Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker - Jan Schweitzer - E-Book
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Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker E-Book

Jan Schweitzer

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Beschreibung

Zum Arzt oder nicht zum Arzt – das ist hier die Frage Rückenschmerzen, Krebsvorsorge, Magen-Darm-Beschwerden, Gewichtsprobleme – wenn es um die Gesundheit geht, haben viele Menschen das Gefühl, etwas tun zu müssen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen aber, dass das Gegenteil oft besser ist. Sind wir erkältet, schlucken wir ein Antibiotikum, bei einem Bandscheibenvorfall lassen wir uns operieren, und um Krebs fernzuhalten, gehen wir regelmäßig zur Vorsorge. Wir tun viel, um gesund zu werden oder zu bleiben, rennen zum Arzt oder in die Apotheke. Aber ist das auch richtig? Nein – oft ist es besser, nichts zu tun. Sitzt man aber erst einmal in der Praxis, kann man nur schwer wieder zurück. Dann muss etwas getan werden. Wer will sich schon vorwerfen, etwas zu spät oder gar nicht unternommen zu haben? Es könnte ja helfen! Doch die Medizin ist voll von unnötigen, teuren und sogar schädlichen Maßnahmen. So bekommen viele Patienten eine Diagnose, die mit den Beschwerden nichts zu tun hat. Oder eine Behandlung, die nicht nötig ist, die vielleicht sogar schadet. Und manch Gesunder verlässt die Praxis als Kranker. Dabei müssten viele Menschen gar nicht zum Arzt – Abwarten ist oft die bessere Medizin. Die Autoren haben als Ärzte im Krankenhaus Erfahrungen mit Aktionismus gemacht, erleben ihn aber auch immer wieder in ihrem Alltag. Sie erklären in diesem Buch anhand vieler Fallgeschichten und des heutigen Stands der Wissenschaft, warum es sich oft lohnt, nicht tätig zu werden – von A wie Arthrose bis Z wie Zahnreinigung.Ein Ratgeber, der einem mal nicht sagt, was man für seine Gesundheit tun muss, sondern was man lassen kann.

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Seitenzahl: 367

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Dr. med. Ragnhild Schweitzer / Jan Schweitzer

Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker

Warum Abwarten oft die beste Medizin ist

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Dr. med. Ragnhild Schweitzer / Jan Schweitzer

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorwortMedizinEinführungOrthopädieChirurgieInnere Medizin/AllgemeinmedizinDermatologie/HautpflegeZahnheilkundeIndividuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)Früherkennung/VorsorgeErnährungEinführungDiätenNahrungsergänzungsmittelBiolebensmittelNahrungsmittelunverträglichkeitenMindesthaltbarkeitsdatumGesundheitsinformationEinführungQualitätscheckDie richtigen Fragen an den ArztGute AdressenZu guter Letzt …DankQuellen
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Vorwort

Es war kein richtiger Schrei, der da aus dem Badezimmer kam, eher ein verschrecktes Rufen. Unser Sohn Paul, damals zehn Jahre alt, stand unter der Dusche, und als wir hereingelaufen kamen, zeigte er entsetzt auf seinen Bauch, rechts, unterhalb vom Nabel. Eine Beule war dort zu erkennen. Schnell war uns klar, was das war – und was es bedeutete. Sie müssen wissen: Wir sind beide Mediziner. Und einen Leistenbruch bekommt man im Studium oft schon früh zu sehen. Man lernt auch früh, was meist zu tun ist: Es muss operiert werden. Wir beruhigten den verunsicherten Paul aber erst mal, sagten ihm so etwas wie »Müssen damit zum Arzt« und »Sehen dann schon«. Von der fälligen Operation und was die für ihn bedeutete, erzählten wir ihm zunächst nichts. Er machte so viel Sport und würde nun wochenlang darauf verzichten müssen, daher brachten wir es einfach nicht übers Herz. Denn in diesem Moment wurde uns klar, dass wir das angerichtet hatten. Ja, genau: Wir Eltern waren schuld an dieser Beule und an all dem, was ihr vorausgegangen war und ihr noch folgen sollte. Wir hatten nämlich, ohne nachzudenken, auf einen Arzt gehört und eine Krankengymnastin einfach mal machen lassen. Obwohl es viel besser gewesen wäre, von Anfang an gar nichts zu tun. Darüber berichten wir noch ausführlicher im ersten Kapitel.

Ein Gutes hatte Pauls Leistenbruch aber. Er war der Punkt, an dem uns das erste Mal etwas richtig klar wurde: dass es in puncto Gesundheit oft nicht gut ist, wenn man etwas tut; dass es, im Gegenteil, meist besser ist, nichts zu tun. Auch wenn das etwas verrückt klingt: abzuwarten, wenn man krank ist und etwas dagegen unternehmen könnte. Schließlich darf man doch diese Chance nicht einfach so verstreichen lassen und untätig danebenstehen! Gerade wenn es um die Gesundheit geht, muss man doch jede Gelegenheit nutzen! Nein. Muss man nicht. Das beste Beispiel stand vor uns und hatte eine Beule am Bauch.

Sicher waren und sind wir nicht die einzigen Aktionisten bei gesundheitlichen Problemen. Treten sie auf, meinen viele Menschen, gleich etwas unternehmen zu müssen, weil sich irgendwo ganz tief in ihnen sofort eine Stimme rührt, die hartnäckig immer wieder sagt: Dagegen musst du etwas tun! Dein Körper braucht dich! Lass ihn nicht im Stich! Also unternimmt man etwas. Und wer diese innere Stimme nicht rufen hört, hat sicher jemanden in seiner Umgebung, der ihm dringend rät, etwas zu unternehmen. Oder sieht die vielen guten Tipps im Fernsehen, im Internet oder in Zeitschriften. Denn alle sagen einem immer nur, was man tun muss – und niemand, was man lieber lassen sollte.

Das wollen wir nun ändern. Und so haben wir Pauls Leistenbruch-Geschichte zum Anlass genommen, dieses Buch zu schreiben. Nicht nur um unseren eigenen Aktionismus endlich einzudämmen, sondern weil es sowohl in der Medizin als auch in der Ernährung zahlreiche Situationen gibt, in denen es einfach mehr schadet als nutzt, etwas zu tun. Das zeigt auch die Wissenschaft in immer mehr Studien. So sind wir bei unserer Recherche auf viele Dinge gestoßen, die uns erstaunt und die Augen geöffnet haben. Wir erinnerten uns auch daran, dass wir schon kurz nach unserem Medizinstudium die ersten einschneidenden Erfahrungen mit übermotiviertem Handeln gemacht haben.

Wir arbeiteten damals als Ärzte im Krankenhaus und bewunderten anfangs den Chefarzt für das große Interesse am Wohl seiner Patienten. Er nahm sich zum Beispiel zusätzlich zu der allmorgendlichen Visite jeden Tag noch einmal die Zeit, kurz in alle Zimmer seiner Privatstation zu schauen, bevor er zu Frau und Kindern in den Feierabend entschwand. Er konnte einfach nicht beruhigt nach Hause gehen, ohne sicher zu sein, dass es all seinen Patienten gut ging – wie fürsorglich! Auch die Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüse, die er Patienten angedeihen ließ, die teilweise schon weit über achtzig Jahre alt waren, beeindruckten uns enorm: toll, wie sehr er sich um die älteren Herrschaften kümmerte; wie rührend, dass er noch mal eigenhändig schaute, dass mit ihnen alles in Ordnung war! Auch die »kleine Hafenrundfahrt« übernahm der Chef bei seinen männlichen Privatpatienten selbst, eine liebevolle Bezeichnung für die Untersuchung von Enddarm und Prostata mit dem (behandschuhten) Finger. Das machte er auch dann, wenn die das 80. Lebensjahr bereits überschritten hatten. Wirklich nett von ihm, dass er seinen Assistenzärzten diese Maßnahme abnahm! Schließlich ist sie für Untersucher und Untersuchten alles andere als angenehm.

Unsere Bewunderung für den Chef war also groß – bis uns irgendwann die erfahreneren Kollegen mit einem Lächeln aufklärten, dass das alles mit Fürsorge und Nettigkeit rein gar nichts zu tun hätte, sondern eher mit monetären Interessen. Es ging ihm, auf Deutsch gesagt, um die Kohle. Denn diesen kurzen nachmittäglichen Blick ins Krankenzimmer, der manche Patienten beim Schlafen störte, konnte er als zweite Chefarztvisite pro Tag abrechnen. Und die selbst durchgeführten Untersuchungen per Ultraschall oder Finger brachten ihm auch deutlich mehr Geld, als wenn sie ein Assistenzarzt gemacht hätte. Ganz abgesehen davon, dass beide bei den hochbetagten Patienten eh überflüssig waren, weil sie für sie keinerlei Konsequenzen hatten.

Uns wurde schlagartig klar, dass auch die Medizin oft ein Geschäft ist und es längst nicht immer um das Wohl des Patienten geht – herzlich willkommen in der Realität! Und so lernten wir recht schnell, dass es auf der einen Seite viele (Chef-)Ärzte gab, die unnötige Maßnahmen anordneten, weil sie finanziell davon profitierten, aber auch, weil man ja etwas tun muss, wenn jemand im Krankenhaus liegt. Wir lernten aber auch, dass es auf der anderen Seite die angenehme Zurückhaltung von Ärzten gab, meist jüngeren, die einer wissenschaftlich orientierten Medizin anhingen und die Patienten nach deren Kriterien versorgten. Und diese Kollegen haben uns Nachwuchsmedizinern immerzu gesagt: »Macht nie etwas, ohne über die Konsequenzen und den Nutzen nachzudenken – die Konsequenzen, die eine Maßnahme haben könnte, und den Nutzen, den sie haben müsste!« Sie zeigten uns so manches Mal, dass es besser sein kann, etwas nicht zu tun: nicht das aufwendige bildgebende Verfahren anzuordnen, nicht das neue Medikament zu verschreiben und nicht die schwierige Operation zu empfehlen – sondern abzuwarten, weil es das Beste für den Patienten ist. Denn jede diagnostische oder therapeutische Maßnahme in der Medizin kann potenziell schädlich sein, vor allem wenn sie gar nicht nötig ist. Dann nimmt man nämlich Nebenwirkungen in Kauf, ohne in irgendeiner Art und Weise von dem Getanen zu profitieren.

Die Frage nach dem wissenschaftlich belegten Nutzen hat uns seitdem nicht nur als Ärzte geprägt, sondern auch in unserem zweiten Berufsleben als Medizinjournalisten. Nur ins Private wollte und wollte sie nicht abfärben. Denn bis zu Pauls Leistenbruch war da immer diese hartnäckige Stimme in uns, die uns zum Handeln gedrängt hat, sobald ein gesundheitliches Problem auftauchte. Wir kamen gar nicht auf die Idee, den Körper einfach mal machen zu lassen. Dabei hatten wir doch im Studium gelernt, dass er über hochwirksame Reparatur- und Schutzmechanismen verfügt, vieles von allein regeln kann – und so meist auch ernste Krankheiten viele Jahrzehnte lang fernhält. Natürlich kann man auch als junger Mensch eine schwere oder eine chronische Erkrankung bekommen, die behandelt werden muss. Das ist schrecklich und soll hier keinesfalls kleingeredet werden. Aber die Statistiken zeigen es: Europäer verbringen den weitaus größten Teil ihres Lebens in guter Gesundheit, sogar bis in ihre Siebziger sind viele Menschen noch fit.

An diese Menschen richtet sich unser Buch: die Gesunden also, die sich aber für die Statistik nicht recht interessieren. Oder die befürchten, die Ausreißer sein zu können. An die, die meinen, eine Chance zu verpassen, wenn sie nicht tätig werden, und die daher schnell zum Arzt gehen. Und an Menschen, die alle möglichen Früherkennungsuntersuchungen machen lassen; die planlos Krankheiten im Internet googeln und sich dadurch noch mehr verwirren lassen; die Nahrungsergänzungsmittel schlucken, um sich vor Krankheiten zu schützen; die sich vor Schadstoffen oder ganz natürlichen Bestandteilen in Lebensmitteln fürchten oder die sich mit Diäten beim Essen gängeln – eben alle diejenigen, die aus Gewohnheit oder Unsicherheit völlig Unnötiges für ihre Gesundheit tun. Und das sind viele, sehr viele. Unser Buch soll diesen Menschen die Angst nehmen und ihnen bewusst machen, dass es sich oft lohnt, ruhig zu bleiben und abzuwarten, auch wenn es schwerfällt. Es soll so etwas sein wie ein Plädoyer für eine Gelassenheit, die auch wir selbst erst lernen mussten.

Bitte verstehen Sie unser Buch aber nicht als generellen Aufruf zum ständigen Nichtstun oder als Ersatz für einen Arztbesuch. Jeder, der beunruhigt ist oder dessen Beschwerden sehr stark sind und nicht besser werden, soll natürlich zum Arzt gehen. Aber es gibt eben eine Vielzahl von Symptomen und Malaisen, die oft von allein besser werden oder nachlassen, ohne dass eine Untersuchung oder Behandlung nötig ist. Unser Buch soll Ihnen helfen, diese zu erkennen und Ihnen anhand von Beispielen aus Medizin und Ernährung ein Gefühl dafür geben, wie viel Unnötiges und damit potenziell Schädliches man für seine Gesundheit tun kann – und auch tut: Wir sind das beste Beispiel dafür und wollen Sie vor solchen Fehlern bewahren. Daher soll dieses Buch Mut machen, erst einmal in Ruhe nachzudenken, bevor Sie für Ihre Gesundheit aktiv werden. Denn eines ist auch uns klar: Es kostet oft Mut, die Dinge einfach mal laufen zu lassen und nichts zu tun. Aber in der Medizin ist eben weniger oft mehr, und daher ist es häufig das Beste für die Gesundheit, weder Arzt noch Apotheker zu fragen.

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Medizin

Paul wollte nicht zum Kinderarzt – welches Kind will das auch schon? Schimpfend saß er im Auto und fragte immer wieder, warum das denn jetzt sein müsse, dieser Besuch beim Doktor. Hätten wir doch nur auf ihn gehört. Denn wenn wir gewusst hätten, welche Folgen dieser Praxisbesuch für ihn und unsere Familie haben würde – wir wären umgekehrt, sofort!

Den Termin beim Kinderarzt hatten wir ausgemacht, damit der sich Paul in der sogenannten U11 einfach mal wieder anschaute. Die U11 ist eine zusätzliche Vorsorgeuntersuchung für Neun- bis Zehnjährige, die manche Krankenkassen gar nicht bezahlen. Und ganz ehrlich: Sie ist nicht unbedingt notwendig. Aber wir meinten es doch nur gut. Der Kinderarzt sollte sich Paul ansehen, Augen und Ohren testen, Größe und Gewicht messen. Außerdem wollten wir ihn auch wegen der Fersenschmerzen fragen, über die Paul schon seit einiger Zeit klagte und die vor allem beim Fußballspielen auftraten. Der Arzt sollte uns dann bitte schön etwas in der Art sagen wie »Machen Sie sich mal keine Sorgen, das geht schon weg, wenn Paul sich schont«. Doch er sagte: »Das sollte schnell ein Orthopäde abklären. Es könnte eine Knochenauflösung sein, die nicht selten ist bei Jungen in Pauls Alter, die viel Sport machen. Hatte der Kinderarzt gerade von Knochenauflösung geredet? Unser Kinderarzt, der sonst immer so besonnen war und uns beruhigte – der reagierte auf einmal besorgt? Es musste etwas Ernstes sein! Also machten wir einen Termin beim Orthopäden aus.

Als der Tag gekommen war, gab es auf dem Weg dorthin wieder dieses Warnzeichen: Paul motzte, wie er es zuvor noch nie getan hatte, wenn wir zum Arzt gefahren waren. Hinzu kam seine Frage, warum wir denn jetzt schon wieder zu einem Arzt müssten – die Schmerzen in der Ferse seien eigentlich schon besser, nein, fast weg seien sie. Das fällt ihm aber früh ein, dachten wir nur.

Und tatsächlich: Der Orthopäde fand nichts Auffälliges. Zumindest nicht an Pauls Fuß. Dafür aber quasi am gesamten Rest seines Körpers: Verkrümmungen, Verspannungen und Verkürzungen diagnostizierte er. Und gegen die musste etwas getan werden! Also verschrieb der Arzt Krankengymnastik.

Es folgte die nächste Station. Und auch dort gab es Warnzeichen, die uns hätten stutzig werden lassen müssen. Dieses Mal war es kein motzender Paul – der hatte seinen Widerstand aufgegeben gegen seine Eltern, die es doch so gut mit ihm meinten. Nein, dieses Mal war es die Krankengymnastin, die, wie soll man sagen, irgendwie besonders war und eigenartige Dinge sagte, schon nach einem oberflächlichen Blick auf Paul: Er sei von den Mundwinkeln bis zu den Zehenspitzen schief, verwachsen und krumm. Aha. Hatten wir seit inzwischen zehn Jahren tatsächlich Seite an Seite mit Quasimodo gelebt, ohne dass es uns aufgefallen war? Natürlich war sein allzeit hüpfender Kleinkindgang verschwunden und er hatte auch das unablässige Stromern in die verschiedensten Ecken eingestellt, wie man es sonst von jungen Hunden kennt. Inzwischen brachte ihn ein vorpubertäres Schlurfen mit hängenden Schultern vorwärts, das eine Lässigkeit ausdrücken sollte, die in diesem Alter meist nur lustig wirkt. Doch war das denn nicht normal? Für die Krankengymnastin wohl nicht, und sie fuhr fort, dass auch keines seiner Organe da liege, wo es hingehöre. War sie etwa eine Verwandte von Superman, ausgestattet mit dem Röntgenblick? Auch Paul schaute etwas irritiert: Organe an der falschen Stelle? Wie eklig ist das denn!, konnte man von seinen Augen lesen. Doch er blieb ruhig. Bis die Krankengymnastin das B-Wort in den Mund nahm: Er solle Barfußschuhe tragen, empfahl sie, die würden ihn wieder ins Gleichgewicht bringen. In diesem Moment bekam sein Blick etwas Panisches, und er entwickelte ausgeprägte Fluchttendenzen. Wir wollen niemanden beleidigen, der Barfußschuhe ästhetisch ansprechend findet, aber: Es gibt sicher attraktivere Schuhe für einen Zehnjährigen.

Und als die Krankengymnastin dann auch noch Pauls allmorgendliches Müsli auf das Schlimmste diskreditierte und behauptete, Muttermilch sei für die Babys da und Kuhmilch für die Kälber, da hätten auch wir das wirklich als das letzte Warnzeichen erkennen müssen und fluchtartig die Praxis verlassen und niemals wiederkehren sollen.

Doch wir flohen nicht, wir gingen wieder und wieder in die Praxis, zu jedem Termin – auch zum vorletzten von insgesamt sechs. Denn: Was konnte an einer harmlosen, Heil bringenden Krankengymnastik schon falsch sein? Die Therapeutin meinte es doch nur gut! Dann aber passierte es: Mit dem Rücken auf einem Gymnastikball liegend, sollte Paul einen Sandsack vom Boden aufheben und ihn werfen. Haben Sie das schon mal versucht? Uns schmerzte bereits die Vorstellung, und eigentlich ist es schon unmöglich, in dieser Lage mit den Händen überhaupt bis auf den Boden zu kommen. Aber dabei dann noch rücklings einen Sandsack von der Matte aufzuheben, damit hochzukommen und ihn zu werfen – das war eine Übung, wie sie nicht mal Soldaten in der Grundausbildung zugemutet wird, selbst wenn der Stabsunteroffizier einen Hang zum Sadismus hat. Trotzdem: Wir schauten nur fassungslos und irgendwie auch beeindruckt zu, schritten aber nicht ein …

Paul schaffte die Übung, sogar mehrfach hintereinander. Doch schon beim zweiten Mal meinte er, dass es ihm in der Leiste reiße, weil er doch ganz schön in den Bauch pressen müsse, um mit dem Sandsack in den Händen auf dem wackeligen Ball überhaupt hochzukommen. Selbst in diesem Moment schrien wir nicht Stopp, wir packten auch nicht unsere Sachen und verließen nicht die Praxis. Nein: Wir ließen Paul die Übung brav absolvieren, bis zum bitteren Ende.

Abends sahen wir dann die Quittung: Beim Duschen fiel Paul eine Beule am Unterbauch auf. Uns war gleich klar, dass das nichts Gutes bedeutete. Die Bestätigung gab’s am nächsten Tag im Krankenhaus in Form der Diagnose »Leistenbruch«. Eine Woche später wurde Paul operiert, was wahrscheinlich nicht mal das Schlimmste war. Viel gravierender waren die drei Wochen absolutes Sportverbot im Anschluss. Die quälten ihn viel mehr als die Schmerzen nach dem Eingriff – nicht nur, weil er sonst alles trat, was ballähnlich ist und ihm vor die Füße kam, sondern auch, weil wir unseren Skiurlaub absagen mussten, auf den wir alle uns schon so sehr gefreut hatten.

Natürlich hatte Paul die Schwachstelle im Unterbauch, die zum Leistenbruch führte, schon vor der Krankengymnastik gehabt. Trotzdem war diese Quälerei der letzte Anstoß gewesen. Im Nachhinein hätte weniger gut gemeinter Aktionismus uns und vor allem Paul vieles ersparen können. Die Fersenschmerzen, die alles erst ins Rollen gebracht haben, sind übrigens ganz von allein wieder verschwunden.

Einführung

Das Beispiel zeigt: Selbst uns als Medizinern fällt es oft schwer, nichts zu tun, gelassen zu bleiben und die Dinge sich selbst zu überlassen. Viel hilft viel (in unserem Fall: Sehr, sehr viel muss einfach auch sehr, sehr viel helfen) – diese Weisheit steckt tief in uns Menschen drin, warum sollte einen da medizinisches Fachwissen zur Vernunft bringen? Wobei wir alle ja auch den gemeinen Stiefbruder von »Viel hilft viel« kennen: »Wer nichts macht, verpasst was.« Und wer will schon etwas verpassen? Es könnte ja wichtig sein. Es könnte helfen! Und man muss ja auch an später denken, an die Vorwürfe, wenn etwas schlecht gelaufen sein sollte. Keiner will doch ein verächtlich dahingeworfenes »Hättest du doch bloß …« hören. Wie soll man da als medizinischer Laie ruhig bleiben, wenn wir es als medizinische Profis schon kaum schaffen? Für viele Menschen ist das unmöglich.

Zumal einen in den Praxen und Kliniken der Republik auch Fachleute erwarten, von denen es viele nicht unbedingt darauf anlegen, die Beine baumeln zu lassen und diejenigen, die zu ihnen kommen, nur mit einem wohlmeinenden Ratschlag wieder nach Hause zu schicken. »Arzt« nennt sich diese Spezies, und sie hat neben dem Heilen viele Gründe, etwas zu tun: Geld, Bequemlichkeit oder Unwissenheit – um nur einige zu nennen.

Und so treffen zwei Parteien aufeinander, die sich gegenseitig brauchen und die dafür sorgen, dass oft etwas getan wird, das nicht getan werden müsste und manchmal auch nicht getan werden dürfte. Denn jedes ärztliche Tun kann eine Konsequenz haben – auch eine negative.

Wie aktiv wir Deutschen sind, wenn es um unsere Gesundheit geht, zeigt ein Blick auf den zugehörigen Markt.

Schon seit Jahren gehört Deutschland zu den Top 5 der Welt, wenn es um die Gesundheitsausgaben geht. Die USA stehen uneinholbar vorn, das Land steckt 16,4 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) in das körperliche und seelische Wohlergehen. Dahinter aber streiten sich Länder wie Frankreich, die Schweiz oder eben Deutschland um die Plätze. Allesamt zwacken sie etwa 11 Prozent ihres BIP für den Medizinsektor ab. Konkret sind das 300 Milliarden Euro jährlich – das ist fast eine Milliarde Euro am Tag, die Deutschland ausgibt, um etwas für die Gesundheit seiner Bürger zu tun. Was oft nicht nötig ist: Viel Geld wird für Nutzloses, oft gar Schädliches verschwendet. Etwa 30 Prozent aller Ausgaben in der Medizin würden vergeudet, sie brächten Patienten keine Vorteile, schätzt die Medizinprofessorin Wendy Levinson von der University of Toronto.

150000 Ärzte in den 1980 Krankenhäusern Deutschlands und mehr als 147000 Ärzte in den Praxen dieses Landes kümmern sich um uns. Man könnte es auch so ausdrücken: In Deutschland ist eine ganze Großstadt dafür abgestellt, unsere Krankheiten zu behandeln.

Das sind sehr viele Mediziner, aber: Wir brauchen sie auch, vor allem die in den Praxen. Denn mit einem einzigen Arztbesuch pro Jahr bei einem niedergelassenen Mediziner geben sich nur die wenigsten der insgesamt etwa 75 Millionen Menschen in Deutschland zufrieden. Und 19 Millionen kommen jedes Jahr in ein Krankenhaus. Im Durchschnitt besucht jeder gesetzlich Versicherte jährlich drei verschiedene Ärzte und mehr als jeder zweite sogar vier oder mehr. Das sind nur Durchschnittswerte, es gibt natürlich auch Menschen, die gar nicht zum Arzt gehen – andere dafür umso häufiger.

Treue Besucher der Praxen sind dabei gewiss nicht nur alleinstehende ältere Damen und Herren, die zu Hause niemanden mehr haben, mit dem sie reden könnten, und die deswegen regelmäßig ihren Hausarzt zum Plausch treffen. Nein, es sind wir alle: Bis zu neun Millionen Menschen sitzen montags in den Praxen der Republik und warten darauf, dass sie endlich mit ihrem Arzt sprechen können, der ihre Sorgen und Beschwerden versteht, der ihnen sagen wird, was getan werden muss gegen ihre Rückenschmerzen, ihre Erkältung oder ihre Angst vor dem Krebs. Denn irgendetwas ist immer, ob mit dem Körper oder der Seele. Etwas, das einem Sorgen macht, das man dem Arzt zeigen oder von dem man ihm berichten muss.

Man sollte es sich aber gut überlegen. Denn wenn man erst mal in der Praxis ist, wenn man vor dem Doktor sitzt, ihm von seinen Leiden berichtet, sich untersuchen lässt – dann ist es meist zu spät. Dann kann man nur schwer zurück, dann passiert oft etwas, das nicht passieren sollte; das zumindest dann nicht passieren dürfte, wenn es um das Wohl des Patienten ginge. Denn die Medizin steckt voller unnötiger, teurer und oft sogar schädlicher diagnostischer Maßnahmen und Therapien, die Ärzte oft in gutem Glauben anwenden, manchmal aber einfach auch nur, um mehr Geld zu verdienen. Und so verlässt manch Gesunder die Praxis als Kranker, bekommt eine Diagnose, die mit den Beschwerden gar nichts zu tun hat, oder soll Medikamente schlucken, die mehr schaden als nutzen. Dabei müssten viele Menschen mit ihren Beschwerden gar nicht zum Arzt. Oder anders: Bei vielen Krankheiten und Beschwerden ist es besser, erst einmal nichts zu tun, abzuwarten. Doch viele Menschen wissen das nicht, und viele Mediziner wollen es nicht wissen.

Ein Beispiel, das wir alle kennen, zeigt das sehr deutlich: die Erkältung. Das Missverständnis fängt schon damit an, dass wir überhaupt wegen einer Erkältung zum Arzt gehen. Denn man muss sich schon ernsthaft fragen, ob wir wirklich immer krank sind oder besser: nicht mehr gesund sind. Über die absurde Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO (»Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen«) müssen wir dabei nicht diskutieren, sie ist fern jeder Realität. Aber macht einen ein Leiden, das zwar quälend ist, aber schon in ein paar Tagen wieder verschwunden sein wird – macht einen so etwas schon zum Patienten, der einer Therapie bedarf? Sicher, man fühlt sich schlecht, oft sogar erbärmlich. Aber die Erkältung ist eher keine Gefahr für Leib und Leben, und die Beschwerden sind schnell wieder verschwunden, auch wenn man sich das in solchen Momenten nicht vorstellen kann. Der Volksmund sagt, eine Erkältung dauere mit Arzt eine Woche und ohne ihn sieben Tage. Der Volksmund hat recht. Man müsste eigentlich nur abwarten. Und doch gehen viele Menschen wegen einer Erkältung zum Arzt. Dann wird oft etwas getan, das nicht getan werden muss und nicht getan werden dürfte: Es wird ein Antibiotikum verschrieben. Auch auf den ausdrücklichen Wunsch der Patienten hin, wie eine Untersuchung der DAK zeigt: Vier von zehn Menschen glauben demnach an die Kraft von Antibiotika gegen Erkältungen, drei Viertel erwarten sogar deren Gabe, wenn hartnäckige Erkältungsbeschwerden nicht von selbst besser werden. Viele Menschen verlangen also etwas Überflüssiges – Sie wissen ja: mit Arzt eine Woche, ohne sieben Tage.

Aber es gehören natürlich zwei dazu. Der Arzt ist nicht unschuldig. Er müsste es eigentlich besser wissen. Er müsste wissen, dass Erkältungen von Viren ausgelöst werden, gegen die kein Antibiotikum hilft – gegen die es überhaupt kein Mittel gibt. Man kann nun zu einem Wehklagen ansetzen und sich fragen, warum die Menschheit Raumsonden in den letzten Winkel des Sonnensystems schicken und Telefone bauen kann, die die Bewältigung des Alltags für ihre Besitzer übernehmen, warum sie aber bislang kein Mittel gegen eine Erkältung gefunden hat (und wohl auch erst mal nicht finden wird – es gibt einfach viel zu viele verschiedene Viren, nämlich 200, die Erkältungen verursachen). Doch man sollte eines nicht tun: ein Antibiotikum gegen eine Erkältung nehmen. Nicht nur, dass es nicht hilft, es hat auch immer potenzielle Nebenwirkungen, etwa auf Magen und Darm.

Bei einem anderen Beispiel, das auch viele kennen, ist es ähnlich: bei Rückenschmerzen. Die sind für viele inzwischen ein ständiger Begleiter in ihrem Leben, fast so etwas wie ein guter Bekannter: Fragt man Menschen, ob sie gerade Rückenschmerzen haben, dann antworten etwa 30 bis 40 Prozent mit Ja. Fragt man sie, ob sie im letzten Jahr zumindest ein Mal Schmerzen gehabt haben, sind es sogar mehr als 70 Prozent, die das bejahen. Viele gehen deswegen zum Arzt: In den Praxen des Landes gehören Rückenschmerzen seit Jahren zu den Diagnosen, die am häufigsten gestellt werden; innerhalb des Jahres 2011 wurde bei 35 Prozent der Bevölkerung eine Krankheit der Wirbelsäule und des Rückens dokumentiert. Vor allem der Lendenbereich ist betroffen – die täglichen Stunden im Sitzen und der Stress bei der Arbeit fordern ihren Tribut.

Inzwischen ist der Rückenschmerz aber nicht mehr nur eine Krankheit, sondern eine Art Popstar. Er prangt als Titelheld auf Zeitschriften, ist Protagonist im Fernsehen, nicht nur in Gesundheitssendungen, und belebt jede Party, wenn ausführlich die Art und die Auswirkung der Schmerzen geschildert und sich darüber ausgetauscht wird, was denn die Ärzte schon so alles mit einem angestellt haben. Wir alle haben eben Rücken. Aber auch, wenn wir noch so nonchalant mit dem lästigen Schmerz umgehen: Rückenschmerzen sind für viele Menschen eine große Last. Und für viele Ärzte der willkommene Anlass, etwas zu tun, was nicht getan werden muss – und auch nicht sollte.

Zunächst wird dann oft der Gerätepark angeworfen: Ein Röntgenbild vom Rücken hier, eine Magnetresonanztomografie(MRT)-Aufnahme da. Oder auch mal eine Untersuchung per Computertomografie. Den Ärzten geht das oft leicht von der Hand: Deutschland kommt insgesamt auf mehr als 130 Millionen Röntgenbilder jährlich und 17 Millionen Tomografien.

Und auf einer der Aufnahmen wird dann schon etwas sein: Experten schätzen, dass bei etwa 40 bis 50 von 100 Menschen, die eine MRT oder CT bekommen, etwas gefunden wird, von dem man nicht sagen kann, was es bedeutet. Und dann? Probiert man halt etwas anderes. Und noch etwas. Oder noch etwas anderes. Eine Wirbelsäulenvermessung etwa. Auch wenn nichts davon dem Patienten nutzt. Für die Behandlung hat der Arzt oft auch noch das eine oder andere Gerät in seiner Praxis stehen, das vor Jahren oder gar Jahrzehnten einmal angeschafft wurde und dessen Wirkmechanismus so wissenschaftlich klingt, dass es helfen muss. Strahlung (in Form von Wärme etwa) spielt dabei oft eine wichtige Rolle, einen belegten Nutzen gibt es selten. Wenn die Strahlen (und sonstige Apparaturen) aber nicht helfen, dann wird oft noch ein Physiotherapeut eingeschaltet (was nicht immer eine gute Idee ist), nicht selten aber auch die nächste Stufe gezündet und eine Operation angebahnt (was meist überhaupt keine gute Idee ist).

Ob man operiert wird, hängt dabei von vielen Dingen ab, aber nicht immer davon, ob es wirklich nötig ist und einem nutzt. Oft ist der Wohnort entscheidend, nicht nur bei einer Rücken-OP. So wurden zwischen 2010 und 2012 in Birkenfeld 60 Frauen von 10000 die Gebärmutter entfernt, in Heidelberg nur 20 von 10000. Wie kann das sein? Sollte nicht eigentlich die medizinische Notwendigkeit darüber entscheiden, ob jemand operiert wird – und nicht der Wohnort? Ja, sollte sie. Tut sie aber nicht. Bei der Entfernung der Mandeln, sogenannten Tonsillektomien, sind die Unterschiede noch dramatischer: In Coburg wurden nur 16 von 10000 Kindern und Jugendlichen die Mandeln entfernt, in Bad Kreuznach 107. Dabei ist gerade dieser Eingriff oft nicht nötig und sollte sorgfältig abgewogen werden.

Diese Willkür war schon immer ein Problem. In den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckte der Arzt John Alison Glover, dass die Raten an Tonsillektomien in den einzelnen Londoner Stadtteilen unterschiedlich waren und dass das davon abhing, wer die Ärzte ausgebildet hatte – und nicht davon, ob es wirklich medizinisch nötig war. Man kann noch deutlich weiter zurückgehen in der Geschichte, um Aktionismus in der Medizin zu entdecken. Schon 1800 Jahre vor Christus hatte der babylonische König Hammurapi das Problem erkannt, sein Gegenmittel fiel allerdings drastisch aus: Per Gesetz ordnete er an, dass operativ tätigen Ärzten, die übereifrig agierten, die Hand abgeschlagen oder ein Auge ausgestochen werden sollte. Der Bostoner Arzt Ernest Codman hingegen wählte 37 Jahrhunderte später, 1915, einen sanfteren Weg und machte sich mit einem Cartoon lustig über seine Kollegen, die damals prophylaktisch die Wurmfortsätze ihrer Patienten entfernten, auf dass diese niemals eine Blinddarmentzündung erlitten – eine irrwitzige medizinische Mode, die den Ärzten aber einiges an Arbeit und Geld bescherte.

Auch wenn es um unsere Knochen geht, ist ehrliche Handwerksarbeit immer noch deutlich geachteter als passives Zuschauen. Das Knie etwa ist ein äußerst beliebtes Arbeitsgebiet von Ärzten, vielleicht sogar eines der beliebtesten überhaupt. Zum Pech für die Patienten, zum Glück für die Ärzte ist es nicht ganz unaufwendig, das Innere des Gelenkes zu betrachten: Man muss operieren, um Kreuzbänder, Menisken und Knorpel sehen zu können. Doch es gibt Gott sei Dank patientenfreundliche Ausdrücke dafür: »minimalinvasive Arthroskopie« oder auch »Kniespiegelung« heißen sie. Sie klingen ganz harmlos und nach wenig Aufwand. Dass es auch hierbei Risiken gibt, Infektionen etwa, wird den Patienten nicht unbedingt als Erstes erzählt, wenn über solche Eingriffe geredet wird. Mehr als 413000 Mal im Jahr spiegeln Ärzte in Deutschland das Knie, und die Patienten lassen es mit sich machen – auch wenn es oft nichts nutzt. Denn ein häufiger Grund für eine Arthroskopie des Knies ist ein Leiden, das man nicht therapieren kann: der Gelenkverschleiß. Trotzdem unterziehen sich sehr viele Menschen diesem Eingriff. Es scheint einen unendlich optimistischen Glauben an die Errungenschaften der Medizin zu geben, der die Patienten in den OP-Saal treibt. Die moderne Medizin muss es doch schaffen, einen Verschleiß des Kniegelenks aufzuhalten und sogar umzukehren! Tut sie aber nicht. Die Arthrose ist quasi die Erkältung der Orthopädie, nur dass sie leider nicht von selbst nach einer Woche verschwindet – es gibt einfach kein Mittel dagegen. All die schönen Maßnahmen, die die Ärzte anpreisen und anwenden, auch wenn sie sich noch so toll anhören, machen das Gelenk nicht besser – obwohl viele Ärzte sehr von ihrem Wirken überzeugt sind.

Selbst in einer der konservativsten medizinischen Disziplinen überhaupt passiert oftmals zu viel. Wobei mit »konservativ« keine politische Färbung gemeint ist, sondern einfach nur die Zurückhaltung, mit der die Ärzte vorgehen. Kinderärzte sind in ganz besonderem Ausmaß zurückhaltend, weil sie ganz besondere Patienten haben, denen sie eigentlich nur dann eine Therapie angedeihen lassen, wenn es gar nicht anders geht. Alles andere überlassen sie der Zeit und den Selbstheilungskräften. Denn jede Therapie hat potenzielle Nebenwirkungen, die kleine Menschen schlechter verkraften als große. Doch auch hier wird noch zu viel getan.

Es ist aber auch oft zu verständlich. Kinder brauchen einfach besonders viel Aufmerksamkeit, Schutz und Hilfe von Erwachsenen. Wenn ein Kind stürzt und auf den Kopf fällt, wenn es schreit und weint, nicht mehr aufhört damit, wenn es auch noch Kopfschmerzen bekommt, dann denken die Eltern natürlich an das Schlimmste – und wollen das unbedingt ausgeschlossen haben. Sie fahren mit dem Kind ins nächste Krankenhaus und treffen dort womöglich auf einen Arzt, der noch nicht allzu viel Erfahrung mit solchen Situationen hat, in denen er nicht nur das wimmernde Kind beruhigen muss, sondern auch die Eltern, die total verängstigt sind und wissen wollen, was mit ihrem Kind ist, ganz schnell, es ist doch nichts Ernstes, oder? Diese Kombination aus aufgeregten Eltern und unsicherem Arzt führt dann schnell zu etwas, das nicht passieren dürfte: Es wird ein Röntgenbild vom Kopf gemacht. Und das bedeutet: keinerlei hilfreiche Informationen für den Doktor, aber viel Strahlung für das Kind und Belastung für die Eltern, weil die Röntgenaufnahme nicht die gewünschte Erlösung bringt. Ein wenig Beruhigung durch den Arzt, eine Erklärung, warum die Verletzung des Kindes nicht schlimm ist: Das nutzt deutlich mehr als jede aufwendige Diagnostik mit teuren Apparaturen. Denn in den meisten Fällen ist ein Sturz auf den Kopf harmlos, und es gibt gute Möglichkeiten für den Mediziner, eine Gehirnerschütterung festzustellen oder auszuschließen – mit ein paar Fragen und einer einfachen Untersuchung, für die er nur Dinge braucht, die er in der Kitteltasche hat. Eine Röntgenaufnahme nutzt ihm nichts.

Doch natürlich ist es nicht so einfach für den Arzt in so einer Situation. Wenn wir hier schreiben, was er tun sollte und was nicht, ist das natürlich längst nicht so schwer wie die Umsetzung. Das wissen wir nur zu gut. Zumal auch wir Patienten die Mediziner unter Druck setzen, etwas zu tun. Und doch gehört es zu den Anforderungen an einen guten Arzt, öfter mal standhaft zu bleiben. Er muss sich immer wieder eine Frage stellen: Hat eine medizinische Maßnahme mehr Vorteile als Nachteile?

Es ist die entscheidende Frage in der Medizin. Denn nicht jedes Medikament, nicht jede Spritze und nicht jede Operation hat einen Nutzen für den Patienten, auch wenn er das Gefühl hat. Aber jede Maßnahme hat mögliche Nebenwirkungen und Komplikationen, wirklich jede.

Auch eine Methode, deren Prinzip so überzeugend klingt, so bestechend elegant, dass sie einfach gut sein muss: die Krebsfrüherkennung. Natürlich wäre es ein unschätzbarer Vorteil, wenn man Tumore so rechtzeitig diagnostiziert, dass man sie entfernen kann, bevor sie ihr übles Zerstörungswerk anrichten können. Doch leider ist es nicht ganz so einfach, wie es klingt. Und leider ist der größte Nachteil einer Früherkennungsuntersuchung nicht, dass man einfach nichts findet, obwohl etwas da ist (was natürlich auch passieren kann). Nein: Es kann schwerwiegende Folgen haben, wenn man sich einer Früherkennungsuntersuchung unterzieht. Von »elegant« kann überhaupt nicht mehr die Rede sein, wenn etwa ein Krebs diagnostiziert wird, der gar nicht da ist – aber Untersuchungen nach sich zieht, die gefährlich sein können. Dann wird es auf einmal ernst und bedrohlich, auch wenn das gar nicht nötig wäre.

Deswegen wird ein guter Arzt nur dann etwas tun, wenn der potenzielle Nutzen die Nachteile übersteigt. Das sollte bei Früherkennungsuntersuchungen so sein und bei allen anderen Maßnahmen auch. Helfen bei der Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme sollte ihm die Wissenschaft. »Evidenzbasiert« nennt man ein solches Vorgehen, bei dem der Arzt in seine Überlegungen neben seiner Erfahrung die besten wissenschaftlichen Untersuchungen miteinbezieht, die über eine bestimmte Diagnosemethode oder Behandlung vorliegen. Viele Methoden in der Medizin mussten und müssen sich in diversen Studien beweisen, sie müssen zeigen, ob und welchen Vorteil sie haben. Das kann und sollte jeder Arzt nutzen – es ist eine enorme Hilfe für seine tägliche Arbeit. Doch in der Realität spielt die evidenzbasierte Medizin noch eine zu geringe Rolle. Und das führt zu Überflüssigem, Nutzlosem, Gefährlichem und Schädlichem. »Unangemessene Untersuchungen und Behandlungen sind zu einem zentralen Problem der Medizin geworden«, sagte der Sozialmediziner David Klemperer, Professor an der Universität Regensburg, der Süddeutschen Zeitung.

Warum aber ist das so? Warum muten so viele Ärzte ihren Patienten das zu? Warum können sie sich nicht die Zeit nehmen für ein ausführliches Gespräch, ihr Gegenüber einfühlsam beraten und etwas tun, was sie nicht viel Mühe kostet: abwarten, die Beschwerden im Auge behalten und nur dann etwas unternehmen, wenn es auch wirklich nötig ist? Um diese Fragen zu beantworten und auch die eigene Erwartung an den Arzt herunterzuschrauben, sollten wir uns mal in seine Lage versetzen und uns seinen Arbeitsalltag vor Augen führen.

Der erste wichtige Punkt ist sein Informationsstand. Der ist in vielen Bereichen leider oft gleichbedeutend mit relativer Unwissenheit. So mancher Arzt bezieht einen guten Teil seiner Informationen, auf deren Basis er seine Entscheidungen trifft, aus dem Studium und aus dem Material von Pharmavertretern. Ersteres ist mitunter schon Jahrzehnte her, der Wissensstand also oft überholt – um es vorsichtig auszudrücken. Neue Erkenntnisse aufzunehmen und einzubeziehen fällt vielen Medizinern nicht leicht, denn ihre Zeit ist äußerst knapp bemessen: Wenn sie schon im Durchschnitt für ihre Patienten in der Praxis nur wenig Zeit haben, wie sollen sie dann noch Fachliteratur lesen und dort das Wichtige vom Unwichtigen trennen? Den Großteil der Neuigkeiten gibt es zudem auch nur in englischer Sprache, und das ist für viele Ärzte ein echtes Hindernis. Schätzungen zufolge wollen oder können mehr als 80 Prozent der Ärzte in Deutschland keine Artikel auf Englisch lesen. Da kommen die etwa 16000 Pharmavertreter gerade recht, die durch Deutschlands Praxen tingeln und ihnen hübsch aufgemacht und in einfachen Worten zusammengefasst die wichtigsten Aussagen von aktuellen Studien präsentieren. Nur haben die bei ihrer Aus- und Wortwahl eher das Wohlbefinden ihres Arbeitgebers im Sinn als das der Patienten – und eher jene Studien mit im Gepäck, die das Medikament gut aussehen lassen, das sie dem Arzt möglichst nahebringen wollen.

Aber selbst wenn der Mediziner sich auf den neuesten Stand bringen wollte und könnte: Es nutzt ihm oft nicht viel. Bei der Hälfte der etwa 3000 Therapien für die wichtigsten Leiden weiß man nicht, ob sie für die Patienten überhaupt einen Nutzen haben – es gibt einfach keine wissenschaftlich hochwertigen Studien, die das belegen könnten. Nur jede Zehnte dieser Therapien hat einen solchen nachgewiesenen Nutzen – und etwa genauso viele Methoden sind entweder wahrscheinlich oder sogar nachweislich unwirksam oder gar schädlich. In der Chirurgie, also in dem Fachgebiet, in dem viel operiert wird, ist die Lage besonders prekär: Experten schätzen, dass es für sechs von sieben chirurgischen Verfahren nicht erwiesen ist, dass sie dem Patienten nutzen. Zusammenfassend könnte man sagen: Die Ärzte tun etwas, von dem niemand weiß, ob es das Richtige ist.

Der zweite wichtige Punkt, der sich zumindest teilweise aus der Unwissenheit ergibt, ist Unsicherheit. Es erfordert schon Mut, abzuwarten. Und etwas zu tun liegt gefühlsmäßig eigentlich immer näher, als etwas nicht zu tun. Man muss auch ehrlich sagen: Es ist in gewisser Weise in der Medizin angelegt. Das zeigt sich schon am Wort Behandlung, in dem das Wort »Handlung« steckt. Und Nichtstun hat einfach ein schlechtes Image, bei uns Patienten wie bei Medizinern. Von einem guten Arzt erwarten wir doch, dass er uns mit modernster Technik untersucht, dass er uns ein Medikament verschreibt, dass er eine heilsame Operation anordnet. Wir fühlen uns schließlich krank und möchten wissen, woher das kommt und was man dagegen tun kann. Also tun die Ärzte auch etwas, und dabei tun sie viel Falsches.

Der dritte wichtige Punkt ist Geld. Oftmals auch das, welches Ärzte irgendwann einmal selbst ausgegeben haben. Denn viele Mediziner schaffen sich teure Geräte an, und die müssen sich bezahlt machen. Sie dürfen nicht untätig herumstehen, sie müssen laufen. Also ordnet der Arzt auch mal die eine oder andere Untersuchung oder Therapie mit diesem Gerät an, die vielleicht gar nicht unbedingt nötig gewesen wäre.

Generell gilt der Grundsatz: Reden ist Silber, Schweigen ist Golf. Denn mit dem Patienten zu sprechen, seinen Beschwerden und Problemen mit gezielten Fragen auf den Grund zu gehen, ihn zu beruhigen – das wird von den Krankenkassen nur schlecht vergütet und kostet Zeit, die man lieber auf dem Golfplatz verbringen würde. Also tun viele Ärzte lieber etwas, anstatt zu reden, unterbrechen ihre Patienten nach 11 bis 24 Sekunden das erste Mal und geben ihnen nach etwa acht Minuten die Hand, um sie freundlich, aber bestimmt zu verabschieden. Beides sind natürlich nur Durchschnittswerte, und wenn Ihr Doktor erst nach 39 Sekunden etwas einwirft: Freuen Sie sich. Doch das ändert nichts an der Verwirrung, die oft beim Verlassen der Praxis herrscht: Bis zu 80 Prozent der wichtigen Informationen, die ein Arzt seinen Patienten mitgeteilt hat, haben diese dann wieder vergessen, und »das meiste vom Rest noch dazu falsch verstanden«, wie es der Sozialmediziner David Klemperer der Zeitschrift Vive sagte. Macht nichts: Der aktive, tatkräftige Arzt kommt beim Patienten gut an. Viel hilft zwar nicht viel, bringt aber viel ein – auch Zutrauen. Es lohnt sich einfach deutlich mehr, etwas zu tun, als etwas nicht zu tun: »Wir haben gegenwärtig ein Anreizsystem, in dem umso mehr bezahlt wird, je mehr Patienten durchgeschleust und je mehr getan wird. Der Verzicht auf eine Maßnahme und das Setzen auf das erläuternde Gespräch wird nicht belohnt«, sagte der Medizinethiker Giovanni Maio der Ärztezeitung. Er hat recht.

Es kommt aber manchmal sogar noch etwas auf die Ärzte zu, wenn sie auf eine Maßnahme verzichten: eine Klage. Nach dem Motto »Hätte mein Arzt doch eine Untersuchung X gemacht, dann wäre meine Krankheit Y entdeckt worden und hätte behandelt werden können«, verklagen manche Patienten ihren Arzt wegen Nichtstuns. Um dem zu entgehen, veranlassen viele Mediziner sinn- und nutzlose Untersuchungen, Tests oder Therapien. Lieber auf Nummer sicher gehen! Das bedeutet fast immer: lieber etwas zu tun, als etwas nicht zu tun. »Ärzte werden in der Regel nicht verklagt, weil sie zu viel an Diagnostik machen, sondern wenn sie Diagnostik unterlassen«, sagte der Zürcher Mediziner Thomas Rosemann dem Wissenschaftsmagazin Nano. »Defensive Medizin« heißt diese Form des Schutz-Aktionismus, und sie treibt, man kann es sich denken, vor allem in den USA ihre besonderen Blüten.

Doch es gibt da auch noch den Glauben, vor allem den Glauben an sich selbst – der vierte wichtige Grund für überflüssiges Machen und Tun. Der Glaube ist etwas, das der Medizin noch nie gutgetan hat. Zumindest eine übermäßig große Portion davon. Natürlich sollte ein Arzt an sich und seine Fähigkeiten glauben, allerdings sollte dieser Glaube Grenzen haben – der Arzt sollte sich nicht allein auf ihn verlassen.

Der Glaube hat einen Cousin, er heißt Erfahrung. Dieser Cousin ist ein tückisches kleines Biest: Er ist einerseits unglaublich wichtig und kann aus einem guten Mediziner einen sehr guten machen. Doch er gaukelt auch etwas vor: Sicherheit. Wenn sich ein Arzt nur auf seine Erfahrung verlässt, kann das gefährlich sein. Sie kann ihn täuschen. So kann ein Mediziner gute Erfahrungen mit einer Behandlungsmethode gemacht haben, die eigentlich nutzlos ist. Das klingt vielleicht nach einem Widerspruch, ist aber keiner.

Skizzieren wir mal ein Beispiel. Ein Arzt verordnet schon seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, das Medikament X gegen die Krankheit Y. Mit großem Erfolg: Die Wirkung ist durchschlagend positiv. Das erkennt er daran, dass ihm der eine Teil der Patienten davon berichtet, wie viel besser die Beschwerden doch geworden sind, und der andere Teil der Patienten gar nicht erst wieder in seine Praxis kommt, weil es ihnen so gut geht durch das Medikament. Klingt eigentlich zu schön, um wahr zu sein, oder? Es ist auch nicht wahr, zumindest nicht immer. Denn es gibt auch andere Erklärungen für das Verhalten der Patienten: Manche kommen vielleicht genau aus dem gegenteiligen Grund nicht mehr, weil die Behandlung zu nichts geführt hat, sich die Beschwerden nicht gebessert haben oder sie womöglich sogar schlimmer geworden sind. Sie gehen dann zu einem anderen Arzt, in der Hoffnung, dass dem etwas Besseres gegen ihre Beschwerden einfällt.

Und die Patienten, die wiederkommen und denen das Medikament geholfen hat, haben vielleicht einfach nur Glück gehabt. Sie sind vielleicht nur die statistischen Ausreißer, die es fast immer gibt. Wenn etwa eine Behandlung nur bei fünf Prozent der Patienten wirkt, würde man sie zwar nicht als effektiv bezeichnen, doch es gibt eben immerhin ein paar Menschen, denen sie hilft. Und wenn einer davon seinem Doktor gegenübersitzt und ihm froh vom Erfolg von dessen Therapie berichtet, hat der Arzt natürlich das Gefühl, er habe das absolut Richtige getan. Das Gefühl kann bei dem einen oder anderen Mediziner recht lange anhalten.

Viel häufiger noch als der Zufall schlägt allerdings der Placeboeffekt zu. Sie haben sicher schon von ihm gehört oder gelesen, von seiner spektakulären Wirkung, die zu einer Besserung führt, obwohl nur scheinbar behandelt wird. Das klingt geheimnisvoll (wie kann etwas wirken, obwohl nichts getan wird, das eine Wirkung hat?), der Placeboeffekt ist aber etwas ganz Gewöhnliches – etwas, das jeder Arzt täglich nutzt, ob er will oder nicht. Denn er tritt nicht nur bei Scheinbehandlungen auf, sondern ist allgegenwärtig und fast immer mit dabei, wenn Mediziner etwas behandeln, ganz automatisch. Eine willkommene Nebenwirkung gewissermaßen. Allein das Auftreten des Arztes und seine Worte können schon Gutes bewirken: Wenn er ein ruhiges Gespräch mit seinem Patienten führt und ihm erläutert, was seine Beschwerden verursacht und wie man sie behandeln könnte, macht das oft schon den halben Behandlungserfolg aus. Doch natürlich wirkt der Placeboeffekt auch bei nutzlosen Therapien, sie sind ja eigentlich auch nichts anderes als Scheinbehandlungen. Ob der Arzt ein echtes Placebo verschreibt, also ein Medikament, in dem nur Zucker enthalten ist und kein Wirkstoff, oder ein Antibiotikum gegen eine Erkältung, das definitiv nicht gegen die verursachenden Viren hilft, oder ob er dem Patienten eine überflüssige Wärmebestrahlung angedeihen lässt: Meist hat das eine positive Wirkung auf den Patienten, zumindest eine gewisse Zeit lang.

Die Wirkung ist übrigens auch keine Einbildung! Der Patient fühlt sich nicht einfach nur besser, es geht ihm auch tatsächlich besser. Der Placeboeffekt ist physiologisch messbar. Das Problem an ihm ist allerdings seine begrenzte Haltbarkeit und sein beschränktes Ausmaß: Er wirkt nicht ewig und auch nicht immens stark. Man sollte sich also nicht allein auf ihn verlassen. Außerdem, und das ist der entscheidende Grund, warum ein Arzt nicht einfach nutzlose Therapien nach dem Motto »Wirkt ja sowieso« verschreiben sollte: Der Placeboeffekt ist wirklich fast immer mit dabei, also auch bei einer Therapie, die eine nachgewiesene Wirkung hat, die tatsächlich hilft, die nicht nutzlos ist – da wirkt er dann noch zusätzlich. Warum also sollte der Arzt den Placeboeffekt mit überflüssigem Mist vergeuden?

Er sollte es nicht. Er sollte aber um ihn wissen, ihn einbeziehen in sein Kalkül. Manche Ärzte tun das übrigens ganz bewusst und verschreiben Placebos, meist gegen Schmerzen oder auch Schlaflosigkeit, bei denen sie besonders wirkungsvoll sind. Das mag ethisch gesehen fragwürdig sein, ärztlich gesehen ist es aber durchaus nachvollziehbar, wenn es dem Patienten nutzt.