»Frau Doktor, wo ich Sie gerade treffe...« - Dr. med. Ulrike Koock - E-Book
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»Frau Doktor, wo ich Sie gerade treffe...« E-Book

Dr. med. Ulrike Koock

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Beschreibung

Ob im Sprechzimmer oder außerhalb der Praxis – als Landärztin ist Ulrike Koock immer eins: Frau Doktor, die Rat weiß, wenn es um die Gesundheit und Medizin geht. Sie nimmt diese Challenge gerne und mutig an, denn ihre Patienten liegen ihr am Herzen. Ein unverstellter Blick auf einen turbulenten Alltag voller großer Entscheidungen, mittlerer Katastrophen-Notfälle und kleiner Wunder. Die Tante hat's im Rücken, das Ergebnis der Darmspiegelung ist da – egal ob an der Supermarktkasse oder im Sprechzimmer, Neuigkeiten erfährt Frau Doktor Koock sofort. Denn sie ist Landärztin und damit alles in einem: beste Freundin, Z-Sternchen, Autoritätsperson, Mangelware. Koocks Alltag könnte nicht herausfordernder sein: Tapfer trotzt sie dem Mega-Patientenansturm zu Quartalsbeginn, meistert im Handumdrehen Notfälle von Psychosen bis Herzinfarkt, tröstet die einsame Oma, überwindet realitätsfremde Gesetzeshürden, pariert ungenierte Flirtversuche und rückt skurrile medizinische Ansichten zurecht. Als Dank gibt es dafür auch schon mal frische Eier vom Hof. Eine offenherzige Liebeserklärung an den schönsten Beruf der Welt – mit all seinen liebenswerten verschrobenen und ganz normalen Patienten, für die sie auch mal einen Hausbesuch extra fährt.

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Seitenzahl: 317

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Dr. Ulrike Koock

»Frau Doktor, wo ich Sie gerade treffe...«

Warum ich mit Leib und Seele Landärztin bin

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Tante hat’s im Rücken, das Ergebnis der Darmspiegelung ist da – egal ob an der Supermarktkasse oder im Sprechzimmer, Neuigkeiten erfährt Frau Doktor Koock sofort. Denn sie ist Landärztin und damit alles in einem: beste Freundin, Z-Sternchen, Autoritätsperson, Mangelware.

Koocks Alltag könnte nicht herausfordernder sein: Tapfer trotzt sie dem Mega-Patientenansturm zu Quartalsbeginn, meistert im Handumdrehen Notfälle von Psychosen bis Herzinfarkt, tröstet die einsame Oma, überwindet realitätsfremde Gesetzeshürden, pariert ungenierte Flirtversuche und rückt skurrile medizinische Ansichten zurecht. Als Dank gibt es dafür auch schon mal frische Eier vom Hof.

Eine offenherzige Liebeserklärung an den schönsten Beruf der Welt – mit all seinen liebenswerten verschrobenen und ganz normalen Patienten, für die sie auch mal einen Hausbesuch extra fährt.

Inhaltsübersicht

WidmungÜber große HeldenEinleitungLandarztromantik in gestärktem WeißMarathonmontag Weinen, wütende Mütter und WürmerEine Psychose am Morgen bringt Kummer und SorgenIch hab doch nichts! Ich bin nur altNicht ohne meinen HundKinder sind wie PetrischalenUrlaub auf KrankenscheinEin großes Blutbild, bitteUnd jährlich grüßt die GrippeAch, dieses bisschen Vorhofflimmern …Achtung, Helicoptermom!Guck mal, meine HämorrhoidenDiagnosendienstag Zecken, Zicken und ZornEs kreucht und fleuchtMir kloppt’s im KoppIch gehe nur zum Herrn DoktorDie kleine weiße Tablette und die aus der rot-weißen SchachtelDarf ich in mein Käsebrot beißen?Die Motorsäge war’sIch will ja aufhören, ehrlich!Wir machen doch keine FehlerMüder Mittwoch Schlafen, Schmerzen und SchwurbelQ-Tip im OhrEs kann mir doch sowieso keiner helfenDer Seismograf der SeeleIch habe solche SchmerzenGibt es etwas ohne Zuzahlung?Nur mal schnell den LeberfleckFleisch ist mein GemüseNierensteine – die Wehen der (oft) jungen MännerIch muss das pendelnGolfen war gestern, heute ist NotarztpraktikumDramatischer Donnerstag Komische Komplimente und KrawallZum Anbeißen lästigNichts Menschliches ist mir fremdDarf ich Sie mal umarmen?Sie kenne ich doch?Summ dich glücklichAber er muss jetzt die Äpfel pflücken!Ja, ihr reanimiert. Aber kann ich meine Spritze haben?Wir müssen leider draußen bleibenFisimatentenfreitag Katheter, Kater und KontrollenDas macht der HausarztSchwerstarbeit für die LeberDie lieben HaustierchenIch kann auf der Arbeit nicht fehlen!Impfen macht erst recht krankIch bin net so de AazdgängerEin Schluck BrüheEinmal die Pille danachHerzinfarkt vor DienstendeSupersamstag Studentenjobs, Supermarkt und SpitzenkarriereWas war ich müdeGelbwurstscheiben für Frau DoktorIch störe doch nicht etwa?Wundversorgung am KüchentischEin Hausbesuch am WochenendeArztdeutsch für PatientenIch, die PostbotinSentimentaler Sonntag Dankbarkeit, Demut und DefisNicht nur gerührt, wenn Wunder geschehenDemütig bei den TotenBegegnung mit dem SterbenWie geht es Ihnen eigentlich?Frische Eier gegen ärztlichen RatÜber kleine LandarztheldenDank
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Für Karl und Ferdinand

Bis zum Ende des Universums und wieder zurück

 

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Über große Helden

Wir Landärzte sind Helden. Nicht die großen, strahlenden Krankenhaushelden. Nein.

Wir stehen nicht auf dem Dach eines Krankenhauses und warten mit fliegenden Haaren und spannungsgeladener Musik im Hintergrund auf den herannahenden Helikopter, der uns den polytraumatisierten Patienten bringt. Wir stehen auch nicht in einem hochmodernen Herzkatheterlabor, allzeit bereit, den akuten Gefäßverschluss am Herzen mit kunstvoll eingeführten Metallröhrchen zu beseitigen und den Motor des Lebens zu erhalten. Erst recht rennen wir nicht mit wehenden weißen Kitteln über die Krankenhausflure und reanimieren dann einen leblosen Patienten, indem wir kunstvoll drei Mal pro Minute sanft auf die Brust drücken, etwas Luft in den Mund pusten und theatralisch »Bleib bei mir!« rufen. Und wir stehen auch nicht steril im Operationssaal und versuchen, einen zerbröselten Knochen zusammenzuflicken, während wir wie ein Rohrspatz fluchen und uns trotzdem jemand liebevoll den Schweiß von der Stirn tupft.

Nein. Wir Hausärzte sind keine großen Helden in Weiß, mit epischer Musik im Hintergrund und Pompons schwingenden Cheerleadern am Spielfeldrand. Wir sind die Alltagshelden auf dem Land, die sich sonntags gegen frische Hühnereier einen ärztlichen Rat aus den Rippen leiern lassen und sich diebisch darüber freuen.

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EinleitungLandarztromantik in gestärktem Weiß

Landärztin zu sein ist eine Lebensaufgabe. Ein ganz besonderes, erfüllendes Gefühl und irgendwie auch ein Schicksal. Es ist wie eine Ehe mit all ihren guten und ihren schlechten Seiten. Manchmal ist man genervt oder erschöpft, aber grundsätzlich liebt man, wen man geheiratet hat, und kann und will sich kein Leben ohne den anderen vorstellen. Und man ist nie einsam. Nie.

Du gehst in den Supermarkt und wirst beim Einkaufen wahlweise mit den neuesten Befundergebnissen vom Proktologen oder den Leidensgeschichten der Schwiegermutter konfrontiert. Der Bekannte steht mit einer Schnittwunde vor deiner Haustür, die Freundin bittet samstäglich um einen Hausbesuch, und in der Apotheke erhältst du Rabatt auf die Nasentropfen für deine Kinder. Als Landärztin wirst du geliebt und kritisch beäugt, bist Dorfgespräch und Z-Sternchen. An das Gefühl, eine kleine (wörtlich und sprichwörtlich) Prominenz zu sein, musste ich mich erst gewöhnen.

Warum ich vor fünfunddreißig Jahren meiner Mutter am Rockzipfel zupfte und meinen Beschluss verkündete, Ärztin werden zu wollen, lag sicherlich zum einen an meinem schon damals ausgeprägten Interesse für Medizin und die Vorgänge im Körper. Es war einmal … das Leben war meine heiligste Kinderserie im Fernsehen. Sprechende Blutkörperchen, schnell heranrasende Körperpolizisten, böse aussehende bakterielle Burschen und eine Kommandozentrale im Gehirn – niemand brauchte mir zu erzählen, dass es in Wirklichkeit anders wäre. Genau wie in der Serie musste es sein. Ganz bestimmt.

Zum anderen war dafür Professor Brinkmann verantwortlich. Die Schwarzwaldklinik war meine Kindheit. Mein kitschiger Traum in gestärktem Weiß.

Das schwäbische Städtchen, in dem ich einige junge und schöne Jahre meines Lebens verbrachte, befindet sich in der Nähe des Bodensees, hat mehrere Kirchen (eine davon mit einem großen Kirchplatz und einem für die Region typischen Zwiebelturm), ein Schlösschen, eine gute Infrastruktur und ist umgeben von Natur, Wäldern, Landschaften und geizigen Schwaben, die an Fasching (Fasnet, wie man dort sagt) großzügig über sich hinauswachsen, drei Bonbons (Guezele) in die Menge schmeißen und den sogenannten Katzendreck backen – eine himmlische, schokoladenüberzogene Kuchenspezialität in Form eines Katzenhäufchens. Zum Schnurren köstlich.

Zu dem schwäbischen Dorf gehörte natürlich auch ein Arzt. Der Herr Doktor. Das Haus des heiligen Herrn Doktor stand mitten im Dorf an einer großen Straße und war mit Holz beschlagen und sah beinahe so aus wie die kleinere Schwester der Schwarzwaldklinik. In dieser Praxis wurde alles behandelt, was das Medizinstudium hergibt: von Zeckenstich bis Hundebiss, von Ausschlag bis Warzenentfernung, von Allergie bis Onkologie. Dass der Herr Doktor nicht selbst aufwendiger operierte und Herzkatheter schob, lag sicherlich nur an der Sparsamkeit der schwäbischen Patienten, die auf ein Angebot »Herzkatheter – heute zwei Stents zum Preis von einem« warteten. Es brauchte eigentlich keinen anderen Arzt, denn der Herr Doktor konnte selbstredend alles, und praktischerweise hatte er auch noch einen Gynäkologen mit im Praxisgefüge, sodass seine Räumlichkeiten bereits vor dreißig Jahren ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) waren, als von Landarztmangel noch nicht die Rede war.

Als Mädchen saß ich also Woche für Woche sehnsuchtsvoll vor dem Röhrenfernseher, sah mir Die Schwarzwaldklinik an und wollte irgendwann einmal eine Praxis haben, die vor Landarztromantik nur so triefte. Meine kindliche Vorstellung hat sich natürlich inzwischen ein wenig gewandelt, gerade auf die hochtoupierten Haare der Achtzigerjahre würde ich verzichten. Aber diese Heile-Welt-Bilder, die ich damals im Kopf hatte, wünsche ich mir immer noch.

Im Studium entschied ich mich – trotz kindlicher Landarztträume – dafür, dass ich zukünftig keinen Kontakt zu Patienten haben möchte – ich liebäugelte mit Fachrichtungen wie Pathologie, Pharmakologie oder der Forschung. »Du hast dich eben getäuscht«, sagte ich mir. »Nicht jeder, der mal Prinzessin oder Astronaut werden wollte, erfüllt sich diesen Traum.«

Und jetzt? Heute arbeite ich in dem Beruf mit dem meisten Patientenkontakt und kann mir nicht mehr vorstellen, je wieder eine andere Ärztin zu sein. Ich steuere nun sogar nach meiner Facharztprüfung die Niederlassung als Allgemeinmedizinerin an. Manchmal ist es anstrengend, eine solche zu sein, aber es ist dennoch der schönste Beruf der Welt.

Als ich in den letzten Jahren meine Erfahrungen als Ärztin in allerlei Sparten machte, fehlte mir stets etwas. Es interessierte mich immer alles, ich hätte gerne einen allumfassenden medizinischen Beruf gehabt, und gleichzeitig merkte ich, dass ich nicht wie andere Kollegen mit großer Vorliebe invasiv arbeitete. Nadeln in Menschen zu stechen ist okay, das gehört dazu. Mal eine Wunde zu nähen ist nett. Wundverbände mache ich bevorzugt, das hat so was von Pickel quetschen, etwas degoutant Befriedigendes. Aber alles, was damit verbunden war, lange Schläuche, Nadeln oder Drainagen in Menschen zu platzieren, das war nichts für mich. Das sollten lieber andere tun. Was ich jedoch immer gut konnte, war Reden und Zuhören. Vielleicht hätte ich Psychotherapie erlernen sollen, aber das war mir dann wieder zu wenig medizinisch. Hach, es war ein Graus mit mir.

Trotz aller Stech-Unlust fand ich die Chirurgie faszinierend, weil die Arbeit im OP eine spannende mit einer ganz besonderen Atmosphäre ist. Und da die Patienten glücklicherweise von den Anästhesisten friedlich ins Schlummerland geschickt wurden, machte mir das Geschnibbel auch nichts aus. Es störte mich nie, Blut oder Organe zu sehen. Im Gegenteil, höchst interessant fand ich das. Aber ich konnte nicht ertragen, jemandem Schmerzen zuzufügen, und daher entschied ich mich nach Erlangen der Approbation, der Zulassung als Ärztin, mit Toten zu arbeiten. Die Pathologie – oder auch Kaltchirurgie genannt – vereint Medizin, Wissenschaft und Geschnibbel. Sie war meine große Leidenschaft, und für ganze achtzehn Monate bastelte ich an meinem Karriereweg. Um dann schwanger zu werden und damit dieser Phase in meinem Leben ein Ende zu setzen. Offiziell aus Gründen der besseren Weiterbildung versetzte man mich in ein achtzig Kilometer entferntes Institut, was mit Säugling nicht zu vereinbaren war. Es hätte einen Umzug bedeutet. Machbar war dies nicht, schließlich waren wir gerade in das Haus auf dem Land gezogen.

Abhaken, weiter geht’s. Der Hesse sagt dann: »Als weida, mir wern aach ned jünger.« So isses. Also ging ich in die Onkologie, um jedoch nach zwei Jahren wieder schwanger zu werden. Der laute Ruf meines Uterus (»Ich will ein Kind von dir!«) war stärker als meine Karriereambitionen. Als ich aber nach der zweiten kurzen Elternzeit schließlich komplett patientenfern in der Pharmabranche landete, fühlte ich mich völlig fehl am Platze – und wandte mich endlich erneut den Menschen zu.

In der Inneren Medizin eines kleinen Krankenhauses machte ich mit dreiunddreißig Jahren einen Neustart und begann die Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin. Eine weitere Kerbe in meinem beruflichen Bettpfosten sollte mir Wissen und Erfahrung einbringen. Sich sehenden Auges in die Knechtschaft zu begeben mag angesichts der aktuell herrschenden Arbeitsumstände und der Probleme im Gesundheitswesen töricht erscheinen, doch andererseits kann man bei Erwartungen weit im Minusbereich nur positiv überrascht werden. Und so markierte dieser Schritt eine Zeit, die mal schmerzhaft und mal aufreibend, aber auch voller Humor, schmutziger Witze und viel Lehre war. So manche Dinge sind mir aus der Zeit geblieben: Erinnerungen an liebenswerte Patienten mit Pralinen, an überbesorgte Helikoptermütter bei knapp fünfzigjährigen Söhnen, an sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg und an Arme in Gedärmen. Dort absolvierte ich einen Teil meiner stationären Facharztweiterbildung und registrierte: So schlimm sind die Lebenden eigentlich nicht. Vielleicht sogar ganz nett.

Die Zeit voller Mühen, Nachtdienste und Überstunden hat mein ärztliches Dasein geprägt. Hier wurde ich Ärztin. Die Zeit war nämlich trotz reichlich Leid zugleich voller schöner Erfahrungen mit tollen Kollegen, einem intensiven Zusammenhalt, permanentem Lernen und viel Lachen und Weinen.

Leider prägte die Zeit mit zwei kleinen Kindern und der Arbeitsbelastung mein Leben auch gesundheitlich. Nach mehreren anstrengenden Wochen mit Magenschmerzen, Kopfschmerzen und Herzrhythmusstörungen wurde mir ein Defibrillator implantiert. Drei Wochen später ging ich wieder arbeiten. Und drei Monate später kehrte ich der Klinik den Rücken zu und wurde Hausärztin.

Dort fand ich meine Nische, denn als Allgemeinmediziner hat man alle Fachrichtungen zu bedienen, Menschen von jung bis alt, man kann ein bisschen schnibbeln und viel reden.

Aktuell lebe ich geschieden mit meinen beiden Kindern in einer Wohnung auf dem Land, nicht weit von meiner Arbeitsstelle entfernt, die ich als angestellte Ärztin in einer großen Praxis habe. Mit wunderbaren Chefs und vielen lieben MFAs (Medizinischen Fachangestellten) bearbeiten wir als eine klassische Landarztpraxis das gesamte Spektrum der Allgemeinmedizin. Mein Leben kommt dem Landarzttraum schon recht nahe: Ich habe trotz Mietwohnung einen großen Garten, in dem ich passioniert mein Gemüse züchte, viel Platz und durch Feldrandlage unmittelbaren Zugang zu Feld und Wald. Wenn ich träumen könnte, hätte ich irgendwann mal ein altes, renoviertes Bauernhaus, natürlich auch mit großem Gemüsegarten, viel Platz für meine Kinder und mit Praxisräumen im Erdgeschoss, damit ich Arbeit und Kinder wunderbar unter einen Hut beziehungsweise ein Dach bringen kann.

Denn wenn man die schwierigen Bedingungen, die derzeit herrschen, mal außen vor lässt, ist dieser Beruf wunderschön. Die Allgemeinmedizin vereint so viele Disziplinen unter sich, dass man von Langeweile nicht sprechen kann. Man arbeitet theoretisch, praktisch, psychosomatisch. Man betreut seine Patienten über Jahre hinweg, begleitet ganze Familien im Verbund, sieht Kinder aufwachsen und hat durch den engen Kontakt viel Bestätigung in seinem Tun. Man ist erster Ansprechpartner, offenes Ohr, Vertrauensperson und manchmal auch Lebenshilfe. Praktischerweise bekommt man gerade hier auf dem Land zudem so viele Lebensmittel geschenkt, dass ich die Weinflaschen und Pralinenpackungen an Weihnachten, die Gurken und Tomaten im Sommer, die Äpfel im Herbst und die Kuchen das ganze Jahr über kaum noch zählen kann. Und da es kaum etwas Besseres gibt als Essbares und ich gerne und viel koche (und esse), liebe ich diese Art der Anerkennung.

 

Mein Buch nimmt Sie eine Woche lang mit in den Alltag einer Landärztin. Angefangen bei einem Montagmorgen in der Praxis mit »überfülltem U-Bahn-Gefühl«, über Wartezeiten auf Facharzttermine und weiter zu den privat geführten Hausbesuchen, weil die Oma der besten Freundin im Dorf am Wochenende keine Luft bekommt. Ich möchte Ihnen zeigen, dass Landärzte nicht nur Austeiler von gelben Zetteln und Rezepten sind, sondern Allrounder, die in der Bevölkerung die medizinische Versorgung sichern.

Gleichzeitig ist das Buch eine Liebeserklärung an den schönsten Beruf der Welt mit seinen vielen unterschiedlichen Menschen und Schicksalen. Die medizinischen Geschichten dahinter sind echt, die Namen, die Umstände und die Bedingungen verfälscht, denn keiner meiner Patienten und Patientinnen soll sich hier wiederfinden. Es tut auch nichts zur Sache, ob Herr Meier oder Frau Müller eine Psychose oder einen Herzinfarkt hatte, denn es geht mir mehr darum, das Landarztleben zu beschreiben. Manche Dinge habe ich weggelassen, einige ausgeschmückt. Frau Müller und Herr Meier sind Patientenhybride, vielleicht waren Männer in diesem Buch im wahren Leben auch eine Frau und Frauen ein Mann. Ich habe realen Fällen einen fiktiven Rahmen gegeben. Ähnlichkeiten sind rein zufällig.

Während ich dies zu Papier brachte, befand ich mich in Elternzeit, die ich während meiner Klinikzeit nur zu Bruchteilen eingelöst hatte. Jetzt war die richtige Zeit dafür. Oft traf ich Patienten auf der Straße oder erhielt Nachrichten über soziale Medien: »Wir vermissen Sie. Kommen Sie bald wieder!« Wo kriegt man so viel Wärme entgegengebracht?

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MarathonmontagWeinen, wütende Mütter und Würmer

Eine Psychose am Morgen bringt Kummer und Sorgen

Die Woche beginnt an einem Montag. Damit erzähle ich sicher keine bahnbrechende Erkenntnis, aber zu Klinikzeiten wusste ich manchmal nicht, welchen Wochentag wir gerade hatten oder ob das Wochenende schon hinter uns lag. Denn ein Vierundzwanzig-Stunden-Dienst am Wochenende bedeutete, am Sonntag nicht mehr zu wissen, wer du bist und wie du nach Hause kamst.

Jetzt sind meine Arbeitszeiten geregelt, und ich sitze noch einige Minuten mit meinem Kaffee im Personalzimmer, bevor wir in den Arbeitstag starten. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Denn wie gesagt: Es ist Montagmorgen, kurz vor 8:00 Uhr. Außerdem ist Quartalsbeginn, und es ist Erkältungszeit, denn der Oktober lässt keinen Zweifel daran, dass der Sommer vorbei ist. Obwohl er so golden daherkommt, sind die Stunden ohne Sonne schon empfindlich kalt.

Vor der Tür stehen bereits viele Patienten und warten auf Einlass – wir können es locker mit dem Bahnsteig einer japanischen U-Bahn aufnehmen, nur dass die Praxis natürlich nicht ganz so riesig ist. Aber mehrere Behandlungszimmer mit Blick auf den Garten, ein großer Anmeldebereich und ein langer Flur mit Bildern einer alteingesessenen Malerin lassen Platz für viele Menschen. Bloß dass wir keine Zugschaffner haben, die unsere Patienten brachial in die Praxis befördern. Das ist gut und schlecht zugleich, denn zum einen passten mehr Menschen auf engen Raum, zum anderen aber möchte nun wirklich niemand von Praxisschubsern unfreundlich in die Zimmer befördert werden. Sie kennen die Bilder von japanischen Metrostationen? Einer der Schaffner hält die Türen geöffnet, ein anderer drückt und schiebt, die Hände dabei ohne Hintergedanken auf allen Körperteilen der Passagiere, die man noch ein wenig weiter in den Zug hineinbefördern könnte. Ob der Arm, das Bein oder die rechte Brust dann eventuell zwei Meter weiter links landet, stört hier niemanden. Hauptsache, U-Bahn. Hauptsache, Praxis. Das ist in Zeiten des Landärztemangels manchmal nicht viel anders.

 

Wir werden heute alle Hände voll zu tun haben. Wir werden viele Patienten behandeln, wegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit, wir werden krankmelden, Blut abnehmen, Termine machen, Rezepte und Überweisungen ausstellen, Wunden verbinden, Lungen abhören und Tränen trocknen.

Die Computer sind hochgefahren, die Türen inzwischen geöffnet, und die Sprechstunde kann mit einigen geplanten Terminen beginnen. So war jedenfalls der Plan. Pläne sind bekanntermaßen dafür da, durchkreuzt zu werden. Und zwar durch lautes Weinen vor der Tür. Wie auf Kommando stehen wir alle gleichzeitig auf, weil lautes Weinen selten ein gutes Zeichen ist – solange hier nicht jemand spontan vor den offiziellen Praxisöffnungszeiten ein Baby entbunden hat oder einen Heiratsantrag bekam. (Gerade in Deutschland sind Gefühlsäußerungen ja eher verpönt: »Du weinst? Wein leiser!«, »Es geht dir nicht gut? Wir haben doch alle unsere Probleme!«) Wir stürmen auf den Flur.

Dort steht die junge Frau Zeidler, gestützt von ihren Eltern, weil sie sich vor Weinkrämpfen kaum auf den Beinen halten kann. Ich kenne die Mutter schon länger, sie kommt in unregelmäßigen Abständen wegen der ganz normalen Krankheiten älter werdender Menschen zu mir. Von Problemen mit der Tochter wusste ich bisher nichts.

Der ganze zierliche Körper der Tochter bebt, sie hält sich eine Brechschale vor das Gesicht, und ihre Mutter sieht mich verzweifelt an. Wir lotsen die Familie in das nächste Behandlungszimmer, damit sie vor den Blicken anderer Patienten geschützt ist, und die junge Frau legt sich unmittelbar in Embryonalstellung auf die Behandlungsliege. Dabei weint sie unablässig, laut und verzweifelt. Die Kleidung der Zwanzigjährigen besteht aus einer verwaschenen Jogginghose, darüber trägt sie ein langes, viel zu großes Shirt. Die Haare hängen ihr strähnig ins Gesicht, ihre Lippen sind trocken. Als habe sie sich weder gewaschen noch gegessen oder getrunken. Es kommt mir vor, als habe ihr jede Kraft gefehlt, sich um essenzielle Grundbedürfnisse zu kümmern, was ein starker Hinweis auf eine psychische Ausnahmesituation ist.

Ich werfe einen Blick in die von der Mutter mitgebrachte Krankenakte und hoffe auf Hinweise in Form von bestehenden Diagnosen oder Arztbriefen – und werde fündig. Frau Zeidler war bereits in jungen Jahren mit einer Psychose auf einer psychiatrischen Station behandelt worden. Nun hat sie einen Rückfall, wie es scheint. Mir ist klar, dass mein Terminplan schon gesprengt ist, bevor der Tag überhaupt begonnen hat, aber das ist ein Notfall. Notfälle definieren sich immer anders, und selbst zwischen Patienten und medizinischem Personal gibt es zuweilen Diskrepanzen, wie ein Notfall auszusehen hat, weil jeder Mensch eine andere Leidensfähigkeit und ein anderes Angstlevel besitzt.

Aber eine akute Psychose ist nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv ein echter Notfall, ein seelisches Gewitter. Eine Katastrophe für die Betroffenen, die man ernst nehmen muss, weil ihre Welt aus den Angeln gehoben wurde. Die Situation hat sich ohne Termin angekündigt und Frau Zeidlers Familie das gesamte Wochenende auf Trab gehalten. Alle haben seit Tagen nicht geschlafen, und jetzt besteht die große Gefahr, dass die Lage kippt. Menschen in einer akuten Psychose fühlen sich häufig bedroht und können sich oder anderen Menschen nicht ungefährlich werden.

»Ich mache immer nur Probleme«, weint Frau Zeidler und erbricht sich schwallartig in die Nierenschale. Der Körper krümmt sich vor Schmerzen und Würgen, dann sinkt sie wieder zitternd in sich zusammen. »Ich bin das Böse«, höre ich sie flüstern.

Die körperlichen Symptome wie Übelkeit, Erbrechen und Herzrasen können zu einer akuten Psychose als Begleitsymptomatik dazugehören. Und im Grunde ist sie kein eigenes Krankheitsbild, sondern ein Symptomenkomplex, der aufgrund verschiedener Krankheiten auftreten kann. Eine Psychose kann »primär« entstehen, also durch eine zugrunde liegende psychiatrische Erkrankung, oder »sekundär« aufgrund von Schädelverletzungen, einer schwierigen Sozialisation in der Kindheit, Rauschmittelkonsum oder kindlichen Infektionen. Ich muss Frau Zeidler dringend in eine Klinik einweisen, damit wir die Ursache für ihren quälenden Zustand herausfinden.

Die junge Patientin drückt ihrer Mutter, die in sich zusammengesunken auf dem Stuhl neben der Liege sitzt, die Brechschale in die Hand. Die kurzhaarige Frau mit den gutmütigen braunen Augen schaut mich erschöpft an, und ich nehme behandschuht die Schale entgegen und werfe sie in den Mülleimer. Die Handschuhe fliegen hinterher, und ich setze mich auf meinen kleinen Rollhocker neben der Liege. Nicht zu nahe an die Patientin, denn ich will sie nicht beängstigen. Aber auch nicht zu weit weg, denn übermäßige Distanz und dominierendes »Arzt-Verhalten« wären fehl am Platze. Ist es generell immer, wie ich finde, aber das nur am Rande.

Wir unterhalten uns lange, und durch die Eltern erfahre ich, dass es Frau Zeidler jahrelang gut ging, daher wurden die Neuroleptika (die Medikamente zur Behandlung der Psychose) wieder abgesetzt. Die Tatsache, dass Frau Zeidler in der Klinik als Patientin vorbekannt ist, macht eine Einweisung leichter. Dennoch brauche ich ihr Einverständnis, und das wird nicht einfach zu bekommen sein. Denn wer möchte schon freiwillig in die Psychiatrie gehen? Doch trotz einer akuten Psychose kann ich sie nicht ohne Einverständnis einweisen. Die Unterbringung in einer Psychiatrie kann gegen den Willen eines Patienten nur dann erfolgen, wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung besteht. Würde also Frau Zeidler beispielsweise glaubhaft damit drohen, sich das Leben zu nehmen oder jemandem etwas anzutun.

Als ich noch in der Klinik in der Notaufnahme gearbeitet hatte, mussten wir unter polizeilicher Begleitung einen jungen Mann in die geschlossene Psychiatrie einweisen lassen. Grundlage dafür ist das PsychKG, das Psychisch-Kranken-Gesetz. Dieses Landesgesetz regelt die freiheitsentziehende Unterbringung von Patienten, die eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung darstellen.

Der junge Mann in der Notaufnahme randalierte unter Drogeneinfluss, er war ein sogenannter Polytoxikomane. Ich liebe dieses Wort. Es klingt so hochtrabend, heißt aber nur: Er war süchtig nach mehreren, verschiedenen Rauschmitteln, die meistens parallel konsumiert wurden. Auch an diesem Tag hatte er seine diversen Rauschmittel reichlich konsumiert, was dazu führte, dass er wütete.

Alkohol und Drogen sind in Notaufnahmen häufige Aufnahmegründe, und man kann wunderbar seinen vulgären Wortschatz erweitern, wenn man ganz genau den lallenden Sätzen lauscht. Die Polizei kam also angerückt, und sie kam mit sechs Personen, denn sie musste den Patienten auf einem Spineboard festschnallen. Das ist eine Trage, auf der man üblicherweise Verunfallte mit Wirbelsäulenverletzungen reglos fixiert, um weitere Bewegungen und damit Folgeschäden zu vermeiden. Der Patient hatte in seinem Zustand aber derartige Kräfte entwickelt, dass man ihn leider sehr nachdrücklich an einer weiteren Ausübung seiner Kraft hindern musste. Ich war damals überrascht, dass die Kollegen der Polizei mit so vielen Menschen auftauchten, doch es war nicht anders möglich. Patienten in seelischen Ausnahmezuständen entwickeln zum Teil übermenschliche Kräfte.

 

Aber als nun Frau Zeidler inzwischen vor mir sitzt, weint und schreit und sich dabei immer wieder erbricht, frage ich mich auch, wie ich die Situation am besten regeln kann. Also rede ich immer wieder sanft auf sie ein, versuche sie zu beruhigen und sie von dem Aufenthalt im Krankenhaus zu überzeugen. Es dauert lange. Minute um Minute reden wir, drehen uns im Kreis, schweigen, warten auf Zustimmung. Die junge Frau spricht ganz leise und zitternd, die verquollenen Augen zeigen ihr Leid. »Okay. Gehen wir. Ich belaste ja sowieso nur alle Menschen.« Sie nickt matt, auch die Mutter nickt beinahe unmerklich. Ich verlasse das Behandlungszimmer, um in Ruhe mit dem Krankenhaus zu telefonieren und den Rettungsdienst zu alarmieren. Denn ohne Begleitung lasse ich die junge Frau nicht fahren, auch nicht in der der Eltern. Ab jetzt muss alles in geregelten und kontrollierten Bahnen ablaufen, und man sollte die hilfsbedürftige Patientin nicht alleine lassen. Sollte die Situation kippen, benötigt sie Medikamente und geschultes Personal.

Die Notfallsanitäter sind dann glücklicherweise auch rasch vor Ort und überzeugen sich vorsichtig ebenfalls von der Freiwilligkeit der Einweisung. Am Ende laufen sie alle gemeinsam zum Krankenwagen, und ich bin sehr dankbar, dass Frau Zeidler hinter den Kollegen vom Rettungsdienst hertrottet und alle sehr sanft und lieb mit ihr umgehen. Sie ist verzweifelt genug. Unverständnis und Hektik wären jetzt fehl am Platz.

Ich hab doch nichts! Ich bin nur alt

Wir verteufeln alle das Älterwerden, aber alt wollen wir alle werden. Und dabei möglichst jung bleiben. Dass diese Zerreißprobe nicht funktionieren kann, wissen wir. Manche Menschen haben nicht das Glück, alt zu werden, und manche haben nicht das Glück, im Alter glücklich zu sein.

Meine zweite Patientin an diesem Tag sitzt bereits vor meiner Tür zum Sprechzimmer und musste geduldig auf ihren Termin warten, denn mein psychiatrischer Notfall im Vorfeld hat viel Zeit gekostet und ich konnte den Terminplan nicht einhalten. Ich hätte in dieser Situation auch nicht schneller arbeiten wollen. Wenn man Patienten fragt, was ihnen bei einem Arztbesuch wichtig ist, sagen die meisten: »Man muss mir zuhören und nicht nach zwei Minuten schon wieder auf die Uhr schauen.«

Ich stehe in der Tür und schaue sie an, wir verstehen uns ohne Worte. Sie hat geduldig gewartet und lächelt mich nun freudig an, als sie an der Reihe ist. »Ich hab doch Zeit«, winkt sie ab, als ich mich für die lange Wartezeit entschuldige. Von der Geduld und Herzenswärme können sich manche Menschen eine Scheibe abschneiden. Wir alle kennen die ungeduldigen Menschen an der Supermarktkasse, die im Sekundentakt Luft durch die Lippen pusten, auf die imaginäre Armbanduhr schauen und nervös mit den Füßen klappern. Zeit ist ein rares Gut, ich weiß. Aber auch für uns Hausärzte. Manchmal können wir nicht schneller arbeiten, weil sonst jemand anderes leiden würde.

Frau Yost ist achtzig und eine herzensgute, freundliche Dame. Ihre Lebensinhalte waren ihre Familie und die Landwirtschaft, die sie mit ihrem Mann gemeinsam bestellte. »Die Landwirtschaft, die war uns wichtig. Die Tiere, die Natur! Es hätte nicht schöner sein können«, erzählte sie mir schon mehrfach, und ihre Augen leuchten dabei. Ihr einziger Sohn wohnt inzwischen weit weg und sie alleine, denn den Hof wollte er nach dem Tod seines Vaters nicht übernehmen. Dennoch strahlt Frau Yost eine tiefe Gelassenheit und Dankbarkeit aus. Sie kommt recht regelmäßig zu mir, auch wenn ich meist nicht genau weiß, warum. Sie hat »nichts«. Jedenfalls nichts, das ich akut behandeln müsste. Ein bisschen Herz, ein bisschen Blutdruck, ein bisschen Bronchien, viel Einsamkeit.

Jetzt trippelt die grauhaarige Frau mit ihrem Gehstock langsam in mein Sprechzimmer und kramt noch im Stehen aus ihrer beigefarbenen, akkurat gebügelten Bundfaltenhose ein Sammelsurium an Zetteln heraus und sucht die abgeschnittenen Laschen ihrer Medikamentenschachteln, die sie mir allesamt auf den Tisch legt. Ab einem gewissen Alter tun das alle älteren Menschen. Sie schneiden meist schon Wochen im Voraus die Laschen ihrer Tablettenpackungen ab und ordern sie in der Praxis, damit sie immer einen Vorrat an Medikamenten zu Hause haben. Oft stecken die Laschen dann in den Tiefen des Geldbeutels, der wiederum in den Tiefen der Handtasche verschwunden ist und erst einmal gefunden werden muss. So viel zum Thema Zeit. Sie hat geduldig auf mich gewartet, jetzt warte ich geduldig, bis sie so weit ist.

Allerdings dürfen wir keine Rezepte schon Wochen im Voraus abgeben. Dann bekämen wir von den Kassenärztlichen Vereinigungen einen auf den Deckel, denn die Medizin für gesetzlich versicherte Patienten muss wirtschaftlich, zweckmäßig und ausreichend sein. Verständlich, weil es ein solidarisch geführtes Krankenkassensystem ist und nicht jeder alles und sofort bekommen kann. Frau Yost kennt die Regelungen bereits und liegt optimal in ihrem Verordnungsplan. Ich beginne also, die Rezepte auszustellen, während sie erzählt.

»Ich hab’s ein bisschen mit der Luft«, sagt sie. »Und nächstes Wochenende kommt der Sohn zu Besuch. Endlich. Der wohnt in Köln, Sie wissen ja. Seitdem er den Job da hat, ist er sehr ausgelastet. Aber als Mutter bin ich ja froh, dass aus dem Jungen was geworden ist.«

Während ich so vor mich hin tippe und die richtigen Medikamente aus der langen Liste heraussuche, frage ich nach: »Ach, haben Sie was Schönes vor?«

Multitasking at its best und ein wenig Small Talk. Landarztleben eben.

»Ach, ich würde ja gern, aber es geht halt alles nicht mehr so.«

 

Ich wende mich ihr zu und bitte sie, sich frei zu machen, damit ich sie abhören kann. Das Stethoskop ist eines meiner wichtigsten Arbeitsutensilien, auch in Zeiten der apparativen Medizin. Währenddessen reden wir weiter.

»Wollen wir mal über eine Pflegestufe sprechen?«, frage ich sie und höre durch das Stethoskop, wie sie scharf die Luft einzieht. Oh, oh, ich habe wohl einen wunden Punkt getroffen.

Sie hat mit immer größeren Einschränkungen zu kämpfen, wie sie auch an den Vorbereitungen für den Besuch des Sohnes merkt. Das Putzen fällt ihr schwer, etwas kochen geht auch nicht gut, und einkaufen kann sie nur mithilfe der Nachbarin. Selbst das Richten ihrer Medikamente macht zunehmend Mühe, ebenso das Waschen und Anziehen.

Bei meinem Vorschlag protestiert sie jedoch vehement. »Frau Doktor, ich hab doch nichts. Ich bin nur alt. Andere brauchen mehr Hilfe. Sagen Sie mir lieber, was mit der Luft ist!« Sie giemt ein wenig über den Bronchien. Das heißt, die Bronchien sind ein wenig verengt, und man hört ein leises Pfeifen. Also exerzieren wir noch gemeinsam die Inhalationstechnik für ihr Asthmaspray durch.

Ich bewundere diese starke Frau, aber würde ihr auch gerne helfen. Sie möchte keine fremden Menschen in ihrem Haushalt haben, was ich verstehen kann, denn Eigenständigkeit und Privatsphäre wünschen wir uns ja alle bis ins hohe Alter hinein. Der Schritt, sein Zuhause für fremde Menschen zu öffnen, fällt den meisten Menschen schwer. Dennoch kann ein Pflegegrad vielen Menschen Erleichterung bringen. Mit einem Pflegegrad würde sie Zuschüsse aus der Pflegeversicherung beantragen können, um beispielsweise die Wohnung altersgerecht umbauen zu können. Auch können Leistungen aus der Pflegeversicherung verwendet werden, um eine Haushaltshilfe einzustellen oder eine Person, die für sie oder mit ihr einkaufen geht. Es bedeutet nicht, dass nun rund um die Uhr eine Pflegekraft vor Ort ist, was in den heutigen Zeiten eines Fachkräftemangels in der Pflege und einer durchökonomisierten Gesundheitslandschaft auch nicht machbar wäre.

Aber Frau Yost lässt sich nicht umstimmen. »Ich mache alles noch, solange es geht«, tadelt sie mich spielerisch mit erhobenem Zeigefinger, und ich akzeptiere ihre Entscheidung natürlich. Ich hoffe aber, dass sie auf mich zukommen wird, wenn es nicht mehr geht.

Ich wünsche mir, dass ich irgendwann einmal eine alte, zufriedene Dame wie Frau Yost werde. Aber vielleicht bin ich eher die, die in ihrem Gemüsegarten mit Kittelschürze das Unkraut jätet und die Nachbarskinder anmault, weil sie mal wieder zu laut Fußball spielen und meine Bohnen umknicken. Wer meine Bohnen umknickt, bekommt allerdings jetzt schon einen Rüffel. Oder ich werde eine alte Dame, die auf einem Kissen am Fenstersims hängt, um kluge Ratschläge an Spaziergänger mit Hunden zu übermitteln.

Frau Yost ist nicht so. Sie ist irgendwie immer zufrieden und freundlich, und ich versuche, mir davon ein Scheibchen abzuschneiden.

Nicht ohne meinen Hund

Morgens, halb zehn in Deutschland. Zeit für ein Frühstück – oder die nächsten Patienten. Nachdem der Tag etwas turbulent startete, geht nun alles seinen üblichen Gang. Eine übliche Sprechstunde an einem üblichen Tag. Menschen, wohin das Auge nur blickt. Gemurmel, Gerüche, Telefonklingeln, das Rattern des Druckers, Schniefen, Husten. Hundebellen. Ähm. Bellen?

Eine mir unbekannte Frau steht an der Anmeldung und trägt einen Handtaschenhund im Arm. Ich habe sie bisher noch nie in der Praxis gesehen, womöglich ist sie zu Besuch aus der großen Stadt. Ihre auftoupierten Haare, der schöne Hosenanzug und das aufwendige Make-up jedenfalls wirken, als sei sie eben von einer After-Work-Party gekommen. Dagegen spricht jedoch der Handtaschenhund. Es gibt eher wenige kleine Hunde in dieser Gegend, denn Platz für große Tiere ist ausreichend vorhanden. Man muss sich beim Spazierengehen an den Hoftüren oft die Ohren zuhalten, weil die Vierbeiner lautstark ihr Revier verteidigen.

Der Hund der Dame verteidigt gerade auch sein Handtaschenrevier und bellt unablässig, was die Business-Dame nicht zu stören scheint. Sie habe Ohrenschmerzen (womöglich durch die permanente bellende Geräuschbelastung?) und wollte »Prinzessin« nicht alleine zu Hause lassen, vernehme ich mit einem Ohr, während ich aus meinem Zimmer komme.

»Ihr Hund kann leider nicht mit in die Praxis kommen«, sagt unsere MFA Tanja an der Anmeldung freundlich. Tanja ist etwa in meinem Alter und immer gut gelaunt und freundlich, aber bestimmt. Die Dame mit Hund steht vor dem Anmeldetresen, bekommt hektische Flecken und findet es offensichtlich übertrieben. Sie reagiert nicht so freundlich. »Ich lasse sie auf dem Arm, und niemand fasst sie an! Dann geht das bestimmt!«, antwortet sie gereizt. Nein. Geht es leider nicht. Aber wie geht man jetzt damit um? Es gibt keine Gesetzesnorm, die den Aufenthalt von Hunden in Arztpraxen verbietet. Der Praxisinhaber entscheidet, ob jemand einen Hund mitbringen darf oder nicht.

Noch bin ich keine Praxisinhaberin, aber von hygienischer Seite halte ich es für bedenklich, Hunde mitzubringen, denn Hunde haaren und sabbern und haben manchmal auch Erkrankungen oder Parasiten. Wobei so mancher Patient wahrscheinlich ungewaschener und ungepflegter ist als viele Hunde von verantwortungsbewussten Hundehaltern. Ich denke da an lange Zehennägel, die wie Chipsletten aussehen. Oder an lange künstliche Fingernägel, unter denen die Reste des Abendessens vom Vortag hängen. Und an Kopfbehaarung, die als Lagerungsstätte für Margarine herhalten könnte. Es gibt Untersuchungen, die im Bart von Vollbartträgern mehr Keime fanden als in so manchem Hundefell.

Dennoch muss man eine Grenze ziehen: Wenn »Prinzessin« dabei sein darf, möchte die Katzenfrau (jedes Dorf hat eine Katzenfrau) vielleicht ihre Lieblingskatze mitbringen und Leon-Pascal sein Meerschweinchen.

Anders verhält es sich mit Blindenhunden. Sie sind in einer Praxis vertretbar, weil sie ausgebildete Führhunde sind. Im Vorfeld ist es natürlich wichtig zu eruieren, ob das Tier alle gängigen Impfungen hat und frei von Parasiten ist. Ein Führhund darf auch das Sprechzimmer betreten, nicht jedoch die Reinräume. Und er sollte nicht von Patienten und Personal gestreichelt werden.

»Prinzessin« ist kein Führhund. Im Gegenteil, man muss eher aufpassen, dass man nicht auf sie tritt, wenn sie ihr Handtaschenhabitat verlässt. Sie ist ein bellender Handtaschenhund und muss leider draußen bleiben, auch wenn sie nicht durch die Praxis läuft und ihre Prinzessinnenhaare verteilt.

Inzwischen stehe ich neben Tanja und versuche, die hektische Business-Dame etwas zu versöhnen.

»Sie können doch gerne mit Ihrem Hund vorne im Eingangsbereich warten, wir rufen Sie dann, wenn Sie an der Reihe sind? Den Hund können Sie vor dem Haus anbinden«, schlage ich ihr vor, aber sie macht wütend auf dem Absatz kehrt und verlässt ohne Worte die Praxis.

Meine Kollegin und ich sehen uns an, und Tanja zuckt mit den Schultern. »Ich habe ihr auch einen neuen Termin angeboten, aber sie wollte nicht.«

Wir sind ja immer bemüht, Lösungen zu finden. Aber manchmal ist es vergebene Liebesmühe.

Kinder sind wie Petrischalen

In der Landarztmedizin wechseln im Minutentakt die Patienten und die Krankheitsbilder. Herr Adam betritt mit seinem Sohn auf dem Arm mein Zimmer. Entgegen der gängigen Vorstellung, dass auf dem Land rein tradierte Rollenbilder herrschen, erlebe ich viele sehr gleichberechtigt lebende Paare, die sich die Kinderbetreuung teilen. Und so kommen auch regelmäßig Väter mit ihren Kindern in die Praxis, wenn die Kleinen krank sind. Die nächsten Kinderärzte in der Region sind entweder zwanzig Kilometer entfernt oder sie nehmen keine Patienten mehr an, sodass wir als Hausärzte auch sehr viele Kinder betreuen.

Ich registriere schon beim Reinkommen, dass der kleine Junge ziemlich krank aussieht. Seine braunen Locken hängen ihm wild ins Gesicht, er hat einen kleinen Stoffelefanten im Arm und eine Jogginghose mit aufgedruckten Dinosauriern an. Blass und mit glasigen Augen klammert er sich an seinen Papa und gräbt schließlich das Gesicht in seine Halsbeuge.

Herr Adam, ein großer, junger Mann in Jeans und Fleecepulli, auf dem der Name eines Handwerksbetriebs gestickt ist, nimmt auf der Behandlungsliege Platz, und sein Sohn sitzt auf seinem Schoß.

»Max hat seit gestern einen Ausschlag an den Händen«, erzählt der Vater und nimmt die Hände seines Sohnes, um sie mir zu zeigen.

An den Handflächen und den Fingern sind sie übersät mit kleinen Bläschen. Ich bitte Herrn Adam, seinen Sohn einmal bis auf die Unterwäsche auszuziehen, damit ich nichts übersehe. Die normale, so unspektakulär wirkende körperliche Untersuchung ist ungemein wichtig und nicht so banal, wie man in Zeiten der modernen Gerätemedizin meinen möchte. Apparatemedizin ist eine tolle Sache und ein Segen, aber schon mit den bloßen Händen und Augen kann man viele Diagnosen klinisch stellen, ohne seine Patienten durch die halbe Weltgeschichte und von Facharzt zu Facharzt zu jagen, zumal diese ja ebenfalls meist heillos überlaufen sind. Achtzehn Arztkontakte im niedergelassenen Bereich hat ein Patient in Deutschland pro Jahr. Das sind viel zu viele, und daher können viele Menschen nicht umfassend versorgt werden. Zudem gibt es zu wenige Generalisten, sprich Allgemeinmediziner, weil Spezialisten mit ihrer Arbeit mehr Geld verdienen. Apparatemedizin bringt Geld, körperliche Basismedizin und sprechende Medizin nicht.

Max sitzt unsicher auf der Liege und hält Papas Hand, er scheint nicht fit zu sein und ist ängstlich. Der erste Eindruck, den man von einem Kind hat, ist ungemein wichtig. Ein Kind kann in einer Sekunde sehr krank sein und sich die Seele aus dem Leib brechen, um danach Unmengen an Essen zu verschlingen und wieder munter zu spielen. Kinder sagen außerdem selten, was sie wirklich haben. »Mama, ich denke, ich brüte eine Erkältung aus, denn mir tun die Glieder weh und ich fühle mich schlapp«, ist noch nicht in ihrem Wortschatz vorhanden. Kindern tut der Bauch weh oder der Kopf. Sie wirken blass oder grau, essen oder trinken nicht und liegen nur auf Mamas oder Papas Arm.