Frau, gläubig, links - Andrea Nahles - E-Book

Frau, gläubig, links E-Book

Andrea Nahles

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Beschreibung

Herz und Hoffnung der SPD Wohin steuert die SPD nach der Bundestagswahl? Welche Perspektiven kann sozialdemokratische Politik den Menschen anbieten? Andrea Nahles blickt kritisch auf die Politik der "Neuen Mitte" zurück und entwirft das Bild einer "Guten Gesellschaft", in der soziale Verantwortung selbstverständlich und demokratische Teilhabe unverzichtbar ist. Sie tut dies auf ihre Art und gewährt Einblicke in den Alltag einer Politikerin, die sich in vielfacher Weise für andere Menschen engagiert und nichts so sehr liebt wie ihre Familie und ihr Dorf in der Eifel. Denn dort ist sie den Menschen nah … Frau, gläubig, links von Andrea Nahles: als eBook erhältlich!

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Andrea Nahles

Frau gläubig links

Was mir wichtig ist

Knaur e-books

Über dieses Buch

Andrea Nahles ist die wohl bekannteste Vertreterin der jüngeren Politiker-Generation. Welche Erfahrungen haben sie geprägt? Auf welchem Fundament ruhen ihre politischen Grundüberzeugungen? Wie sieht sie die Zukunft der SPD? Erstmals gibt sie in ihrem Buch umfassend Auskunft über ihre ganz eigene Art, eine Politik zu gestalten, die sie in der Vergangenheit immer wieder in einen Gegensatz zu ihrer Partei brachte.

Inhaltsübersicht

VorwortDie Welt hinter WeilerFür eine Kultur des ZweifelsVon der Würde der ArbeitFreiheit und VerantwortungWilly Brandt im Heiligen LandFrauenzeitenDie gute GesellschaftGrundwerte einer guten GesellschaftMitreden – mitgestaltenSoziale MarktwirtschaftTransparenz der MärkteGuter Lohn für gute ArbeitHandlungsfähiger StaatLeistungsstarke WirtschaftBildungGrüne TechnologieGenerationenwechselNach dem September-SturmAufbruch und Erneuerung
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Vorwort

Dieses Buch war lange geplant, doch seine Entstehung nahm einen anderen Verlauf, als ich dies noch im Frühjahr 2009 vorgesehen hatte. Ursprünglich wollte ich vor allem über Zukunftskonzepte sozialdemokratischer Politik schreiben. Doch dann kam der Abend des 27. September 2009, an dem meine Partei eine der wohl bittersten Wahlniederlagen ihrer Geschichte erlebte. Über dieses Ereignis, das mich auch persönlich stark berührt hat, und seine Folgen einfach hinwegzugehen, schien mir nicht nur unredlich, sondern schlicht unmöglich. So ist dieses Buch beides geworden: eine Aufarbeitung des Gewesenen und gleichzeitig das Plädoyer für einen Neuanfang.

Geschrieben ist es aus der Perspektive meiner Generation, der heute knapp Vierzigjährigen. Es soll kein Generationen-Manifest sein, aber sehr wohl eine Aufforderung an meine Altersgenossen, nun endlich auch politisch Verantwortung zu übernehmen. Denn obwohl ich rechnerisch zur »Generation Golf« zähle, habe ich mir den apolitischen Lifestyle vieler meiner Altersgenossen nie zu eigen gemacht. Wir alle tragen Verantwortung für die Bedingungen, unter denen wir leben – und wir sollten diese Verantwortung ernst nehmen. Die Berliner Band »Die Ärzte« hatte 2003 einen Hit, in dem es heißt: »Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär’ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.« Das ist ein Motto, dem wir uns alle verschreiben sollten. Denn ändern kann man viel, wenn man sich nur anstrengt und engagiert – ganz egal, ob in zivilgesellschaftlichen Organisationen, karitativen Ehrenämtern oder politischen Parteien.

Für mich jedenfalls gehören die Parteien nach wie vor zu den wichtigsten Instrumenten des Wandels. Die postmoderne Parteienverachtung vieler professioneller Politikbeobachter kann ich nicht teilen. Wir brauchen die Parteien, um die politische Willensbildung in einer großen Gesellschaft zu organisieren. Doch auch Parteien müssen der gesellschaftlichen Modernisierung folgen. Sie müssen nah am Puls der Gesellschaft agieren. Umso mehr sorge ich mich um die Situation der Sozialdemokratie. Nach elf Jahren Regierungsbeteiligung im Bund, einer Serie schwerer Wahlniederlagen und einem nicht zu übersehenden Vertrauensverlust der Menschen gegenüber meiner Partei will ich hier Wege aufzeigen, wie wir mit den Menschen wieder ins Gespräch kommen können und was sich bei uns ändern muss, um im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu alter Stärke zurückzufinden.

Trotzdem soll dieses Buch kein verlängertes Sitzungsprotokoll sein. Ich schreibe über meine subjektive Sicht der Dinge und meine Vorstellungen von der Zukunft. Beim Schreiben habe ich festgestellt, dass sich die Politikerin Andrea Nahles und die Privatperson Andrea Nahles nicht voneinander trennen lassen, und so werde ich auch als private Person immer wieder einmal hervorblitzen. Ich erzähle deshalb aus meinem eigenen Leben, weil ich glaube, dass wir den Schlüssel zu einer guten Gesellschaft nur in uns selbst finden können. Wir alle müssen uns überlegen, woraus für uns ganz persönlich ein gutes Leben besteht. Die Aufgabe einer erneuerten Sozialdemokratie muss es dann sein, eine Politik zu entwerfen, die dieses gute Leben möglichst vielen Menschen ermöglicht. Dazu soll dieses Buch beitragen.

Zum guten Leben gehören vor allem gute Menschen. Von diesen war ich auch bei der Abfassung dieses Buches umgeben. Mein Dank gilt meinen politischen Mitstreitern Thorben Albrecht, Thymian Bussemer und Jörg Suckow. Dem Pattloch Verlag möchte ich ebenfalls danken: Jürgen Bolz hat mich als Lektor die ganze Zeit hindurch hervorragend betreut, Regina Carstensen sorgte dafür, dass Akademisches und Subjektives in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, und Carmen Dollhäubl hat kompetent die Schlussredaktion des Textes übernommen. Die Zusammenarbeit mit ihnen allen war mir Vergnügen und Bereicherung zugleich.

 

Berlin, November 2009

Andrea Nahles

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Die Welt hinter Weiler

1988 war das Ende der alten Bundesrepublik noch nicht abzusehen. Die Mauer stand seit 27 Jahren unverrückbar, auch wenn sie durchlässiger geworden war, der Kalte Krieg schien eingedämmt und die Zweistaatlichkeit Deutschlands von Dauer. Kaum jemand ahnte, welcher Sturm des Aufbruchs schon wenige Monate später über Deutschland, Europa und die Welt hinwegfegen sollte.

Wer wie ich Anfang der 1970er-Jahre geboren wurde und ab Mitte der 1980er-Jahre am politischen Geschehen teilnahm, ist in einer anderen Welt groß geworden als die Generation vor uns. Wir wuchsen nicht mehr in der unmittelbaren Erwartung eines atomaren Erstschlags auf, die Schikanen und Demütigungen an der deutsch-deutschen Grenze bestanden zwar fort, hatten aber für uns Westdeutsche eine Milderung erfahren. Die Deutschen jenseits der Mauer erlebten diese Jahre als eine Zeit der Erstarrung und des wirtschaftlichen Niedergangs, es regte sich leiser Protest, und die Unzufriedenheit wuchs trotz der Reiseerleichterungen, die das SED-Regime gewährte, nachdem Erich Honecker 1987 die Bundesrepublik besucht hatte – was ihn unter anderem auch ganz in die Nähe meines Heimatortes, nach Trier führte – und mit den Ehren eines Staatsgasts empfangen worden war.

Die deutsche Einheit schien damals in weiter Ferne zu sein, und viele, gerade in der westdeutschen Linken, hatten sich damit abgefunden, hielten Nationalstaaten für Relikte des 19. Jahrhunderts, bezeichneten die Bundesrepublik gern als »postklassischen Nationalstaat« und rechneten fest damit, dass dieses merkwürdige staatliche Gebilde ohnehin irgendwann in den Vereinigten Staaten von Europa aufgehen würde.

Die Bundesrepublik Deutschland war Ende der 1980er-Jahre ein saturiertes Land. Unter dem Einfluss des nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschlagenen Weges der Sozialen Marktwirtschaft und der Systemkonkurrenz mit dem Ostblock war in Westdeutschland ein Sozialstaat aufgebaut worden, der auch den kleinen Leuten einen Anteil am Wohlstand sicherte. Die Erwirtschaftung gesellschaftlichen Reichtums schien durch die exportstarke deutsche Industrie auf ewig gesichert. Zu lösen waren nur die Verteilungsfragen.

Und nicht zu vergessen: Man dachte und lebte damals zunehmend grün. Nach mehr als einem Jahrzehnt aufwühlender Auseinandersetzungen um Waldsterben, die Atomenergie und die Vergiftung der Flüsse waren ökologische Ideen überall im Land angekommen. Nur dass sie je nach Parteizugehörigkeit unterschiedlich akzentuiert waren: Während die Konservativen ihr Herz für die Bewahrung der Schöpfung entdeckten, sahen die SPD und die Gewerkschaften in der Umweltzerstörung eine weitere negative Auswirkung des Kapitalismus. Bei den Grünen, die in diesem Jahrzehnt zum Schrittmacher des Zeitgeistes wurden, existierten alle denkbaren Lesarten parallel.

Immerhin hatte Helmut Kohl nach dem Schock der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 erstmals einen Umweltminister berufen, gegen Ende des Jahrzehnts gab es erste Anzeichen für eine Erholung des deutschen Waldes, und letztlich glaubte das ganze Land, man werde die Probleme schon so oder so in den Griff kriegen. Dass wir uns bereits ein Jahr später mit den Altlasten von Bitterfeld, dem verseuchten Chemie-Standort der DDR, herumschlagen würden – das ahnte Ende 1988 im Westen keiner. Es herrschte Zukunftsoptimismus, was paradox war, denn wir befanden uns im Grunde in einer Phase des geschichtlichen Stillstandes. Von heute aus betrachtet hat man das Gefühl, Nachkriegsdeutschland sei erst im Jahr 1989 in die Weltgeschichte zurückgekehrt, aus der es sich 1945 verabschiedet hatte.

 

In diesem Jahr, 1988, trat ich in die SPD ein, genau 125 Jahre, nachdem die Partei gegründet worden war. Mein Parteibuch vermerkt den 22. Oktober 1988 als Beitrittstag. Ich dachte damals allerdings weniger in historischen Dimensionen, von den Feierlichkeiten im Berliner Reichstag zum Parteijubiläum hatte ich nichts mitbekommen. Mich interessierten in erster Linie lokale Belange. Begonnen hatte ich mein politisches Engagement in einer Bürgerinitiative gegen den Bau von zwei Müllverbrennungsanlagen: In Mayen sollte eine herkömmliche, im nicht weit davon entfernt liegenden Kaisersesch eine Sondermüllverbrennungsanlage errichtet werden. Mein Standpunkt war klar: Wir könnten viel mehr Müll einsparen als bisher und damit auch auf die Anlagen verzichten, wenn wir anders mit Verpackungen umgehen würden. Viele taten die Bürgerinitiative damals als Spinnerei ab, aber am Ende wurden beide Verbrennungsanlagen nicht gebaut, unter anderem, weil die SPD im jeweiligen Stadtrat dagegen stimmte – das grüne Denken war auch bei uns in der Eifel angekommen. Mir hat diese Erfahrung gezeigt, dass man in seinem Umfeld etwas bewegen kann, wenn man sich mit Gleichgesinnten zusammentut. Deswegen lag der nächste Schritt für mich auf der Hand: Ich musste in eine Partei eintreten. Dass ich den Weg in die SPD wählte, hatte wohl vor allem mit meinem Gerechtigkeitssinn zu tun.

Am 9. März 1989, wenige Monate nach meinem Parteieintritt, gründete ich einen SPD-Ortsverein in meiner Heimatgemeinde. In dem kleinen Eifel-Dorf Weiler, in dem meine Familie seit Generationen lebte, kam das einem mittleren Aufruhr gleich. Meine Eltern waren darüber nicht erbaut. Gegen den Parteieintritt hatten sie keine Einwände erhoben, aber dass ich einen Ortsverein gründen wollte, war ihnen nicht geheuer. Musste das wirklich sein? Wie konnte ich nur eine derartige Unruhe ins Dorf bringen? In unserer Gemeinde war es doch bisher meist friedlich zugegangen! Ihre Bedenken waren mir nicht egal, doch gegen meine Beweggründe und die meiner Mitstreiter wogen diese Bedenken wenig. Einige Freunde und Bekannte hatten genau wie ich den Eindruck, dass auch Weiler andere Antworten auf die offenen Zukunftsfragen brauchte als die immergleichen Rezepte, die nie hinterfragt wurden. Genau dieses Gefühl, dass es Zeit für eigene Antworten war, leitete mich damals. Und die SPD schien mir am ehesten bereit, neue Wege zu gehen, vor allem, weil sie eine Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie anstrebte, die mir zukunftsweisend vorkam. So wurde die SPD vor über zwanzig Jahren zu meiner politischen Heimat.

Zur Gründung des Ortsvereins kam Hans-Dieter Gassen vorbei, der damalige Kreisvorsitzende der SPD Mayen-Koblenz. Für uns Parteineulinge grenzte das an ein Wunder: Hans-Dieter Gassen war tatsächlich annähernd eine Stunde mit dem Auto gefahren, weil er gehört hatte, dass in einem der kleinen Eifeldörfer ein SPD-Ortsverein das Licht der Welt erblicken sollte – übrigens ein Ortsverein, der zunächst nur ein Mitglied hatte, denn außer mir war noch keiner aus unserer Runde der jugendlichen Politik-Aspiranten der Partei beigetreten. Das änderte sich allerdings rasch, an diesem Tag unterschrieben sieben Mitschüler und Freunde ihren Mitgliedsantrag. Das Ganze erforderte durchaus Mut, denn es war klar, dass wir im Dorf nicht nur Zustimmung ernten würden – auch 125 Jahre nach Gründung der SPD wurden Sozialdemokraten in manchen Teilen Deutschlands in erster Linie als Störenfriede gesehen –, aber davon ließen wir uns nicht abhalten.

Zunächst dominierten bei unserer politischen Arbeit die praktischen Probleme. Da keiner von uns wusste, wie man eine Ortsvereinssitzung leitet, nahm ich das in die Hand und fuhr in die Nachbarorte Monreal und Mayen. Dort gab es bereits SPD-Ortsvereine, und ich schaute mir deren Sitzungen an. Als Nächstes besuchten wir Neugründer gemeinsam ein Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema Kommunalpolitik.

Juso wurde ich übrigens, ohne es zu wissen. Als ich in die SPD eintrat, war mir nicht klar, dass alle Parteimitglieder unter 35 Jahren automatisch den Jungsozialisten, der Jugendorganisation der SPD, angehören, die innerhalb der SPD den Status einer Arbeitsgemeinschaft hat. Ich ahnte damals nicht, dass ich nur wenige Jahre später zur Bundesvorsitzenden dieser Organisation gewählt werden würde. Doch der Reihe nach.

Um die Jahreswende 1990/91 wurde ich Kreisvorsitzende der Jungsozialisten und übernahm damit auch Aufgaben, die über den Bezugsrahmen meines Heimatortes Weiler hinausreichten. Zur gleichen Zeit wurden mein Schulfreund Reiner Hermann und ich in den Gemeinderat von Weiler gewählt. Ich war dort die einzige Frau. Heute ist übrigens meine Mutter die einzige Frau im Gemeinderat …

In dem Parteibuch, das ich 1988 bei meinem Eintritt in die SPD erhalten habe, ist das Godesberger Programm abgedruckt. Die SPD atmete damals noch den Geist Willy Brandts. Sie war seit sechs Jahren im Bund in der Opposition – keiner hätte zu diesem Zeitpunkt gedacht, dass es noch weitere zehn Jahre dauern würde, bis sie wieder den Kanzler stellt – und hatte sich fernab der Macht zunehmend linken und ökologischen Ideen geöffnet.

Im Jahr meines Parteieintritts beschloss die SPD eine Frauenquote von mindestens vierzig Prozent für alle Ämter und Mandate. Vor allem aber befand die Partei sich in einem programmatischen Diskussions- und Orientierungsprozess, der am 20. Dezember 1989 mit der Verabschiedung des Berliner Grundsatzprogramms abgeschlossen wurde. Dieses neue Parteiprogramm sollte das legendäre Godesberger Programm von 1959 ersetzen, mit dem die SPD seinerzeit die Öffnung von der Klassen- zur Volkspartei vollzogen hatte. Das Berliner Programm war lange und sorgfältig vorbereitet worden. Es trug in seinen analytischen Passagen die Handschrift Erhard Epplers und war politisch auf Oskar Lafontaine zugeschnitten, der als Vorsitzender der Antragskommission auch maßgeblich an seiner Entstehung beteiligt war. Keine Frage: Theoretisch war das Berliner Programm auf der Höhe der Zeit. Es bekannte sich zum demokratischen Sozialismus, zum ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und zur Gleichstellung von Mann und Frau. Doch die Berühmtheit des Godesberger Programms, für das Willi Eichler tonangebend gewesen war, hat das Nachfolgepapier nie erreicht. Die ersten Sätze des Godesberger Programms üben auf mich wie auf Hunderttausende andere Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach wie vor eine starke Anziehungskraft aus:

»Das ist der Widerspruch unserer Zeit, dass der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet;

 

dass der Mensch die Produktivkräfte aufs höchste entwickelte, ungeheure Reichtümer ansammelte, ohne allen einen gerechten Anteil an dieser gemeinsamen Leistung zu verschaffen;

 

dass der Mensch sich die Räume dieser Erde unterwarf, die Kontinente zueinanderrückte, nun aber in Waffen starrende Machtblöcke die Völker mehr voneinander trennen als je zuvor und totalitäre Systeme seine Freiheit bedrohen.

 

Darum fürchtet der Mensch, gewarnt durch die Zerstörungskriege und Barbareien seiner jüngsten Vergangenheit, die eigene Zukunft, weil in jedem Augenblick an jedem Punkt der Welt durch menschliches Versagen das Chaos der Selbstvernichtung ausgelöst werden kann. Aber das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt;

 

dass der Mensch den Weltfrieden sichern kann, wenn er die internationale Rechtsordnung stärkt, das Misstrauen zwischen den Völkern mindert und das Wettrüsten verhindert;

 

dass der Mensch dann zum erstenmal in seiner Geschichte jedem die Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer gesicherten Demokratie ermöglichen kann zu einem Leben in kultureller Vielfalt, jenseits von Not und Furcht.

 

Diesen Widerspruch aufzulösen, sind wir Menschen aufgerufen. In unsere Hand ist die Verantwortung gelegt für eine glückliche Zukunft oder für die Selbstzerstörung der Menschheit.

 

Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft öffnet der Mensch den Weg in seine Freiheit. Diese neue und bessere Ordnung erstrebt der demokratische Sozialismus.«

Eine solche Prägnanz in der Analyse erreichte das Berliner Programm nicht. Aber es hatte ein starkes Einheit stiftendes Potenzial; es bündelte sämtliche damaligen politischen Strömungen in der SPD und spiegelte auch viele gesellschaftliche Diskurse wider; vor allem integrierte es ökologische und friedenspolitische Bewegungen, die sich Anfang der 1980er-Jahre von der SPD abgewandt hatten. Es enthält zudem das schönste Bekenntnis zur Demokratie, das mir in der sonst ja oft drögen politischen Sprache jemals begegnet ist: »Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren und in Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Weil der Mensch offen ist und verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, kommt es darauf an, in welchen Verhältnissen er lebt. Eine neue und bessere Ordnung, der Würde des Menschen verpflichtet, ist daher möglich und nötig zugleich.«

Wir Jusos haben uns in den 1990er-Jahren noch oft und leidenschaftlich auf dieses Berliner Programm bezogen. In der SPD hat es ein höheres Ansehen als außerhalb der Partei.

Das liegt daran, dass die Weltanalyse dieses Programms schon vor seiner Verabschiedung durch die politischen Ereignisse überholt war: Sechs Wochen vor dem Berliner Parteitag war die Mauer gefallen, ein Ende der deutschen Zweistaatlichkeit war absehbar, und auf Deutschland als Ganzes kamen Probleme zu, die aus der privilegierten westdeutschen Sicht vor dieser Epochenscheide nicht absehbar waren. Denn die Konkursmasse der DDR bestand nicht nur aus gigantischen ökologischen Problemen. Durch die Vereinigungspolitik von Helmut Kohl drohte dort schon nach wenigen Monaten der wirtschaftliche Kahlschlag, einer ganzen Volkswirtschaft drohte das Aus.

Es war Oskar Lafontaine, der 1989/90 die Kosten der deutschen Einheit am klarsten erkannte (auch wenn er sie aus heutiger Sicht viel zu niedrig ansetzte) und dafür plädierte, den Menschen in Ost und West reinen Wein einzuschenken, statt ihnen »blühende Landschaften« zu versprechen. Ich selbst pilgerte damals als Studentin in Bonn mit einigen Kommilitonen zu einer Wahlkampfveranstaltung mit Oskar Lafontaine. Wir waren nach seiner fulminanten Rede fest davon überzeugt, dass »Oskar« die Wahl gewinnen würde. Doch trotz eines hervorragenden Stimmergebnisses bei Erst- und Jungwählern war das Gegenteil der Fall; den Preis für die Ehrlichkeit, im Wahlkampf zu sagen, dass die Einheit nicht umsonst zu haben sei und Steuererhöhungen unausweichlich kommen würden, haben er und die SPD bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 gezahlt, und ich musste schmerzhaft lernen, dass nicht alles immer den geraden Weg geht.

 

Dies war die sozialdemokratische Welt, in die ich Ende der 1980er-Jahre eintrat. Kohl war der Einheitskanzler, und an diesem Nimbus konnte niemand rütteln, obwohl im Lauf des nächsten Jahrzehnts immer deutlicher wurde, dass seine christlich-liberale Regierung den Prozess der deutschen Einheit nur unzureichend managte und der Reformstau im Land immer größer wurde. Auch die Bundestagswahl 1994 verloren die Sozialdemokraten beinahe erwartungsgemäß, während sich das Personalkarussell an der Spitze der Partei immer schneller drehte: Hans-Jochen Vogel war von 1987 bis 1991 Bundesvorsitzender, Björn Engholm von 1991 bis 1993, Rudolf Scharping von 1993 bis 1995. Dann kam Oskar Lafontaine und sorgte für ein neues Selbstbewusstsein.

Doch letztlich kämpfte die Partei bis 1998 damit, dass sie keinen Vorsitzenden fand, der aus dem Schatten Willy Brandts heraustreten konnte, dass ihr Berliner Programm keine wirklichen Antworten auf die neue Situation eines wiedervereinigten Deutschlands bereithielt und dass es nicht gelang, in der immer deutlicher werdenden Bündnisfrage – dem Umgang mit der PDS, die im Osten zur großen Regionalpartei erstarkte – eine zukunftsweisende Lösung zu finden. Gerade die Frage des Grundsatzprogramms ist meines Erachtens für emanzipatorische Parteien von großer Bedeutung, weil es eine Selbstvergewisserung widerspiegelt, die notwendig ist, um mit den gesellschaftlichen Kräften in einen Dialog über die Gestaltung künftiger Politik eintreten zu können. Die SPD wird – anders als die Konservativen – immer an ihren programmatischen Grundsätzen gemessen werden.

 

Dann trat Gerhard Schröder auf den Plan. Der niedersächsische Ministerpräsident hatte sich schon länger für eine Kanzlerkandidatur ins Gespräch gebracht, doch die Entscheidung, wer 1998 gegen Helmut Kohl antreten sollte, lag beim Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine. Nachdem Schröder im Frühjahr 1998 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen 47,9 Prozent der Stimmen und damit erneut die absolute Mehrheit errungen hatte, rief ihn Oskar Lafontaine einen Tag später, am 2. März 1998, zum Kanzlerkandidaten der SPD aus. In einem furiosen Wahlkampf führten Schröder, Lafontaine und der Wahlkampfmanager Franz Müntefering die SPD nach sechzehn Jahren zurück in die Regierung. Zum ersten Mal seit 1972 wurde die SPD mit 40,9 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Partei im Bundestag, zum ersten Mal in der Geschichte der Republik wurde eine amtierende Bundesregierung abgewählt. Die Grünen steuerten 6,7 Prozent zum Wahlergebnis bei, und am 27. Oktober 1998 konnte die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene vereidigt werden.

Rot-Grün war das Traumprojekt einer Generation: Endlich waren die in unzähligen Metamorphosen zu Realpolitikern gereiften Achtundsechziger bei ihrem Marsch durch die Institutionen ans Ziel gekommen. Mit Gerhard Schröder und Otto Schily saßen zwei ehemalige RAF-Verteidiger am Kabinettstisch, Jürgen Trittin war in ultralinken Kadergruppen groß geworden, und Joschka Fischer hatte seine politische Laufbahn als Frankfurter Sponti und Straßenkämpfer begonnen. Auch die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer und ihre sozialdemokratische Nachfolgerin Ulla Schmidt gehörten einst kommunistischen Gruppierungen an. Ihre Koalition wurde zum Schlussstrich unter der politischen Ideengeschichte der alten Bundesrepublik; schon 1998 sagten viele, diese Generation sei zehn Jahre zu spät an die Schaltstellen der Macht gekommen.

Rot-Grün machte sich flugs daran, den von Kohl hinterlassenen Reformstau aufzulösen und stieß einige wichtige gesellschaftliche Modernisierungsprojekte an, etwa die Einführung der Homo-Ehe, die doppelte Staatsbürgerschaft und die Liberalisierung des Zuwanderungsgesetzes. Überschattet aber wurde der Start der rot-grünen Regierung von einem außenpolitischen Ereignis: dem Kosovo-Krieg, den die NATO im ehemaligen Jugoslawien führte. Anders als beim Golfkrieg 1991 konnte sich die Bundesrepublik diesmal nicht von ihren internationalen Verpflichtungen freikaufen, denn die NATO brauchte für ihren Luftkrieg die deutschen Soldaten in den AWACS-Aufklärungsflugzeugen. Fischer und Schröder hatten den USA schon vor ihrem Amtsantritt zugesagt, eine deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg nicht zu blockieren und diese auch innenpolitisch durchzusetzen. Neben Joschka Fischer tat sich auch Verteidigungsminister Rudolf Scharping als leidenschaftlicher Propagandist der militärischen Intervention im Kosovo hervor. Ihre Einschätzung beruhte zum Teil auf Fehlinformationen; in Ermangelung eines eigenen Aufklärungssatelliten waren die Europäer auf die Berichte der USA angewiesen. Anders als beim späteren Afghanistan-Einsatz lag kein UN-Beschluss vor; es entbrannte eine öffentliche Auseinandersetzung um die völkerrechtliche Legitimation des Vorgehens und um die Militarisierung der deutschen Außenpolitik. So begann Rot-Grün nicht mit einem Aufbruch zu neuen Ufern, sondern mit einer Vertrauenskrise innerhalb der eigenen Anhängerschaft.

 

Zur gleichen Zeit, als die Auseinandersetzung um den Kosovo-Krieg die öffentliche Diskussion beherrschte, verlor die rot-grüne Regierung mit ihrem Finanzminister Lafontaine eine ihrer tragenden Säulen und die SPD mit Oskar einen Parteivorsitzenden, der nicht nur entscheidend zum Wahlsieg 1998 beigetragen, sondern den »Laden« auch sonst zusammengehalten hatte. Lafontaine trat zurück, maßlos enttäuscht über die, aus seiner Sicht, von Gerhard Schröder gebrochene Verabredung, die Geschicke der neuen Regierung gemeinsam – gleichberechtigt und auf Augenhöhe – zu führen. Entzündet hat sich diese Auseinandersetzung an der Steuer- und Abgabenpolitik der neuen Bundesregierung. Oskar Lafontaine kritisierte, dass die Senkung der Lohnnebenkosten vom Bundeskanzler und seinen engsten Beratern zum Fetisch erhoben wurde. Schröder beabsichtigte, mit der geplanten Steuerreform die oberen Einkommensgruppen überproportional zu entlasten; allerdings sollte der Eingangssteuersatz ebenfalls gesenkt werden. Lafontaines Rücktritt war einer Mischung aus persönlicher und politischer Frustration geschuldet; sein Abschied war ein schwerwiegender Verlust für die SPD und führte schließlich zum Entstehen einer neuen linken Partei im Westen. Ich persönlich verdanke Oskar Lafontaine viele wichtige Einblicke in den politischen Betrieb und habe ihn immer für seine Fähigkeiten, strategisch zu denken und zu handeln, bewundert. Mit seinem Rücktritt und dem, was folgte, hat er jedoch aus meiner Sicht der linken Politik und ihrer Mehrheitsfähigkeit in Deutschland massiven Schaden zugefügt – das halte ich für unverzeihlich. Auf der anderen Seite habe ich nie verstanden, warum die damalige SPD-Führung keinerlei ernsthafte Versuche gemacht hat, ihn für eine verantwortungsvolle Aufgabe zurückzugewinnen.

 

Das innenpolitische Markenzeichen der Regierung Schröder-Fischer schälte sich erst in der zweiten Amtszeit von Rot-Grün, lange nach Lafontaines Abgang, heraus: die Agenda 2010.

Bis heute ist selbst für Insider umstritten, welche Gesetze und Initiativen die Agenda 2010 im Einzelnen ausmachen, was ihr zuzurechnen ist und was nicht. Noch unklarer ist, was der eigentliche Grund für den Agenda-Prozess war: die drückende Haushaltsnotlage in Schröders zweiter Amtszeit und die daraus resultierende Absicht, die Sozialausgaben zu senken? Der Wunsch, nach einem eigenen großen innenpolitischen Reformprojekt? Welche Rolle spielte die neoliberale Ideologie, die sich in dieser Zeit auch in den Köpfen der führenden Sozialdemokraten festgesetzt hatte? War das Anliegen, Arbeitslosen künftig bessere Jobchancen zu verschaffen, der Auslöser, oder die ehrliche Sorge um ein zukunftsfähiges Sozialsystem? Je nachdem, wen man fragt, bekommt man bis heute unterschiedliche Antworten von den damaligen Akteuren.

Auf jeden Fall war die Überraschung groß, als Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung abgab. Nachdem er lange über außenpolitische Fragen gesprochen hatte, kam er zum Kern seines Ansinnens:

»Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen? Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen. Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein. Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird. Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen, denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte Zeit Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufnehmen, deutlich mehr als die bisherigen fünfzehn Prozent der Transfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für die Aufnahme von Arbeit sein. Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«

Damit war die Katze aus dem Sack, und die Hartz-Gesetze waren geboren. Ihre Genese war in der Tat eigenwillig, denn drei Faktoren kamen zusammen: erstens eine geradezu alarmistisch geführte Diskussion um die Haushaltslage, die vor allem vor dem Hintergrund der damals fetischhaft hochgehaltenen Maastricht-Kriterien zu verstehen war (Was würden wohl die Akteure von damals zur Neuverschuldung des Bundes in der gegenwärtigen Finanzkrise sagen?); zweitens der echte Wille der Regierung Schröder, die hohe Sockelarbeitslosigkeit zu reduzieren; und drittens ein gesellschaftliches Klima, das die tradierten Begriffe von Leistung und Gerechtigkeit neu definierte und einen großen Diskurs um »soziale Hängematten« in unserem Land auslöste.

Das alles schmolz in der Chiffre Hartz zusammen. Der VW-Personalvorstand Peter Hartz war schon im Februar 2002 von der Regierung Schröder beauftragt worden, mit Hilfe der Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik und zur Reform der Arbeitsvermittlung zu erarbeiten. Anlass dafür war unter anderem, dass Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit über ihre Vermittlungserfolge geschönt waren, wie nun bekannt wurde. Zudem war ihre bürokratische Arbeitsweise in die Kritik geraten. Die Hartz-Kommission legte im August 2002 einen Bericht mit detaillierten Empfehlungen vor, wie man binnen vier Jahren die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik halbieren könne.

Peter Hartz hatte auf diesem Feld Erfahrung. Der langjährige Arbeitsdirektor in der Stahlindustrie, der 1993 von Ferdinand Piëch zu Volkswagen geholt worden war, hatte in Wolfsburg nicht nur eine drohende Entlassungswelle abgewendet, von der 30 000 Mitarbeiter betroffen gewesen wären, sondern hatte sich auch jahrelang ehrenamtlich für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingesetzt. Die Blaupause für den Bericht seiner Kommission bildeten lokale Wolfsburger Erfahrungen. Es ist nämlich Tradition in Wolfsburg, dass das Unternehmen, weil das VW-Werk und die Stadt gleichzeitig gegründet worden waren, der Stadt zu jedem runden Jubiläum ein großes Geschenk macht – 2008 war es zum Beispiel eine internationale Schule. 1998 bestand das Geschenk in dem Versprechen, die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg zu halbieren. Dazu arbeitete die Unternehmensberatung McKinsey ein Konzept aus, das eine bessere Arbeitsvermittlung, aber auch die Gründung von Leiharbeitsfirmen am Standort Wolfsburg sowie die Förderung von Gründerinitiativen vorsah. Zu besichtigen ist dies alles heute noch in den modernen Gebäuden entlang der ICE-Trasse Berlin-Hannover, in denen die Wolfsburg AG ihren Sitz hat. Die Begrifflichkeiten aus dem Bericht der Hartz-Kommission haben schon bei der Gründung der Wolfsburg AG Pate gestanden: vom Job-Floater bis zur Ich-AG.

Kaum jemand weiß, dass das ursprüngliche Hartz-Konzept auf der Leistungsseite keine Kürzungen vorsah, auch wenn die heutige Praxis anders aussieht. Außerdem wurde zum ersten Mal die Tatsache anerkannt, dass die fehlenden Möglichkeiten zur Kinderbetreuung vielen Frauen eine Arbeitsaufnahme unmöglich machten; deshalb wollte Hartz die Klärung der Kinderbetreuungsfrage zu einem Aufgabenbereich der Arbeitsvermittlung machen. So klug dieser Gedanke war – umgesetzt wurden Vorschläge wie dieser kaum.

Im Gesetzgebungsprozess und vor allem im Vermittlungsausschuss, in dem die Union an Weihnachten 2004 in langen Nachtsitzungen mächtig am Konzept der rot-grünen Regierung herumschraubte, wurde aus dem Hartz-Konzept mehr als nur eine Modernisierung der Arbeitsvermittlung: Hartz IV war geboren. Ich möchte nicht missverstanden werden: Ich halte viele Teile der Hartz-Gesetze für richtig, sinnvoll und notwendig. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe tat Not, damit Arbeitslose nicht länger zwischen Bund und Kommunen hin und her geschoben werden können. Auch dem Prinzip eines stärkeren Forderns und Förderns am Arbeitsmarkt stimme ich zu – der Art und Weise, wie es umgesetzt wurde, hingegen nicht.

Mittlerweile ist deutlich geworden, wie stark die Hartz-Gesetzgebung vom neoliberalen Zeitgeist geprägt war und wie sehr manche ihrer Folgen dem Willen der Menschen in diesem Land widersprechen. Unter dem Dauerfeuer eines hippen, aber an sozialen Realitäten wenig interessierten Hauptstadtjournalismus und dem andauernden Druck aus Brüssel, Deutschland im globalen Wettbewerb besser zu positionieren, hatten auch die Sozialdemokraten zur Jahrtausendwende aufgehört, Arbeitnehmer als sehr wohl leistungsbefähigte und eigenverantwortliche, gleichwohl aber schutzwürdige Individuen zu betrachten. Dazu kamen die gezielten Kampagnen mächtiger Lobbyisten wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall bis heute mit vielen Millionen Euro alimentiert wird. Jeder galt fortan als seines eigenen Glückes Schmied, und nur noch die, die im Kampf um die Futtertröge der Gesellschaft auf der Strecke blieben, sollten rasche, aber möglichst kurz andauernde Hilfe bekommen.

Zu dieser Ideologie passte der Begriff des »Arbeitskraftunternehmers«. Er stammt von den beiden Soziologen G. Günter Voß und Hans J. Pongratz, die deutlich auf die Probleme dieser neuen Arbeitsformen hingewiesen haben. Der Begriff wurde dessen ungeachtet von den Machern der Arbeitsmarktreformen vereinnahmt. Dabei ist er ein Widerspruch in sich, denn ein Unternehmer ist dann Unternehmer, wenn er Kapital einsetzen kann – ob er dagegen seine Arbeitskraft einbringt oder nicht, ist für die Definition des Unternehmers unerheblich. Dazu passt auch der idiotische Begriff der Ich-AG und all die trendigen Anglizismen, die die SPD zum Entsetzen ihrer Stammwählerschaft in die sozialpolitische Diskussion hineingetragen hat. Im Klartext: Ich habe nichts gegen Existenzgründungen; wohl aber habe ich etwas gegen systematische Selbstausbeutung.

Wirklich um die Ohren gehauen wurden uns Sozialdemokraten aber nicht all die merkwürdigen Begriffe, die vor allem Wolfgang Clement populär machte, sondern ein Begriff, der geradezu zum Kainsmal der SPD geworden ist: Hartz IV. Warum?

 

Aus meiner Sicht ist der eigentliche Sündenfall von Hartz IV die Beschränkung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, also die Tatsache, dass alle Arbeitslosen nach einem Jahr auf das Hartz-IV-Niveau absinken, unabhängig davon, wie lange und wie viel sie in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben – diese Regelung hat zu einer nachhaltigen Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger geführt. Erst nach langem innerparteilichen Ringen in der SPD wurde 2008 die Bezugsdauer für über Fünfzigjährige altersabhängig verlängert. Das konnte aber nicht mehr verhindern, dass das elementare Gerechtigkeitsgefühl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verletzt und Hartz IV zum Symbol für soziale Kälte wurde; die SPD steht seitdem nicht mehr für gerechten Ausgleich.

Dazu ein Beispiel aus meinen Bekanntenkreis: Die Eltern einer Freundin sind jetzt knapp über sechzig. Es sind fleißige Leute, die beide früh angefangen haben zu arbeiten: er als Fernmeldetechniker, sie als Laborantin. Sie haben zwei Kinder großgezogen und sich – wie viele andere Menschen in Deutschland auch – einen gewissen Wohlstand erarbeitet. Sie wohnen in einer schönen Eigentumswohnung und besitzen eine zweite kleine Wohnung, die sie vermieten. Viel mehr aber haben sie nicht. Als der Vater der Freundin 53