar der Schule, kam hinter die schmierigen Geschäfte seines Vaters und des Sportlehrers Pfeiffer. Beide hatten versucht, Ben durch Bestechung und gefälschte Sportergebnisse in eine Profimannschaft zu bekommen. Daraufhin trat Ben aus Protest als Mannschaftskapitän der Fußballmannschaft der Schule zurück, deren Spitzenspieler er bis dahin war, und erschien auch nicht mehr zum Training. Und Julia, seine Ex, hat die kürzliche Trennung von ihm vielleicht doch noch nicht so gut verkraftet, wie sie alle glauben machen will …

Nachdem Adi mithalf, den Tod ihres Mitschülers Ahmet Ercan aufzuklären, steht der einzige Jugendclub der Stadt, der B-Punkt, ungenutzt leer. Auch trug Adi dazu bei, schwere Beschuldigungen gegen ihren Freund Kris zu entkräften. Als dieser Ärger mit einer Gruppe älterer Jugendlicher bekam, besorgte er sich eine Waffenattrappe, die daraufhin in seinem Spind in der Schule gefunden wurde.

Schuldirektor Bachmann sah sich veranlasst, die Schule mit Wachpersonal und Metalldetektoren an den Eingängen auszustatten. Diese Ereignisse haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur an der Schule, sondern auch bei Adi und ihren Freunden.

Und dann sind da noch die düsteren Ereignisse in Adis Vergangenheit in Bremen. Nach der letzten verstörenden WhatsApp-Nachricht des Cyberstalkers weiht sie ihre Freunde Lizzie und Kris in die Geschehnisse ein.

Doch allmählich beginnt sie zu begreifen, dass ihr und ihren Freunden die größte Herausforderung erst noch bevorsteht …

ERSTERTEIL

Anstoß

»Wie sollen wir unsere Kinder vor einer Technologie beschützen, von der sie deutlich mehr verstehen als wir Lehrer und Eltern?«

– Sönke Dietrichs, Schulamtsleiter

»Kannst du ein Duckface für mich machen, Baby?«

1

KRIS

Donnerstag,

1. Oktober

16:40 Uhr

Adi nimmt ihr Handy vom Schreibtisch, entsperrt es und reicht es mir. Liz schaut über meine Schulter ebenfalls auf den kleinen Bildschirm.

»Boah«, sagt sie leise, nachdem wir die kurze Nachricht gelesen haben. »Das klingt irgendwie … gar nicht gut, Adi. Was ist das denn für ein Typ?«

Bald werden wir wieder zusammen sein, Adriana. Diesmal für immer.

Das klingt tatsächlich nach einem Typen mit ernsthaften Problemen. Und mir fällt auf, dass die Nummer des Absenders erstaunlich lang ist. Das ist keine Vorwahl aus Deutschland, so viel steht mal fest. Dann macht es klick. Der Typ muss irgendein Proxy-Relay benutzt haben, um diese Nachricht anonym an Adi zu schicken. Ziemlich ausgefuchstes Verfahren. Und das ist nun ganz bestimmt kein gutes Zeichen. Der Kerl weiß offenbar sehr genau, was er da tut. Und er hat nicht vor, sich erwischen zu lassen.

»Wer zur Hölle ist das, Adi?«, fragt Liz. »Was will denn dieser Spinner von dir?«

Adi senkt den Blick und schweigt, doch nach einer Weile sagt sie leise: »Ich habe das noch nie jemandem erzählt, Leute. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das überhaupt will. Ob ich es kann, versteht ihr? Aber vielleicht muss ich es. Weil ich sonst …«

Sie muss den Satz nicht beenden.

Liz und ich nicken synchron, und Liz legt Adi sanft eine Hand auf den Unterarm. Erst zuckt sie zurück, doch dann schiebt sie einfach nur ihren Ärmel nach oben und dreht den Arm so, dass wir jetzt die Innenseite ihres Unterarms deutlich sehen können.

Die Narben darauf.

Weil ich sonst …

»Oh, Süße«, flüstert Liz.

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Also höre ich einfach zu, während Adi mit stockender Stimme zu erzählen beginnt.

2

ADI

Damals

Ich schaue hoch und sehe mich selbst im Spiegel. Ich muss grinsen. Wie ich da so stehe, das Handy umklammert, als wäre es irgendein kostbares Juwel. Was es ja in diesem Moment auch irgendwie ist. Er hat zurückgeschrieben, und zur Abwechslung mal praktisch sofort.

Meistens lässt er sich ziemlich viel Zeit damit, einmal habe ich fast drei ganze Tage auf seine Antwort warten müssen. Er schreibt mir immer nur abends. Natürlich. Ich verstehe das, er hat viel zu tun. Michael ist nicht umsonst der beliebteste Junge an der Schule. Sport-Ass, natürlich, aber auch ein ziemlich guter Schüler, und Gott, sieht er heiß aus!

Michael ist zwei Klassenstufen über mir.

Ich kann das immer noch nicht fassen. Hier stehe ich in meinem Zimmer und schreibe mit Michael. Wenn ich das meinen Freundinnen erzähle, werden die vor Neid glatt aus den Latschen kippen. Und ja, natürlich würde ich sie gern einweihen. Ich will es der ganzen Schule erzählen, es in die Welt hinausposaunen: »Ich schreibe mit Michael, Leute, ja, dem Michael, und ich glaube, er ist ziemlich verknallt in mich, ist das zu glauben?«

Aber das geht nicht.

Ich habe es ihm versprochen.

Wir wollen noch ein Weilchen damit warten. Bis er sich ganz sicher ist, hat er gesagt. Okay, aber was mich betrifft – ich bin mir absolut sicher. Ich kann kaum noch schlafen, so sicher bin ich mir. Jeden Morgen klopft mir das Herz bis zum Hals, weil ich weiß, dass wir uns wieder auf dem Schulflur begegnen werden. Wo wir natürlich beide so tun werden, als würden wir uns überhaupt nicht kennen. Das ist Teil des Spiels, und auch wenn ich es etwas seltsam finde, muss ich ihm recht geben; es macht die Sache noch ein bisschen aufregender.

Als ob das nötig wäre.

Mein Handy pingt, eine Nachricht, von ihm.

Er fragt, ob ich ihm ein Foto von mir schicken kann. Eins, das ein bisschen sexy ist.

Ich runzele die Stirn, ist ja irgendwie schon ziemlich albern. Andererseits denke ich: Wow. Er will ein Bild von mir für sein Handy. Aber so einfach wird er das nicht bekommen, beschließe ich grinsend und schreibe zurück.

Auch diesmal kommt seine Antwort fast sofort.

Damit er sich sicher sein kann, schreibt er, dass ich wirklich was für ihn empfinde. Der Rest ist ein wilder Strudel aus allen möglichen Emotionen zugleich. Er will sich also sicher sein. Was nur heißen kann, dass er unsere Beziehung demnächst öffentlich machen will. Dass ich schon bald in die Schule gehen, dort meinen Freund mit einem Kuss begrüßen und dann Hand in Hand mit Michael durch die Gänge schlendern werde. Ja, klar, denke ich, und die restlichen Schüler werden uns mit Blüten bewerfen und nach der fünften Stunde läuten dann die Hochzeitsglocken.

Andererseits, es wäre schon eine schöne Vorstellung.

Nein, es wäre der Hammer!

Also stelle ich mich vor den Spiegel, mache ein Foto und schicke es ihm. Nein, das ist gelogen. Ich brauche fast fünfzig Versuche, bis ich endlich ein Foto schieße, das mir halbwegs gefällt. Vorher ziehe ich extra mein Lieblings-T-Shirt an. Das, was ein bisschen weiter ausgeschnitten ist. Soll er ruhig sehen, was ihm entgeht, solange er sich mit mir aufs WhatsApp-Schreiben beschränkt. Ich schieße das Foto aber so, dass mein Gesicht nicht zu erkennen ist. Die Pose wird ziemlich sexy, aber ich komme mir auch ein bisschen albern vor dabei.

Auf die nächste Antwort muss ich wieder länger warten, und ich fürchte schon, das Bild ist nicht bei ihm angekommen oder es gefällt ihm nicht. Da werde ich echt panisch. Was, wenn er es hässlich findet?

Wenn er mich hässlich findet, wenn er …

Da pingt mein Handy wieder.

Seine nächste Nachricht ist etwas länger als gewöhnlich, und ich muss sie bestimmt zehn Mal lesen, bis ich begreife, was das steht. Das Foto hat ihm gefallen, schreibt er. Sehr sogar.

Und deshalb möchte er jetzt gern noch etwas anderes von mir. Etwas ganz Besonderes. Etwas, das ich noch für keinen anderen Jungen getan habe oder tun würde. Ich muss schlucken, und irgendwie wird meine Kehle ganz trocken, als ich die Nachricht ein weiteres Mal lese. Aber ich will schließlich auch nicht, dass er denkt, ich wäre irgendwie verklemmt oder so.

Ich meine, er ist zwei Klassenstufen über mir. Machen wir uns nichts vor, von uns beiden ist nur eine hier noch Jungfrau. Also bekämpfe ich das schlechte Gefühl, bis es mir irgendwann gelingt, es für Schmetterlinge im Bauch zu halten. Weil er sich sicher sein will, schreibt er. Sicher, was das mit uns ist.

Also ziehe ich mir das T-Shirt über den Kopf und mache noch ein Foto, diesmal ist mein Gesicht darauf zu erkennen, ich mache ein sexy Duckface für ihn. Ich brauche nur einen Versuch. Dann schicke ich es ihm.

Was soll schon passieren?

3

ADI

Damals

Am Tag danach

Vergangene Nacht habe ich wirklich kein Auge zugetan. Nachdem ich ihm das zweite Foto von mir geschickt hatte, war gar keine Antwort mehr gekommen. Absolute Funkstille. Auf dem zweiten Foto hatte ich ein Duckface zur Schau getragen und sonst überhaupt nichts. So, wie er es sich gewünscht hatte. Da hatte ich mich sexy gefühlt, und keine Stunde später kam ich mir einfach nur dämlich vor.

Und dann … Keine Antwort von ihm, überhaupt nichts, nicht mal ein verdammtes Daumen-hoch-Emoji.

Irgendwann hatten sich die Schmetterlinge in meinem Bauch in ein mulmiges Gefühl verwandelt, und dieses Gefühl der beklemmenden Unruhe war geblieben, für den Rest der Nacht. Immer wieder hatte ich mein Handy gecheckt. Nichts.

Irgendwann muss mich meine Müdigkeit dann aber doch überwältigt haben, denn als ich erwache, ist es halb sechs in der Früh, und als Erstes checke ich natürlich mein Handy. Nichts. Meine Brust fühlt sich an, als hätte ich eins dieser altertümlichen Korsetts angezogen und irgendein Irrer habe es mit aller Kraft zugeschnürt. Für einen Moment muss ich heftig mit meinen Tränen kämpfen, doch ich kann noch nicht mal sagen, wieso eigentlich.

Irgendwie bin ich plötzlich in der Twilight Zone gelandet, und ich habe keine Ahnung, wie ich da hingekommen bin.

Es gibt tausend Möglichkeiten, was passiert sein kann. Und ja, eine davon ist, auch wenn das wenig schmeichelhaft sein mag, dass er ebenso wie ich mitten in unserem Chat einfach eingeschlafen ist. Es war spät geworden, als ich Michael das letzte Foto geschickt habe.

Zum gefühlt tausendsten Mal checke ich den Status der Nachricht. Ja, sie ist rausgegangen und er hat sie definitiv auch bekommen. Vielleicht wird er mich heute Morgen auf dem Schulflur auch einfach in die Arme schließen und die ganze Welt von unserer Liebe wissen lassen.

Na sicher, Adi, ganz bestimmt.

Irgendwann stehe ich auf, würge mir das Frühstück rein, ohne wirklich mitzubekommen, was ich esse. Ich bekomme auch kaum mit, was meine Eltern am Frühstückstisch zu mir sagen, meine Antworten fallen dementsprechend einsilbig aus.

Ich versinke immer tiefer in der Twilight Zone.

Dann fahre ich zur Schule.

Auf halbem Weg zum Klassenzimmer muss ich noch mal umkehren, weil mir einfällt, dass ich vergessen habe, mein Rad anzuschließen. Ich fummele eine Ewigkeit mit dem Schlüssel herum, bis ich endlich begreife, dass es der von meinem alten Radschloss ist, den ich aus unerfindlichen Gründen immer noch am Schlüsselbund mit mir herumtrage.

Als ich schließlich durch den Haupteingang in die Vorhalle husche, klingelt es gerade zur Stunde, und ich stoße einen leisen Fluch aus. Ich haste an irgendwelchen Schülern vorbei, die wesentlich entspannter als ich mit der Tatsache umzugehen scheinen, dass sie sich zum Unterricht verspäten werden. Ein paar lächeln mir zu, und ich lächle zerstreut zurück. Irgendwie komisch, dieses Lächeln, aber ich denke nicht weiter drüber nach. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mir irgendwelche Schreckensszenarien auszumalen.

Was, wenn Michael das Foto nun seinen Freunden aus der Fußballmannschaft zeigen wird? Aber nein, so etwas würde er nie machen. Klar, ich verstehe, dass er mich erst testen will, sozusagen, immerhin bin ich zwei Klassenstufen unter ihm. Ich bin nicht arrogant oder so, aber ich glaube, als Freundin wäre ich durchaus vorzeigbar. Wenn er mir jetzt nur endlich antworten und dieses blöde Gefühl von mir nehmen würde, könnte er so viele Fotos von mir haben, wie er will. Und die von mir aus auch unter seinen Kumpels herumzeigen. Ich schätze, das machen die Jungs doch sowieso.

Aber würde er das auch mit einem Nacktfoto von mir machen?

Als ich im Laufschritt in den Gang zum Klassenzimmer einbiege, sehe ich eine kleine Gruppe Schüler in einiger Entfernung herumstehen. Sie sind alle sehr vertieft in irgendwas und haben die Köpfe gesenkt. Auch sie scheinen sich kaum an der Tatsache zu stören, dass es bereits vor ein paar Minuten zur Stunde geklingelt hat.

Es dauert einen Augenblick, bis ich ihn erkenne. Michael. Der mir nicht geantwortet hat, nachdem ich ihm so Foto geschickt habe. Und jetzt steht er hier und tut so, als gäbe es das alles nicht.

Eine neue, heiße Welle der Panik durchflutet mich.

Was, wenn er das auch weiterhin tut? Wenn er einfach behauptet, da wäre nie etwas gewesen zwischen uns, und ich würde mir das alles nur einbilden? Was soll ich dann machen? Das Gegenteil beweisen, indem ich allen erzähle, ich hätte ihm ein Nacktfoto von mir geschickt?

Dann hebt er den Kopf.

Sieht mich an.

Schüttelt den Kopf, so als wäre er irgendwie von mir enttäuscht oder so was. Dann dreht er sich um und verlässt die Gruppe der Schüler, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Was zur Hölle …?

Die anderen haben mich jetzt auch bemerkt. Ein paar beginnen zu lachen, dann stimmen die anderen ein. Sie scheinen immer noch sehr vertieft in die Zettel, die einige von ihnen in den Händen halten. »Gar nicht schlecht, Adriana!«, höre ich irgendwen sagen. »Das kannst du ja echt gut.«

»Gibt’s auch ’nen Film?«, fragt ein anderer und meint damit offenbar mich. Aber ich kapiere gar nichts. Film? Was für ein Film?

Ich ignoriere sie und gehe weiter in Richtung Klassenzimmer, während sie mir noch mehr Kommentare dieser Art hinterherrufen. Aber die höre ich schon gar nicht mehr bewusst.

Denn jetzt sehe ich es.

An der Tür zum Klassenraum hängt die vergrößerte Aufnahme eines Handyfotos. Darauf ist ein nacktes Mädchen zu sehen, das in einer ziemlich aufreizenden Pose vor dem Spiegel steht und ein Duckface macht. Quer über dem Foto steht in fetter roter Schrift SCHLAMPE.

Das Mädchen auf dem Foto bin ich.

4

KRIS

Donnerstag,

1. Oktober

17:00 Uhr

»Scheiße«, sagt Liz, und damit trifft sie den Nagel mal wieder ziemlich genau auf den Kopf. Dann nimmt sie Adi in den Arm. Für eine Weile sagen wir alle gar nichts, während wir in Adis Zimmer sitzen. Mein Blick zuckt hoch zu dem Kandinsky-Gemälde, das über ihrem Bett hängt, aber eigentlich nur, um Adi nicht ansehen zu müssen. Ich kann hören, dass sie mit den Tränen kämpft.

Und mir geht es genauso.

Es ist ein wirklich schönes Zimmer, das sie hat, mit einem schönen Blick in den Garten hinaus, mit einem Baum direkt vor dem Fenster, in dem offensichtlich eine kleine Amselfamilie wohnt. Und einem Swimmingpool.

Fast schon zu idyllisch, wie in einem Märchen.

Allerdings ist sie aber auch vor einem Albtraum auf der Flucht, nach dem, was sie uns gerade erzählt hat. Und es scheint, als sei ihr dieser Albtraum bis nach Sonderberg gefolgt.

Verdammt creepy.

Ich räuspere mich, weil ich einen ziemlichen Kloß im Hals habe. Ich habe tausend Fragen an Adi, aber irgendwie wäre das jetzt der falsche Zeitpunkt, glaube ich. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich dann nicht gleich selbst in Tränen ausbreche. Es gibt ein paar Dinge in ihrer Erzählung, die mir durchaus bekannt vorkommen, auch wenn von mir vermutlich keiner irgendwelche Nacktbilder sehen will.

Trotzdem kann ich nur allzu lebhaft nachvollziehen, wie es sich anfühlt, wenn einem der Boden so komplett unter den Füßen weggezogen wird wie an diesem Morgen, als Adi zur Schule ging und feststellte, dass der Kerl, den sie anhimmelte, ein Arschloch war, das überall in der Schule dieses Foto von ihr verbreitet hatte.

Er hatte sogar Poster davon gedruckt und sie überall ausgehängt. Und ja, auch das kommt mir bekannt vor. Es ist genau die Art von Humor, auf die diese Typen abfahren. Die Erfolgreichen, die Beliebten, die Sportskanonen, die von allen angehimmelt werden.

Typen wie Mark und Leon und früher auch Ben, wobei die sich ganz schön verändert haben, seit Adi in Sonderberg angekommen ist, aber trotzdem … ich glaube, diesen Typen fehlt ganz einfach die Einsicht, was sie mit einem vermeintlich harmlosen Scherz bei anderen anrichten können. Vielleicht fehlt ihnen auch einfach jegliches Interesse an solchen Überlegungen.

»Hast du ihn angezeigt?«, frage ich schließlich leise. Es ist nur eine von vielen Fragen, die ich dazu habe, aber vermutlich eine der wichtigeren.

Adi schaut auf und schenkt mir ein trauriges Lächeln. Sie hat geweint, genau wie Liz, und ich wende mich hastig wieder dem Kandinsky über ihrem Bett zu. Dann schüttelt sie den Kopf.

»Das hättest du aber gekonnt«, erkläre ich. »Cybermobbing ist eine Straftat, weißt du?«

Liz verdreht die Augen. Stimmt ja, das war Adi vermutlich auch so schon bewusst. In gewisser Weise ist sie ja so was wie die Expertin auf dem Gebiet, wie ihre Geschichte uns soeben eindrucksvoll vor Augen geführt hat.

»Es geht noch weiter«, sagt Adi stockend, dann räuspert sie sich. Atmet tief durch, und erzählt uns den Rest.

5

Gesprächsmitschnitt aus der Fallakte »Berger, Adriana«, Gespräch mit Adriana Berger, Betroffene Protokoll-Nr. ACX-23578789

»Okay, Adriana. Es ist doch okay, wenn ich dich Adriana nenne.«

»Ja, klar. Wie auch immer.«

»Gut. Und erlaube mir bitte zu sagen, dass ich absolut auf deiner Seite stehe. Aber bitte hab auch Verständnis, dass wir bei der Aufklärung des Sachverhalts absolut unvoreingenommen an die Fakten herangehen müssen. Sicher ist es etwas unangenehm, was dir widerfahren ist …«

»Etwas unangenehm? Die ganze Schule lacht über mich! Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie das ist? Dieses Foto ist einfach nicht totzukriegen.«

»Also, mir wurde von deiner Schule versichert, dass diese Plakate, um die es geht, umgehend von den Wänden entfernt und vom Lehrkörper sichergestellt wurden. Man hat mit den Schülern gesprochen und ihnen klargemacht, was passiert, wenn dieses Foto weiterhin die Runde macht. Ich finde, da hat deine Schule sehr verantwortungsbewusst reagiert.«

»Da war das Ding doch längst im Netz. Es macht heute noch die Runde. Haben Sie sich das mal angesehen? Es gibt ein Meme, das unterlegt ist, mit dem Song ›Bettina, pack deine Brüste ein‹ von Fettes Brot. Und das war ja fast noch lustig. Es gibt noch viel schlimmere, jede Menge davon.«

»Nein, das wusste ich nicht. Aber ich bin sicher, auch da kann etwas unternommen werden.«

»Sie tuscheln über mich, die ganze Zeit. Und ich habe keine Freunde mehr. Keinen einzigen. Ich …« [Bricht ab]

»Beruhige dich bitte, Adriana. Nimm ein Taschentuch. Ich weiß, das muss für dich sehr unangenehm sein, aber da müssen wir jetzt durch, wenn wir der Sache auf den Grund gehen wollen. Das ist doch auch, was du willst?«

»Nein. Ich will, dass dieser ganze Mist nie passiert wäre.«

»Nur zu verständlich, aber an dieser Stelle muss ich noch einmal darauf hinweisen, dass schließlich du es warst, die das Foto geschickt hat.«

»Wollen Sie sagen, das ist alles meine Schuld?«

»Nein, Adriana, das will ich nicht. Aber es sollte dir eine Warnung sein, für die Zukunft.«

»Ja. Ich denke, diese Lektion habe ich kapiert, danke. Sonst noch was?«

»Kein Grund, jetzt schnippisch zu werden, Adriana, okay? Aber ich verstehe deinen Ärger, glaub mir. Und ich versuche auch nicht, dir die Schuld an irgendetwas in die Schuhe zu schieben. Aber die Schuld von Michael war es definitiv auch nicht, das haben wir inzwischen herausgefunden.«

»Was? Aber …«

»Wir haben uns sein Handy angeschaut. Und ich möchte betonen, dass er es uns sofort freiwillig überlassen hat, was er gar nicht hätte tun müssen. Auch sagte er aus, dass er dich nur flüchtig aus der Schule kennt und dir im Leben nichts Böses will. Und, wenn ich das ergänzen darf, dass er auch nicht auf ein Nacktfoto von dir scharf war.«

»Aber … Wir haben uns fast zwei Wochen lang geschrieben.«

»Das hast du ausgesagt, ja. Allerdings lässt sich auf dem Handy von Michael keinerlei Chatverlauf finden, der das bestätigt. Er scheint nicht einmal deine Telefonnummer zu haben oder irgendeine andere Art von Kontakt außer der Tatsache, dass ihr beide an dieselbe Schule geht.«

»Er könnte ein anderes Handy benutzt haben, er …«

»Vermutlich, ja. Er hat uns aber versichert, dass dem nicht so ist, und ich muss sagen, seine Aussagen waren komplett konsistent und glaubwürdig. Wir haben einfach keinen Grund, daran zu zweifeln, verstehst du? Was wir leider nicht von deiner Darstellung der Ereignisse behaupten können.«

»Was?«

»Da ist zum einen die Tatsache, dass du laut deiner Aussage irgendwann aus heiterem Himmel eine Nachricht von Michael bekommen haben willst, obwohl ihr euch in der Schule nie mehr als flüchtig begegnet seid. Ist dir das nicht seltsam vorgekommen?«

»Ich habe gedacht, er hat sich meine Nummer besorgt. Von Bekannten, wie man das eben macht.«

»Also ist deine Nummer einem großen Personenkreis an der Schule bekannt?«

»Nein, ich … Er hätte eine Freundin von mir gefragt haben können oder so.«

»Und, hat er das? Hast du deine Freundinnen gefragt?«

»Die reden nicht mehr mit mir. Das macht es etwas schwierig, verstehen Sie? Sie halten mich nämlich neuerdings für eine Schlampe und eine Lügnerin, aber das interessiert Sie ja auch nicht, hab ich recht?«

»Adriana, ich verstehe, dass du aufgebracht bist, aber das ist meine letzte Warnung, deinen Ton betreffend, verstehen wir uns?«

»Ja. Entschuldigung. Es ist nur, seit ein paar Tagen kriege ich nicht mal meine beste Freundin ans Telefon, und an der Schule weicht sie mir aus. Wir sind seit der ersten Klasse befreundet und … ach, verdammt.«

»Okay, Adriana. Dann weiter im Text. Wir haben wirklich alles versucht, aber der Umstand, dass du die angeblich von Michael stammenden WhatsApp-Nachrichten gelöscht hast …«

»Ich war einfach so verdammt wütend …«

»Auch das kann ich gut nachvollziehen, glaub mir. Allerdings haben wir dadurch jetzt nichts in der Hand, was wir untersuchen könnten. Inklusive der Nummer, von welcher diese Nachrichten angeblich gesendet wurden.«

»Nicht angeblich. Wirklich. Ich habe Ihnen doch alles erzählt.«

»Ja, und ich kann dir anbieten, dass wir dein Handy unseren Spezialisten zeigen. Vielleicht können die die Unterhaltung wiederherstellen oder nach der Nummer suchen. Aber bevor ich das machen kann, muss ich dich fragen, ob du das wirklich willst.«

»Was? Natürlich, warum sollte ich das denn nicht wollen?«

»Nun, weil unsere Spezialisten vielleicht nicht das finden werden, was du dir erhoffst. Und wenn das passiert …«

»Sie glauben immer noch, dass ich mir das alles ausgedacht habe, um mich wichtigzumachen oder Michael anzuschwärzen, weil ich ihn nicht bekommen konnte? Dass ich das Foto von mir selbst in der Schule aufgehängt habe. Ernsthaft?«

»Ich muss jede Möglichkeit in Betracht ziehen, Adriana. Auch die Möglichkeit, dass es sich hierbei um einen Schülerstreich handelt, der etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Und ich muss sagen, dass auch diese Möglichkeit eine gewisse Plausibilität hat, das musst du doch zugeben.«

»Sie können mein Handy gern haben.«

6

KRIS

Donnerstag,

1. Oktober

17:15 Uhr

»Sie haben natürlich nichts auf meinem Handy gefunden«, sagt Adi. »Keinen Chatverlauf und auch keine Nummer, weil ich ja beides gelöscht hatte. Ich war einfach so wütend auf ihn. Und auf mich, weil ich drauf reingefallen war. Damit war auch seine Nummer weg, und nein, ich hatte sie mir nicht irgendwo aufgeschrieben. Daher weiß ich auch nicht, ob es dieselbe Nummer ist, mit der er sich dann später wieder bei mir gemeldet hat.«

»Nachdem ihr nach Sonderberg gezogen seid«, sagt Liz sanft. Das kann sie unheimlich gut, man merkt richtig, wie Adi auftaut, obwohl es ihr unendlich schwergefallen sein muss, diesen Teil ihres Lebens vor uns auszubreiten. Und ich habe den Eindruck, der eigentlich heftige Teil kommt erst noch.

Der, der mit den Narben an ihrem Handgelenk zu tun hat.

»Kann ich die Nachricht noch mal sehen?«, frage ich, als mir eine Idee gekommen ist. »Also die letzte, die er dir geschickt hat?«

Adi entsperrt ihr Handy und reicht es mir. Die Nachricht ist nur ein paar Tage alt. Bald werden wir wieder zusammen sein, Adriana. Diesmal für immer.

Ich tippe auf das Kontaktsymbol und schaue mir die Nummer genauer an. »Ziemlich lange Nummer«, sage ich. Jetzt schauen auch Adi und Liz auf das Display. »Und die sieht mir auch nicht nach einer Nummer aus Deutschland aus.«

»Stimmt«, sagt Liz. »Vermutlich ist das eine Vorwahl aus dem Ausland. Was hat das denn zu bedeuten, Adi?«

Adi zuckt mit den Schultern, dann sagt sie: »Ich weiß zwar nicht, ob es dieselbe Nummer wie damals ist. Aber es ist definitiv derselbe Typ. Er kannte die Nachrichten von damals, Wort für Wort, er hat sich darauf bezogen. Auf das mit dem Duckface zum Beispiel und wie alles angefangen hat.«

»Und das kann nur jemand aus deinem unmittelbaren Umfeld gewusst haben«, sage ich. »Aber das wundert mich nicht. Diese Nummer mag zwar aus dem Ausland stammen, der Absender aber mit Sicherheit nicht. Ich nehme an, er hat ein Proxy-Relay benutzt.«

»Ein was?«

»Ich muss mich noch genauer damit befassen, aber letztlich kannst du es dir so vorstellen, dass jemand von seinem Handy aus eine Nachricht an irgendeinen Server schickt, und der leitet sie an ein anderes Handy weiter. Von dort kriegst du dann die Nachricht geschickt, und wenn du antwortest, findet das Ganze umgekehrt statt.«

»Was?«, sagt Adi und starrt mich aus aufgerissenen Augen an, in denen noch Tränen schimmern. »Aber wer würde einen solchen Aufwand betreiben, nur um …« Ja, nur um ihr das Leben ein bisschen schwer zu machen, denke ich. Wer würde so was überhaupt tun wollen?

»Jeder, der nicht geschnappt werden will«, sage ich. »So würde ich es auch anstellen, wenn … also. Ich würde so was natürlich nie machen, aber …«

Jetzt lächelt sie ein bisschen, immerhin. Aber ich würde so etwas wirklich nie machen. Es muss schrecklich sein, das jeden Tag ertragen zu müssen. So, als würdest du eines Morgens aufwachen und den roten Laserpunkt eines Zielgewehrs auf deiner Stirn entdecken, der dich von da an auf jedem deiner Schritte begleitet. Ich würde überhaupt nicht mehr schlafen können oder essen. Oder sonst was.

Ich würde vermutlich einfach durchdrehen.

»Na ja«, sagt Adi. »Nach diesem Verhör hat es jedenfalls nicht mehr lange gedauert, bis …« Sie dreht ihren linken Arm wieder so, dass wir die Narben am Handgelenk sehen können, dann streicht sie sanft darüber. Ich kann allerdings nicht allzu lange draufschauen. Es ist einfach zu krass. Liz drückt Adi wieder an sich und streichelt ihr den Kopf. Adi lächelt jetzt still vor sich hin und sieht aus, als erinnerte sie sich an etwas ganz besonders Schönes.

Aber ich weiß, dass das nicht stimmt.

7

Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem fernen Land, oder vielleicht war es auch nur die Stadt Bremen.

Das Mädchen hatte einen Traum. Es glaubte, es sei eine verwunschene Prinzessin und es hätte einen Vater, der in Wahrheit ein König und eine Mutter, die eine Königin war, und beide Eltern liebten ihre Tochter gar sehr. Das Mädchen, das meinte, eine Prinzessin zu sein, hatte viele Freunde in der Schule, zumindest glaubte sie das.

Doch es gab einen Prinzen, in den sich die Prinzessin sehr verliebt hatte. Der Prinz ging auch an ihre Schule, zwei Klassenstufen über ihr. Er bemerkte sie anfangs gar nicht, denn es gab viele Mädchen, die in diesen Prinzen verliebt waren, und jede davon war tausendmal schöner als sie selbst, glaubte das Mädchen. Warum sollte er sich ausgerechnet für sie interessieren?

Bloß weil sie meinte, eine Prinzessin zu sein?

So ging es eine Weile und das Mädchen wurde immer verliebter und immer trauriger. Und so begann sie, ihren Freundinnen ihr Herz auszuschütten und ihnen zu erzählen, wie furchtbar verliebt sie in den Prinzen war. Zunächst nur im Scherz, doch allmählich wurde allen klar, wie ernst es ihr damit war. Vielleicht hoffte die Prinzessin auch, der Prinz werde dadurch vielleicht erfahren, dass sie sich für ihn interessierte, und sie ansprechen. Aber nichts dergleichen geschah, und das Mädchen, das sich für eine Prinzessin hielt, wollte die Hoffnung schon aufgeben.

Doch eines Tages pingte ihr Telefon.

Sie hatte eine Nachricht erhalten, von einer unbekannten Nummer. Der Absender fragte, ob sie vielleicht Lust habe, sich mit ihm zu schreiben. Und als das Mädchen bis zum Ende der Nachricht scrollte, stand dort der Name des Prinzen.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

Doch es stellte sich heraus, dass alles ein schlimmer Betrug war und man das Mädchen nur hatte bloßstellen wollen, und alle wandten sich von ihr ab und da war sie ganz allein auf der Welt.

Nicht mal die Polizei glaubte ihr.

Das Mädchen schaffte es danach noch eine Woche, zur Schule zu gehen, beinahe, als wäre nichts gewesen. Sie hoffte, man würde irgendwann einfach vergessen, was passiert war. Würde das schreckliche Foto einfach vergessen.

Kannst du ein Duckface für mich machen, Baby?

Aber man vergaß nicht. Nicht die Schüler, die tuschelten, wenn sie in der Nähe war. Nicht ihre Freundinnen, die sich abwandten, ihre Nummer löschten, sich einfach umdrehten und davongingen, wenn sie versuchte, ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Nicht die Jungs, die sich im Minutentakt neue, schreckliche Namen für sie ausdachten.

Und ganz besonders nicht das Internet.

All diese Namen und die Scherze und die lustigen Bildchen waren wie Pfeile, die sich in das Herz des Mädchens bohrten, und jeder einzelne traf sein Ziel, und jeder davon schmerzte ein wenig mehr als der vorhergehende. Nicht lange, da war dem Mädchen, als sei sein Vorrat an Gefühlen erschöpft. Als habe sie keine Kraft mehr, etwas zu empfinden.

Überhaupt irgendwas.

Am Abend des nächsten Tages schloss sie sich im Badezimmer ein, und während das Badewasser einlief, betrachtete sie sich lange im Spiegel. Nichts sah sie dort mehr, das noch hübsch gewesen wäre oder sie an eine Prinzessin erinnert hätte. Nur etwas Hässliches, mit dem jemand einen furchtbaren Scherz getrieben hatte. Da begann sie zu glauben, dass sie vielleicht wirklich die Schuld an allem trug. Sie öffnete den Badeschrank und begann, nach einer der Wegwerfklingen zu suchen, die ihr Vater zum Rasieren benutzte.

8

ADI

Donnerstag,

1. Oktober

17:30 Uhr

Die letzten paar Sätze habe ich meinen Schuhspitzen erzählt, anders ging es einfach nicht. Als ich den Kopf wieder hebe, durchzuckt mich für eine Sekunde ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn auch Kris und Lizzie mir nicht glauben werden? Wenn sie sich kopfschüttelnd abwenden, einfach aufstehen und gehen.

Was, wenn sie mich auslachen?

Aber das tun sie natürlich nicht. Sie sitzen einfach nur da und sehen aus, als wäre vor ein paar Minuten ein weißer Elefant mitten im Zimmer aufgetaucht, in Lebensgröße, und als versuchten sie jetzt irgendwie, sich mit dieser nicht wegzudiskutierenden Tatsache anzufreunden.

»Mann, ich bin echt eine Stimmungskanone, was?«, sage ich leise, und Lizzie schenkt mir ein sanftes Lächeln, bevor sie wieder nach meiner Hand greift. Die mit den Narben, die ich eigentlich niemanden anfassen lasse. Aber jetzt ist das irgendwie in Ordnung.

Vielleicht, weil sie jetzt Bescheid weiß.

Kris’ Blick zuckt kurz in meine Richtung, dann vertieft er sich hastig wieder in das Display meines Telefons, das er immer noch in seiner Hand hält. Das, was er über die Nummer erzählt hat, macht mir ganz schön Angst. Aus etwas, das vielleicht wirklich mal eine Art schiefgelaufener Schülerstreich hätte sein können, ist soeben etwas ganz anderes geworden. Etwas viel Gefährlicheres. Wenn Kris hier schon ratlos ist, ist es eigentlich kein Wunder, dass damals auch die Polizei nicht weitergekommen ist – und die haben mir im Gegensatz zu ihm noch nicht mal richtig geglaubt.

»Nach der Sache«, sage ich leise und deute auf mein linkes Handgelenk, »war ich natürlich erst mal von der Schule befreit und wisst ihr, was? Im ersten Moment war ich sogar froh darüber. Alles erschien mir damals besser, als noch einen einzigen Tag dort hinzumüssen. Sogar …« Ich muss den Satz nicht beenden, die beiden wissen ja jetzt Bescheid.

»Das ist der Grund«, sagt Lizzie, »aus dem ihr nach Sonderberg gezogen seid, mitten im Schuljahr, nicht?«

Ich nicke. »Spätestens da haben auch meine Eltern begriffen, dass ich so wirklich nicht mehr weitermachen konnte und dass ich nicht irgendwann einfach so drüber wegkommen würde. Trotzdem, es war eine verdammt dumme Idee, das ist mir klar geworden, als ich begriff, dass das ganze Blut an den Handtüchern von mir stammte. Als ich wirklich begriffen habe, was ich da gerade getan hatte. Mein Vater hat sofort einen Druckverband angelegt und mich ins Krankenhaus gefahren, aber daran erinnere ich mich kaum noch. Nur daran, dass ich die ganze Zeit geheult habe wie ein kleines Mädchen. Die mussten mir was spritzen zur Beruhigung.«

Lizzie drückt mich wieder an sich, und ich denke, das ist gar nicht mal so schlecht. Wieder Freunde zu haben. Oder überhaupt welche, richtige diesmal. Freunde, denen ich von dieser Sache erzählen kann, ohne Angst zu haben, dass sie mich auslachen oder sich kopfschüttelnd abwenden. Und vor allem ohne Angst haben zu müssen, dass sich das Ganze in Sonderberg wiederholt. Freunde, denen ich zu einhundert Prozent vertraue. Weil wir in diesen paar Monaten, die ich hier bin, schon ein paar ziemlich verrückte Sachen gemeinsam erlebt haben.

Weil sie mich verstehen, glaube ich.

»Anschließend kam ich dann zur Therapie in eine Klinik«, erzähle ich den Rest. »Klinikum Schönheide, ein Stück außerhalb der Stadt, im Grünen, und mit einem hübschen Wäldchen in der Nähe. Wirklich schön, aber irgendwie hatte wohl keiner von den Menschen, die da hinkamen, wirklich ein Auge für die Landschaft. Zumindest am Anfang nicht.«

Kris stößt einen humorlosen Schnaufer aus und nickt düster. Ich nehme an, dass auch für ihn Sonderberg seine schönen Seiten hat. Und er viel zu oft kein Auge dafür hat. Zum Beispiel, weil er gerade vor einem durchgeknallten Irren mit einem Schraubendreher auf der Flucht ist. Aber zumindest diese Sache hat sich ja inzwischen erledigt, hoffe ich zumindest.

»Am Anfang kam mir das alles einfach nur bescheuert vor. Beruhigungsmittel, Gruppentherapie, Einzeltherapie, Atemübungen. Das bescheuerte Körbeflechten und das Aquarellmalen. Das ganz besonders.«

»Im Ernst?«, fragt Liz. »So was habt ihr da gemacht?«

Ich nicke und wir müssen ein bisschen grinsen. Was dafür sorgt, dass ihr Gesicht nun vollends zu einer grotesken Maske wird. Ihre Tränen haben tiefe Gräben in die weiße Theaterschminke und die schwarze Umrandung ihrer Augen gegraben. Mist, denke ich, ich habe gar nichts da, womit sie sich nachschminken kann; so darf sie meinem Vater nachher jedenfalls nicht begegnen.

»Klar, das kam mir alles ziemlich dämlich vor, aber nur am Anfang. Letztlich hat es mir aber geholfen. Man lernt allmählich wieder, sich richtig auf eine Sache zu konzentrieren, was mir anfangs unheimlich schwerfiel. Ständig rasten meine Gedanken von einem Szenario zum nächsten wie ein kleines, tollwütiges Tier in einem Käfig. Da bist du einfach dankbar für jeden Moment, in dem deine Gedanken nicht mehr ständig um dasselbe Thema kreisen, auch wenn sie das natürlich noch oft genug tun. Geh es langsam an, das ist das Motto, das sie einem dort beibringen. Ein Schritt nach dem anderen und lass die Welt erst mal draußen. Hier bist du in Sicherheit. Und es stimmt. Es funktioniert.«

»Verstehe«, sagt Liz leise, und in dem Moment fällt mir wieder ein, dass sie ja auch ein ziemliches Päckchen mit sich herumschleppen muss. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie elf oder zwölf war. Auch sie muss wissen, wie es sich anfühlt, wenn man glaubt, auf den Grund eines schwarzen Meeres gezogen zu werden und sich jeden Millimeter nach oben mühsam erkämpfen zu müssen, in der Hoffnung, dass man tatsächlich irgendwann durch die Wasseroberfläche bricht. Dass man irgendwann wieder die Sonne sieht, statt nur mal hin und wieder nach Luft zu schnappen und dann gleich wieder unterzugehen.

»Na ja«, sage ich. »Jedenfalls haben die mich da wieder einigermaßen hingekriegt. Wenn du anfängst, die Dinge mit etwas Abstand zu betrachten … es wird nicht direkt besser oder so. Aber nach einer Weile lernst du, damit klarzukommen. Was du tun musst, wenn alles wieder hochkommt. Beim nächsten Mal bist du etwas besser vorbereitet.«

Auch das kennt Liz vermutlich nur zu gut. Ich glaube manchmal, ihr auffälliges Äußeres und ihre zynische Art haben viel mit dem zu tun, was ihr passiert ist, und irgendwie schätze ich das. Es erinnert mich an ein anderes Mädchen, das auch so eine lässige Art hatte und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte, damals in der Klinik. Manchmal wurde dieses Mädchen zwar ein bisschen sarkastisch, aber auch das hat mir letztlich geholfen, die Zeit dort zu überstehen. Aber von Ida erzähle ich den beiden besser nichts, dafür sind sie noch nicht bereit.

Das bin ich ja noch nicht mal selbst.

9

BEN

Montag,

5. Oktober

08:15 Uhr

»Na los, du Idiot! Gib schon ab!«, ruft Mark, während er versucht, Leon den Ball abzunehmen, bevor der ihn mir zuspielen kann. Leon hat inzwischen den Bogen ziemlich gut raus und sorgt mit einer Reihe geschickter Manöver dafür, dass genau das eben nicht passiert. Dabei behält Leon mich die ganze Zeit im Auge, um den richtigen Moment abzupassen, mir den Ball zuzuspielen.

Ich schaue mir das an und muss lächeln. Ich weiß nicht mehr, wer von uns auf die Idee gekommen ist, morgens auf dem Weg zur Schule gelegentlich einen Ball mitzunehmen, aber wenn man so drüber nachdenkt, ist es eigentlich ein ziemlich gutes Training. Man hat eine Menge Hindernisse zu umspielen, denn man sollte nach Möglichkeit auch keinen der anderen Schüler umrennen oder versehentlich in den Fahrradständern landen.

Inzwischen haben sich die anderen Schüler dran gewöhnt, uns hier morgens herumblödeln zu sehen. Gelegentlich kriegen sie auch mal einen Ball zugespielt, den sie dann – mehr oder weniger geschickt – zurückspielen. Die drei Verrückten mit ihrem Ball, das gehört eben dazu am Fritz. Ein paar feuern jetzt sogar Leon an, den Ball endlich abzuspielen, doch auch davon lässt der sich nicht aus der Ruhe bringen. Guter Mann.

Es ist fast wie in den alten Zeiten, denke ich, als alles noch einfacher war. Ben und Julia, das Traumpaar schlechthin, und Bens beste Kumpel Leon und Mark, die zu dritt zum Fußballtraining gehen. Also zu dem richtigen, das Pfeiffer veranstaltet, aber das besuche ich inzwischen nicht mehr. Hat sich eben doch viel verändert seit damals, bevor Ahmet an die Schule kam. Aber das muss wohl so sein, nichts bleibt für die Ewigkeit, hab ich mal irgendwo gehört.

Nicht mal in einem Kaff wie Sonderberg.

Leon sieht die Lücke, Mark macht sie ihm unabsichtlich, als er versucht, in seinen Lauf zu grätschen – was übrigens ein ziemlich böses Foul hätte werden können –, und spielt zu mir.

Gute Flugbahn, denke ich. Den werde ich volley annehmen, ganz easy. Das ist eine meiner Spezialitäten.

Passiert aber nicht.

Der Ball wird mitten im Flug gestoppt, nämlich von der Pranke eines Kerls in – ja, was eigentlich? Der sieht aus wie ein Typ von einem dieser Pseudomilitärs aus den Actionfilmen. Schwarze Cargo Pants, Bomberjacke, Armeestiefel und eine schwarze Kappe auf dem kahl rasierten Kopf. Fehlt bloß noch die verspiegelte Sonnenbrille. Und Hände, groß genug, um damit einen Fußball zu fangen. Typ Türsteher, und dieser hier ist außerdem ein echter Riese. Dazuhin offenbar ein ziemlich mies gelaunter.

»Hey!«, fährt mich der Kerl an. Auf dem T-Shirt über seiner breiten Brust spannt sich ein stilisierter Vogel, der bei mir sofort unangenehme Assoziationen an den Geschichtsunterricht weckt, Thema: Deutschland 33 bis 45. Da hätte der Kerl vermutlich gut reingepasst. Darunter steht in eckigen Buchstaben, die diese Assoziation noch vertiefen: Adler Security, Sicherheitskonzepte + Schließgesellschaft.

Aha.

»Ist das dein Ball?«, blafft der Riese mich an.

»Unser Ball«, korrigiere ich ihn.

»Jetzt nicht mehr, klar? Ballspielen ist ab sofort auf dem Schulgelände verboten.«

Na, das wird den Pfeiffer freuen, denke ich. Immerhin gehört die Turnhalle ja auch irgendwie zum Schulgelände. Aber den Kommentar verkneife ich mir.

Mark und Leon gesellen sich zu mir. Das muss man ihnen anrechnen. Sie mögen manchmal ganz schöne Blödmänner sein, aber einen Kumpel lassen sie nicht im Stich.

»Das gilt auch für euch beide, klar?«, bellt der Wachhund. Moment, denke ich. Eine Sicherheitsfirma auf dem Schulgelände, und da beginnt es mir zu dämmern.

»Aber das ist unser Ball«, mault Mark. »Wir haben den bezahlt, Mann.«

Der Sicherheitsmann gibt ihm für ein paar Sekunden den Militärblick, wie ich es nenne. Man guckt sein Gegenüber so ernst, wie es nur irgend geht, an. Etwa so, als wolle man ihm mit Laseraugen Löcher ins Gesicht brennen. Das haben wir früher manchmal geübt, Leon, Mark und ich. Und wer zuerst lachen musste, war raus.

»Den könnt ihr euch nach der Schule wieder abholen«, sagt er. »Und dann will ich so was hier nie wieder sehen. Jetzt werden hier andere Saiten aufgezogen.«

»Hä?«, machen Leon und Mark synchron, aber der Kerl lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, was ich auch nicht erwartet hatte. »Und Glückwunsch«, sagt er, während er mit Zeige- und Mittelfinger ein V macht und damit auf seine Augen deutet, als wolle er sie ausstechen. »Eure drei bezaubernden Gesichtchen hab ich mir jetzt schon mal vorgemerkt, Mädels.«

Damit dreht er sich um und stapft auf den Eingang zum Schulgebäude zu. Der Ball in seiner Hand wirkt kaum größer als eine Bowlingkugel.