Foxtrott, Tango ... und Charlie - Sandra Gernt - E-Book

Foxtrott, Tango ... und Charlie E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Gay Romance/Komödie Owen Fox ist kein Mann, der sich für Drama, großspurige Auftritte oder Abenteuer begeistern kann – es sei denn, dies findet sich in einem verschollenen Manuskript aus dem 11. Jahrhundert wieder. Der Sprachexperte soll auf einem Symposium eine Rede halten. Sein größter Fehler war, diese Einladung anzunehmen, denn er trifft auf Charlie, ein ledergebundenes Buch verfünftfacht sich und plötzlich kann er sich vor Drama, großspurigen Auftritten und Abenteuern gar nicht mehr retten! Ca. 33.500 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 170 Seiten.

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Gay Romance/Komödie

 

Owen Fox ist kein Mann, der sich für Drama, großspurige Auftritte oder Abenteuer begeistern kann – es sei denn, dies findet sich in einem verschollenen Manuskript aus dem 11. Jahrhundert wieder. Der Sprachexperte soll auf einem Symposium eine Rede halten. Sein größter Fehler war, diese Einladung anzunehmen, denn er trifft auf Charlie, ein ledergebundenes Buch verfünftfacht sich und plötzlich kann er sich vor Drama, großspurigen Auftritten und Abenteuern gar nicht mehr retten!

 

Ca. 33.500 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 170 Seiten.

 

 

 

von

Sandra Gernt

 

 

 

 

 

 

 

Verwirrung im Vier-Viertel-Takt

 

wen! Komm rein, ich hab auf dich gewartet.“ Professor Brian Mitchell lächelte warm, er freute sich stets, wenn Owen zu ihm ins Büro kam. Früher war er Owens Mentor und Doktorvater gewesen. Mittlerweile hatten sie eine freundschaftliche, beinahe brüderliche Beziehung, obwohl Brian ihm mit seinen fünfundfünfzig Lebensjahren rund zwanzig Jahre voraushatte. Sie arbeiteten täglich zusammen und oft genug trafen sie sich auch in der Freizeit. Owen schätzte das sehr, und das nicht nur, weil er die tiefsinnigen Gespräche, den feinen Humor und schlicht die Gesellschaft des Mannes genoss, sondern weil er sich etwas Sorgen um ihn machte, seit Brians Ehe im vergangenen Jahr zerbrochen war. Ellen war einfach gegangen, ohne dass es einen spezifischen Grund dafür gegeben hätte. Brian hatte lange daran zu kämpfen gehabt, nicht zuletzt auch, weil er und Ellen eine klassische Rollenverteilung in ihrer Ehe gepflegt hatten und er plötzlich lernen musste, für sich selbst zu sorgen, zu kochen, sich daran zu erinnern, das Zeug auch tatsächlich zu essen, das er produziert hatte und anschließend die Küche aufzuräumen. Mittlerweile wurde es besser, sofern man das von außen beurteilen konnte. Jedenfalls schaffte Brian es, sich ordentlich und passend zu kleiden, sich jeden Morgen zu rasieren und er hatte einiges von dem Gewicht, das er im vergangenen Jahr verloren hatte, wieder aufgelegt.

„Bist du aufgeregt?“, fragte Brian, als Owen auf dem bequemen Besucherstuhl Platz genommen hatte. „Ich freue mich, dass deine Forschung endlich Anerkennung findet. Deine letzten Veröffentlichungen waren exzellent, man hätte dich schon viel früher einladen müssen, auf Symposien und anderen Veranstaltungen vorzutragen.“

„Mein erstes Mal vor internationalem Publikum.“ Owen verzog das Gesicht, es fiel ihm schwer, seine Finger ruhig zu halten. Wenn er aufgeregt war, entwickelten sie ein Eigenleben, wollten überall herumzupfen und knibbeln, bis er sich selbst und seine gesamte Umgebung in den Wahnsinn getrieben hatte. Diesem Drang nicht nachzugeben, fühlte sich an, als würden Feuerameisen ihn beißen, ohne dass er sie von seinem Körper wischen durfte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit dafür bin, Brian. Du weißt, ich bin ein unsicherer Redner.“

„Unfug, du hast brillante Fortschritte gemacht. Am Anfang konnten die Studenten dich nicht leiden, weil deine Vorlesungen konfus waren, und jetzt? Jetzt lieben sie dich, und deine Rede letztens vor der Ausschusssitzung war fein. Du wirst dich gut auf der Bühne machen, hab keine Angst. Immerhin redest du über deine Lieblingsthemen.“

Der Wandel der angelsächsischen Sprachkultur nach Eroberung durch die Normannen im 11. Jahrhundert unter gesonderter Perspektive der Einflussnahme auf die walisische Schriftsprache des Mittelalters. Es war kein sonderlich aufregendes Forschungsgebiet. Da Owen an dieser Universität der einzige Dozent war, der fließend Walisisch sprach und altenglische Handschriften wie einen Drucktext lesen konnte, hatte man ihm eine Festanstellung gegeben, womit er sein gar nicht so bescheidenes Auskommen gesichert hatte. Seine Veröffentlichungen erregten kein großes Aufsehen, dafür gab es zu wenig Neues zu entdecken. Ihm genügte es, wie es war. Er durfte lehren, forschen, und bald, ja, bald würde er seine Thesen und Erkenntnisse live vor einem Fachpublikum verteidigen dürfen. Sein Lieblingsthema war das Ganze allerdings nicht. Er bevorzugte altnordische und keltische Sprachen und besaß ein Faible für den modernen südasiatischen Sprachraum, der alles von Indoarischen über Iranischen bis hin zu Tibeto-Birmanischen Sprachen umfasste. Es hatte sich halt ergeben, dass er mit angelsächsisch-walisischen Studien seine Karriere am Laufen halten konnte, den Rest betrachtete er als Hobby für sein Seelenwohl.

„Du machst dir zu viele Gedanken, mein Freund, ich sehe dir die Zweifel von der Nasenspitze weg an.“ Brian schmunzelte, was die Fältchen um seine hellblauen Augen vertiefte. Er hatte den allergrößten Teil seiner Haare verloren, weswegen er vor einigen Jahren begonnen hatte, sich einen eisgrauen Vollbart wachsen zu lassen. Zusammen mit seiner breiten, stämmigen Figur, der runden Lesebrille, die mehr als schief auf seiner prägnanten Nase saß, wirkte er wie ein besonders freundlicher, sehr gelehrsamer Kobold in Übergröße.

„Pass auf, wie wäre es, wenn ich dir etwas geben könnte, an dem du dich festhalten kannst, wenn du nervös bist? Es hat mir gute Dienste geleistet, als ich wie du das erste Mal vor einem Fachpublikum referieren sollte und mir vor lauter Angst fast ins Hemd gemacht hätte.“

„Du bist der unterhaltsamste Redner der gesamten Uni, ich glaub dir nicht, dass du jemals Hilfe brauchtest“, murmelte Owen unglücklich. Er wollte sich nicht so kleinkindlich anstellen. Seine Rede sollte dreißig Minuten füllen und würde ein Beitrag unter dutzenden anderer sein. Vermutlich würde es keine große Diskussion geben, weil er keinen Stoff lieferte, an dem sich die klugen Geister aufreiben konnten. Man würde ihm freundlich applaudieren, vielleicht ein paar Fragen stellen und ihn danach sofort wieder vergessen. Kein Grund, in Panik zu geraten!

„Glaub mir, ich hätte mich am liebsten auf der Toilette eingeschlossen“, widersprach Brian und wühlte in einer seiner Schreibtischschubladen herum. Er gehörte zu jenen Leuten, die an der Oberfläche perfekte, spartanische Ordnung hielten und nie einem einzigen Staubkörnchen gestatten würden, sich irgendwo niederzulassen, in den Schubläden und hinter den verschlossenen Türen der Schränke hingegen explodierte das Chaos. Unbekümmert stapelte er Briefe, Zeitschriften, Bücher, Schreibmaterial, Wolle, Legosteine und winzige Zinnfiguren auf der dunklen Echtholzplatte.

„Ah, da ist es ja.“ Er zog ein kleines Buch hervor, in braunes Leder gebunden, mit auffällig blauer Beschriftung, was ungewöhnlich war, da man Gold erwarten würde. Ebenso unbekümmert wie zuvor fegte er die anderen Sachen zurück in die Schublade und knallte sie zu. „Mein Doktorvater hat es mir damals geschenkt und er hat es von einem seiner Mentoren und Förderer erhalten.“ Er hielt das Büchlein hoch, sodass Owen den Titel lesen konnte: „Ars tacendi.“

„Die Kunst des Schweigens. Ein seltsamer Titel“, sagte er. „Um was geht es in dem Buch?“

Brian zwinkerte ihm zu und öffnete es. Es war ein altes Tagebuch, die Seiten waren handschriftlich gefüllt. Die Bindungsart des Leders wie auch der vergilbte Zustand des Papiers wiesen auf die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hin, und man sah deutlich, dass verschiedene Verfasser hineingeschrieben hatten, denn als Brian vorsichtig darin blätterte, wurden unterschiedliche Handschriften und Tintenfarben sichtbar.

„Es ist eine Sammlung von Zitaten, Gedanken, Wortspielen in verschiedensten Sprachen. Den Anfang hat eine gewisse Lucille Hunter gemacht, eine Gouvernante, die im Jahr 1877 einen jungen Mann namens Philipp Roth unterrichten sollte. Sie hat ihm das Buch offenkundig geschenkt, denn er hat als Erwachsener ebenfalls darin geschrieben. Es sind nach wie vor Seiten frei, wenn auch nicht mehr viele.“ Brian zeigte, dass es etwa noch zwanzig Seiten sein mochten, die gefüllt werden konnten. „Ich wusste immer, ich würde nicht der Letzte sein und dich habe ich bereits vor Jahren als meinen Nachbesitzer auserkoren. Ich musste lediglich auf den richtigen Moment dafür warten. Wenn du fleißig bist, endet die Linie der Verfasser mit dir. Wenn du das nicht willst, gib es irgendwann an einen brillanten jungen Verstand weiter.“ Brian zückte einen altmodischen Federhalter und schrieb etwas in das Buch, in seiner engen, kleinen Schrift, die selbst für Kenner schwer zu entziffern war. „Mein Mentor hat es mir gegeben, als ich mich vor meiner ersten öffentlichen Rede so sehr gefürchtet hatte, dass ich am liebsten ins Krankenhaus gegangen wäre. Er meinte, ich solle es in der Tasche bei mir tragen, immer in Sichtweite, und wenn die Nervosität schlimm wird, mich darauf fokussieren. Hier, lies den ersten Eintrag, den Mrs. Hunter verfasst hat.“

Owen nahm das Buch an sich und las die Zeilen der Gouvernante: „Die Kunst des Redens ist die Kunst des Schweigens. Wer etwas wirklich Bedeutsames sagen will, muss die inneren Zweifel still sein lassen. Bedenke: Wer die bedeutsamen Worte hören will, muss still sein und ebenfalls schweigen, von innen und von außen, um lauschen zu können. Bedeutung entsteht in Stille.“

„Das klingt recht gut“, sagte er lächelnd.

„Du wirst einen wahren Schatz der Küchenphilosophie zu den Themen Kunst, Stille, Lärm, Schweigen, Reden, Sehen und Zuhören in diesem Buch finden. Originäre Zitate der Verfasser, die Worte anderer Denker in verschiedensten Sprachen. Warum Mrs. Hunter diese Sammlung begonnen hat, weiß heute niemand mehr. Es hat keinerlei akademischen Wert. Die eigenen Ängste vergessen zu können, indem man sich auf den wunderbaren Satz Bedeutung entsteht in Stille fokussiert, ist unbezahlbar. Du wirst sehen, diese harmlose kleine Selbsthypnose funktioniert jedes Mal und ist so viel gesünder als Schnaps.“

„Ich bin völlig überwältigt, dass du mir diesen Schatz anvertraust!“, sagte Owen lächelnd und blätterte vorsichtig bis zum letzten Eintrag. Dort stand geschrieben: „Ich, Brian Mitchell, übergebe dieses Buch nun meinem Freund und Schützling. Owen Fox, ich weiß niemanden auf der ganzen Welt, der den Wert dieser Sammlung umfassender versteht als du.“

„Danke.“ Owen kämpfte plötzlich gegen Tränen an, die seine Sicht verschwimmen und die Kehle eng werden ließen. Wie albern! Ein wenig peinlich war es ebenfalls. Er war nun wirklich nicht der Typ für aufwallende Emotionen. Aber das hier war solch ein kostbares Geschenk, dass er sich kaum noch zu helfen wusste.

„Ah, ich wusste, ich würde damit den richtigen Nerv treffen!“, sagte Brian zufrieden. „Geh nun nach Hause. Deine Frau hat sicherlich schon deine Sachen gepackt, du musst in einer Stunde zum Flughafen aufbrechen.“

„Vicky will mich begleiten. Sie freut sich sehr auf New York.“ Owen bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen. Er hatte sie gerne bei sich, doch es konnte auch anstrengend mit ihr sein. Seine Ehe war schwierig und komplex, und andererseits sehr einfach strukturiert – Vicky brauchte jemanden, um den sie sich hemmungslos kümmern konnte, weil er mit dem alltäglichen Leben nicht gut zurechtkam. Owen brauchte jemanden, der nichts lieber wollte, als sich um ihn zu kümmern. Dieser Jemand war Vicky. Im Gegenzug für das Kümmern durfte sie tun und lassen, was immer sie glücklich machte. In der Regel waren das Bücher, Liebesromane in den meisten Fällen, nur gelegentlich mal ein Krimi. Liebesromane, Schokolade, Tee, Dekokram, Badezusätze und blumig duftende Bodylotions, um es ganz genau zu nehmen. Sie arbeitete als Erzieherin. Als Owen einmal sehr vorsichtig das Thema Kinder angesprochen hatte, damals, bevor er ihr den Heiratsantrag machte, hatte sie kopfschüttelnd abgewinkt.

„Es reicht, wenn ich den ganzen Tag für fremde Kinder da sein kann. Abends will ich meine Ruhe haben.“ Ruhe bedeutete für sie auch: kein Sex. Um Gottes Willen, kein Sex. Küsschen auf den Mund musste reichen.

Womit er sich perfekt hatte arrangieren können, denn es kam seinen eigenen Bedürfnissen entgegen. Eigentlich war er ja auch nur ein zu groß geratenes Kind für sie, das sie liebevoll hätscheln konnte. Sie wusch seine Wäsche, kochte sein Essen, schickte ihn zum Friseur, erinnerte ihn an die Zahnarzttermine. Er war ihr dankbar dafür, achtete darauf, ihr regelmäßig Tee, Schokolade und Büchergutscheine mitzubringen und genoss die stillen Abende auf der Couch. Sie las ihre Bücher, er las seine Bücher, sie störten einander nicht, und wenn sie Lust hatten, plauderten sie gemeinsam über Belanglosigkeiten und waren einander beste Freunde. Was machte es da schon, dass auf sämtlichen Regalen kitschige kleine Elfen herumstanden?

 

 

„Dababi, dabada, dabadi, dabada …“ Charlie trällerte eine Melodie, die in seinem Kopf steckte. Es gab immer irgendeinen Ohrwurm, der ihn ärgern musste. Die beste Methode war es, sich nicht dagegen zu wehren. Einfach rauslassen und singen, und wenn man den Text nicht kannte – egal! Er tänzelte über die Straße, störte sich nicht daran, als ein ungeduldiger Fahrer ihn anhupte. Das war bedeutungslos, der arme Kerl hatte offenkundig entweder einen schlechten Tag oder ein schlechtes Temperament. Nun ja, wenn er darüber nachdachte, hatten die meisten Leute eine Neigung zu schlechten Tagen. Meistens, weil sie nicht begriffen, wie gut es ihnen eigentlich ging.

Er passierte einige kleine Läden. Es gab keinen direkten Grund, warum er sich in dieser Straße aufhielt und genau an diesen Läden vorbeimarschierte, -hüpfte und -tänzelte. Charlie folgte in der Regel strikt seinem Bauchgefühl, seinem Instinkt. Dieser Instinkt sagte ihm, welches Geschäft er betreten sollte, darum öffnete er eine Ladentür, ohne darauf zu achten, was darin angeboten wurde.

Es dauerte bloß einen Moment, um zu begreifen, wo er sich befand: Ein Antiquitätengeschäft, chaotisch, aber liebenswert vollgestopft mit Möbeln, Bildern, Figuren, Lampen und Büchern aus verschiedensten Epochen und sicherlich auch Kontinenten. Einiges war eindeutig viktorianisches England, wie das entzückende Teeservice, und möglicherweise stammten auch die indischen Dekostücke aus dieser Zeit. Die angestaubten afrikanischen Masken hingegen wirkten moderner auf ihn. Nicht dass er sich damit auskennen würde.

Charlie entdeckte eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, die an einem Ausstellungsstück herumwerkelte. Sie war die Verkäuferin, wie ihr Lächeln bewies, mit dem sie ihn bedachte.

„Verzeihung, Sir, ich bin in einer Minute bei Ihnen“, sagte sie professionell freundlich. „Ich muss nur kurz einige Preisschilder sortieren.“

„Das geht leider nicht“, verkündete er, fasste sie am Handgelenk und zog sie mit sich.

„Sir?“ Sie starrte ihn empört an, wehrte ihn jedoch nicht ab – der Kunde war König und Charlie versuchte keineswegs, sie zu belästigen.

„Ich muss Ihr Leben retten, ähm … Marie.“ Er nickte zu ihrem Namensschild, während er sie zum Kassentresen zog. Dort ließ er sie los und hüpfte hoch, um sich auf dem Tresen niederzulassen.

„Sir, bitte! Sie können dort nicht sitzen!“, sagte sie, sichtlich verunsichert, wie sie auf ihn reagieren sollte.

„Marie, natürlich kann ich. Ich verspreche, ich mache nichts kaputt. Im Gegenteil, ich bin ja hier, damit der Schaden möglichst gering bleibt. Mir ist bewusst, wie irrsinnig das klingt.“ Er lächelte beruhigend. „Ich bin nicht irre, dafür mit einer Gabe verflucht. Ich spüre, wo sich Unglück anbahnt. Sehen Sie, ich bin eine Art Glückskind. Mir selbst widerfährt weder Schaden noch Unfälle. Zum Ausgleich muss ich mit verfolgen, wie anderen Leuten Schlimmes widerfährt. Ich kann aber eingreifen und ja, deshalb bin ich hier. Mein Bauchgefühl hatte deutlich gesagt, dass hier gleich etwas passiert. Es dauert manchmal ein bisschen, sollte allerdings sehr bald soweit sein … Es ist ein seltsames Ding, diese Gabe. Also Gabe und Fluch zugleich.“ Ein bedrohliches Knacken unterbrach sein fröhliches Gestammel. Charlie versuchte gar nicht erst, den Leuten wirklich begreiflich zu machen, was mit ihm los war. Sie glaubten ihm sowieso nicht, bis das Schicksal dann zuschlug. Warum also versuchen, langsam und ruhig zu erklären, was nach schizophrenen Wahnvorstellungen klang?

Marie, die ihn zunehmend mitleidiger betrachtet hatte, zuckte bei diesem Knacken zusammen und fuhr herum. Einen Moment später löste sich der schwere Kristallleuchter, der an der Decke genau mittig über dem Ausstellungsraum hing, und krachte exakt dort zu Boden, wo die junge Frau eine Minute zuvor noch gestanden hatte. Es schepperte gewaltig, der Ausstellungstisch stürzte um, Kristall zersplitterte, eine Marmorstatue verlor den Kopf, Holz zerbrach.

Marie stand vollkommen erstarrt, ihre veilchenblauen Augen waren riesig in ihrem schockbleichen Gesicht, ihre Hände, die sie möglicherweise vor den Mund schlagen wollte, um nicht laut zu schreien, schwebten hilflos in der Luft. Ein übergewichtiger älterer Mann kam aus einem der hinteren Räume herbeigerannt.

„Marie! Was ist – o mein Gott!“ Er starrte auf das Chaos hinab und ließ das Werkzeug fallen, das er zuvor noch in den Händen gehalten hatte.

„Er … er hat mir das Leben gerettet!“, flüsterte sie und wies zittrig auf Charlie, der dem Mann lächelnd zuwinkte. „Hätte er mich nicht dort weggezogen … Ich habe genau da gestanden! Haargenau da! O Gott!“

„Wunderbar, nicht?“, rief Charlie und sprang munter vom Tresen herab. „Statt Blut und Trauer gibt’s nur ein bisschen Unordnung. Ein Besen sollte genügen.“ Ein Buch fiel ihm spontan auf, das in einem der Verkaufsregale stand. Solch ein hübscher, alter Einband! Er zog es heraus. „Ars tacendi“, stand vorne, in leuchtend blauen Lettern. Neugierig schlug er es auf. Es war ein Notiz- oder Skizzenbuch, wie es schien, die Seiten waren leer und bereit, gefüllt zu werden.

„Verzeihung, was kostet das?“, fragte er den ältlichen Mann, der gerade Marie tröstend an sich drückte, die vor lauter Schock zu weinen begonnen hatte.

„Was? Oh … Nehmen Sie es mit, ich schenke es Ihnen. Ohne Sie wäre meine Tochter verletzt worden, ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Sir …“

„Vielen lieben Dank.“ Charlie winkte lächelnd. Da er keinen einzigen Cent bei sich hatte, wäre es ihm andernfalls sowieso nicht möglich gewesen, das Buch zu kaufen. Er steckte es in den kleinen Rucksack, den er über der Schulter trug. „So, dann überlasse ich Sie mal der Beseitigung des Chaos‘ hier. Einen schönen Tag wünsche ich! Alles Gute, Marie.“

„Sir? Sir!“ Die beiden versuchten ihn aufzuhalten, doch Charlie huschte davon und war bereits wieder draußen auf der Straße, bevor sie ihn erwischen konnten. Er kannte das Spektakel, die Leute versuchten in solchen Momenten entweder, ihm wahnsinnig dankbar zu sein, oder sie beschuldigten ihn, er hätte das Unglück selbst verursacht. In beiden Fällen bemühten sie sich allzu häufig, ihn bei sich zu halten, bis irgendjemand die Polizei angerufen hatte. Das kostete Zeit und war anstrengend, darum verzichtete er freiwillig und eilte die nächstgelegene Treppe zu einer U-Bahn-Station hinab. Dass er kein Geld für ein Ticket hatte, war kein Hindernis für ihn. Man kontrollierte ihn nie.

Drei Stationen später begann das vertraute Ziehen im Unterbauch – Zeit für ihn, auszusteigen. Sein Handy klingelte, kaum dass er sich wieder oben auf der Straße befand. Es war Simon. Sein Boss.

„Mein Bester, was kann ich für dich tun?“, fragte Charlie überschwänglich.

„Deinen Arsch nach New York schwingen. Da wirst du gebraucht.“

„Ist nicht dein Ernst! Ich habe einen freien Tag und genieße ihn sehr, warum machst du mir das kaputt?“

„Charlie, du hast definitiv keinen freien Tag, du bist bloß mal wieder nicht zur Arbeit erschienen.“ Sein Chef seufzte leise. Wenn er könnte, hätte er Charlie schon vor Jahren gefeuert. Es war ihm unmöglich, was sie beide wussten, darum sprachen sie nicht über solche Dinge. Charlie durfte zumeist tun, was ihm gefiel, solange er dorthin ging, wo Simon ihn haben wollte, und interessantes Material schickte. „Die Details erhältst du noch per E-Mail. Pack deine Sachen und dann ab zum Flughafen mit dir. Du musst ein Interview führen.“

„Das ist langweilig. Warum verlangst du solch langweilige Dinge von mir?“

„Weil du ein Journalist bist und ich dich dafür bezahle, dass du journalistische Dinge tust. Du magst es, wenn ich dich bezahle und ich mag es, wenn du mir Texte, Bilder, Tonaufnahmen und somit Schlagzeilen lieferst.“ Ohne ein Wort des Abschieds brach Simon das Gespräch einfach ab. Er konnte ihn wirklich nicht gut leiden. Charlie streckte dem Handy die Zunge raus. Er konnte Simon ebenfalls nicht gut leiden. Da sie sich in diesem Punkt einig waren, war die Welt vollkommen in Ordnung.

Einige Minuten lang schritt er die Straße hinauf und hinab, bis das unwohlige Ziehen ihn zu einem Taxi führte. Okay! Offenkundig wurde er tatsächlich in New York gebraucht. Kurz prüfte er, ob alles Wichtige in seinem Rucksack steckte. Ausweis, Laptop, Handy, sein neues Notizbuch, ein Stift. Mehr benötigte er nicht. Wäsche, Hygieneartikel und das Flugticket würde er schon bekommen, sobald er es brauchte. Genau wie das Geld für die Fahrt.

Er stieg in das Taxi und ließ sich seufzend auf den Rücksitz fallen.

„Zum Flughafen, bitte!“, sagte er und schloss die Augen. Es war ein sehr, sehr anstrengender Tanz, unablässig wie eine Ping-Pong-Kugel vom Schicksal hierhin und dorthin geschossen zu werden. Anstrengend, zauberhaft in jeglichem Wortsinn, sehr verwirrend und immer spannend. Ein Leben im harmonisierten Swing eines Vier-Vierteltakts, das ständig mit überraschenden Wendungen daherkam. Verwirrend! Er konnte es kaum abwarten zu erfahren, was genau gleich geschehen würde, um ihm eine kostenlose Taxifahrt quer durch die Stadt zu ermöglichen …

 

Falsch geparkte Autos und harmonisiertes Schweigen

 

er Flug war anstrengend gewesen. Vicky wusste, dass Owen an ausgeprägter Flugangst litt und hatte alle möglichen Gegenmaßnahmen ergriffen, um ihm das Leben leichter zu machen. Medizinische Kaugummis gegen Reiseübelkeit, Baldriandragees zur Beruhigung, ayurverdische Teemischungen, die er natürlich schon vor dem Boarding trinken musste, weil sie keine Flüssigkeiten mit ins Flugzeug nehmen durften, dazu eine Playlist mit entspannender Musik – und das waren bloß die vernünftigen Vorschläge, die Owen tatsächlich angenommen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---