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Dies ist keine Geschichte der Philosophie, sondern ich befrage die Philosophie nach ihrem Verhältnis zur Herrschaft. Die These, dem Denken an sich wohne eine subversive Kraft inne, steht auf dem Prüfstand. Oder dient es der Herrschaft sich an? Eine vollständige Geschichte der Philosophie kann es nicht (mehr) geben. Ebenso wenig eine neutrale. Die Philosophie selbst ist niemals neutral. Sie hebt an mit dem Widerstand gegen die Zumutung der Herrschaft: im Morgenland mit dem daoistischen Widerstand gegen den regierenden Fürsten und im Abendland mit Sokrates' Widerstand gegen den demokratischen Konformismus. Vermutlich hat sogar die entlegenste erkenntnistheoretische Theoriebildung eine politische Dimension. Das Denken fordert die politische Herrschaft heraus, denn es bezieht sich immer darauf, dass jeder Mensch über eine eigene Vernunft verfügt, an die man appellieren kann, wohingegen die Herrschaft die Unterwerfung und den Gehorsam ohne eigenes Denken fordert. Aber die Philosophen haben es auch verstanden, den subversiven Charakter des Denkens zu vernebeln, und sie meinten, es in den Dienst der Herrschaft stellen zu können. Es ist ihnen allerdings niemals gelungen. Die Herrschenden wissen das nur zu genau und sind den Philosophen gegenüber stets misstrauisch gewesen. Die libertäre Sicht auf die Geschichte der Philosophie rettet das Denken vor dem Kotau der Herrschaft gegenüber. «Es geht stets darum, Herrschaft infrage zu stellen. Das ist der Beruf des Philosophen. Dazu gibt es verschiedene und unterschiedlich gut geeignete Ansätze; aus welchem Jahrhundert und aus welchem Erdteil sie stammen, ist dabei unerheblich.» Die mit jeweils einem Kapitel bedachten Philosophen: Sokrates, Laozi, Platon, Die Vorsokratiker, Konfuzius, Legalismus, Buddha, Aristoteles, Stoizismus, Augustinus, Xi Kang, Avicenna, Peter Abaelard, Thomas von Aquin, Meister Eckhart, René Descartes, Étienne de La Boétie, Thomas Hobbes, David Hume, Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith, Immanuel Kant, G.W.F. Hegel, Pierre-Joseph Proudhon, Max Stirner, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Edmund Husserl, Martin Heidegger, John Dewey, Theodor W. Adorno, Emmanuel Levinas, Michel Foucault, Paul K. Feyerabend, Ayn Rand, Ludwig von Mises.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2025
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«Dass Sokrates bis heute fasziniert, ist der Triumph der Philosophie über die Gewalt der Mehrheit.»
Vorbemerkung
Sokrates
Lǎozı ̌
Platon
Vorsokratiker
Konfuzius
Legalismus
Buddha
Aristoteles
Stoizismus
Augustinus
Xī Kāng
Avicenna (Ibn Sina)
Peter Abælard
Thomas von Aquin
Meister Eckhart
René Descartes
Étienne de La Boétie
Thomas Hobbes
David Hume
J.- J. Rousseau
Adam Smith
Immanuel Kant
G.W. F. Hegel
P. J. Proudhon
Max Stirner
Karl Marx
Friedrich Nietzsche
Edmund Husserl
Martin Heidegger
John Dewey
Theodor W. Adorno
Emmanuel Levinas
Michel Foucault
Paul K. Feyerabend
Ayn Rand
Ludwig von Mises
Der Diskurs der Philosophie
Zitatnachweise
Personenregister
Sachregister
«Eigentlich ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet worden.»
Theodor W. Adorno, 1969
Dies ist keine Geschichte der Philosophie, vielmehr befrage ich die Philosophie nach ihrem Verhältnis zur Herrschaft. Die These, dem Denken an sich wohne eine subversive Kraft inne, steht auf dem Prüfstand. Oder dient es der Herrschaft sich an?
Bei der Auswahl der zu behandelnden Philosophen richtete ich mich zunächst nach der Bedeutung, wie sie in der Geschichtsschreibung etabliert ist, dann nach derjenigen, wie sie für die Fragestellung Relevanz hat. Mit der Nähe zur Gegenwart wird die Auswahl subjektiver. Aber auch einige meiner eigenen Lieblinge fehlen. Eine zentrale Position kommt Thomas Hobbes zu: An ihm lässt sich beobachten, wie jemand, der die Herrschaft ausdrücklich rechtfertigen will, grandios scheitert.
Zu Beginn der Philosophie ist eine west-östliche Ausgewogenheit gelungen, dann aber wird es immer eurozentristischer, schließlich sogar deutschlastig. Nur eine Frau hat es in meine Liste verschlagen, die aber sprengt den Weg frei: Ayn Rand.
Die Kapitel des Buches bauen einerseits aufeinander auf, andererseits lassen sie sich weitgehend unabhängig voneinander lesen, verstehen & genießen. Die internen Referenzen kann mittels des Inhaltsverzeichnisses, des Personen- und des Sachregisters leicht der erschließen, der es genauer wissen will. Die Frage, ob und wie weit die Philosophen für ihre Wirkung verantwortlich seien, verknüpft die Untersuchung aller Meisterdenker. Entsprechend der Maßgabe, dass Philosophie stets auch das Hinterfragen sogar der eigenen Voraussetzungen beinhaltet, verzichte ich auf wohlfeile Antworten. Mit ihnen wäre nichts gewonnen ausgenommen ein billiger, propagandistischer Sieg, der schnell auffliegen würde.
Erste Versionen der folgenden Essays erschienen vom Juni 2024 bis Februar 2025 als wöchentliche Kolumnen auf dem Portal freiheitsfunken.info jeweils Freitags. Der Versuchung, alle Aussagen irgendwie zu belegen, habe ich widerstanden. Sie würde ins Uferlose führen. Nur die unmittelbaren Zitate weise ich nach. Die Abgrenzung, was ein Zitat ist, war aber auch schon schwierig genug.
Trivia: Die Covergestaltung mit dem grellen Rahmen ist eine Anspielung auf die legendäre Reihe das neue buch von rowohlt der 1970 er Jahre, aus der ich freilich bloß Mario Vargas Llosas Essay über Flaubert und ‹Madame Bovary›, Die ewige Orgie (1975), besitze. Aber die Neondruckfarbe ist nicht lichtecht, der Rahmen inzwischen matt und streckenweise verblasst. Das Lettering dieser Reihe sah verboten aus. Also musste eine andere Schrift her für die Headlines. Da hatte ich Glück: Berthold Block, 1908 von Hermann Hoffmann entworfen — sie prägte die Buchcover der avantgardistischen Titel des sagenhaften MÄRZ -Verlags in den wilden End-1960 er und Anfang-1970 er Jahren — jetzt verfügbar gemacht durch Monotype via Adobe Fonts. Die einzig wahre mit ihrem drolligen R. Ästhetisiert euch!
Der libertäre Auftrag der abendländischen Philosophie
Sokrates. Schauplatz: Athen, 469 bis 399 vor Christus. Die abendländische Philosophie hebt an mit einem Paukenschlag. Dem Paukenschlag gegen Dogmatismus und Tyrannei. Diese Tyrannei und dieser Dogmatismus aber gingen von einem demokratischen Gemeinwesen aus. Ein Gericht mit durch Los bestimmten 501 Geschworenen verurteilte Sokrates, diesen ersten Philosophen, weil er unbequeme Fragen stellte und damit die Jugend verderbe, zunächst mit knapper Mehrheit. Dem Brauch zufolge wurde er gefragt, welche Strafe er denn für sich angemessen hielte. Er antwortete, seiner Verdienste wegen würde es eher angemessen sein, ihm die Ehre zukommen zu lassen wie einem Olympiasieger. Den faulen Kompromiss, dass man ihn laufen ließe, falls er sich verpflichte, das Philosophieren — die öffentliche Frage danach, was wahr und recht sei — einzustellen, lehnte er ausdrücklich ab. Diese Provokation erboste die Geschworenen derart, dass nun eine satte Mehrheit ihn zum Tode verurteilte.
Ohne etwas Weiteres über die Lehre des Sokrates zu wissen, erhellt diese Szene allein schon das Thema, das die nächsten Jahrtausende bis heute aktuell bleiben wird: Auf der einen Seite das Gemeinwesen mit seinen Gesetzen und seinem Anspruch auf Konformität, auf der andern Seite die Unverfügbarkeit des Individuums, das die herrschenden Gebräuche kritisch hinterfragt. Es ist ein, es war ein und es bleibt ein ungleicher Kampf zwischen denen, welche die Gewalt inne haben, die bewaffnete Gewalt der Schergen des Staats ebenso wie die Gewalt der schieren Masse des Pöbels, die den Kopf des Abweichlers fordert, und demjenigen, welcher sich der Gewalt entgegenstellt: dem Anarchen (vgl. Anm. 31).
Obwohl zu allen Zeiten das spontane und natürliche Gerechtigkeitsempfinden sich über die Verurteilung dieses Mannes, der niemandem ein Haar gekrümmt hatte, empört, bleibt Sokrates der Stachel im Fleisch all der Philosophen, die etwas auf die Konstitution des Gemeinwesens — oder genauer: des Staats — geben. Sokrates ist nicht aufgrund des willkürlichen Urteils eines unwissenden oder launischen Potentaten gestorben. Er wurde nach Recht und Gesetz in einem ordentlichen und demokratischen Verfahren dem Tod anheim gestellt. Nichts ist an dem Verfahren auszusetzen. Mehr noch: Hat der Staat nicht das Recht, gar die Pflicht, sich sowie die ihm treu ergebenen Bürger gegen Zersetzung und Delegitimation zu schützen?
Über Jahrhunderte hinweg werden es an vorderster Front die Religionen sein (und manche sind es noch), die der Argumentation des Athener Gerichts folgen: Wer unbequeme Fragen stellt und damit zu erkennen gibt, nicht ohne Weiteres zu allem und jedem Ja und Amen zu sagen, was die Priester und andere berufene Führer des Gemeinwesens von sich geben und als Wahrheit verkünden, der bedrohe das Volk, der bedrohe den Glauben, der bedrohe allem voran die zarte Jugend, die doch noch anfällig und formbar sei. Heute hat in den Kernstaaten der Demokratie die Wissenschaft die Rolle der Religion übernommen (→ Paul K. Feyerabend): Was die Wissenschaft sagt, dürfe nicht in Frage gestellt werden. Darüber hinaus dürfe man nicht hinterfragen, ob denn die Wissenschaft mit einer Zunge spreche und wie ihr angeblicher Konsens zustande komme.
Das Menschen- und Wahrheitsbild, das von dem Athener Gericht bis heute alle Verfolger der Wahrheit inthronisieren, lautet: Die Wahrheit, sie sei fragil. Die Menschen tendieren natürlicherweise zum Falschen und zum Bösen. Wenn sie nur dem geringsten Zweifel ausgesetzt werden, wenn jemand auch nur eine einzige unbequeme Frage stelle, fallen sie sofort vom Glauben ab. Mit Gewalt — in diesem Falle: mit der Hinrichtung des Fragenstellers — müssen die Menschen geschützt werden davor, zum eigenen Schaden von der Wahrheit abzuweichen. Daraus ergibt sich das Paradox, dass, um die Wahrheit zu schützen, derjenige verfolgt werden muss, der nach der Wahrheit fragt. Der Philosoph ist per se der Subversion verdächtig. Wir haben hier die beiden Wahrheitsbegriffe in Reinkultur, die immer noch gültig sind und im Kampf miteinander liegen: Hie die Wahrheit als von der Gewalt verkündet und mit Gewalt zu verteidigen, dort die Wahrheit als Frage, als etwas, das man suchen muss. Dass Sokrates bis heute fasziniert, ist der Triumph der Philosophie über die Gewalt der Mehrheit.
Und dennoch gibt es sogar bei dieser Geschichte um Sokrates eine Hintertür für die Propagandisten der Gewalt. Weswegen ging Sokrates nahezu freiwillig in den Tod? Der Überlieferung nach hätte er fliehen können. Freunde boten dem alten Mann Hilfe an. Unabhängig von dem Problem, ob er körperlich in der Lage gewesen wäre, zu fliehen, ob es wirklich möglich gewesen wäre, die Wachen zu überwinden, ob Sokrates sich im Exil hätte zurechtfinden können, die Überlieferung sagt, er habe das Ansinnen an sich abgelehnt und zwar mit dem Hinweis, dass man zwar versuchen könne, ungerechte Gesetze — oder Urteile — zu verändern, sie aber nicht übertreten dürfe, weil dies den Staat (oder das Gemeinwesen) gefährden würde.01 War Sokrates doch soetwas wie ein Rechtspositivist, der da meinte, man müsse Gesetze, egal wie ungerecht sie seien, befolgen? Es gäbe kein Widerstandsrecht?
Nun, die Überlieferung erfolgte durch Platon. Er verfocht eine von Sokrates wesentlich verschiedene Philosophie: Platon wollte nämlich einen totalitären Staat konstituieren. Viel wahrscheinlicher als Platons Überlieferung ist, dass Sokrates seine Verurteiler wie bereits im Prozess provozieren wollte, indem er ihnen die allzu billige Ausrede verbaute, nun, man hätte ihn zwar verurteilt, immerhin aber auch die Flucht ermöglicht, also solle man das Ganze doch bitte nicht so ernst nehmen. Nein, sie müssen den Konsequenzen ihres Tuns in die Augen sehen und mit dem schlechten Gewissen leben, das sie heimsuchen werden wird.
Die sokratische Methode identifiziert man meistens mit dem Fragen. In meiner Lesart ist ihr Kennzeichen freilich, dass sie die Gegenargumente ernst nimmt und aufhebt: aufhebt in dem Sinne, dass sie sie in die eigene Argumentation integriert, sie erhält, ihnen jedoch einen anderen Kontext gibt. Diese Methode wurde durch die Scholastik im Mittelalter perfektioniert: Argument und Einwand werden gegen einander gestellt; die Antwort soll beide Seiten aufheben. Dies wird zum der Dogmatik widersprechenden Verfahren: Die Dogmatik prüft bloß, ob eine Aussage mit dem vorab bereits als richtig festgestellten Lehrsatz übereinstimmt oder nicht — stimmt sie überein, geht sie durch, weicht sie vom Lehrsatz ab, muss sie verurteilt werden. Da die Dogmatik den Herrschenden natürlich besser gefällt als die sokratische Methode bzw. die Scholastik, wurde aus dem Prozess gegen Sokrates eine Massenveranstaltung gemacht, die Inquisition.
Doch während die Aufklärung sich brüstete, mit dem Aberglauben der Religionen ein für alle Male Schluss gemacht zu haben, nahm sie das Verfahren der Inquisition hiervon aus. In der Französischen Revolution richtete man massenweise Abweichler vom rechten Glauben schon genauso hin, wie’s der Inquisition eigen gewesen war. Säkulare Herrscher fanden es von Stund’ korrekt, inquisitorische Prozesse durchzuführen. Wo kämen wir denn da hin, falls wir erlauben würden, dass jeder selber nach der Wahrheit sucht?
So bleibt Sokrates die Provokation der Herrschenden. Es hat sich, was das betrifft, seit damals nicht viel getan. Wer sich heute über die Athener erheben will und darüber lacht, dass sie den ersten und vielleicht größten unter allen abendländischen Philosophen in den Tod schickten, soll gefälligst sich an die eigne Nase packen und diese Frage beantworten: Bist du bereit, in Frage stellen zu lassen, was du für die Wahrheit hältst?
Der libertäre Auftrag der morgenländischen Philosophie
Irgendwo in China. Sechstes Jahrhundert vor Christus? Fünftes Jahrhundert? Über Lǎozı ̌ (老子), früher Lao-Tse transkribiert, ist nichts wirklich bekannt; die Legenden sind alle Jahrhunderte später entstanden. Wie auch im Abendland mit Sokrates hebt die asiatische Philosophie an mit einem libertären Paukenschlag. Lǎozı ̌ wird eine Spruchsammlung unter dem Namen dào dé jīng (道德經), früher: «Tao Te King», zugeschrieben, die den Taoismus bzw. Daoismus begründete und eine weltumspannende Wirkung erzielte. Den Mythos um die Entstehung der Spruchsammlung hat Bertolt Brecht 1938 in einem allerliebsten Gedicht fabelhaft erzählt: «Legende von der Entstehung des Buches ‹Tao Te King› auf dem Weg des Lao-Tse in die Emigration.» Der betagte Lǎozı ̌ verlässt seine Heimat, weil er die dortigen politischen Verhältnisse nicht mehr erträgt. An der Grenze stoppt ihn ein Zöllner, der in ihm einen großen Gelehrten erkennt, und er fordert ihn auf, seine Weisheit für die Nachwelt zu erhalten und zu Papier zu bringen. So schuf er in sieben Nächten das Daodejing. Während Sokrates von der herrschenden Mehrheit zum Tode verurteilt wird und damit den einen Urtyp der Verfolgung darstellt, den Märtyrer, steht Lǎozı ̌ für den anderen Urtyp, den Flüchtling, der aufgrund unerträglicher Verhältnisse ins Exil geht.
Was Lǎozı ̌ abliefert, hat es in sich. Der Leitfaden (jīng) kreist um die Frage nach dem richtigen (dé) Weg (dào). Der richtige Weg, so heißt es in einen um den anderen Vers der Sammlung, bestehe nicht darin, das Gute zu erzwingen. Es lässt sich nicht erzwingen. Der Weise wirkt ohne Gewalt. Er hält sich zurück, er wartet ab, bis die Dinge von selber reifen. Er tut nichts und doch bleibt nichts ungetan.
Ausdrücklich schließt Lǎozı ̌ hier das wirtschaftliche Handeln ein. Der Weise — und diese Stelle macht klar, dass er mit ihm den politisch Herrschenden meint — mischt sich nicht ein in das, was die Menschen tun. Auf diese Weise werde alles sich wundervoll fügen. Umgekehrt, falls er sich einmischt, folge daraus unmittelbar der wirtschaftliche Niedergang und das materielle Elend der Bevölkerung. Es gibt sehr gute Gründe dafür, anzunehmen, dass die urliberale Formel vom laissez faire (laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même, lass geschehen, lass passieren, durch sich selbst dreht sich die Welt) dem daoistischen wéi wú wéi (為無為, Macht [qua] Nichtmacht) nicht nur von der Idee her ähnelt, vielmehr tatsächlich ein Versuch ist, die Weisheit des Lǎozı ̌ ins Französische zu transportieren. (Vgl. Anm. 15.)
Ein vordergründiger Kontrast in der Entwicklung von der morgenländischen und der abendländischen Philosophie wird allerdings schon hier am Ursprung deutlich. Sokrates klagte man wegen «Gottlosigkeit» an. Obwohl er dieser Anklage damit begegnete, er sei seinem persönlichen Gott ergeben, haben seine Schüler ebensowenig wie die Schüler Platons und Aristoteles’ oder ein anderer griechischer oder römischer Philosoph jemals eine Religion begründet. Anders der Daoismus. Er verband sich mit den vorhandenen religiösen Glaubensinhalten und begründete auch eigene — sie enthalten Alchemie, Magie, Meditation, Mystik und Rituale. Insofern gilt er als Weltreligion, weil er in ganz Asien Fuß fasste. Als einzige Weltreligion hat er nie und nirgends sich mit der politischen Herrschaft verbunden und ihr zugearbeitet, ihr die Ideologie für Gewaltausübung geliefert. Als während des dritten Jahrhunderts nach Christus der Buddhismus in China ankommt, werden die ersten Übersetzer ihn als eine recht merkwürdige Abart des Daoismus interpretieren und ihn mit dessen Begrifflichkeit ins Chinesische bringen. Hierdurch entsteht der Zen-Buddhismus. Zen ist die japanische Aussprache des chinesischen Zeichens 禪(chán), mit dem die Praxis der Meditation bezeichnet wird.
Der Daoismus wird in der Folgezeit nie und nirgends den Einfluss erlangen, um irgendwo gesellschaftliche Verhältnisse zu bestimmen. Aber zugleich erkennt die chinesische Tradition ihn immer neben Buddhismus und Konfuzianismus als eine entscheidende Lehre an, die es zu beachten gilt und zwar als Gegengewicht zu starren Ordnungsvorstellungen.
Ja, es gibt sie, die Unterschiede zwischen der abendländischen und morgenländischen Philosophie. Einen davon habe ich gerade genannt. Doch dieser Unterschied erscheint mir eher äußerlichen kulturellen Umständen zu entspringen. Das Wesen der Philosophie liegt näher beieinander, als gemeinhin angenommen wird. Die Unterschiede innerhalb der Philosophie gehen quer zu den geographischen und kulturellen Unterschieden: Der Ursprung der morgenländischen ist wie der der abendländischen Philosophie zutiefst libertär. Es geht um den Anspruch der Wahrheitssuche als eines Prozesses von Weisheit, von Dialog und Nachdenken, gegenüber allen Behauptungen der Herrschenden, dass sie die Wahrheit verkünden können und mittels Dekret festschreiben dürfen und gar müssen. Die Lehre Lǎozıš weist in ihrer libertären Konsequenz noch weit hinaus über Sokrates, der in der Sozialstruktur (leider) wenig Probleme gesehen zu haben scheint (es sei denn, sie hätte Platon aus Gründen seiner eigenen totalitären Staatslehre unterschlagen). Lǎozı ̌ hingegen spricht den Herrschern sowohl ab, notwendig als auch in der Lage zu sein, dass sie für die Menschen in irgend einer Weise hilfreiche und heilsame Maßnahmen vornehmen. Im Abendland sollte es noch an zweitausend Jahre dauern, bis diese Einsicht in der Philosophie Fuß zu fassen vermag.
Die wesentliche Unterschied in der Philosophie ist nicht religiösen, geographischen oder kulturellen Ursprungs, sondern liegt in der Antwort auf die Frage, ob man Herrschaft rational begründen könne oder nicht. Am Anfang der Philosophie steht, dass die vorhandene Herrschaft in Zweifel gezogen wird, und zwar sowohl von den abendländischen wie den morgenländischen Philosophen. Erst nach diesem für die Herrschenden so gefährlichen Akt, der die Philosophie in ihrem Sein konstituiert, werden Hofphilosophen herangezüchtet, die dazu da sind, den Herrschenden Honig um den Bart zu schmieren. Doch gelingt dies, wie wir sehen werden, gar nicht so gut. Bereits die Frage, welche Gründe für die Herrschaft vorliegen, lässt zumindest immer die Denkmöglichkeit offen, dass Gründe sich nicht finden lassen. Und mehr noch: Sobald die Gründe formuliert worden sind, binden sie auch die Herrschenden. Wenn es ihnen in den Sinn kommt, dass sie nun etwas anderes wollen, müssen sie sich vor den Gründen rechtfertigen, die die Philosophen formuliert haben. Oder der jeweilige Hofphilosoph fällt kurzerhand in Ungnade — und dies ist meist damit verbunden, dass sein ehemaliger Gönner ihn einen Kopf kürzer macht. Die traurige Geschichte der Philosophen, die versuchten, sich Stalin, Hitler oder Máo anzudienen, erzählt davon.
Dem weisen Philosophen steht es gut an, sich nicht einzumischen. Nach Lǎozı ̌ beeinflusste den Daoismus entscheidend Zhuāngzı ̌ (莊子), 365-290 v. Chr. Er ist fast genauso wichtig wie Lǎozı ̌ selber. Zhuāngzı ̌ verschärft die politische Enthaltsamkeit Lǎozıš . Während Lǎozı ̌ sich mit Ratschlägen an den Herrscher wandte (wie es ebenfalls Konfuzius tat, mit größerem Erfolg), ist davon bei Zhuāngzı ̌ nichts mehr übrig. Er wendet sich an die Mitmenschen und versucht, ihnen einen Weg zu einem friedlichen Miteinander zu weisen. Dies von den Herrschenden und der von ihnen angestrebten Ordnung zu erwarten, wäre eitel. Sie werden alles bloß schlimmer machen. Zhuāngzı ̌ rät, die «Heiligen» (聖人, shèng rén, gemeint sind Konfuzianer) zu vertreiben.02 Mit ihnen bezeichnet er jene, die da meinen, eine allgemeingültige Ordnung von Richtig und Falsch jenseits pragmatischer täglicher Abmachungen zwischen den kleinen Leuten stiften zu können. Solche «Heilige» sind die wahre Ursache der Unordnung. Das Abendland musste bis Max Stirner im 19. und Ayn Rand im 20. Jahrhundert warten, um diese Lehre zu hören. Wie lange wird es dauern, bis wir sie realisieren?
Es ist beeindruckend, dass weder der zeitliche noch der kulturelle Abstand uns daran hindert, die Botschaft der Philosophie heute zu verstehen. Die aktuelle Politik entspricht ganz genau dem Gegenbild, das Lǎozı ̌ und Zhuāngzı ̌ zum Weisen entworfen haben, welcher dem (rechten) Weg folgt: Sie meint, durch immer mehr Eingriffe in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben Frieden, Ordnung, Sicherheit, Wohlstand sowie eine gesunde Erde schaffen zu können. Das Umgekehrte ist der Fall. Dies ist das Wissen der Menschheit seit zweieinhalb tausend Jahren, im Osten wie im Westen. Wenn das Wissen nicht genutzt wird, dann deshalb, weil die Herrschenden sich nicht drum scheren. Ihnen muss das Handwerk gelegt werden. Sie sind die wahren Räuber, Diebe und Übeltäter.
Hinweis: Das Zeichen 禪(chán) in traditionellem wird zu 禅 in vereinfachtem Chinesisch respekive 禅(zen) im Japanischen.
(Ungnädiger mit dem Daodejing gehe ich in dem Langgedicht Maodeking, edition g. 308, ins Gericht.)
Blaupause für Feinde der offenen Gesellschaft
Platon. Athen, 428-347 v. Chr. Zur traurigen Ironie des Weltgeistes (der einen recht schrägen Humor zu haben scheint) gehört es, dass derjenige, der uns in Gestalt des Sokrates den libertären Ursprung der abendländischen Philosophie überliefert hat, die Philosophie in den Dienst der Herrschaft stellte. Sokrates selber hat nichts geschrieben. Was wir über ihn wissen, ist vor allem durch Platon überliefert; er zeichnete die sokratischen Dialoge auf, er dokumentierte die Rede des Sokrates vor den Richtern.
Welchen Schluss zog Platon aus der Verurteilung von seinem Lehrer und Vorbild Sokrates? Offensichtlich taugte die Demokratie nichts. Platon erdachte sich daraufhin einen idealen Staat, der weder vom Mob beherrscht wird, wie der, der Sokrates verurteilte, noch von den den Griechen wohlbekannten Tyrannen, die weder vernünftig noch klug agierten. Anstatt dessen müssen die klügsten Menschen regieren, also die Philosophen. Aber woher nehmen? Man muss sie erziehen. Von klein auf muss man sie für ihr Amt vorbereiten, nicht durch militärische Spielchen, sondern durch die strenge Disziplin des Denkens und einer unbedingten Orientierung an der Wahrheit.
Doch an dieser Stelle schlägt die negative Dialektik unbarmherzig zu. Die Athener verurteilten Sokrates, weil sie der Meinung waren, die Menschen, besonders die jungen Menschen, würden mittels unbotmäßiger Fragen nach den Gründen ihres Handelns sofort aus den Latschen kippen (man nennt dies bis heute «Verführung der Jugend»). Genau dieses irre Muster zur Rechtfertigung von Zensur bemühte nun auch Platon. Seine bereits früh im Denken gestählten zukünftigen Herrscher der Welt werden sofort und unvermeidlich verführt, sich in den Abgrund zu stürzen, wenn sie auch nur einer Prise Dichtkunst ausgesetzt werden würden. Denn die Dichter, das sind die berufsmäßigen Lügner, die erklärten Feinde jeder Philosophie. Würden also die Philosophen-Herrscher mit Dichtkunst konfrontiert, könnten sie nicht anders, als gefallene Engel zu werden. Ich übertreibe nicht. Das steht wortwörtlich bei Platon. Man könnte über diesen Aberwitz lachen, wenn er nicht so mächtig gewirkt hätte. Jede Religion macht Gebrauch von diesem Muster der Unlogik. Genau wie der lange im Glauben Geübte abfällt, wenn er das Bild einer nackten Frau sieht, vergeht demjenigen, den man seit der Geburt in der Philosophie ausgebildet hat, jede Lust an der Wahrheit, falls er einem Schauspiel beiwohnen würde. Also ist jede Gewalt gerechtfertigt und geboten, um dieser Verführung Einhalt zu gebieten.03 Dechiffriert heißt das, in Platons idealem Staat würde man Sokrates erneut verurteilen.
Was Platon fehlte, war jede Anbindung an die soziale Wirklichkeit, wie sie im Morgenland schon Lǎozı ̌ und Zhuāngzı ̌ realisiert hatten. Die vernünftigen Herrscher würden, setzte Platon voraus, allein deswegen, weil sie vernünftig seien, das Gemeinwesen vorteilhaft leiten. Dies folgte aus Platons Erkenntnistheorie, die die Ideen vor die Wirklichkeit setzte. Die Wirklichkeit sei ein unmittelbarer Ausfluss der Ideen. Dass wir in der Lage sind, einen Hund zu erkennen, liegt daran, dass er der vorgängigen Idee eines Hundes entspricht, die sich schon in unserem Kopf befindet. Der reale Hund hat keine Wirklichkeit jenseits dieser Idee, er ist nur ein Abbild, ein Abklatsch dieser Idee, möglicher weise etwas fehlerhaft, aber dennoch hat er kein Sein außerhalb der Idee vom Hund.
Die meisten Menschen, so Platon, können die Ideen, von denen die Wirklichkeit ein Abbild oder Ausfluss sei, jedoch nicht wahrhaft erkennen. Sie nehmen die Wirklichkeit für die Wahrheit. Nur die Philosophen können die Ideen schauen. Darum wird das, was sie tun, immer richtig sein und niemals irgendeine ungewollte Nebenwirkung haben: Sie können sie alle erfassen und haben alles fest im Blick und im Griff. Dies ist der Inhalt seines Höhlengleichnisses. Da sitzen Leute mit dem Rücken zum Eingang in einer Höhle und starren die Wand an. Durch den Eingang fällt Licht, das Gegenstände als Schatten auf die Wand projiziert. Diese Schatten gelten ihnen als Wirklichkeit. Ein Philosoph aber verlässt die Höhle und schaut die Wahrheit, wie sie ist: In der Sonne zeigen die Ideen sich ihm. Er kehrt in die Höhle zurück und will seine Mitmenschen aufklären darüber, was in Wahrheit wirklich sei. Sie aber glauben ihm nicht.
Es liegt nahe, dass Platon hierbei an Sokrates dachte: Sokrates schaute die Wahrheit und wollte seine Mitmenschen aufklären; sie glaubten ihm jedoch nicht und verurteilten ihn zum Tode, weil er ihre eingefahrenen Vorstellungen in Frage stellte. So weit noch in Ordnung. Doch Platons Schlussfolgerung, dass der Philosoph nun berechtigt sei, seinerseits Gewalt anzuwenden und die Mitmenschen seinen Visionen zu unterwerfen, folgt nicht, jedenfalls nicht zwingend aus der Geschichte der Verurteilung des Sokrates. In Wirklichkeit — der Idee nach — widerspricht Platons Entwurf gerechtfertigter Gewalt (Herrschaft) der sokratischen Lehre.
Platons Erkenntnistheorie wird dann eins der beiden Paradigmata sein, die die Welt des Abendlands in den folgenden Jahrhunderten, ja Jahrtausenden bestimmen. Das andere stammte von Aristoteles. Anhand der Lehre von Platon können wir begreifen, dass die Erkenntnistheorie kein philosophisches Spielchen ist ohne jede praktische Bedeutung. Wir haben es damit zu tun, dass Erkenntnistheorie unmittelbar eine politische Praxis begründet und in Platons Fall zur Rechtfertigung von Herrschaft (formalisierter, verstetigter Gewalt) herhält.
Vor allem sei hier darauf hingewiesen, dass Platons Leugnen von möglichen ungewollten Nebenwirkungen der herrschenden Gewalt bis heute gängige politische Praxis darstellt. Was auch immer die Staatsgewalt anordnet, die aus ihr folgenden Nebenwirkungen dürfen ihr der herrschenden Lehre gemäß nicht zugerechnet werden. Die gegenwärtigen Hofphilosophen der Herrschenden geißeln grundsätzlich die Vorstellung von Kausalzusammenhängen als unzulässige Konstruktion. Wenn die herrschenden Philosophen, als welche die derzeitig Herrschenden sich oft allzugern präsentieren, der richtigen Idee von Gerechtigkeit und ökologischer Korrektheit folgen, können ihre Maßnahmen per Definition nicht fehlgehen. Eventuell auftretende negative Entwicklungen sind niemals auf ihre Maßnahmen zurückzuführen, sondern immer nur auf den Widerstand von uneinsichtigen Höhlenmenschen. Aber während es diesen nach Platons Meinung immerhin bloß an der rechten Einsicht mangelt, werden sie mittlerweile als inhärent bösartig stigmatisiert.
Der Platonismus hat bis zu diesem absoluten Tiefpunkt der Philosophie einige Transformationen durchgemacht, die natürlich Platon nicht als individuelle Schuld zuzurechnen sind. Dennoch ist seine Art des Philosophierens zum Gegenentwurf des sokratischen Skeptizismus geworden, vielleicht nicht ganz in seinem Sinne, allerdings konsequent aus seinen Schriften herzuleiten. Wer die Reinheit der Idee dem echten und irgendwie auch dreckigen Leben vorzieht, der bereitet dem Tugendterror den Boden: Das Divergieren von der Reinheit der Idee ist das, was dann bekämpft werden muss. Da das Leben zur Divergenz tendiert, heißt das im Endeffekt, dass man das Leben in seiner Lebendigkeit ablehnt und ihm die Zwangsjacke politischer Herrschaft anlegt. Hier gibt’s keinen Platz für Ausprobieren, für Dialog und für Erfahrungen, aus denen dann neue Wirklichkeiten entstehen, die einem Realitätscheck zu unterziehen sind. Die Offenheit des Ausgangs eines Experiments ist dieser Erkenntnistheorie ein Gräuel und eine Unmöglichkeit.
Mit Platon hat die abendländische Philosophie sich von ihrem libertären Auftrag, den Sokrates ihr gegeben hat, verabschiedet und ist derart zu einem Instrument der Legitimierung von Herrschaft geworden. Dennoch konnte selbst Platon der Philosophie ihren subversiven Charakter nicht vollständig austreiben. Die Herrschaft muss sich sogar nach Platon an der Vernunft messen lassen. Sie darf nicht willkürlich vorgehen und etwas Willkürliches behaupten. Diese Bestimmung legt aller Herrschaft Fesseln an, die sie nicht mag — auch und gerade in ihrer demokratischen Form mag sie das nicht, denn die Mehrheit unterliegt keiner Vernunft. Vernunft ist ein Charakteristikum des Individuums, nicht der anonymen Wählerschaft. Niemand kann behaupten, dass das Abgeben einer anonymen Stimme irgendetwas mit Vernunft zu tun habe. Vielmehr sichert die Anonymität nicht nur gegen Verfolgung, sondern darüber hinaus gegen die Rechtfertigung vor der Vernunft ab: Anonymität fordert Wähler geradezu auf, eine willkürliche, nicht mit Vernunft begründete Entscheidung zu fällen. In diesem Sinne bleibt die Philosophie doch das, was Sokrates als ihr (im Abendland) konstituierendes Paradigma mitgegeben hat: Der Stachel im Fleisch der Herrschenden.
Oder: Wenn Zhuāngzı ̌ Grieche gewesen wäre, hätte er ihnen geraten, die (platonischen) Philosophen statt der «heiligen» Konfuzianer zu vertreiben.
Die Vorsokratiker
Zwar gilt Sokrates immer noch als der erste Philosoph des Abendlands, jedoch war er es definitiv nicht. Allerdings hat seine durch Platon gezeichnete Figur lange Zeit die Vorstellung von Philosophie geprägt, und alles, was es vor oder neben ihm an Denkern gegeben hat, wurde geringschätzig als «Vorsokratiker» zusammengefasst und abgetan. Die Überlieferung ihrer Schriften ist dementsprechend bruchstückhaft, meistens bloß in Zitaten bei anderen philosophischen Autoren, die zum Umkreis entweder des Platonismus oder Aristotelismus gehörten. Dabei befand sich unter den Vorsokratikern ein so bedeutender und geschichtlich auch prägender Kopf wie Pythagoras, der die Mathematik und Musiktheorie begründete, und deswegen im Gedächtnis der Menschheit haften blieb.
Erst im 19. und im 20. Jahrhundert leiteten Hegel, Nietzsche und Heidegger eine Ehrenrettung der Vorsokratiker ein. Da die Überlieferung aber wie gesagt recht bruchstückhaft ist, eignen sich die Bruchstücke hervorragend dazu, das in sie hineinzuinterpretieren, was einem gerade gut gefällt.
Von den Vorsokratikern hat inzwischen keiner einen so guten Ruf wie Heraklit (um 520 bis um 460 v. Chr.). Gern wird sein Sprüchlein fallen gelassen, niemand könne zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließe und nichts bleibe. Platon und später Aristoteles bemühten sich vor allem, die gleichbleibende Struktur des Seins zu erfassen, der eine ausgehend von Ideen, der andere ausgehend von der Materie. Dinge mussten beim Namen genannt werden, Kategorien erhielten Definitionen, Logik und Mathematik halfen, die Welt zu ordnen und die Wahrnehmung zu kanalisieren.
Aber das widerspricht der Wahrnehmung. Die Dinge ändern sich. Manchmal langsam, manchmal schnell. Alles fließt, wie Heraklit sagte. Dinge verwandeln sich, manchmal sogar in ihr Gegenteil, plötzlich und ohne Vorwarnung. Die ordnende Struktur, die der Welt einen festen Rahmen gibt, ist eine Illusion. Sie ist ein Trost gegenüber der konkreten Erfahrung, dass nichts bleibt, wie es ist; eine Erfahrung, die oft genug erschreckt, wenn man sich es in der Welt eingerichtet hat. Vielleicht handelt es sich bei ihr um eine Art religiösen Trosts, vielleicht aber auch um eine böse Ideologie, wie wir am Beispiel Platons gesehen haben: Der ordnende Philosoph befindet sich nicht nur offenkundig in einem Gegensatz zur Realität, sondern er will seine Ordnung auch der widerstrebenden Realität zum Trotz geltend machen — und da er den Dingen nicht befehlen kann, träumt er davon, die Menschen seiner Vision zu unterwerfen.
Auf der anderen Seite ist die Ansicht Heraklits freilich unpraktisch; denn sie verstößt ebenfalls gegen die Wahrnehmung. Sicherlich kann man zwei Mal in dem gleichen Fluss ein Bad nehmen. Eine Variation seiner Flussmetapher zeigt eine mildere Form der Aussage, nämlich: jenem, der in denselben Fluss hinab steige, ströme stets anderes Wasser zu. Das ist schon deutlich weniger provokativ. Hier gibt es ihn, denselben Fluss. Nur das Wasser tauscht sich aus. Und das ist sicherlich richtig. Wenn ich am nächsten Tag wieder baden gehe, ist das Wasser vom Tage vorher hinab- und anderes, neues Wasser nachgeflossen. Aber das schert mich nicht, denn es gleicht dem Wasser von gestern. Oder anders gesagt: Es schert mich dann nicht, sofern es dem Wasser von gestern gleicht oder ähnelt. Wenn kaltes oder schmutziges Wasser nachgeflossen ist, schmälert es meine Badefreuden oder verhindert sie ganz.
In der Diskussion haben wir noch mehrere weitere feste Faktoren identifiziert: Wir können das Beispiel nur diskutieren, weil wir unter Wasser etwas ganz Bestimmtes verstehen. Das Gleiche gilt für den Fluss, den Fluss als ein allgemeines Abstraktum, aber auch den konkreten Fluss, in dem ich bade. Natürlich könnte er seinen Lauf verändern, aber erfahrungsgemäß passiert das nicht über Nacht. Und selbst wenn er es tut (etwa bei einer Überschwemmung), spreche ich immer noch von diesem Fluss mit diesem Namen, der seinen Lauf verändert hat oder über die Ufer getreten ist. Wenn es beispielsweise die Spree in Berlin ist, wird sie nicht über Nacht und vermutlich niemals zum Nil in Ägypten.
Obwohl streng genommen kein Vorsokratiker, vielmehr ein Zeitgenosse Platons, führe ich noch Diogenes von Sinope (um 413 bis um 323 v. Chr.) an, denn auch er forderte die Weltsicht des ordnenden Philosophen heraus, obwohl auf einer ganz anderen Ebene als Heraklit. Schon unter antiken Autoren ist umstritten, ob er überhaupt etwas geschrieben habe. Von ihm sind jedenfalls bloß Anekdoten überliefert. Die bekannteste ist die Begegnung mit Alexander dem Großen. Alexander hatte von diesem Weisen gehört, der in Armut vegetiere. Er suchte ihn also auf, um ihm ein besseres Dasein zu ermöglichen. Tatsächlich fand er Diogenes in einer Tonne hausend vor. So fragte Alexander Diogenes, was dieser sich von ihm wünsche. Diogenes soll darauf lakonisch geantwortet haben: «Geh mir aus der Sonne», denn er lebte nicht aus Not, sondern aus einer bewussten Entscheidung heraus in Armut. (Was das betrifft, werden wir Diogenes dann bei den Stoikern wiederfinden.) Der Überlieferung zufolge hat Alexander dem Wunsch des Weisen mit den Worten entsprochen: «Wenn ich nicht Alexander wäre, dann wollte ich Diogenes sein.» Eine größere Ehrbezeugung für den exzentrischen Einsiedler ist wohl nicht denkbar.
In unserem Zusammenhang ist eine andere Anekdote bedeutsam. Platon hatte definiert, der Mensch sei ein federloses zweifüßiges Tier. Der Legende nach rupfte Diogenes einem Hahn die Federn aus — eine wahrlich tierquälerische Vorstellung — und warf ihn ihm und seinen Schülern mit den Worten vor die Füße, dies sei Platons Mensch.
Zunächst einmal kann man anmerken, dass Platons Definition recht bescheuert war und es leicht machte, sie entweder zu verulken oder begrifflich auseinander zu nehmen. Vielleicht stand dahinter bei Platon der Versuch, eine besonders minimalistische Definition zu liefern, die auf komplexere Zusammenhänge nicht eingeht. Aber dies dahingestellt: Der makabre Witz, den Diogenes sich erlaubte, funktioniert bloß, insofern wir wissen, dass der gerupfte Hahn kein Mensch und der Mensch kein gerupfter Hahn ist. Das Äußerste, was Diogenes mit seiner Aktion belegen konnte, war, dass Platon eine mangelhafte Definition vorgelegt hatte; sie demonstrierte nicht, dass das philosophische Vorgehen, die Welt mit mehr oder weniger klugen Definitionen zu ordnen, ein sinnloses Unterfangen sei.
Die antike Auseinandersetzung, der Beef zwischen Platon und Diogenes (indirekt Heraklit), hat eine höchst aktuelle Brisanz. In der bisherigen Geschichte stand die Philosophie, wenn sie die Welt als statische Ordnung erfassen wollte, aufseiten der Herrschenden, die sich als die Hüter der objektiven Wahrheit sahen. Gegenwärtig aber ist die Heraklit-Diogenes-Sichtweise zur Herrschaft gekommen. Kategorien, Definitionen, ja gar die Logik selber wird als Fortschritt und Menschlichkeit widerstreitend angesehen. Während früher der Sachzwang für die Legitimität der Herrschaft herhalten musste, weil sich aus ihm genau das ableiten ließ, was den jeweiligen Herrschaftsinteressen entsprach, ist es heute umgekehrt: Der Sachzwang ist das, was die Herrschenden daran hindert, ihre Interessen durchzusetzen. Sie leugnen den Sachzwang. Wer auf ihn rekurriert und dazu womöglich noch die Logik bemüht, ist konservativ und würgt den Bau einer gerechten Gesellschaft ab.
Eine freiheitliche Perspektive muss beide Seiten der antiken Auseinandersetzung aufheben; aufheben im Hegel’schen Sinne: erhalten. Die Welt ist plastisch, veränderbar. Sie verändert sich ohne und mit unserem Zutun. Wenn sie sich ohne unser Zutun verändert, fordert das unsere Anpassungsfähigkeit heraus. Aber sie lässt sich auch durch unser Zutun verändern. Und in diesem Fall ist stets die Frage, wer über die Veränderung entscheidet. Vor allem aber haben die von uns initiierten Veränderungen wieder Konsequenzen, die nicht völlig in unserer Kontrolle liegen: Es gibt unerwartete und unerwünschte Nebenwirkungen, die dann erneut unsere Anpassungsfähigkeit herausfordern.
Bei allen Veränderungen ist die Erkenntnis der Konsequenzen, gegebenenfalls der unerwünschten Nebenwirkungen das zentrale Element: Hier kommen wir nicht aus ohne eine Erkenntnistheorie, die die Wirklichkeit der Wirklichkeit anerkennt. Bloß sie kann uns anleiten, das Veränderliche vom Unveränderlichen, das Vermeidbare vom Unvermeidbaren zu scheiden. Sofern sie hierzu beiträgt, ist sie dem Leben und der Freiheit nützlich, ansonsten macht sie sich zu einem nützlichen Idioten der Herrschenden.
Der chinesische Konfuzianismus
Beherrschend für die chinesische Politik und Philosophie wurde nicht Lǎozıš Daoismus, der sich hierfür schlecht eignete, sondern die Lehre von Konfuzius (kǒng fū zı̌, 孔夫子), 551-479 v. Chr. Wobei nichts von dem, was unter dessen Lehre firmiert, aus seinem Pinsel stammt. Während man von Lǎozı ̌ zwar nicht weiß, wer er war, aber die Schrift vermutlich auf einen einzigen Autor zurückgeht, weiß man über die Biographie von Konfuzius recht viele Details, es gibt jedoch keine einzige Schrift von ihm. Alles Schriftliche ist rund hundert Jahre später niedergelegt worden. Zum Vergleich: Sokrates’ Dialoge hat Platon, ein Zeitgenosse, aufgezeichnet; dennoch sagt man, man wisse nicht so genau, was nun Sokrates wirklich gelehrt habe. Die Evangelien des Jesus Christus sind, je nach Ansicht der Experten, zwischen dreißig und siebzig Jahren nach dem Tod entstanden, und dies wird herangezogen, um seine Historizität zu bestreiten. Diesem Maßstab nach wäre von Konfuzius nichts wirklich bekannt.
Was ist der Ausgangspunkt der Lehre, die unter dem Namen Konfuzius bekannt wurde? Während Lǎozı ̌ dem Fürsten mit auf den Weg gab, sich am besten in Nichts aufzulösen, gestand Konfuzius ihm einen wichtigen Platz in der Gesellschaft zu. Ordnung schaffen und gute Gesetze zu erlassen, das sei die Aufgabe des Edlen und Weisen.
Hierfür erdachte Konfuzius genaue Vorschriften, wie die Ordnung als gute zu erhalten sei. Der Fürst (oder später: Kaiser) dürfe nicht nach Gutdünken herrschen. Die erste Barriere, die Konfuzius setzte, war der Ahnenkult. Den Ahnen sollte stets die Ehre er wiesen werden. Der Herrscher — und dann, nach dessen Vorbild, ein jeder Bürger — hatte sich vor seinen Ahnen zu rechtfertigen und nach Möglichkeit in ihren Bahnen zu bewegen. Diese Barriere ist die des Konservatismus: Keine Experimente!
