Forever, Ida - Und raus bist du - Alex Pohl - E-Book
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Forever, Ida - Und raus bist du E-Book

Alex Pohl

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Beschreibung

Ein Todesfall an einem Gymnasium und eine Newcomerin mit einem dunklen Geheimnis

Neue Stadt, neue Schule, neues Glück: Adi ist froh über den Wechsel nach Sonderberg. Sie will ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Doch gleich am Tag ihrer Ankunft beobachtet sie einen Trauerzug: Ahmet, ein Junge an Adis neuer Schule, ist zu Tode gekommen. Selbstmord, sagen die einen, ein Unfall, meinen die Behörden. Adi findet sich bald im Freundeskreis von Ahmet wieder; vor allem Ben, Ahmets bester Freund, fasziniert sie. Doch Ahmets Tod lässt ihr keine Ruhe: Was ist mit Ahmet wirklich passiert?

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Seitenzahl: 354

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ALEX POHL

FOREVER, IDA

UND RAUS BIST DU

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Copyright © 2021 by Alexander Pohl © 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.www.ava-international.de Umschlaggestaltung: © Kathrin Schüler, unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock/Kelvin Degree he • Herstellung: BO Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-25565-7V004
www.cbj-verlag.de

»Die Schule ist ein Schlachtfeld und die Schlacht tobt jeden Tag. Das Einzige, worum es geht, ist, die paar Jahre zu überleben, bis man hier rauskann.«

– Kris

1

Mittwoch,

17. Juni

23:30 Uhr

»Heute also«, sagt Ben und grinst.

»Heute«, sagt Ahmet und grinst zurück. Ein bisschen breiter als Ben, weil das schon sein zweiter Joint ist an diesem Abend. Sie sind beide gut drauf, in Stimmung für diese Nacht.

In Stimmung für das, was sie vorhaben.

Ben beugt sich über die Brüstung und schaut nach unten. Ziemlich weit geht es da runter, knapp zwanzig Meter, das hat er im Internet herausgefunden. Die Sonderberger Eisenbahnbrücke hat sogar einen zweizeiligen Eintrag bei Wikipedia. Hauptsächlich wegen der seit zehn Jahren geplanten Umbauarbeiten – die Gleise sind mit Gras und kleinen Bäumen überwuchert, eine Eisenbahn ist schon seit Ewigkeiten nicht mehr über diese Brücke gefahren.

Es ist Vollmond und vor ein paar Jahren hätte Ben das noch gruselig gefunden. Die alte, halb verfallene Brücke, die dürren Gräser, die wie Spinnenfinger zittern, der Wald und das Mondlicht, das durch die Bäume bricht. Jetzt hofft er nur, dass das Licht ausreicht für die Aufnahmen mit seiner Kamera.

Heute Nacht werden sie die Brücke berühmt machen. Vielleicht steht das ja dann auch irgendwann mal bei Wikipedia.

»Sehen aus wie Spielzeugautos von hier oben«, murmelt Ben, während er auf die unter ihnen dahinrasenden Lichter starrt. Der konstante Lärm der fernen Motoren erinnert an das Geräusch eines dahinschießenden Flusses. Ein Fluss aus Licht, mit zwei entgegengesetzten Strömungen, die eine weiß, die andere rot. Wie bei diesem Modell vom Blutkreislauf aus dem Biounterricht, aus dem Ben mal die Leber geklaut hat.

Ahmet hat sich neben Ben gestellt und schaut nun ebenfalls in die Tiefe, dann spuckt er aus. Sie sehen dem Spuckefaden hinterher, bis sie ihn in der Dunkelheit aus den Augen verlieren.

»So tief ist das gar nicht«, sagt Ahmet beiläufig und deutet nach unten. »Wir müssen nur auf den kleinen Vorsprung da, siehst du? Von dort kommt man gut an alles ran und du kannst dich an diesem Gitterding festhalten.«

Ben nickt. Ja, so müsste es gehen. Die rostigen Metallstreben sehen stabil aus. Aber es ist trotzdem verdammt tief und der Sims ist nicht besonders breit.

»Hast du den Klettergurt dabei?«, fragt er, ohne Ahmet anzusehen.

»Klar«, sagt Ahmet. »Ich geb ihn dir, wenn ich mit den Outlines fertig bin. Ich hab Chrom dabei, und Schwarz und Feuerrot, alles in Hammerschlag-Ausführung, das hält ewig. Wird man schon von ’nem Kilometer Entfernung aus lesen können.«

»Geil«, sagt Ben.

»Du musst die Fills schön langsam und gleichmäßig sprühen«, erklärt Ahmet, »damit die Farbe vernünftig deckt. Dann kann man das Chrom sogar nachts sehen, weil sich die Scheinwerfer drin spiegeln. Aber da müssen wir vielleicht zweimal ran.«

»Krass«, sagt Ben und schluckt bei der Vorstellung, zweimal auf diesem schmalen Sims über dem Abgrund herumturnen zu müssen. Wenigstens wird ihn der Klettergurt tragen, falls er abrutschen sollte. Ihm ist trotzdem ein bisschen mulmig zumute.

»Also Bruder«, sagt Ahmet. »Lass loslegen. Mach schon mal die Kamera klar.«

Ben nickt und setzt seinen Rucksack ab. Er zieht ein Stativ und seine teure Videokamera daraus hervor. Der Akku ist voll, er hat eine brandneue SD-Karte eingelegt und sie mit dem heutigen Datum beschriftet. Fürs Archiv. Und für Youtube.

»Stell sie etwas abseits auf«, sagt Ahmet und deutet auf ein Gebüsch, von dem aus man die Außenseite der Brücke gut einsehen kann. »Und lass den restlichen Kram im Rucksack. Falls wir sprinten müssen.«

Ben glaubt nicht, dass das passieren wird. Niemand kommt hier hoch, auf die alte Eisenbahnbrücke. Jedenfalls keine Erwachsenen, und erst recht nicht nachts. Der Zugang ist seit Jahren mit einem Maschendrahtzaun versperrt. Falls sie tatsächlich sprinten müssen, dürfte das eher für Ahmet zum Problem werden, weil der sich mit seinem ständigen Gekiffe schon die halbe Lunge weggeraucht hat.

Aber Ahmet ist was Besonderes, der hat Talent. Seine Graffitis sind Weltklasse, auch wenn er ständig behauptet, er wäre noch meilenweit entfernt von Szenegrößen wie CAN2, DAIM oder REVOK. Wenn das stimmt, dann ist er, Ben, nur ein blutiger Anfänger, ein Toy, wie man in der Szene dazu sagt. Auch das hat er von Ahmet gelernt.

Während Ben die Kamera in Position bringt, um die Entstehung ihres Meisterwerks zu filmen, holt Ahmet die Spraydosen aus seinem Rucksack, ordnet sie nach Farben und schüttelt dann zwei davon, in jeder Hand eine, nachdem er die Kappen abgezogen hat. Klack-klicker-klick machen die kleinen Metallbälle in den Dosen. Er jagt je Dose einen Sprühstoß in die Luft, um zu testen, ob die Caps nicht verklebt sind – alles bestens, grinst er in Richtung Ben.

Dann zieht Ahmet noch eine kleine Boombox aus dem Rucksack, die per Bluetooth mit seinem Handy verbunden ist. Kurz darauf dringen satte Bässe aus dem Lautsprecher, Azet mit Fast Life.

Ben nickt mit dem Beat mit. Das ist mal ein Typ, der geblickt hat, wie es wirklich läuft. Einer, der die Straße kennt, der mit seinen Eltern vor dem Krieg im Kosovo abhauen musste und der auch schon im Knast saß. Und der es trotzdem bis ganz nach oben geschafft hat. Fast Life, genauso fühlt sich Ben gerade. Scheiß was auf alle, die das nicht raffen.

Außerdem ist es ziemlich dreist, sich beim Sprühen zu beschallen, das wird für Respekt sorgen auf Youtube. Und für Klicks.

»Kamera ist bereit«, sagt Ben und schaut noch einmal durch die Linse. Stellt den Fokus scharf. Der Winkel ist perfekt, von hier aus hat man fast die gesamte Außenseite der Brücke im Blick.

Das Video wird durch die Decke gehen.

Ben holt seine Skimaske aus der Tasche und zieht sie über, Ahmet macht das Gleiche, zeigt ihm wieder den Daumen.

Bereit.

Ben betätigt den Knopf an der Kamera. »Aufnahme läuft.«

Ahmet schüttelt die Dose mit Chromfarbe noch einmal und sprüht dann sein Tag an einen der Brückenpfeiler. In einer einzigen fließenden Bewegung entstehen geschwungene Buchstaben, die das Wort ALFA und die Zahl 1 ergeben. Dann sprüht er noch Bens Tag HERO daneben.

»Hero und Alfa One am Staaaart!«, ruft Ahmet in Richtung Kamera, als Ben aus dem Gebüsch kommt und sich zu ihm an den Brückenpfeiler stellt. Dann posen sie beide in die Kamera, rotzfrech, was dem Video erst den richtigen Dreh geben wird, zusammen mit der Musik aus der Boombox. Muss ja nicht jeder wissen, dass hier sowieso nie ein Bulle vorbeikommt.

Fast Life, Bruder. Fast Life.

»Jetzt wird die Brücke klargemacht, verstanden?«, ruft Ben, und sie lachen, weil das cool, aber auch ein bisschen albern ist.

Fast Life.

6 Tage später

ERSTER TEIL

Ein neues Mädchen

»Wir sehen sie jeden Tag an der Schule, aber manchmal glaube ich, sie leben in einer völlig anderen Welt, Lichtjahre entfernt von unserer.«

– Regina Meyfarth, Lehrerin

2

Liebe Ida,

sie haben es wirklich durchgezogen, wer hätte das gedacht? Ich jedenfalls nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich mich freuen oder lieber in einem Loch verkriechen soll. Manchmal denke ich, dass uns das Schicksal oder Gott oder der kleine Mann im Ohr irgendetwas damit sagen will, dass er uns immer wieder die gleichen Fehler machen lässt. Damit wir daraus lernen vielleicht?

Ich bezweifle allerdings, dass irgendeiner je wirklich aus seinen Fehlern lernt. Nicht, bevor alles zu spät ist.

Doch sie glauben das. Das müssen sie wohl.

So ist das eben; bist du krank, schluckst du Pillen, bis es dir wieder besser geht. Bis du wieder so funktionierst, wie sich das alle vorstellen. Bis du brav aufsagst, was sie hören wollen, und dabei bloß keinem auf die Füße trittst.

Aber sie haben ja recht.

So hätte ich nicht weitermachen können.

Daher also der Umzug nach Sonderberg; eine neue Schule, neue Freunde, einfach so. Klingt doch gut, nicht? Klingt doch ganz einfach.

Zu verstehen, was in Sonderberg passiert ist, ist allerdings alles andere als einfach.

Dazu muss ich die Geschichte am richtigen Ende aufdröseln, wie ein Wollknäuel.

Hoffentlich wirst du mich besser verstehen, nachdem du diese Geschichte gelesen hast. Warum alles so kam, wie es gekommen ist. Und warum es nur so kommen konnte und warum ich das erst hinterher begriffen habe.

Manchmal ist das Leben nämlich wie eine Reihe Dominosteine, die man monatelang aufbaut, damit alles durch einen einzigen Stoß in sich zusammenfällt. Und erst zum Schluss kapierst du, dass der letzte Stein von Anfang an gar keine andere Wahl hatte, als umzufallen.

Aber das ist nicht das Ende.

Noch nicht.

Das ist, wie alles begann, mit dem ersten Dominostein – einem Mädchen namens Adi, das gern mit Wollknäueln spielte und eines Tages den Anfang nicht mehr fand.

Vielleicht hast du ja mehr Glück dabei.

Ich umarme und drück dich ganz fest,

deine Adi

3

ADI

Sonntag,

21. Juni

16:10 Uhr

Der Sonntagnachmittag, an dem wir in Sonderberg ankommen, hat etwas Magisches, das spüre ich ganz deutlich. Ich weiß nur noch nicht, ob das gut oder schlecht ist.

Durch das hintere Seitenfenster unseres Volvos schaue ich auf träge vorüberziehende Reihenhäuser, die zu zählen ich inzwischen aufgegeben habe. Die Sonne knallt auf ihre weißen Fassaden, lässt sie leuchten. Das grelle Licht brennt in meinen Augen, trotz Sonnenbrille, aber ich schaue dennoch hin. Die Luft über dem Asphalt flimmert vor Hitze.

Ein paar zurechtgestutzte Bäumchen lugen wagemutig über penibel zurechtgestutzte Hecken um zurechtgestutzte Vorgärten. In einer Einfahrt liegt ein blaues Kinderfahrrad auf der Seite. Das Chrom der Pedale blitzt kurz auf, als wir daran vorüberfahren, aber kein Kind ist zu sehen, und auch sonst kein Mensch. Als wäre die Stadt ausgestorben.

Ich stelle mir vor, wir würden durch ein Landschaftsgemälde fahren. Stelle mir vor, wir wären nur Besucher, die vorüberziehen, wie der Schatten unseres Autos draußen auf dem Gehsteig. Da entdecke ich meinen eigenen Schatten, platt gedrückt und seltsam in die Länge gezogen, draußen auf dem grellen Beton. Ich hebe die Hand und winke ihm zu; aus irgendeinem Grund bringt mich das zum Lächeln.

Hier werden wir also ab heute wohnen. In Sonderberg. Und ich werde auf dem Friedrich-Wilhelm-Gymnasium zur Schule gehen, von allen nur »das Fritz« genannt, das habe ich auf der Website gelesen.

Wir sind die ganze Strecke von Bremen bis hierher dem Umzugswagen der Transportfirma hinterhergezuckelt. Keine Ahnung, wieso Papa darauf bestanden hat. Als ob die Umzugsleute kein eigenes Navi besäßen und er sie ständig kontrollieren müsste, damit sie ja alles richtig machen. Vielleicht glaubt er, sie würden unseren ganzen Kram sonst einfach irgendwo in einen Vorgarten kippen. Papa eben.

Als ich eine Gruppe Jugendlicher bemerke, die in diesem Moment aus einer Seitenstraße auf den Bürgersteig einbiegt, zucke ich überrascht zusammen, so surreal scheint mir diese plötzliche Bewegung in der Stille draußen – als ob das vermeintliche Landschaftsgemälde zum Leben erwacht wäre. Sie müssen ungefähr in meinem Alter sein, die Jungs haben dunkle Anzüge an und die Mädchen tragen lange, dunkle Kleider. Einige halten Blumensträuße in den Händen.

Ich kann gar nicht anders, als hinzustarren. Das Merkwürdige sind gar nicht ihre Klamotten oder die Blumen. Viel seltsamer und auf eine unheimliche Art faszinierend ist, dass sie so geordnet nebeneinander hergehen, in Zweierreihen. Kein Lachen, niemand ruft irgendwem was zu oder rempelt jemanden an – die meisten schauen einfach zu Boden, während sie gehen.

Soll diese feierliche Prozession ein schweigendes Begrüßungskomitee für uns sein? Es wäre ein ausgesprochen gruseliges. Seltsamer und seltsamer, dachte Alice, während sie tiefer und tiefer in den Kaninchenbau fiel.

Papa hebt kurz die Hand, um ihnen zuzuwinken, doch dann lässt er sie gleich wieder sinken, als er – offenbar im selben Moment wie ich – begreift, was dieser stumme Marsch in Wahrheit zu bedeuten hat. Als wir nämlich sehen, dass sich der schweigende Tross nicht auf irgendeinen Hauseingang, sondern auf das Tor eines kleinen Friedhofs zubewegt. Was natürlich auch die Blumensträuße in ihren Händen und die schwarzen Klamotten erklärt.

Genau in dem Moment, als wir an ihnen vorüberfahren, hebt einer der Jungs den Kopf. Er trägt keine Sonnenbrille, sodass ich erkennen kann, dass seine Augen von einem intensiven Blau sind, wie der Himmel, der zwischen den Reihenhäuschen hervorlugt. Unsere Blicke treffen sich kurz, und ich meine, in seinen Augen etwas Fragendes zu entdecken, so als sei er sich nicht ganz sicher, ob ich wirklich real bin. Und das Merkwürdige ist, dass ich mich in diesem Moment genau das Gleiche frage: ob der Junge vielleicht nicht doch nur Teil des Gemäldes ist oder ob ich träume.

Als ich mich wieder zu meinen Eltern wende, erkenne ich an Mamas bestürztem Gesicht, dass sie es auch begriffen hat. Meine Eltern wechseln einen schnellen Blick, dann sagt Mama betont fröhlich: »Das neue Haus hat übrigens einen Swimmingpool. Ist das nicht toll bei der Hitze, Adi?«

»Klar«, sage ich und drehe mich noch einmal nach dem Trauerzug um. Die letzten Jugendlichen verschwinden gerade durch das Friedhofstor, auch der Junge mit den blauen Augen ist fort.

»Sag mal, Adriana, wollen wir uns heute Abend vielleicht eine Pizza bestellen?«, fragt Papa.

»Klar«, sage ich wieder. »Gern.«

Meine Eltern wechseln einen weiteren Blick.

Ein paar Minuten später halten wir vor unserem neuen Haus. Es ist sehr hübsch. Gepflegt, sauber, mit einem kleinen Vorgarten, in dem man vermutlich sein Fahrrad liegen lassen könnte, ohne dass es jemand klaut. Es gibt ein Bäumchen im Garten und eine Hecke um das Grundstück. Und tatsächlich einen Swimmingpool.

4

BEN

Sonntag,

21. Juni

16:20 Uhr

Es ist knallheiß an diesem Sonntag. Die Luft über dem Gehsteig flimmert wie eine Fata Morgana in der Wüste. Alle schwitzen sich kaputt unter ihren Anzügen, während wir zum Friedhof gehen, um Ahmet zu beerdigen.

Aber mir ist kalt.

Allmählich sollte ich in der Lage sein, zu begreifen, dass Ahmet tot ist. Aber in Wahrheit ist noch nichts davon bei mir angekommen. Es ist vollkommen irreal. Als würden wir alle in einem Film mitspielen, ohne dass uns vorher jemand Bescheid gesagt hat, und gleich kommt ein Kerl mit Basecap und einer Flüstertüte in der Hand um die Ecke gesprungen und ruft: »Cut, Leute! Die Szene ist im Kasten!«, und wir können alle nach Hause gehen und wieder unser richtiges Leben leben. Fast erwarte ich, dass Ahmet mich von der Seite anrempelt, einen dämlichen Witz reißt und wir uns dann über diese ganze dämliche Scheiße hier lustig machen.

Aber das wird nicht passieren.

Niemals wieder.

Nein, Mann.

Gott, was für eine erbärmliche Show das alles ist. Diese lächerlichen Trauerklamotten und die Sonnenbrillen und die Blumen. Sogar Mark und Leon haben welche dabei, tragen schwarze Anzüge mit Krawatte, als würden sie demnächst eine Bankerlehre anfangen. Dazu tragen sie ihre brandneuen Air Max, was richtig bescheuert aussieht.

Ahmet hätte das bestimmt gefallen. Der hätte das gefeiert. Ich kann trotzdem nicht lachen. Mein Gesicht ist wie versteinert. Wie eine Maske.

Plötzlich taucht ein riesiger Lkw mitten auf der Hauptstraße auf, mit dem Logo irgendeiner Transportfirma auf der Seite, und hintendrein zuckelt eine Familienkutsche, ein Volvo. Offenbar Neuankömmlinge, die gerade in Sonderberg eintreffen. Ausgerechnet am Tag, an dem wir Ahmet beerdigen. Prima Timing.

Hinten in der Familienkutsche sitzt ein Mädchen und schaut zu uns herüber. Die wird sich wohl fragen, was hier abgeht, warum da eine ganze Schulklasse in Trauerkleidung auf dem Weg zum Friedhof ist. Für einen Moment sehen wir uns an. Sie ist in unserem Alter, stelle ich fest. Hübsch.

Dann ist das Auto vorüber.

Ich würde jetzt auch lieber hinter einem Umzugswagen herfahren und irgendwo hinziehen, an einen neuen Ort, wo mich keiner kennt, als das hier mitmachen zu müssen. Als mit ein paar armseligen Blumen in der Hand zum Grab meines besten Freunds trotten zu müssen, umringt von einem Haufen scheinheiliger Idioten. Einfach abhauen, wie Ahmet es vorhatte, weg aus diesem Scheißkaff Sonderberg, und nie mehr zurückkommen.

Aber natürlich geht das nicht.

Ich werfe einen Seitenblick auf Julia. Man kann nicht einfach so abhauen und alles zurücklassen. Am Ende hat das auch Ahmet einsehen müssen. Fast Life.

Unser Trauerzug erreicht den Friedhof, dann marschieren wir den kleinen Kieselpfad zwischen den Bäumen entlang, wo uns die anderen schon erwarten. Sie stehen sich in der Hitze die Füße platt, die ganze verdammte Schule, und dazu jede Menge Erwachsene. Einige Lehrer haben sogar ihre Familienangehörigen mitgebracht, als wär das hier ein Picknick.

Ein paar Gestalten fehlen aber, ich kann die Meyfarth nirgends entdecken. Kein Wunder, die hat Ahmet vom ersten Tag an gehasst. Ich dachte, sie würde trotzdem kommen, weil es Pflicht ist für die Lehrer. Offenbar nicht.

Die beiden Freaks aus Julias Klasse, Lizzie und Kris, haben sich auch nicht blicken lassen. Das verdient beinahe Respekt, denn die hatten ja nun wirklich nichts mit Ahmet zu tun. Im Gegensatz zu den anderen Anwesenden sparen sie sich wenigstens das scheinheilige Getue.

Ahmets Eltern und sein großer Bruder stehen etwas abseits. Seine Ma hat ein riesiges Taschentuch dabei, hinter dem sie ihr Gesicht versteckt. Sein Vater steht daneben und zuckt mit keiner Wimper. Sie sehen aus wie bestellt und nicht abgeholt. Ich würde gern hingehen und ihnen irgendwas Nettes sagen, aber das geht auch nicht, ich kenne sie ja kaum.

Plötzlich greift jemand nach meinem Arm. Mein Alter, und er hat Pfeiffer, unseren Sportlehrer, im Schlepptau. Der schüttelt mir jetzt mit ganz viel Brimborium die Hand, als hätte ich gerade irgendeinen Schulpokal für die Mannschaft geholt. Seine Hand ist klebrig und feucht, ekelhaft. Mein Vater nickt mir nur kurz zu und drückt mir dann seine Pranke auf die Schulter. Was soll das jetzt heißen? Gut gemacht, Junge? Ich winde mich aus seinem Griff und starre auf den Boden, weil mir das erspart, etwas zu den beiden sagen zu müssen. Als Julia nach meiner Hand greifen will, stecke ich sie zur Faust geballt in meine Hosentasche.

Während der Bestatter gegen das Mikrofon an dem Rednerpult klopft, um zu sehen, ob es funktioniert, muss ich wieder an den Umzugswagen denken, und das Mädchen auf der Rückbank des Autos. Im Grunde ist zwischen Sterben und Umziehen kein großer Unterschied. Man verliert sich eben aus den Augen, und alles, was einem dann noch bleibt, sind die Erinnerungen an Dinge, die man gemeinsam erlebt hat. Und auch die werden immer blasser, bis man sie irgendwann ganz vergessen hat. Bis man zu jemand anderem geworden ist. Wie eine Schlange, die sich häutet.

Jetzt geht die Show richtig los. Der Bestatter hält eine Rede, die klingt, als hätte er irgendwelche Standardsätze auf Google zusammengesucht. Er verkündet seine Floskeln mit tief betroffener Miene, Viel zu jung ist er von uns gegangen und dabei hatte er noch so viel vor, und so weiter. Man sieht ihm an, dass das für ihn nur ein Job ist. Was weiß der überhaupt? Von Ahmets Zukunftsplänen jedenfalls ganz sicher nichts.

Die Mädchen weinen, und die Jungs verstecken sich hinter ihren Sonnenbrillen, aber mich erreicht das alles nicht. Vielleicht ist es noch zu früh dafür. Vielleicht kann ich mir immer noch nicht eingestehen, dass Ahmet wirklich tot ist. Vielleicht werde ich das nie können. Mir eingestehen, was auf der Brücke passiert ist.

Ich schaue zu unserem Pfarrer hinüber, der leise mit Ahmets Eltern redet, die immer noch abseits und für sich stehen. Er sieht nicht so aus, als würde ihm das Gespräch großen Spaß machen. Es hat Stress gegeben mit Ahmets Eltern wegen irgendwelcher muslimischen Bestattungsrituale, die dem Pfarrer nicht auf seinen katholischen Friedhof gepasst haben. Mit der Polizei auch, weil die Ahmets Leiche nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden zur Bestattung freigeben wollten, obwohl das der Koran so vorschreibt, das hat Julia mir erklärt. Letztlich ist es dann so gelaufen, dass Ahmets Eltern etwas Geld zusammengekratzt und seine Leiche per Flugzeug in die Türkei haben fliegen lassen, nachdem die Polizei mit ihren Untersuchungen fertig war. Ein paar Eltern der anderen Schüler haben dann für einen Gedenkstein gesammelt, der auf dem Friedhof von Sonderberg an Ahmet erinnern soll. Mein Vater war einer von denen, die keinen Cent beigesteuert haben.

Der Bestatter ist jetzt fertig mit seinem Geschwafel und Dina löst ihn an seinem wackligen kleinen Rednerpult ab. Hurra, noch eine Trauerrede! Sie haben auch mich gefragt, aber alle hatten Verständnis, als ich abgelehnt habe, und so hat es schließlich Dina übernommen. Sie ist Klassenbeste in Deutsch und hat mit ihren Aufsätzen an irgend so einem Landeswettbewerb teilgenommen. Sicher ist sie jetzt sehr stolz auf sich.

Eine Weile klappt es sogar ganz gut, Dina zuzuhören; es lullt mich ein, wie sie da mit tränenerstickter Stimme ihre hübsch formulierten Sätze zum Besten gibt. Aber dann verkackt sie es, als sie uns darüber aufklärt, wie schwer es Ahmet doch im Leben gehabt hat, so als wären er und seine Familie erst letzte Woche aus einem zerbombten Kriegsgebiet nach Deutschland geflohen. Dabei leben die schon ewig hier. Ahmet hat die Heimat seiner Eltern zu Lebzeiten nie gesehen, aber hey, was interessiert das die Klassenbeste in Deutsch?

Dass wir alle füreinander verantwortlich sind, erklärt uns Dina, und jetzt ganz besonders aufeinander aufpassen sollten. Zu spät, Dina, denke ich. Leider zu spät. Dann hebt sie den Blick, schaut ernst in die Runde und schließlich auf mich. Lächelt mich an. Julia hat mir mal erzählt, dass Dina seit der dritten Klasse in mich verknallt ist. Ihre Tränen haben hässliche kleine Rillen in ihr ansonsten perfektes Make-up gegraben, die mich an die Spuren von Würmern erinnern. Etwas in meinem Magen krampft sich heiß zusammen, als hätte mir jemand mit einem Bügeleisen in den Magen geboxt.

Da halte ich es nicht mehr aus.

5

Gesprächsmitschnitt für die Reportage »Ist unsere Jugend noch zu retten?« mit Mark B., Schüler am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium Sonderberg

MB: »Klar, ich erinnere ich mich noch genau an den Tag, als Adi an unsere Schule kam. War irgendwie komisch. Wegen der Sache mit Ahmet, meine ich. Da waren ja noch alle völlig durch den Wind vom Tag vorher, als die Beerdigung war. Und, na ja, weil sich Ben da mitten in Dinas Rede umgedreht und einfach abgehauen ist, das war schon heftig.«

»Aber dir ist Adi trotzdem aufgefallen?«

»Ja, schon, weil sie mit Julia gleich in der ersten Hofpause zu uns rüberkam, an den Baum. Und auch, weil sie so ein langärmliges Shirt anhatte, und das bei der Hitze. Als sie da im Schlepptau von Julia aufgetaucht ist, dachte ich erst, na toll, noch so ein Death-Groupie, und dass die mal bloß schnell wieder abhauen soll.«

»Was ist ein Death-Groupie, Mark?«

»Na ja, weil doch Ahmet und Ben ständig zusammen rumhingen, bevor das mit Ahmet passiert ist. Und danach haben sich alle an Ben gehängt und wollten irgendwelchen Quatsch über Ahmet wissen, besonders die Mädels natürlich. Wie die Aasgeier waren die, das war richtig schlimm, so kurz danach. Es gab jede Menge Gerüchte.«

»Und wie lauteten diese Gerüchte, was hat man sich denn so erzählt an der Schule?«

»Ach, alles Mögliche, aber das meiste davon war auf jeden Fall Bullshit.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Na ja, dass das mit Ahmet gar kein richtiger Unfall gewesen sein soll. Dass Ahmet freiwillig da runtergesprungen ist von der Brücke.«

»Aber das hast du nicht geglaubt?«

»Natürlich nicht! Ben hat gesagt, dass sich Ahmet niemals selbst das Leben genommen hätte, und ich kann mir das auch nicht vorstellen. Der Typ war doch kein Loser!«

»Es war also alles nur Gerede deiner Meinung nach?«

»Genau. Kompletter Schwachsinn, sonst gar nichts.«

6

ADI

Montag,

22. Juni

7:30 Uhr

Mein neues Zimmer liegt im zweiten Stock. Das ist cool, von hier aus kann ich den ganzen Garten überblicken. Cool ist auch, dass es keine Gitter vor den Scheiben gibt. Unter meinem Fenster steht ein kleiner Apfelbaum. Leider sieht der nicht kräftig genug aus, als dass ich mich auf einen seiner Äste schwingen und abhauen könnte, wie man das immer in irgendwelchen Teenie-Filmen sieht. Dafür habe ich ein Vogelnest darin entdeckt. Fünf Amseljunge leben dort, und ihre Eltern reißen sich den ganzen Tag ihre dünnen Amselbeine aus, um sie zu füttern. Die Kleinen scheinen ständig Hunger zu haben. Sie fiepen, was das Zeug hält, aber das stört mich nicht. Babys schreien nun mal, auch Vogelbabys. Ich finde das süß.

Der Pool ist toll, und größer, als ich ihn mir vorgestellt habe, nur leider momentan immer noch ohne Wasser. Irgendwas mit der Wasserzuleitung funktioniert noch nicht so, wie Papa sich das vorstellt. Ich hoffe, er kriegt das in den nächsten Tagen auf die Reihe. Ich hätte Lust, zu schwimmen und mir etwas Bräune zu holen, aber vielleicht ist das doch keine so gute Idee. Da ist nur diese Hecke zwischen unserem Garten und den beiden Nachbargrundstücken, und ich schätze, man könnte von den höher gelegenen Stockwerken der Nachbarhäuser hineinschauen.

Aber jetzt ist nicht die Zeit, über so etwas nachzudenken. Nicht nach allem, was meine Eltern aufgegeben haben. Für mich, für ihre etwas seltsame Tochter. Also nehme ich mir vor, es hier zu mögen, sosehr ich kann. Die Vergangenheit hinter mir zu lassen, wie ich es versprochen habe. Ich finde, ich schulde ihnen das.

Mama ruft aus der Küche. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann kann es losgehen: Zeit für den ersten Tag an der neuen Schule.

7

Vernehmungsprotokoll zum Fall *****, Zeuge: Herr S. Pfeiffer, Sportlehrer

Lassen Sie uns über Benjamin Klausner reden, Herr Pfeiffer.

Ben? Tja, der Junge ist schon eine Nummer für sich. Herausragender Athlet, das steht außer Frage. Führt den Schulrekord im Sprint und Kugelstoßen unangefochten an, wussten Sie das? Erstklassiger Stürmer beim Fußball, wenn er sich auch gelegentlich noch besser in die Mannschaft integrieren könnte. Aber ansonsten – ein echtes Talent, so was sieht man wirklich nicht oft. Ben ist ein ehrgeiziger Junge, und bis vor Kurzem war ich noch absolut überzeugt davon, dass er seinen Weg gehen wird. Dass ihm Großes bevorsteht, aber …

Aber nun glauben Sie das nicht mehr?

Doch, vielleicht kriegt er sich ja wieder ein. Ach, ich weiß nicht. Diese Sache mit diesem Türkenjungen … meine Güte, das hat ihn echt aus der Bahn geworfen. Schade drum, ehrlich.

Der Tod von Ahmet Ercan?

Äh, ja. Also, das scheint ihn doch alles mehr mitgenommen zu haben, als wir das anfangs geglaubt haben. Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, das ist natürlich sehr tragisch, was da passiert ist, aber … ich finde eben, Ben hätte sich mehr auf seine Leistungen konzentrieren sollen, als mit einem Kerl rumzuhängen, dessen Lebensinhalt darin besteht, Hauswände mit seinen Schmierereien zu verschandeln. Und ich bin nicht der Einzige, der das so sieht, das können Sie mir glauben.

Sie meinen, dass seine Freundschaft mit Ahmet Ercan Benjamin zum Schlechteren verändert hat?

Ehrlich gesagt ja. Und dann wurde es immer schlimmer mit ihm. Ein Jammer.

Sie finden also, er hat nach dem Tod seines besten Freundes überreagiert?

Ach, jetzt stellen Sie mich mal nicht als so herzlos hin, ja? Na klar, das hat alle mitgenommen, die ganze Schule stand unter Schock, Schüler wie Lehrer gleichermaßen, aber …

Aber?

Na, schließlich war es ja nicht Bens Schuld, was da auf der Brücke passiert ist, nicht? Aber es ist ein verdammt kritisches Jahr für die Sportauswahl, und ich hatte eine Menge Arbeit damit, die Scouts davon zu überzeugen, sich Ben anzuschauen, verstehen Sie? So eine einmalige Chance wirft man doch nicht weg!

Haben Sie auch mit Ben darüber gesprochen?

Worüber?

Darüber, was Sie über seine Freundschaft zu Ahmet Ercan denken?

Natürlich hab ich das. Mehrfach sogar. Anfangs war er ja auch noch zugänglich, aber dann wurde er zunehmend aggressiv, richtig ausfallend, wenn das Thema Ahmet zur Sprache kam.

Was haben Sie daraufhin getan?

Überhaupt nichts! Vielleicht bin ich mal etwas lauter geworden, aber im Sport muss man das abkönnen, und Ben ist ja nun ganz sicher kein Weichei, der wusste das schon zu nehmen. Ich meine, es war ja schließlich alles zu seinem Besten, nicht?

Wie hat Ben denn konkret darauf reagiert?

Wie ein kleiner, störrischer Junge. Einmal hat er sich mitten im Gespräch umgedreht und ist gegangen, einfach so. Und ab dem nächsten Tag ist er gar nicht mehr zum Training erschienen, hat alles hingeworfen, und sein Vater … ach hören Sie mir auf!

Sein Vater unterstützt den Verein mit recht großzügigen Spenden, nicht wahr? Beziehungsweise seine Firma.

Na und? Was hat das denn jetzt damit zu tun?

Nur eine Feststellung, Herr Pfeiffer.

Aha. Na, wie auch immer. Wäre dieser Ahmet nicht gewesen …

Dann?

Dann würden wir jetzt jedenfalls nicht hier sitzen und über diesen ganzen Mist reden, oder?

8

ADI

Montag,

22. Juni

9:20 Uhr

Mein erster Tag am Fritz beginnt damit, dass ich mir wünsche, im Boden zu versinken. Was zum einen damit zu tun hat, dass Mama darauf bestanden hat, mich zur Schule zu fahren, und mich vor allen vorbeilaufenden Schülern mit einer langen Umarmung verabschiedet hat, und zum anderen, dass mir jetzt ein Teil dieser Schüler mit grinsenden Gesichtern gegenübersitzt.

Meine neue Klassenlehrerin, Frau Nowak, scheint jedoch ein Glücksfall zu sein. Die Schüler mögen sie, das merke ich sofort, vor allem die Jungs, denn sie sieht ziemlich gut aus, aber sie ist auch der Typ Mensch, den man nicht enttäuschen möchte. Die meisten anderen Lehrerinnen und Lehrer erzeugen bei mir den gegenteiligen Effekt.

Sie stellt mich mit ein paar Sätzen der Klasse vor, und wow, jetzt halte ich mich glatt selbst für eine mittlere Berühmtheit. Als ob meine Eltern und ich gerade aus einem fernen, mystischen Land hergezogen sind – und nicht bloß aus Bremen, das zwar im Gegensatz zu Sonderberg eine Großstadt ist, aber nun ganz sicher auch nicht der Nabel der Welt. Ein paar der Schüler scheint das aber doch zu beeindrucken, vielleicht sind sie noch nicht allzu oft aus Sonderberg rausgekommen.

Zum Glück erspart mir diese Einführung, mich groß und breit selbst vorstellen zu müssen und mir noch irgendwelche Hobbys aus den Fingern zu saugen. Das beeindruckt nur Vollnerds und auf keinen Fall will ich in meiner neuen Schule gleich in der ersten Stunde als Vollnerd abgestempelt werden.

Frau Nowak versucht das Eis zu brechen und fragt in die Runde, ob noch irgendjemand was von mir wissen will. Will aber keiner, es gibt nur peinliches Schweigen. Was mir ganz recht ist, denn ich würde sowieso am liebsten im Erdboden versinken. Mein Handgelenk juckt wie verrückt unter meinem Ärmel. Ich hasse so was, echt. Irgendwer kichert leise.

Aber dann erinnere ich mich daran, dass ich es diesmal ganz anders angehen will. Dass ich mich nicht mehr in meinem Schneckenhaus verkriechen und abwarten will, bis das Gewitter vorüber ist.

Weil ich jetzt ein neues Mädchen bin.

Das ist das Gute daran, wenn man an eine neue Schule kommt. Man kann jemand anders sein – noch einmal ganz von vorn anfangen, hier, wo einen noch niemand kennt. Und man kann ein paar Dinge für sich behalten, so lange wie möglich. Vielleicht sogar für immer, wenn man Glück hat. Es kostet mich viel Selbstbeherrschung, jetzt nicht mein Handgelenk zu kratzen, aber ich kriege es hin. Ich atme ein, hebe den Kopf.

Einfach lächeln.

Also lächle ich und schaue jedem meiner neuen Mitschüler kurz ins Gesicht. Und erstaunlicherweise lächeln nach und nach alle zurück, bis es die ganze Klasse tut. Cool. Ich bringe noch mal ein »Hi!« hervor, ein bisschen zu laut vielleicht, aber egal.

»Ihr könnt auch Adi zu mir sagen«, erkläre ich. »Kein Mensch nennt mich Adriana. Nicht mal meine Oma.«

Damit springt der Funke über, einfach so. Jetzt lachen die meisten, aber mit mir, nicht über mich. Vom Jucken in meinem Handgelenk ist nichts mehr zu spüren. Ich atme erleichtert auf.

»Danke, Adi«, sagt Frau Nowak und meint, dass ich mich jetzt setzen kann. Dabei deutet sie auf einen freien Sitzplatz neben einem dürren Jungen mit Kassengestellbrille und einem ziemlich heftigen Akneproblem, der in der ersten Reihe sitzt. Aber ich gehe schnurstracks nach hinten weiter, wo es noch einen anderen freien Tisch gibt, neben einem Mädchen, das mir freundlich zulächelt.

»Okay für dich, Julia?«, fragt Frau Nowak, und das Mädchen nickt. Als ich mich hinsetze, hält sie mir die Faust hin, und ich schlage meine leicht dagegen. Das ist irgendwie, als hätten wir einen Pakt geschlossen. Auch wenn es die Nowak sicher lieber gehabt hätte, wenn ich in der ersten Reihe bei dem Jungen mit der Brille säße, der sich bestimmt bei jeder Frage als Erster meldet.

Die erste Stunde ist eine Doppelstunde Deutsch. Wir besprechen eine Kurzgeschichte von Julia Franck, in der sie ein vierzehnjähriges Mädchen beschreibt, das einen älteren Typen kennenlernt, mit dem sie sich ein paarmal trifft, ins Kino geht. Kurz darauf muss er ins Krankenhaus, wo er starke Schmerzen hat und sie die ganze Zeit um Morphium anbettelt, aber sie hat keins und backt ihm stattdessen Streuselschnecken, weil er doch so gerne Kuchen ist. Zum Schluss, als der Typ schließlich stirbt, kommt raus, dass er ihr Vater war.

So richtig warm werde ich mit der Geschichte nicht. Als Frau Nowak mich fragt, wie ich die emotionale Stimmung in der Geschichte beschreiben würde, sage ich: »Ziemlich kalt«, weil all diese Ereignisse so runtergerasselt werden und die Gefühle des Mädchens in der Geschichte kein einziges Mal klar werden. Kennenlernen, Krankheit, Tod und fertig. Alles wie im Zeitraffer.

Für einen Moment senkt sich eine unangenehme Stille über den Raum, aber dann lächelt mir die Nowak zu und sagt, ja, genau das sei auch ihr Eindruck und ob ich mir vorstellen könne, was uns die Autorin mit dieser Geschichte habe sagen wollen.

Ich denke, sage ich, es geht ihr vor allem um den Satz, den der Vater sagt, als er schon im Krankenhaus liegt. Dass er immer glaubte, später sei noch Zeit, sich mit seiner Tochter zu beschäftigen. Aber irgendwann ist das Später zu Ende, und viel schneller, als er geglaubt hat, und das ist doch immerhin etwas, woraus seine Tochter was lernen könnte. Wobei man nicht erfährt, ob sie das tatsächlich tut.

Dafür bekomme ich zustimmendes Gemurmel und von Frau Nowak eine Eins. Als ich mich zu Julia umdrehe, zeigt sie mir einen Daumen nach oben und lächelt ebenfalls, aber in ihren Augen glitzern Tränen.

Scheiße, denke ich, weil mir erst da wieder bewusst wird, dass hier bestimmt auch Schüler sind, die gestern zu dieser Beerdigung unterwegs waren. Ich muss unbedingt herausfinden, wer gestorben ist.

Als es zur großen Pause klingelt, packt mich meine neue Banknachbarin Julia einfach an der Hand und zerrt mich raus in den Flur und dann ins Treppenhaus, als wäre ich ein krasses neues Spielzeug, das sie jetzt vor ihren Freundinnen herumzeigen will.

Alle, die uns so sehen, müssen denken, dass wir schon seit Ewigkeiten beste Freundinnen sind, während wir lachend die Treppen hinunter zum Schulhof stürmen und ich versuche, mit ihr Schritt zu halten. Ich glaube, das ist genau der Eindruck, den sie erwecken will. Immerhin komme ich ja aus Bremen und habe einen so coolen Namen, dass nicht mal meine Oma meinen richtigen Vornamen benutzen würde.

Also lasse ich es geschehen, laufe und lache einfach mit. Wer hätte gedacht, wie einfach das geht. Als der Ärmel meines Longsleeves am Treppengeländer hängen bleibt und kurz hochrutscht, halte ich den Atem an, aber dann löst sich der Stoff vom Geländer. Hastig schiebe ich den Ärmel wieder über mein Handgelenk. Julia bemerkt nichts.

9

Gesprächsnotizen für die Reportage »Ist unsere Jugend noch zu retten?« mit Lisbeth K., Schülerin am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Sonderberg

LK: »Adriana ist mir sofort aufgefallen, logisch. Sie hatte einfach etwas Besonderes an sich, verstehen Sie? Zunächst mal ist sie echt hübsch, finde ich. Und dann hat sie auch … so was Düsteres an sich … Nein, das ist auch der falsche Ausdruck. Sie hat eine violette Aura, wie meine Tante sagen würde.«

»Kannst du das noch anders beschreiben?«

»Ernsthaft trifft auf sie zu. Man trifft nicht allzu viel ernsthafte Menschen im Fritz. Da gibt es die, die sich immer in den Vordergrund drängen und auf erwachsen tun, aber das ist was anderes. Die meisten benehmen sich trotzdem, als wären sie noch im Kindergarten und als würde das nie aufhören.«

»Aber Adi war nicht so?«

»Nein, und das war eine wohltuende Abwechslung. Und das, was sie über diese Kurzgeschichte gesagt hat, Streuselschnecke, das war schon ziemlich deep. Also wollte ich mehr über dieses Mädchen rauskriegen, auch wenn ich es seltsam fand, wie sie sich an unsere kleine Miss Perfect drangehängt hat. Und ihre Frisur, da musste man auch was machen.«

»Miss Perfect – wen meinst du damit?«

»Na, Julia Stoltze, Liebling aller Lehrer, feuchter Traum aller kleinen Fußballstars – und natürlich die Freundin von Ben, unserem Superathleten. Aber vielleicht wusste Adi es damals noch nicht besser.«

»Und dass sie mitten im Schuljahr zu euch gekommen ist – hast du dir darüber mal Gedanken gemacht?«

»Klar. Aber die Nowak hat uns gleich in der ersten Stunde erzählt, dass ihre Eltern umziehen mussten, irgendwas mit dem Job von Adis Mutter, also haben wir das geglaubt. Ihr Vater ist übrigens Schriftsteller, wussten Sie das?«

»Wo seid ihr euch zum ersten Mal persönlich begegnet, du und Adi?«

»Wo wir uns begegnet sind?« (Lacht) »Auf dem Klo. Kris und ich hängen ständig auf dem gesperrten Klo im Erdgeschoss rum. Dort ist man ungestört und kann den ganzen Schulhof überblicken. Da lernt man mehr als in den meisten Fächern.«

»Zum Beispiel?«

»Wer gerade die Clique gewechselt hat, wer wem das Pausenbrot abzieht oder wo sich das nächste Pärchen anbahnt und wo demnächst jemand Schluss machen wird. Die Leute verraten durch ihre Körpersprache mehr über sich, als sie glauben.«

»Aha. Und ihr beobachtet sie heimlich dabei?«

»Heimlich? Der Schulhof ist doch für alle gut zu überblicken.«

»Ihr beobachtet also das Leben auf dem Pausenhof, ohne selbst daran teilzunehmen?«

»Was? So ein Blödsinn. Sicher nehmen wir am Leben teil, nur eben nicht an diesem Quatsch, der da auf dem Schulhof abgeht. Das Fritz ist doch nicht das ganze Leben. Nicht mal in Sonderberg. Schule ist nur der Pflichtteil, klar? Und der ist für manche von uns eben aus der Ferne am aufschlussreichsten.«

10

ADI

Montag,

22. Juni

10:50 Uhr

Meine neue beste Freundin Julia zieht mich hinaus auf den Pausenhof, mitten hinein in die Sonne und das Geschnatter der anderen Schüler. Wir sind beide außer Atem, als wir unten ankommen, und mir ist ganz schön warm unter meinem langärmligen Shirt.

Julia steuert schnurstracks auf einen Baum im Schulhof zu, der ein wenig Schatten spendet. Dort sitzt ein Typ auf der Lehne einer Bank, die Füße auf der Sitzfläche. Selbst aus der Ferne kann man seine breiten Schultern erkennen. An meiner alten Schule hätte das kein Lehrer mitgemacht. Aber offenbar genießt der Junge Sonderrechte. Links und rechts der Bank, aufgestellt wie Wachtposten, lungern zwei ebenfalls sportlich aussehende Typen herum. Sie tragen T-Shirts mit kurzen Ärmeln, sodass man ihre Muskeln sehen kann. Ich verkneife mir ein Grinsen.

Plötzlich tauchen zwei Mädchen auf, jünger als Julia und ich, und steuern direkt auf die Bank zu. Eine davon spricht den Typen mit den dunklen Haaren rechts neben der Bank an, aber der schüttelt energisch den Kopf und ruckt sein Kinn in unsere Richtung. Die zwei drehen sich rasch um, werfen Julia einen erschrockenen Blick zu und laufen dann hastig davon.

»Death-Groupies«, raunt Julia mir zu.

»Wie bitte?«, frage ich, aber Julia schüttelt nur den Kopf. Ich hoffe, sie wird mir später noch erklären, was das Wort bedeutet, denn es klingt ziemlich furchtbar. Wie Aasgeier.

Uns lassen die beiden Typen durch, sie nicken Julia bloß zu, und als der mit den kurzen, schwarzen Haaren skeptisch in meine Richtung blickt, sagt Julia nur: »Sie ist in Ordnung.«

Aha, denke ich, ich bin also in Ordnung, einfach so. Cool.

Dann hebt der Junge auf der Bank, der die ganze Zeit auf das Display seines Handys gestarrt hat, den Kopf. Seine blonden Haare sind nicht zurückgegelt wie gestern, und er trägt auch keinen schwarzen Anzug, aber ich erkenne ihn sofort wieder. Seine Augen wirken aus der Nähe noch intensiver.

Er sieht mich an; vielleicht eine Fortsetzung des Blicks von gestern, fragend und ein bisschen so, als ob wir uns von irgendwoher kennen. Kann aber auch sein, dass er immer so schaut.

»Das ist Adi«, sagt Julia. »Sie ist neu an der Schule. Sie ist in Ordnung.«

Schon wieder.

»Mitten im Schuljahr?«, fragt der Junge.

»Das ist Ben«, ignoriert Julia die Frage und guckt mich an. »Mein neugieriger Freund.« Dann, an Ben gewandt: »Ja, mitten im Schuljahr, Ben. Ihre Mutter hat einen Job in der Nähe angenommen, deshalb. Zufrieden?«

Ben zuckt mit den Schultern, als würde ihn die Antwort auf seine eben gestellte Frage gar nicht mehr interessieren, dann schaut er wieder auf sein Handy.

»Die zwei hier sind Mark und Leon«, stellt Julia weiter vor, und die beiden Muskelprotze nicken knapp in meine Richtung. »Sie machen einen auf Macho, sind aber eigentlich ganz in Ordnung.«

Ah ja.

Damit ist die Vorstellungsrunde offenbar beendet, denn Julia macht einen Schritt auf Ben zu, nimmt sein Gesicht in die Hände und küsst ihn. Ich weiß nicht so recht, wohin ich gucken soll, denn das Ganze gerät ziemlich schnell zu einem heftigen Rumgeknutsche; Julia macht ein richtiges Spektakel daraus.

Ich sehe, wie sie ihre Hände tief in Bens Haar gräbt, und für einen Moment durchzuckt mich beinahe so etwas wie Eifersucht. So, als wäre er meine Entdeckung, auf die ich einen Anspruch habe, was Unsinn ist. Es hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen. Ein Typ wie er ist natürlich mit einem Mädchen zusammen, das aussieht wie Julia.

Mark und Leon stehen unbeteiligt neben der Bank und lassen den Blick schweifen. Wahrscheinlich halten sie nach sich nähernden Death-Groupies Ausschau, um sie tapfer abzuwehren.

Plötzlich öffnet Ben die Augen und schaut mir über Julias Schulter direkt in die Augen, während sie sich weiter küssen. Forschend, intensiv, fragend. So, als würde er in meinem Gesicht etwas Bestimmtes suchen. Es vielleicht auch finden.

Während er seine Freundin küsst.

Das ist zu viel.