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Heldinnen der Musik
Wenn Sie in Ihrem Bekanntenkreis nach Komponistinnen klassischer Musik fragen, werden Sie feststellen, dass die meisten bei diesem Thema schnell ins Stocken geraten. Mit ihrer leidenschaftlichen Femmage möchte Star-Cellistin Raphaela Gromes dies ändern und begibt sich gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka auf eine Entdeckungsreise zu den lange vergessenen und bis zum heutigen Tag unterschätzten Heldinnen der Musikgeschichte.
Wer also waren Amy Beach, Florence Price und Henriëtte Bosmans? Wie lebten die in Vergessenheit geratenen Frauen, die unermüdlich für ihre Kreativität und ihre Freiheit kämpfen mussten? Komponierten sie anders als ihre männlichen Kollegen? Was können wir heute von ihnen lernen? Das sind nur einige der Fragen, denen sich Raphaela Gromes mit großer Leidenschaft widmet und die sie mit einer Mischung aus fundiertem Wissen und Einblicken in ihr Leben als Musikerin lebendig werden lässt.
Fortissima! ist ein erfrischender Blick auf die weibliche Musikgeschichte – und die charmante Einladung, sich mit herausragenden Komponistinnen und ihrer fantastischen Musik zu beschäftigen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 404
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wenn Sie in Ihrem Bekanntenkreis nach Komponistinnen klassischer Musik fragen, werden Sie feststellen, dass die meisten bei diesem Thema schnell ins Stocken geraten. Mit ihrer leidenschaftlichen Femmage möchte Star-Cellistin Raphaela Gromes dies ändern und begibt sich auf eine Entdeckungsreise zu den lange vergessenen und bis zum heutigen Tag unterschätzten Heldinnen der Musikgeschichte.
Wer also waren Amy Beach, Florence Price und Henriëtte Bosmans? Wie lebten die in Vergessenheit geratenen Frauen, die unermüdlich für ihre Kreativität und ihre Freiheit kämpfen mussten? Komponierten sie anders als ihre männlichen Kollegen? Was können wir heute von ihnen lernen? Das sind nur einige der Fragen, denen sich Raphaela Gromes mit großer Leidenschaft widmet und die sie mit einer Mischung aus fundiertem Wissen und Einblicken in ihr Leben als Musikerin lebendig werden lässt.
Raphaela Gromes ist renommierte Cellistin und seit 2016 Exklusivkünstlerin bei Sony Classical. Ihre Alben erschienen ausnahmslos in den Top 10 der deutschen Klassik Charts und wurden u. a. mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik, dem OPUSKLASSIS und dem Diapason d’Or ausgezeichnet. Sie tritt regelmäßig als Solistin und Kammermusikerin in den wichtigsten Konzertsälen Europas und Asiens auf und ist auch beliebte, regelmäßige Gesprächspartnerin in den großen Talkshowformaten. Im Februar 2023 erschien ihre CDFemmes, auf der sie 24 Komponistinnen quer durch die Musikgeschichte interpretiert. Im September 2025 erscheint bei Sony das Folgealbum. Es trägt, wie das Buch, den Titel Fortissima.
www.raphaelagromes.de
Susanne Wosnitzka, studierte Musikwissenschaftlerin, spezialisierte sich schon im Studium mit einer eigenen Vortragsreihe auf Komponistinnen. Heute ist sie freischaffend beratend und für das Archiv Frau und Musik sowie ehrenamtlich u.a. im Vorstand von musica femina münchen tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das süddeutsche Kulturleben des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die Zugänglichmachung von Frauen(musik)geschichte.
www.susanne-wosnitzka.de
Raphaela Gromes
Susanne Wosnitzka
Verdrängte Komponistinnen und wie sie meinen Blick auf die Welt verändern
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Originalausgabe September 2025
Copyright © 2025: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Gregor Hohenberg
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
EB ∙ CF
ISBN 978-3-641-32680-7V002
www.goldmann-verlag.de
Vorwort
Präludium
Kapitel 1Auf der Suche nach Neuem
Matilde Capuis – »Ohne Musik wäre ich verrückt geworden«
Typisch weiblich?
Kapitel 2 Femmes – Feuer und Flamme für Komponistinnen
Henriëtte Bosmans – Liebe als Inspirationsquelle
Kapitel 3 Von den Ursprüngen des Patriarchats in der Kulturgeschichte
Weit zurück: Hypatia, Sappho und die Hetären
Die monotheistischen Religionen im Einklang
Hildegard von Bingen – Harmonie zwischen Himmel und Erde
Welt im Umbruch – Die Reformation
Kapitel 4 Wiedergeburt!
Concerti delle Donne
Francesca Caccini – Opernpionierin
Venezianische Ospedali
Maria Antonia Walpurgis von Sachsen – Vertauschte Rollen
Kapitel 5 Von Reifrock und Tournüre zum Pailletten-Jumpsuit – Das Cello als Männerinstrument?
Lise Cristiani – Engel am Cello?
Guilhermina Suggia – Meisterin der Technik
Hosen als feministisches Statement
Die Löwinnen von Paris
Kapitel 6 Von der Postkutsche zu British Airways – Virtuosinnen auf Reisen
Clara Wieck allein in Paris
Fanny Hensel auf Italienreise
Kapitel 7 Große Sinfonik – Von Pionierinnen und (fehlenden) weiblichen Vorbildern
Maria Szymanowska – Ein »weiblicher Vulcan«
Marianne Martines – Frühe Wiener Klassik
Luise Adolpha Le Beau – Große Romantik
Emilie Mayer – Kein »weiblicher Beethoven«
Kapitel 8 Selbstbewusste Französinnen
Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre – Musikalisches Wunder am Hof des Sonnenkönigs
Louise Farrenc – Die erste Sinfonie
Mel Bonis – Musik als Katharsis
Marie Jaëll – Das erste Cellokonzert
Germaine Tailleferre – Einzige Frau der Les Six
Kapitel 9 Nadia und Lili Boulanger – Symbiotische Schwestern
Kapitel 10 Amy Beach – Atemberaubende Musik aus den USA
Kapitel 11 Politische Komponistinnen
Johanna Kinkel – Eine deutsche Revolutionärin
Ethel Smyth – Pionierin der britischen Oper
Elfrida Andrée – Schwedische Visionärin an der Orgel
Elisabeth Kuyper – Niederländische Dirigentin und Gründerin von drei Frauenorchestern
Wie ich zur Feministin wurde
Kapitel 12 Künstlerinnen aus dem Osten Europas
Sofia Gubaidulina und Galina Ustvolskaja
Ukrainische Komponistinnen – Kampf um die kulturelle Identität
Zwei Nationalheldinnen
Kapitel 13 Doppelt marginalisierte Komponistinnen
Florence Price – Ein sensationeller Fund
Menschenhandel – »Oder bin ich etwa keine Frau?«
Afroamerikanische Komponistinnen im Aufbruch
Maria Herz – Verstummen im Exil
Ruth Schonthal – In Memoriam Holocaust
Ilse Weber – Erschütternde Poesie
Kapitel 14 Auf Spurensuche nach Komponistinnen
Victoria Yagling – Die Komponistin unter den Cellistinnen
Vilma von Webenau – Das tragische Ende von Schönbergs erster Schülerin
Pionierinnen der Musikwissenschaft
Kapitel 15 Zeitgenössische Schätze
Kapitel 16 Visionäres anstelle von Zumutungen
Nur eine Mode?
Die Macht des Publikums
Postludium Komponieren Frauen eigentlich anders?
Es gibt ihn doch, den Unterschied
Dekonstruktion
Anmerkungen
Zum Weiterlesen und Informieren
Personenregister
Seit der Veröffentlichung meiner CDFemmes im Jahr 2023 mit Werken von Komponistinnen von Hildegard von Bingen bis Billie Eilish wurde ich immer wieder gebeten, ein Buch über meine Schatzsuche nach diesen großteils unbekannten Werken zu schreiben. Das Booklet zur CD von Susanne Wosnitzka, die als Musikwissenschaftlerin seit über 20 Jahren zu Komponistinnen forscht, wurde vielfach als ideale Ergänzung zur Musik wahrgenommen. Bei der CD-Release-Party entpuppte sie sich als wandelndes Lexikon nicht nur zu Komponistinnen, sondern auch zur Geschichte des Feminismus generell – eine entscheidende Grundlage, um Leben und Wirken der komponierenden Frauen einordnen und verstehen zu können.
»Du solltest ein Buch schreiben!«, sagte ich nach einem ausgedehnten und erhellenden Privatvortrag von Sou.
»Wenn du mitmachst, sehr gerne!«
So haben wir uns zusammengetan, um dieses Projekt zu realisieren. Neben einigen Biografien von Komponistinnen und deren historischer Einordnung erzähle ich zudem von prägenden Erlebnissen, bizarren Begegnungen und persönlichen Erfahrungen aus meinem Bühnenleben.
Während der Recherche war ich oft schockiert, dass ich trotz meines langen Musikstudiums von den meisten dieser genialen Frauen noch nie gehört hatte und mit welchen Herausforderungen und Einschränkungen fast alle zeitlebens zu kämpfen hatten. Wir gehen hier der Frage nach, woher diese Diskriminierungen kamen und warum Komponistinnen im Musikbetrieb selbst heute noch kaum eine Rolle spielen, obwohl viele bereits vor Jahrzehnten von der Frauenmusikforschung wiederentdeckt wurden.
Unmöglich können wir allen Komponistinnen von der Antike bis zur Gegenwart gerecht werden, wir erheben in diesem Buch somit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und wollen auch keine Anthologie der weiblichen Musikgeschichte verfassen – ein Vorhaben, das ebenso absurd wäre wie der Versuch, die Geschichte aller Komponisten in einem einzigen Band zusammenzufassen.
Stattdessen präsentieren wir eine persönliche Auswahl von Komponistinnen, deren Werke uns besonders berühren und beeindrucken. Unser Fokus liegt dabei – wie könnte es anders sein – auf Frauen, deren Œuvre auch Werke für Cello enthält. Außerdem schreibe ich über meinen persönlichen Zugang zu den Werken, die ich auf Femmes und der zeitgleich mit dem Buch erscheinenden CDFortissima eingespielt habe. Während ich auf Femmes brillante Miniaturen von 24 Komponistinnen aus aller Welt aufgenommen habe, konzentriere ich mich bei Fortissima auf umfangreichere Werke wie Sonaten und Konzerte. Die Schicksale der Komponistinnen sind geprägt von patriarchalen Strukturen und Vorurteilen, daher spielen die Frauenbewegungen in den verschiedenen Ländern Europas und den USA hier immer wieder eine zentrale Rolle. Dazwischen unternehmen wir Ausflüge in die Welt von reisenden Virtuosinnen, skandalträchtigen Cellistinnen und politischen Hosenträgerinnen.
Eines können wir versprechen: Komponistinnen machen süchtig! Wer sich einmal mit ihnen beschäftigt, wird neugierig auf mehr. Fortissima! soll eine Tür öffnen – zu mehr Wissen und vor allem mehr Musik. Denn je mehr wir die großartige Musik hören, die Frauen komponiert haben, desto reicher wird unsere Welt.
Für die musikalische Begleitung zum Buch bitte hier entlang: https://raphaelagromes.lnk.to/FortissimaPlaylist
Wie es sich anfühlt, in einer Musikerfamilie aufzuwachsen? Ganz normal, natürlich! Das dachte ich zumindest immer. Ich dachte auch lange, dass es ganz normal ist, dass jeder ein Klavier zu Hause hat. In meiner Kindheit fragte ich Freunde erst mal verwirrt nach ihrem Flügel, wenn ich im Wohnzimmer keinen entdecken konnte. Mittlerweile weiß ich, dass es »normal« sowieso nicht gibt, meine Kindheit aber alles andere als gewöhnlich war.
Mein Alltag war klar durchstrukturiert, es gab seit meinem fünften Lebensjahr feste Zeiten, in denen ich erst Klavier-, dann Cellounterricht bei meiner Mutter hatte. Meist unterbrochen von Pausen für die Hausaufgaben, doch der feste Zeitplan verunmöglichte nahezu alle anderen Freizeitaktivitäten. Klar, ich konnte mit meinem Cousin spielen – zwei Einzelkinder, die wie Geschwister im selben Haus nördlich von München aufwuchsen. Manchmal, wenn ich auch nach dem Abendessen noch Unterricht und wirklich keine Lust mehr auf Cello-Üben hatte, hat mich mein Cousin gerettet: Er kam leichenblass zur Tür herein und erklärte, dass er wegen seiner schlimmen Kopfschmerzen unbedingt sofort Ruhe bräuchte – sein Bett war direkt unter unserem Musikzimmer. Meine Mutter denkt vermutlich bis heute, dass er wie sie selbst unter schwerer Migräne litt. Dabei wollte er mich meistens nur vom abendlichen Unterricht befreien. Ein besonderer Dank an dieser Stelle!
Die vierjährige Raphaela im Cello-Faschingskostüm, selbst gebastelt mit ihrem Vater
Raphaela Gromes (privat)
Aber natürlich gebührt vor allem meiner Mutter großer Dank: Wenn ich aufgrund ihrer Strenge nicht jeden Tag fraglos Cello geübt hätte, wäre ich jetzt nicht so selbstverständlich mit meinem Instrument verbunden und könnte darauf wie mit eigener Stimme singen. Besonders wertvoll war außerdem, dass mir meine Mutter als Cellistin und Lehrerin von Anfang an eine gute Technik beigebracht hat. Ich konnte mir also beim Üben keine Fehler eintrainieren, die ich später wieder mühsam hätte umlernen müssen.
Als ich auf einem Meisterkurs beim legendären David Geringas ein besonders schwieriges Cellokonzert von Julius Klengel mit Tonleitern und Dreiklängen in allen möglichen und unmöglichen Lagen spielte, sagte der Großmeister zu mir: »Woher kannst du das denn so mühelos?«
»Von meiner Mutter«, antwortete ich.
»Dann musst du ihr jeden Tag danken.«
Ich danke ihr also, auch wenn es keine rosige Kindheit war. Viele dieser Erfahrungen teile ich vermutlich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der klassischen Musik. Es gab kaum Freundinnen, die diesen verrückten Zeitplan akzeptierten und nicht beleidigt waren, wenn ich mich nicht spontan mit ihnen treffen, auf ihre Geburtstagsfeiern kommen oder einfach nach der Schule noch herumtoben und abends ins Kino gehen konnte. Genau genommen gab es in den ersten Jahren überhaupt nur eine Freundin, die das alles unbeirrt mitmachte: Olivia. Sie setzte sich ins Musikzimmer und wartete stoisch ab, bis ich fertig geübt hatte und wir endlich spielen konnten. Im Grunde war sie mein erstes Publikum: Damit sie sich beim Zuhören meines Cellounterrichts nicht allzu sehr langweilte, durfte ich in Olivias Anwesenheit ein Stück nach dem anderen spielen. Ich hoffte natürlich immer, dass ihr meine Musik gefiel und probierte aus, womit ich sie am besten unterhalten konnte.
Normalerweise musste ich erst mal endlos Tonleitern und Etüden mit Metronom »hochziehen«, wie meine Mutter es nannte – also stufenweise schneller üben – bevor es dann zum Ende des Unterrichts ein »richtiges« Stück als Belohnung gab.
Die meisten Kinder in meiner Schule hatten weniger Verständnis für mein Anderssein. »Cello-Nerd« oder »Cello-Streberin« wurde ich da genannt. In der fünften Klasse eröffnete mir eine Mitschülerin bei einem Klassenausflug, dass mein Kleiderstil total uncool und peinlich sei. Damals trug ich meistens – wie meine Mutter – altmodische Kleidchen oder bunte Röcke mit Blusen. Zum Glück erbarmte sich ein nettes Mädchen namens Maja meiner und fuhr mit mir nach München, um mit mir meine erste Jeans und ein paar T-Shirts bei H&M einzukaufen. Dieselbe Maja nahm mich auch ein paar Tage bei sich auf, nachdem während eines Streits mit meiner Mutter so sehr die Fetzen geflogen waren, dass ein Stuhl und ein Cellobogen zu Bruch gingen und ich mich schutzsuchend in der Toilette einsperrte – deren Tür kurz darauf ebenfalls einem Wutanfall zum Opfer fiel. Mein Vater kam später vorbei, um mit schuldbewusster Miene den Türrahmen zu leimen. Er hatte sich schon einige Jahre zuvor von meiner Mutter getrennt und mich vorübergehend meinem Schicksal überlassen.
Spätestens nach diesem Vorfall wurde uns bewusst, dass ich mir einen anderen Lehrer suchen musste. War der Unterricht in meiner Kindheit noch das reine Vergnügen gewesen, so artete er in der Pubertät zu regelmäßigen Machtkämpfen aus. Da ich schon seit Jahren den Traum gehegt hatte, Berufscellistin zu werden, und spätestens seit meinem ersten Auftritt mit Orchester mit dem Gulda-Cellokonzert den Bühnen-Flow lieben gelernt hatte, wollte ich unbedingt einen Platz als Jungstudentin an einer Musikhochschule ergattern. Diese Möglichkeit wird für hochbegabte Jugendliche angeboten, damit sie parallel zur Schule ihr Instrument studieren können. Ich fuhr also mit 14 Jahren allein quer durch Deutschland auf Meisterkurse bei verschiedenen Professoren, um einen für mich passenden Lehrer zu finden. Noch spannender als die musikalischen Impulse fand ich, was abends passierte: Es gab Ausflüge zur Shisha-Bar, Wodka mit Orangensaft wurde mir als gutes alkoholisches Einsteigergetränk verabreicht, wir hörten alles außer Klassik und redeten über alles außer Musik. Eine spanische Cellistin brachte mir Salsa bei, ein ungarischer Cellist wirbelte mich beim Tanzen so durch die Luft, dass ich das Gefühl hatte, zu fliegen, und in den besten (litauischen) Cellisten eines Kurses verliebte ich mich unsterblich … So entschied ich, dass ich dort studieren wollte, wo ich ihn wiedersehen würde: an der Musikhochschule in Leipzig bei Peter Bruns, wo ich kurz darauf tatsächlich mein Jungstudium begann.
Bis zu meinem Abitur pendelte ich also mit der Bahn zwischen München und Leipzig. Dank der großzügigen Unterstützung meiner Lehrer am Camerloher-Gymnasium Freising bekam ich jederzeit eine Schulbefreiung, wenn ich Cellounterricht hatte. In meinem Abiturjahr durfte ich sogar während der Schulzeit drei Wochen lang auf Tournee nach Südafrika fahren. Nach und nach lernte ich die »reale« Welt kennen, eine Welt außerhalb des einseitig elitären Kunstverständnisses, mit dem ich aufgewachsen war und in dem meine Mutter alles außer Klassik als »Quatschmusik« bezeichnet hatte.
Zu Hause war ich umringt gewesen von Musik und Büchern, von den großen Genies Bach, Beethoven und Brahms. Eine unangefochtene, heilige Welt, in der ich aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. An den Wochenenden war jeder Abend mit Konzerten und Opernbesuchen gefüllt, in den Ferien ging es in die großen Städte Europas, in die bekanntesten Kathedralen und Museen: Louvre, Vatikan, Kunsthistorisches Museum Wien. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich damit zugebracht habe, die Gemälde Raffaels, Rembrandts und Renoirs zu bewundern. Und irgendwann nicht mehr zu bewundern, sondern mich unfassbar zu langweilen. Ich begann, in den Museen selbst zu malen, Postkarten zu schreiben und schließlich zu lesen, bis meine Mutter endlich weiterzog – meist in das nächste Museum oder die nächste Kirche.
Raphaela als 14-Jährige bei ihrem Solo-Debut mit dem Cellokonzert von Friedrich Gulda
Raphaela Gromes (privat)
Was ich damals noch nicht hinterfragt habe: All diese Genies waren Männer. Alle Werke, die wir in Museen bestaunten und in Konzerten hörten: selbstverständlich von genialen Männern geschaffen. Zwar bestand mein Lieblingsspiel – das Memory Berühmte Frauen – aus 33 Porträts von Sappho bis Sylvia Plath. Und natürlich wurden darin auch Komponistinnen wie Hildegard von Bingen und Clara Schumann und Malerinnen wie Artemisia Gentileschi und Paula Modersohn-Becker vorgestellt. Allerdings spielten sie in den Konzertsälen und Museen, die ich besucht hatte, keine Rolle, so wichtig konnten diese Frauen also doch nicht gewesen sein – dachte ich mir.
Nur eine Biografie stand in unseren Regalen im Musikzimmer, die tatsächlich von einer Frau erzählte: die von Sofia Gubaidulina (1931–2025). Sie war die Lieblingskomponistin meines Vaters, der die Entwicklung der zeitgenössischen Musik leidenschaftlich verfolgte und mir immer wieder begeistert Aufnahmen mit Werken dieser russischen Komponistin vorspielte. Die tiefe Religiosität ihrer Werke, durchdrungen von christlich-orthodoxem Mystizismus, und ihre kompromisslose Suche nach einer transzendenten Klangsprache berührten mich zutiefst. Als 2003 ihre erste Biografie erschien, kaufte sie mein Vater sofort, und ich verschlang sie fasziniert. »In mir begegnen sich Ost und West«, schrieb die Komponistin darin über sich selbst, und ihr Lebensweg sowie ihre Musik sind erstaunlich.[1] Noch heute ist es ein Traum von mir, ihre Cellokonzerte und den Sonnengesang im Konzert aufzuführen. Dass sie aber die erste wichtige Komponistin aller Zeiten sei, wie ich naiv annahm und wie es auch die Werbetexte ihrer Biografie nahelegen – weit gefehlt.
Im Musikstudium lernte ich einiges – über Komponistinnen war aber so gut wie nichts dabei. Weder bei meinem Jungstudium in Leipzig noch später beim regulären Cellostudium in München und Wien spielte ich je ein einziges Stück einer Frau. Im Studium wurde das Standardrepertoire erarbeitet, und dazu gehörte nun mal kein Werk einer Komponistin.
Aber geht es nicht einzig und allein um gute Musik? Heute ist mir völlig unverständlich, wie Komponistinnen, die zu ihren Lebzeiten über Landesgrenzen hinaus bekannt waren und gefeiert wurden, nach ihrem Tod völlig in Vergessenheit geraten konnten. Nach Jahrhunderten des Schweigens und Verschweigens wurden und werden sie nach und nach wiederentdeckt. Umso erstaunlicher ist, dass die Werke dieser Frauen heute trotz rund 50 Jahren fundierter Forschung im klassischen Musikleben kaum angekommen sind.
In meinem Studium wurden die Leistungen von Frauen nur gestreift: In der damaligen Lehre spielten sie nur als Mütter, Schwestern, Ehefrauen oder Musen wichtiger Männer eine Rolle. Clara Schumann war eine der wenigen Frauen, deren Name gelegentlich erwähnt wurde. Dabei stand sie jedoch meist als Wunderkind und bedeutendste Pianistin ihrer Zeit im Fokus. Häufig sprach man von ihrer Zerrissenheit zwischen ihrem strengen und dominanten Vater Friedrich Wieck und ihrem genialen Ehemann Robert Schumann – sowie später von ihrer Liebe zu Johannes Brahms. Dass sie selbst fantastische Werke komponiert hat, wurde kaum thematisiert. In Biografien von Robert Schumann wird gerne betont, wie sehr er seine Frau zum Komponieren ermutigt haben soll, wie sehr er sie über alles geliebt und verehrt hat. Tatsächlich gibt es so wunderschöne Zitate wie: »Du vervollständigst mich als Componisten, wie ich dich.«[2] Die beiden veröffentlichten den Liederzyklus Liebesfrühling op. 37 als Gemeinschaftskomposition. Robert Schumann äußerte den Wunsch: »Die Nachwelt soll uns ganz wie ein Herz und eine Seele betrachten und nicht erfahren, was von dir, was von mir ist.«[3] Stammen vielleicht etliche Passagen seiner Werke eigentlich aus der Feder seiner Frau?
Beim Lesen des Briefwechsels zwischen Robert und Clara fallen jedoch auch weniger schmeichelhafte Sätze ins Auge: »Versprichst du mir das, dir keine unnützen Sorgen mehr zu machen, und mir zu vertrauen und folgsam zu sein, da nun einmal die Männer über den Frauen stehen.«[4] Selbst ihre Konzerttätigkeit sollte sie seiner Ansicht nach zugunsten der Ehe einstellen: »Ich wähle mir an dir die Herzlichkeit und Häuslichkeit zur Braut, du mein liebes Hausweib Clara.«[5] Und: »Das Weib steht doch noch höher als die Künstlerin, und erreiche ich nur das, dass du gar nichts mehr mit der Öffentlichkeit zu tun hättest, so wäre mein innigster Wunsch erreicht.«[6] Dennoch musste Clara Schumann später oft kurzfristig auf Konzertreise gehen: um das Jahreseinkommen der Familie einzuspielen, wenn ihr Mann aufgrund psychischer Krisen gerade mal wieder arbeitsunfähig war.
Hier drängt sich doch die Frage auf, ob die Geschichte nicht anders gewesen sein könnte, als oft erzählt – und ob der ehrgeizige Vater Wieck, der die Ehe der beiden vehement ablehnte und gerichtlich zu verhindern suchte, eigentlich nur seine erfolgreiche Tochter vor einer Verbindung mit einem psychisch labilen, narzisstischen Neurotiker schützen wollte? Immerhin war Clara Schumann zwischen 1841 und 1854 zehnmal schwanger, und Robert war nicht bereit, sich an der Erziehung der Kinder zu beteiligen: »Clara kennt aber selbst ihren Hauptberuf als Mutter, dass ich glaube, sie ist glücklich in den Verhältnissen, wie sie sich nun einmal nicht ändern lassen.«[7] Die da unter anderem waren, dass Clara nicht üben durfte, während er komponierte. Und sich auch sonst ganz seinem Arbeitsrhythmus anpassen musste, sodass sie selbst kaum Zeit mehr zum Komponieren fand: »Kinder haben und einen immer phantasierenden Mann und komponieren geht nicht zusammen«, schrieb Robert.[8]
Sicher, Robert Schumann war nicht so radikal wie Gustav Mahler – der von seiner Verlobten Alma Schindler als Bedingung für die Hochzeit verlangte, dass sie das Komponieren vollständig aufgab. Falls Ihnen der Fall Gustav Mahler/Alma Schindler nichts sagt – hier ein kurzer Einblick in das Frauenbild des berühmten Komponisten: »Wäre es dir von nun an möglich, meine Musik als die Deine zu sehen? Die Rolle des Komponisten, die Welt des Arbeiters fällt mir zu, – Deine ist die der liebenden Gefährtin und verständnisvollen Partnerin … Du musst dich mir bedingungslos hingeben, Dein zukünftiges Leben in jeder Einzelheit ganz nach meinen Bedürfnissen ausrichten und dafür nichts begehren außer meiner Liebe.«[9] So Gustav Mahler 1901 an seine Verlobte, die sich dennoch auf die Ehe einließ. Als Mahler 1910 die Lieder seiner Frau in einer Mappe fand, drängte er sie dazu, wieder zu komponieren. Alma ließ sich aber wegen ihres mangelnden Selbstbewusstseins nicht mehr davon überzeugen.[10]
2019 – zum 200. Geburtstag von Clara Schumann – erschienen viele neue Biografien über sie und Alben mit ihrer wundervollen Musik. Auch auf einigen Konzertprogrammen waren ihre Werke zu finden. In jenem Jahr stieg der Prozentsatz der aufgeführten Musik von Komponistinnen in Deutschland auf 4,5 Prozent – ja, Sie lesen richtig: stieg auf 4,5 Prozent.[11] Clara Schumann ist die mittlerweile wohl bekannteste klassische Komponistin unserer Zeit.
Ein paar Jahre zuvor hörte ich im Autoradio ein fesselndes Klaviertrio und rätselte lange, von wem es wohl komponiert worden war. Ich schwankte zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann. Oder nein, war sie nicht doch noch viel romantischer, diese überwältigend schöne, berührende Melodie? Etwa von Chopin? Weber? Nein, es war doch anders. Einfach ein eigener Stil, eine ganz eigene, intime und persönliche Sprache. Es musste ein unbekannter Zeitgenosse sein. Ich überlegte hin und her, wälzte Namen von weniger bekannten Komponisten in meinem Kopf – warum um Himmels willen kannte ich den Urheber dieses Klaviertrios nicht? Eine Schande! Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, dass es das Werk einer Frau sein könnte, und als ich schließlich hörte, dass es von Clara Schumann stammte, war ich beschämt, dass ich mich vorher nicht intensiver mit ihren Kompositionen beschäftigt hatte.
Clara Schumann selbst schrieb über ihr Klaviertrio: »Es geht doch nichts über das Vergnügen, etwas selbst komponiert zu haben und dann zu hören … Natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt.«[12] Sie selbst wagte nicht zu hoffen, dass sie eine wahre Begabung zum Komponieren haben könnte, zu sehr glaubte sie an die gängigen Theorien und heute noch bekannten Aussprüche der wichtigen Philosophen ihrer Zeit: »Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.«[13] (Johann Wilhelm Ritter) Oder: »Die Weiber im Ganzen genommen, haben durchaus kein Genie. Ihre Werke werden kalt und niedlich sein, wie sie selbst sind.«[14] (Arthur Schopenhauer).
Diese Vorurteile sind immer noch in unserer Gesellschaft verwurzelt, wenn auch abgeschwächt und häufig unbewusst: »Das gesamte Œuvre von Fanny Hensel sollte eingestampft werden!« Mir dreht sich immer noch der Magen um, wenn ich an diese bodenlose Unverschämtheit denke, die einer meiner Musikprofessoren während des Studiums von sich gegeben hat. Offensichtlich hatte er sich nie mit dem Werk der Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy beschäftigt, sonst hätte er diese Behauptung nicht aufstellen können.
Wie weit das Patriarchat das Schaffen und Wirken von Frauen eingeschränkt hat, ist ein Hauptthema dieses Buchs – und auch, welch abgrundtief diskriminierende Gründe sich Philosophen und Musikwissenschaftler im 19. Jahrhundert überlegt haben, weshalb Frauen auf keinen Fall kreative und schöpferische Kräfte in sich hätten.
Doch es gibt viele Gründe, die auch heute noch regelmäßig unter Fachleuten genannt werden, warum es bis zur Moderne gar keine guten Komponistinnen gegeben haben könnte: Zum einen, weil Frauen lange nicht studieren durften und somit nicht adäquat ausgebildet waren. Ein reguläres Hochschulstudium war für sie in den USA seit 1833 möglich, in Frankreich seit 1863, England seit 1869, Schweden seit 1873 – und in Deutschland war die badische Landesregierung die erste, die Frauen offiziell zur Immatrikulation zuließ, und zwar erst im Jahr 1900! 1906 folgte Sachsen und 1908 Preußen.[15] Zum anderen, weil musikalische Exzellenz das Ergebnis intensiven und langjährigen Übens sei. So wird auf die »10000-Stunden-Regel« verwiesen, die besagt, dass etwa 10000 Stunden gezielter Übung notwendig sind, um in einem Bereich Meisterschaft zu erlangen. Und Frauen hätten neben ihrer Tätigkeit als Mutter und Ehefrau ja keine Möglichkeit gehabt, diese enorme Zeitmenge aufzuwenden, um zu wirklicher künstlerischer Blüte zu gelangen. Einige Komponistinnen beschlossen daher sogar, zugunsten ihrer musikalischen Karriere nicht zu heiraten und keine Kinder zu bekommen, um genügend Zeit zum Komponieren zu haben.
Darüber hinaus würde ein Komponist durch die Resonanz der Außenwelt lernen und könne erst mit Kritik und Erfahrung wachsen. Wenn Frauen ein Studium, Zeit für die nötige Übung und Reaktionen auf öffentliche Aufführungen verwehrt wurden – wo sollten sie dann die nötigen Erfahrungen machen und daran wachsen? Tatsächlich wirkte sich die fehlende Würdigung der Leistungen von Frauen, die seltenen Aufführungen und die mangelnde objektive Kritik an ihren Werken auf die Kreativität vieler Komponistinnen lähmend aus: »Man verliert am Ende selbst mit der Lust an solchen Sachen das Urteil darüber, wenn sich nie ein fremdes Urteil, ein fremdes Wohlwollen entgegenstellt«, schrieb beispielsweise Fanny Hensel über ihr Schicksal als Komponistin.[16]
Dennoch existiert heute eine Vielzahl an genialen Werken von Komponistinnen. Ungeachtet aller Diskriminierung und der unvorstellbaren Umstände gab es einige Frauen – schon weit vor Sofia Gubaidulina –, die sich einen Studienplatz erkämpften und Privatunterricht von berühmten Komponisten erhielten, und etliche, deren Werke regelmäßig öffentlich aufgeführt und von Publikum und Presse rezipiert wurden.
Die Werke dieser Komponistinnen sollen wieder – oder endlich! – ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden. Wir sind es diesen Frauen schuldig, dass sie eine Renaissance erleben und wir sie genauso ernst nehmen wie ihre Kollegen. Denn »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« (Grundgesetz). Sie sind daher gleich berechtigt, mit ihren Leistungen, ihrer Kunst, ihrem Können und ihrer Kraft ebenso gesehen und gehört zu werden.
Das alles wusste und reflektierte ich während meines Studiums aber noch nicht. Zwar regte sich in mir ein starkes Unbehagen, als eine Professorin an meiner Hochschule ausführte, Frauen hätten einfach kein Genie, und deshalb seien ihre Werke es nicht wert, gespielt zu werden. Doch ich machte mich nicht auf die Suche nach einem Gegenbeweis. Zu groß war der Einfluss meiner Erziehung, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinterfragte, zu groß die Begeisterung für all die Musik von Männern, mit deren Werken ich aufgewachsen war und die ich über alles liebte. Und vor allem war ich selbst zu klein: Wer war ich, dieses gewachsene System, das bewährte Repertoire, den gefestigten Kanon infrage zu stellen? Ich musste ja erst beweisen, dass ich überhaupt einen Platz in der Musikwelt verdiente, dass ich selbst eine ernst zu nehmende Persönlichkeit war, dass ich das Cello beherrschte und mit meiner Musik berühren konnte. Ich musste mich also dem Wettbewerb aussetzen und mich behaupten. Und bei Wettbewerben wird nun einmal das Standardrepertoire gefordert: Konzerte von Haydn, Schumann, Elgar, Dvořák, Tschaikowsky und Schostakowitsch zu beherrschen, ist obligatorisch. Und Sonaten von Beethoven, Mendelssohn, Brahms und Rachmaninow. Deshalb ist es heute übrigens oft schwer, eine Dirigentin zu finden, die gerne Komponistinnen dirigiert. Die meisten Dirigentinnen wollen, ja, müssen sich erst selbst beweisen. Und das traditionell mit den bekanntesten und beliebtesten Werken der Sinfonik, und nicht mit Experimenten. Wer nicht bekannt ist, kann seine Stimme auch nicht für Unbekanntes einsetzen.
»Du hast ja schon alles gespielt, was sollen wir denn jetzt als Nächstes machen …?«, fragte mich mein neuer Professor Wen-Sinn Yang mit gespielter Empörung, als ich ihm 2010 zu Beginn meines Studiums an der Münchner Musikhochschule auflistete, welche Werke ich in den letzten Jahren erarbeitet hatte. Und die Konklusion: »Wunderbar, dann hast du ja jetzt ganz viel Zeit, neues Repertoire zu lernen und zu entdecken!« Auf dem Plan standen Cellokonzerte von David Popper, Adrien-François Servais, Julius Klengel und Carl Davidoff. Auch später, als ich 2016 den Exklusivvertrag bei Sony Classical unterschrieb, riet Wen-Sinn mir als mittlerweile guter Freund und Mentor, neue Werke in den Fokus meiner Einspielungen zu rücken.
Doch wie entdeckt man neue Werke? Es gibt ein dickes Buch mit dem Titel A Cellist’s Companion, eine Anthologie von Zigtausenden Werken für Cello, in dem ich immer wieder fasziniert auf der Suche nach Inspiration blättere.[1] Außerdem Archive und Bibliotheken und natürlich die Musikverlage selbst, die auf der Rückseite ihrer Notenausgaben gerne spannende Neuentdeckungen präsentieren. So fällt mein Blick beim Tonleiter-Üben immer wieder auf die Rückseite meiner Noten. Da werden beispielsweise Werke von so klingenden Namen wie Franz Xaver Woschitka, Jacob Klein, Heinz Benker oder Anton Fils bei Breitkopf & Härtel beworben, bei Schott sind es Lukas Foss, Mihaly Hajdu, Priaulx Rainier und Walter Schulthess, bei der International Music Company findet man Jean-Baptiste Senaillé, Georges Valensin, Alexander Krein und Jules De Swert.
Falls Sie diese Namen nicht kennen: Ich kenne sie auch nicht. Fällt Ihnen etwas auf? Kein einziger Name einer Frau ist dabei auf dem Rücken meiner (zugegeben schon etwas älteren) Noten zu finden. Das Argument, weshalb immer wieder die großen Namen Bach, Beethoven und Mozart in Konzertsälen gespielt werden, ist, dass sich die bekannten Namen besser verkaufen würden. Hier werden aber ausschließlich unbekannte Komponisten und ihre unbekannten Werke angepriesen – warum können sich daher also nicht auch Namen von Frauen untermischen, wenn in diesen Fällen das Verkaufsargument Bekanntheit offensichtlich nicht zählt und es um die Entdeckung von Neuem geht? Was passiert, wenn Werke von Frauen bei den großen Musikverlagen nicht herausgegeben und beworben werden? Sie bleiben unsichtbar; jemand, der neugierig ist und sich auf die Suche macht, kann diese Werke somit schlecht oder gar nicht finden.
Das fiel insbesondere der Unternehmerin Renate Matthei 1986 auf der Frankfurter Musikmesse auf. Naiv fragte sie bei Verantwortlichen nach, warum sie denn keine Komponistinnen im Verlagsprogramm hätten. Die Antwort war so trivial wie vernichtend – weil Frauen nicht komponieren könnten: »Frauen können ja auch nicht rechnen und nicht einparken. Wie sollen sie denn komponieren können!?«[2] 1986! Das trieb Renate Matthei zur Weißglut, und so gründete sie den Furore Verlag, der ausschließlich Werke von Komponistinnen veröffentlicht.
Doch zurück zu meiner Recherche: Für mein erstes Sony-Album Serenata Italiana (2017) suchte ich nach Werken aus Italien. Mit der Hilfe von Wen-Sinn Yang hatte ich schnell ein schönes Programm beisammen – doch ich hatte das Gefühl, dass noch irgendetwas fehlte. So fragte ich bei einem gemeinsamen Konzertprojekt die US-amerikanische Dirigentin Mary Ellen Kitchens nach Ideen. Ich wusste, dass sie im Archiv des Bayerischen Rundfunks arbeitete und sich gut auskannte.
Mary Ellen sagte nur: »Mein Tipp für deine CD? Komponistinnen!«
»Wie bitte?«, fragte ich ungläubig. »Ein ganzes Album nur mit Komponistinnen?« Das schien mir arg abwegig.
»Na, du kannst ja mal mit einer Komponistin beginnen«, meinte sie lächelnd und schickte mir umgehend einen beachtlichen Stapel an Noten zu, allesamt Werke für Cello und Klavier italienischer Komponistinnen, überwiegend noch unveröffentlicht.
Was ich damals noch nicht wusste: Mary Ellen arbeitete nicht nur als Leiterin des Schallarchivs, sondern ist vor allem eine international agierende Netzwerkerin, berät den Verein musica femina münchen und ist im Vorstand des Internationalen Arbeitskreises Frau und Musik mit seinem gleichnamigen Archiv in Frankfurt am Main. Dieses wurde 1979 gegründet und beherbergt als eine der größten Sammlungen für die Musikgeschichte von Frauen weltweit über 31000 Medien in Form von Manuskripten, Tonträgern, Biografien und Werken von mehr als 2200 Komponistinnen vom 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Durch meine bisherigen Erfahrungen war ich überzeugt, dass es nicht genügend Werke von Frauen geben konnte. Darüber hinaus würden diese wenigen Stücke wohl keine besondere Qualität haben, warum sonst kannte ich sie nicht und hatte in meiner Ausbildung nie von ihnen gehört?
Eine komplette CD mit Musik von Komponistinnen zu füllen, schien mir damals unmöglich. Aber ich schaute neugierig den Notenstapel durch und spielte die Werke mit meinem Duopartner Julian Riem vom Blatt. Es gab so viel unerhörtes, fantastisches Material allein von italienischen Komponistinnen, dass ich es schier nicht glauben konnte.
Die besondere Tonsprache einer speziellen Komponistin, die überraschend viel für Cello geschrieben hatte – fünf Sonaten, Werke für Cello und Streichorchester und mehrere Dutzende kurze Werke für Cello und Klavier –, berührte mich auf Anhieb ganz besonders: Matilde Capuis (1913–2017), deren bewegtes und aufrüttelndes Animato con passione ich schließlich für meine erste Sony-CD auswählte.
Warum waren mir ihre Werke nie begegnet? Warum konnte ich nur so wenig Informationen über sie im Internet finden? Warum war kaum etwas von ihr eingespielt?
Ich möchte dazu beitragen, diese sehr bemerkenswerte Frau und Komponistin ein wenig bekannter zu machen. Das beginnt mit ihrem Namen: Viele sprechen ihn intuitiv französisch aus, obwohl sie Italienerin ist. Capuis hat ein langes »a«, wie bei Kapern oder Capri (mein Nachname übrigens ein langes »o«). 1913 kam sie in Neapel zur Welt; von ihrer schweizerischen Grußmutter lernte sie von Beginn an auch Deutsch.
Nach eigenen Angaben begann sie schon in früher Kindheit mit dem Komponieren, bevor sie überhaupt wusste, was Komponieren war, denn sie wuchs fern von Radio, Kultur und Konzerten auf: Als sechsjähriges Mädchen hörte sie am Strand die Fischer beim Ziehen der Netze, zu Hause schrieb sie dieses Geräusch als Melodie und Rhythmus auf. Dann setzte sie sich ans Klavier und spielte ihr Werk – intuitiv, denn sie hatte nur bei wöchentlichen Klavierstunden ihrer Mutter zugehört und nie selbst Unterricht erhalten. Während sie spielte, klopfte es an der Tür. Dann schaute ihr Vater herein und fragte erstaunt, was das denn für ein schönes Stück sei. »Una cosa che ho fatto io! – Eine Sache, die ich selbst gemacht habe!«[3]
Leider sollte es noch lange dauern, bevor sie Unterricht in Harmonielehre erhielt. Ihre Eltern wollten sie musikalisch nicht fördern, obwohl es ihnen von vielen Seiten ans Herz gelegt wurde und es Matildes Wunsch war, das Komponieren und die Geige zu erlernen. Aber auch ohne Unterricht schrieb sie weiter: Werke für Familienfeste, die sie mit ihren jüngeren Schwestern Elena und Graziella im Trio aufführte. Ihre Mutter stand ihrer musikalischen Karriere zeitlebens skeptisch gegenüber. Selbst später noch, als Matilde Capuis längst eine arrivierte Komponistin war und nicht nur in Europa, sondern ebenso in den USA regelmäßig aufgeführt wurde, konnte sie nicht verstehen, warum ihrer Tochter die Musik so wichtig war.
Die große Liebe von Matilde war die Geige – ihr erstes Instrument kaufte sie sich mit 16 Jahren, mühsam hatte sie das Geld dafür erspart. Und obwohl es »eine Holzkiste, keine Geige«[4] war, kam sie ihr wie das schönste und kostbarste Instrument der Welt vor: »Mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit, die gar nicht zu meiner sonst sprichwörtlichen Schüchternheit passte, brachte ich dann meine Eltern dazu, mir endlich den Violinunterricht zu erlauben«, so Matilde, die später in Florenz Klavier, Orgel, Violine und Komposition an der Accademia Musicale Chigiana in Siena studierte – als einzige Frau.[5] Sie gewann zahlreiche Kompositionspreise, unter anderen den Premio Quartetto Veneziano (1948) und den Concorso International de Compositoras H. Rubinstein Buenos Aires (1962). 1969 erhielt sie einen Ruf als Professorin für Tonsatz und Musiktheorie an das Giuseppe-Verdi-Konservatorium in Turin.
Für ihre erste Cellosonate erhielt sie außerdem einen Preis beim Concorso Internazionale per Compositori Genova und lernte dort den Turiner Cellisten Ugo Scabia kennen, der zu ihrem musikalischen Mentor, wahrscheinlich sogar zu einer Art Muse wurde. Jedenfalls inspirierte er sie zu den vielen Kompositionen für Cello und Klavier, die ich im Archiv Frau und Musik gefunden hatte: Werke, die sie auch gemeinsam mit ihm aufführte. Ugo Scabia ermutigte sie, ihre Selbstzweifel hinter sich zu lassen: »Wann wollen Sie endlich glauben, dass Sie eine große Musikerin sind!?«[6]
Denn trotz aller Ehrungen war sie großen Anfeindungen ausgesetzt: Als der italienische Dirigent Antonio Guarnieri 1942 bei den Proben einer Ouvertüre von Capuis entdeckte, dass das Werk aus der Feder einer Frau stammte (Matilde hatte vorsorglich nur »M. Capuis« auf die Partitur geschrieben), brüllte er: »Nie werde ich das Werk einer Frau dirigieren!«[7] Und sagte die Vorstellung ab.[8] Außerdem wurde sie von Kompositionskollegen und Kritikern nicht ernst genommen, weil sie nicht avantgardistisch genug komponierte.
Doch trotz aller Kritik blieb sie der italienischen Tradition romantischer, gesanglicher Musik treu. Für sie gab es keine Musik ohne Melodie, auch wenn ihr vorgeworfen wurde, »aus der Zeit gefallen zu sein«, »außerhalb der täglichen Realität« zu stehen und sich laut Rezensionen über ihre Art von Musik »mittlerweile Patina gelegt habe«.[9] Doch all das zählte für sie nicht: »Mir ist gleich, ob es altmodisch ist, oder nicht. Aber die moderne Musik – sie rührt einen nicht.«[10] Obwohl sie den avantgardistischen Strömungen nicht folgte, ist ihre Musik keineswegs rückwärtsgewandt. Matilde Capuis schuf mit ihrer ganz eigenen Tonsprache eine unverwechselbare Handschrift.
Das Wichtigste war für sie die Authentizität ihrer Gefühle: »Technisches Wissen, Intelligenz müssen nur zu Diensten der Inspiration im Hintergrund bleiben, was schwer und qualvoll ist; man muss tief in sich graben! Es ist auch das Bemühen, im Schmerz seelisch zu wachsen. Schmerz will ausgedrückt werden, und jeder Mensch versucht es in der Weise, die ihm am meisten dazu verhelfen kann. Es muss alles aus dem Innersten entstehen und auch innerlich erlebt sein.«[11]
Was war das aber für ein tiefer Schmerz, der sie zeitlebens gequält und ihr Leben so entscheidend geprägt hat?
Wir hatten das Glück, uns mit zwei persönlichen Bekannten von Matilde Capuis darüber auszutauschen: mit der Sängerin Renate Brosch und der Cellistin Gabriele Derendorf. Letztere entdeckte die Komponistin wie ich über das Archiv Frau und Musik und verliebte sich so sehr in ihre Tonsprache, dass sie sogar ein Duo Capuis gründete und alle Cellowerke zusammen mit ihr erarbeitete. »Die Melodien, die langsamen Sätze – diese Tiefe, dieser Schmerz! Und wie wunderschön es für Cello zu spielen ist«, waren die Gründe, weshalb Gabriele Derendorf die Musik von Capuis so schätzt.[12]
Die Sängerin Renate Brosch war ebenfalls mit ihr befreundet und nahm viele ihrer Werke auf CD auf. Sie zeigte uns bei einem Treffen ein Video von einem ihrer Konzerte in Italien, bei denen Matilde selbst im Publikum saß – eine elfenhafte, auch im Alter noch wunderschöne Frau.
Beide, Renate Brosch und Gabriele Derendorf, erzählten, dass Capuis eine sanfte und gleichzeitig starke, aristokratisch wirkende Persönlichkeit war, in der Zusammenarbeit streng und genau, aber immer auch liebevoll: Von jedem ihrer Werke hatte sie ein Ideal in den Ohren, das sie genau umgesetzt haben wollte. Denn: »Noten sind ja nur kleine Zeichen, die müssen ja wieder aufgeweckt werden.«[13] Und ihre Noten wollte sie so hören, wie sie sie beim Komponieren imaginiert hatte – und passte sie ansonsten nochmals an und komponierte um, wenn sie merkte, dass ihr Werk in der Realität anders klang als in ihrem Kopf.
Sowohl Brosch als auch Derendorf berichteten uns von der Kernwunde, dem tiefsten Schmerz, den Matilde Capuis erfahren und ihr Leben lang nicht verwunden hat: Am Karfreitag 1944 starben ihre zwei jüngeren Schwestern und eine Nichte in einer der Bombennächte des Zweiten Weltkriegs in Treviso bei Venedig: »Ich glaube, die Menschen, die ich am meisten geliebt habe, wirklich am meisten im ganzen Leben, waren diese Schwestern und das kleine Kind.«[14] Ihre Mutter sagte ihr tags darauf in ihrer Verzweiflung, dass doch besser sie – Matilde, ihre am wenigsten geliebte Tochter – hätte sterben sollen. Der Vater war schon lange zuvor bei einem Bergunglück ums Leben gekommen.[15]
Capuis ertrug zunächst keine Musik mehr, begann aber 1945 bei schweren Angriffswellen mit Luftalarm und Explosionen wieder mit dem Komponieren, um mit der Musik und selbst geschriebenen Wiegenliedern die Kinder ihrer Tante zu beruhigen. Und merkte, dass die Musik ihr half, zu überleben: »Ohne Musik wäre ich verrückt geworden.«[16]
Ihren Schmerz, ihre Trauer, ihren Verlust, aber auch die tiefe Ablehnung ihrer Mutter hat Matilde in ihrer Musik verarbeitet – das macht ihre Werke so berührend. Sie verleihen den langsamen Sätzen die Tiefe, dass es einem bei dem Mittelsatz der Tre Momenti für Cello und Streichorchester geradezu den Atem verschlägt. Mich beeindruckt die Abgründigkeit dieses Satzes. Wie die Melodie immer wieder ansetzt, dann aber nach einer kurzen Entfaltung abbricht und verstummt, als würden die Worte in der Kehle stecken bleiben. »Solitudine« (Einsamkeit) heißt dieser Satz, und einsam war Matilde Capuis ihr Leben lang. Sie blieb allein, unverheiratet, kinderlos. 1993, im Alter von 80 Jahren, vermachte sie ihr gesamtes Werk dem Archiv Frau und Musik und überführte es persönlich zum damaligen Standort nach Kassel, mit dem Vorsatz, sich bald von der Welt zu verabschieden. Trotzdem wurde sie 104 Jahre alt – sie starb 2017 in Turin. In den letzten Jahren hatte sie wohl nur noch zu einer einzigen Freundin Kontakt.[17]
Doch noch etwas anderes als Abgründigkeit und tiefe Trauer ist in den Werken von Capuis auffällig, berührend und ansteckend: ihre Lebensfreude. Durch die Musik konnte sie ihren Schmerz nicht nur ausdrücken, sondern ihn auch verarbeiten, ihn transzendieren. So folgt auf die »Solitudine« in den Tre Momenti der Satz »Allegrezze« (Heiterkeit). Und selbst in ihren Liedern ist diese überbordende Lebensfreude zu spüren, wie in »La Filatrice« (Die Spinnerin) oder in »Allegro Viandante« (Der fröhliche Wanderer). Wundervolle Musik, von der ich mir wünsche, dass sie mehr gespielt, gesungen, gehört wird. Denn beim aufmerksamen Hören können wir nicht nur unseren eigenen Schmerz erleben, sondern ebenso durch ihn hindurchgehen und ihn umwandeln, Akzeptanz finden und zur Leichtigkeit und Lebensfreude zurückkehren.
Häufig werde ich vom Publikum gefragt, ob es denn typisch für Komponistinnen sei, dass sie so emotional komponieren und ihren Schmerz in der Musik ausdrücken würden. Auf die Unterschiede von männlichem und weiblichem Komponieren werde ich später noch ausführlich eingehen, hier sei nur so viel gesagt: nein. Ich glaube, dass grundsätzlich alle, die komponieren, ob männlich, weiblich oder divers, ihr Innerstes, ihre größte Freude und den tiefsten Schmerz mit ihrer Musik artikulieren. Beispielsweise hat Johannes Brahms in dem abgründigen langsamen Satz seines Horntrios den Tod seiner Mutter verarbeitet. Robert Schumann schrieb in einem Brief an einen guten Freund: »Mein Lebenslauf in den vorigen Jahren, in denen Du nichts von mir hörtest, war ein sehr bewegter. Du kannst ihn zum größten Teil in meinen Kompositionen abgespiegelt erblicken.«[18] Und später: »Mensch und Musiker suchten sich immer gleichzeitig bei mir auszusprechen. Wie viele Freuden und Leiden in diesem kleinen Häuflein Noten zusammen begraben liegen, Ihr mitfühlendes Herz wird das herausfinden.«[19]
Und die schönste Liebeserklärung an die heilsame Wirkung der Musik, die ihn in vielen qualvollen Stunden der Krankheit und Einsamkeit tröstend begleitet hat, schuf zweifelsohne Franz Schubert mit seiner eindrücklichen und erhebenden Vertonung von Franz von Schobers Ode »An die Musik«:
Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden,
Hast mich in eine bessre Welt entrückt.
…
Du holde Kunst, ich danke dir!
Was ich bei meiner ersten Sony-Einspielung noch für vollkommen abwegig und undurchführbar gehalten hatte, wurde 2023 mit meinem Album Femmes Realität: ein Album, das explizit den brillanten Frauen der Musikgeschichte gewidmet ist. Aber wieder hatte ich einen Anstoß von außen gebraucht, in diesem Fall von meiner Freundin Katharina Hell, die jahrelang in der Musikbranche gearbeitet hatte. Ihr war aufgefallen, dass in den vielen Konzertprogrammen, die durch ihre Hände gingen, nie auch nur ein einziger Name einer Komponistin zu finden war. Diesmal fiel die Idee bei mir sofort auf fruchtbaren Boden, denn wir befanden uns mitten in der Coronapandemie, und ich benötigte dringend ein inspirierendes Projekt, das mich von der dröhnenden Stille und den quälenden Zukunftsängsten ablenken konnte. Außerdem war mir mittlerweile klar geworden, dass es viel mehr fantastische Komponistinnen geben musste, als ich bisher kennengelernt hatte. Kaum mehr als ein Dutzend kannte ich inzwischen – aber durch den Lockdown hatte ich endlich Zeit, mich der weiblichen Seite der Musikgeschichte zuzuwenden. Neugierig bestellte ich eine Unmenge an Cellowerken von Komponistinnen und machte mich mit ihrer Musik vertraut. Je mehr ich las und Noten sichtete, desto begeisterter wurde ich – und schockierter: Begeistert war ich von der Genialität dieser Werke, von Hildegard von Bingen bis in die Moderne, und schockiert, weil ich von den allermeisten Frauen noch nie etwas gehört hatte.
Natürlich hatte ich mich auch wieder an das Archiv Frau und Musik in Frankfurt gewandt, das mir seit 2016 regelmäßig mit passenden Werken von Komponistinnen zu meinen Konzeptalben und Konzertprogrammen weiterhalf. Dass es überhaupt existiert, ist gewissermaßen einem Artikel in der Emma zu verdanken. 1977 stellte die Dirigentin Elke Mascha Blankenburg unter dem Titel »Vergessene Komponistinnen« etliche Entdeckungen vor und resümierte: »Die Geschichtsschreibung vergaß frühere Komponistinnen nicht etwa, weil sie unbedeutend waren. Alle waren zu ihren Lebzeiten wichtig. Man ließ sie nur dann rasch in Vergessenheit geraten. So blieb der Eindruck erhalten, Komponieren sei reine Männersache. Jede Frau, die sich dazu berufen fühlt, ist ohne geschichtliche Identität, ohne Vorbild. Jede heute lebende Komponistin muss in ihrem Berufskampf ganz vorne anfangen.«[1]
Der Emma-Beitrag brachte einen Stein ins Rollen, denn es meldeten sich quasi über Nacht Hunderte Frauen bei Blankenburg, die ebenfalls von Komponistinnen gehört hatten oder selbst komponierten und über den männerdominierten Musikbetrieb empört waren. Zwei Jahre später entwickelte sich daraus der Verein Internationaler Arbeitskreis Frau und Musik, bestehend aus Musikerinnen, Komponistinnen und Dirigentinnen aus der ganzen Welt, die sich auf die Suche nach Werken von komponierenden Frauen begaben und innerhalb eines Jahrs bereits über 300 Komponistinnen zusammengetragen hatten. Diese zunächst private Sammlung bildete den Grundstock für das heutige Archiv Frau und Musik.
Eine Künstlerin fiel mir gleich zu Beginn meiner Recherche zu Femmes ins Auge: Henriëtte Bosmans. Sie wurde schnell zu einer meiner Lieblingskomponistinnen, und ihre Werke sollten in den allgemeinen Kanon des Cello-Repertoires für Musikhochschulen und den Konzertbetrieb aufgenommen werden: zwei Cellokonzerte, ein Poème für Cello und Orchester, eine Cellosonate sowie etliche kürzere Werke für Cello und Klavier. Und alle voll Raffinesse, reich an Klangfarben, das Cello von der warmen Tiefe bis in die brillante Höhe kraftvoll und gekonnt auskostend, die Orchesterpartituren anspruchsvoll und originell. Wie kam es, dass sich diese niederländische Komponistin mit Vorliebe zum 5/4-Takt so gut mit dem Cello auskannte?
Man möchte meinen, Henriëtte sei das Cellospiel bereits bei ihrer Geburt am 6. Dezember 1895 in Amsterdam in die Wiege gelegt worden – ihr Vater Henri Bosmans war ein in den Niederlanden angesehener Cellist, unter anderem tätig als Solocellist des berühmten Concertgebouw-Orchesters. Doch Henri erkrankte tragisch an Tuberkulose und starb, als seine Tochter gerade erst acht Monate alt war. Die Erziehung fiel also ganz der Mutter zu, die sich hingebungsvoll um die Ausbildung ihres begabten Kindes kümmerte. Sara, die aus einer jüdischen Familie stammte, gehörte um 1900 zu den berühmtesten Persönlichkeiten des niederländischen Musiklebens.[2] König Willem III. hatte für talentierte Künstlerinnen und Künstler aus armen Verhältnissen ein Stipendium eingerichtet, mit dem für diese eine Ausbildung im Ausland möglich wurde. Er hatte für Sara Benedicts sogar den berühmtesten Pianisten und Klavierlehrer des gesamten 19. Jahrhunderts ausgesucht – niemand Geringeren als den Star-Virtuosen Franz Liszt, der gerade in Rom weilte. Wer von dieser Ikone unterrichtet wurde, konnte in der Regel eine große Karriere erwarten.
Für den Unterricht bei Franz Liszt, der zu dieser Zeit auch als Abbé und geweihter Kleriker in Rom wirkte, sollte Benedicts 1877 in die italienische Hauptstadt reisen, was für die 16-Jährige ein großes Sprungbrett bedeutet hätte. Allerdings hielten ihre Eltern Rom für unschicklich weit entfernt und erlaubten ihrer Tochter stattdessen eine Ausbildung an der Kölner Musikhochschule, wo sie wenige Jahre später ihr Diplom erhielt. Danach durfte sie aber keineswegs zu Konzertreisen aufbrechen, sondern wurde von den Eltern wieder nach Amsterdam zurückgeholt: Eine unverheiratete junge Frau, die sich auf einer öffentlichen Bühne produzierte, hatte noch immer den Ruch einer Prostituierten an sich.[3] Sie brauchte generell eine seriöse Begleitung, um nicht auf Abwege zu geraten. Statt einer Karriere im Ausland konzertierte Sara bis auf einen sechswöchigen Englandaufenthalt nur in den Niederlanden. Ihr Wunsch war es deshalb, ihrer Tochter Henriëtte alle Möglichkeiten zu eröffnen und sie nach Kräften zu fördern – was wohl oft ins Gegenteil umgeschlagen sein muss: »Die beiden hatten eine enge, wenn auch sehr konfliktreiche und komplizierte Beziehung, die Mutter blieb dominant und besitzergreifend.«[4] Vermutlich, weil sie ihre eigene pianistische Karriere nach dem Tod ihres Ehemannes aufgab und sich nur noch auf die Lehrtätigkeit am Amsterdamer Konservatorium konzentrierte.
Ihre besten Schülerinnen – zu denen auch Henriëtte gehörte – unterstützte sie, indem sie ihnen einen Auftritt bei der »Nationalen Ausstellung von Frauenarbeit« in Den Haag ermöglichte. Zum ersten Mal arbeiteten hier verschiedene Frauenorganisationen zusammen, »die sich für Bezahlung von Frauenarbeit einsetzten, schlechte Ausbildungsmöglichkeiten und die Rechtsunfähigkeit von verheirateten Frauen bekämpften und den Kontakt zwischen den existierenden Frauenorganisationen verbessern wollten«.[5]
