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Revolution hat ein weibliches Gesicht: Shila Behjats lebendige Reportage zeigt, was die Welt vom Mut der Frauen lernen kann – ein Aufruf zum Feminismus der Stärke! Vom Iran bis Belarus, von Fridays for Future bis zu den großen Diskriminierungsdebatten – Revolutionen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse haben heute oft ein weibliches Gesicht. Ausgehend von den mutigen Frauen im Iran fragt die vielfach ausgezeichnete Journalistin Shila Behjat nach den Besonderheiten weiblichen Protests. Aus Gesprächen mit den Anführerinnen der Bewegungen entsteht eine lebendige Reportage, die zeigt: Auch unter widrigsten Umständen sind Frauen schon lange nicht mehr nur Opfer, sondern Protagonistinnen der Geschichte. Ist es längst angebrochen, das weibliche Zeitalter? „Frauen und Revolution“ ist ein engagiertes Plädoyer – für ein neues Frauenbild, einen Feminismus der Stärke und weibliche Solidarität, die keine Ländergrenzen kennt.
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Revolution hat ein weibliches Gesicht: Shila Behjats lebendige Reportage zeigt, was die Welt vom Mut der Frauen lernen kann ¬ ein Aufruf zum Feminismus der Stärke!Vom Iran bis Belarus, von Fridays for Future bis zu den großen Diskriminierungsdebatten — Revolutionen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse haben heute oft ein weibliches Gesicht. Ausgehend von den mutigen Frauen im Iran fragt die vielfach ausgezeichnete Journalistin Shila Behjat nach den Besonderheiten weiblichen Protests. Aus Gesprächen mit den Anführerinnen der Bewegungen entsteht eine lebendige Reportage, die zeigt: Auch unter widrigsten Umständen sind Frauen schon lange nicht mehr nur Opfer, sondern Protagonistinnen der Geschichte. Ist es längst angebrochen, das weibliche Zeitalter? »Frauen und Revolution« ist ein engagiertes Plädoyer — für ein neues Frauenbild, einen Feminismus der Stärke und weibliche Solidarität, die keine Ländergrenzen kennt.
Shila Behjat
Frauen und Revolution
Hanser
To walk where there is no path.
To breathe where there is no air.
To see where there is no light.
This is faith.
Ruhiyyih Khanum
Für die ersten Revolutionärinnen in unserem Leben, unsere Mütter
Diese Erzählung beginnt in Saqqez bei Jina, in Karadsch bei Sarina, in Minsk bei Olga, bei Lina in Khartum, bei Wiktoria in Warschau. Und gleichzeitig gehört sie allen, die jetzt, 2025, dieses Buch zur Hand nehmen.
Oft stehen die Namen von Jina und den anderen stellvertretend für das Unrecht, das Frauen angetan wird, durch die systematische Entrechtung im Iran oder im Sudan, durch Beschneidung von Freiheits- und Frauenrechten in Polen oder Belarus. Doch sie sind auch ein Zeugnis dafür, dass Frauen neu in die Geschichte hineingeschrieben werden müssen, und führen uns vor Augen, dass in den letzten Jahren ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde — von Frauen, deren Mut und Engagement ein ganzes Buch zu füllen imstande sind. In einer erstaunlichen, symbiotischen Gleichzeitigkeit haben sich die Protagonistinnen dieses Buchs, nicht selten unter Gefahr für ihr Leben, aufgeschwungen, um für Demokratie und Frauenrechte einzustehen. Als ihre Beobachterin und Chronistin möchte ich hier ihre Geschichten erzählen.
In einer Zeit, in der Autokratien auf dem Vormarsch sind, in der Demokratien unterwandert und ausgehöhlt werden, in der bereits Erstrittenes gerade für Frauen plötzlich wieder auf dem Spiel steht, treibt mich ihr unermüdlicher Einsatz jeden Tag aus dem Bett, um zu schreiben, morgens um vier entstehen diese Zeilen. Hass, Unmenschlichkeit, Aggressionen und Kriege reichen in diesen Jahren tief hinein in das Leben und den Alltag so vieler Menschen. An unzähligen Orten scheint die Welt zu brennen, brennt sie tatsächlich, denn neben Krieg und Terror ist nicht zu vergessen: Wir zerstören gerade auch unseren Planeten, und mit ihm unsere Lebensgrundlage.
Inmitten genau dieses Klimas sind binnen fünf Jahren an vier verschiedenen Orten dieser Erde Demokratiebewegungen auf den Plan getreten, an deren Spitze Frauen stehen — im Iran und in Belarus, in Polen und im Sudan. Und diese Frauen stellen sich nicht nur gegen Autokraten und Diktatoren, die, wie Anne Applebaum, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2024, in Die Achse der Autokraten schreibt, »in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Kritik aus dem Ausland (…) ohne jede Scham zu brutaler Gewalt« greifen.1 Die Bewegungen, die diese Frauen anführen, bieten darüber hinaus eine Vision an, wie die Welt stattdessen aussehen könnte. Ihrer Vision liegt die Erkenntnis zugrunde, dass auch die bestehenden Demokratien verwundbar sind, wie wir es in Deutschland oder den USA gerade erleben, und dass in einer sich rasant verändernden Welt universelle Werte wie Freiheit und Sicherheit, Rechte und Pflichten in einer solidarischen Gemeinschaft neu mit Leben gefüllt werden müssen.
Zu Recht wurde in den vergangenen Jahren mit der Vorstellung aufgeräumt, der Blueprint für die Demokratie läge im Westen, wo auch immer dieser ist, beginnt und endet. Die Idee der Demokratie ist eine universelle, eine, nach der mündige Bürger:innen weltweit streben. Dabei geht es in erster Linie um Teilhabe an Entscheidungen über ihr Leben und das ihrer Nachfahren, um Vertrauen auf Rechte und Pflichten, die für alle gleichermaßen gelten, um die Möglichkeit, das eigene Leben in Freiheit und Sicherheit zu gestalten, und ein gewisses Maß an festgeschriebener gesellschaftlicher Solidarität. Gleichzeitig wird deutlich, dass sie in demokratisch orientierten Staaten von heute nicht derart universell aufgesetzt wurde, im Gegenteil. Auch wenn die Demokratie mit dem Gedanken, es gehe um den Willen des Volkes, eingeführt wurde, so sind ihre Schöpfer doch ein sehr homogener Kreis von Menschen gewesen. Die überwiegend weißen Männer, die die Grundlagen der Demokratie geschaffen, sie in Gesetze und Strukturen gegossen haben, haben damit unweigerlich eine spezifische Version von Demokratie geprägt. Die Idee der Demokratie ist universell. Doch man kann wohl sagen, dass sie zu jedem Zeitpunkt praktisch mit Leben gefüllt werden muss. Und dass sie in einer Zeit, in der sich alles um sie herum gewandelt hat, auf diese Änderungen reagieren muss, damit ihre Vision sich nicht auf eine begrenzte Kohorte von Menschen verengt.
Wir befinden uns inmitten einer demokratischen Rezession und erleben, so scheint es, einen Siegeszug des autokratischen Modells. 2023 lebten, erstmals seit Mitte der 1990er-Jahre, wieder mehr Menschen in geschlossenen Autokratien (2,2 Milliarden) als in liberalen Demokratien (1 Milliarde).2 Doch dort, wo Demokratie in Bedrängnis gerät, finden sich immer wieder bemerkenswerte Formen der Verteidigung demokratischer und freiheitlicher Werte. Die Errungenschaften der Demokratie werden in diesen Tagen infrage gestellt, doch je mehr das geschieht, desto mehr Menschen führen sich vor Augen, was sie ihnen bedeutet. »Demokratie muss verteidigt werden«, diesen Satz habe ich in den 1980er- und 1990er-Jahren, zur Zeit jenes, man kann vielleicht sagen, männlich-weiß geprägten »Exportschlagers Demokratie«, nie gehört. Heute fällt er immer wieder. In Berlin versuchten Gegner:innen der Corona-Regeln zwar analog dem Sturm auf das Kapitol in den Deutschen Reichstag einzudringen. Doch zugleich demonstrierten Menschen millionenfach gegen die Angriffe auf die Demokratie und die »Remigrationspläne« der AfD.
An der Spitze dieser Bewegungen zur Verteidigung der Demokratie stehen heute vor allem Frauen. In den USA, in Brasilien und in Indien mobilisieren sie sich in prodemokratischen Protesten und zivilgesellschaftlichem Engagement. In Georgien stehen sie nach den allem Anschein nach unfreien Parlamentswahlen ganz vorn, stellen sich den Wasserwerfern entgegen, wringen ihre Haare aus und gehen wieder in Stellung. Die Präsidentin Salome Surabischwili stemmt sich mit Vehemenz gegen Wahlbetrug, gegen Russifizierung — und damit auch gegen den steten Abbau von Freiheitsrechten. Im Iran, in Belarus, in Polen und im Sudan, den vier Ländern, die hier im Zentrum stehen sollen, führen sie die Bewegungen an. »Dieses Muster ist auffällig, vor allem angesichts der Tatsache, dass Frauen in Wahlen und politischen Spitzenpositionen eigentlich noch immer unterrepräsentiert sind«, schreiben Saskia Brechenmacher, Erin Jones und Özge Zihnioğlu 2023 in einem Bericht für die Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden.3 Doch »der Großteil der politischen Analyse bezog sich bisher auf die Gründe und Symptome der demokratischen Erosion«, so die drei Autorinnen weiter. Das Phänomen, dass in vielen Fällen Frauen die treibende Gegenkraft sind, war bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung.
Es sind interessante Formen von Gleichzeitigkeit, die sich hier erkennen lassen. Frauen führen politische Bewegungen zum Schutz freiheitlicher Werte an und sind gleichzeitig in vielen Ländern der Welt nach wie vor politisch unterrepräsentiert oder gar unterdrückt. Und diese von Frauen geführten Bewegungen formieren sich gleichzeitig in verschiedenen, weit voneinander entfernten Ländern und Gesellschaften rund um den Globus. Nur wenn wir uns diese Simultanität vor Augen führen, ist es möglich, die Bedeutung der Ereignisse wirklich zu verstehen. Im Iran rufen die Frauen bei ihren Protesten »Frau, Leben, Freiheit«. In Belarus »Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit«. Im Sudan formen die Mitglieder der »Sudanese Feminist Sisterhood« die Finger zum Victory-Zeichen. Das Victory-Zeichen, das Herz und die zum Widerstand in die Luft gereckte Faust sind wiederum das Triptychon der Revolution in Belarus. »Nicht Opfer, Kriegerinnen. Das sind Frauen heute«, sagt die iranische Frauenrechtlerin Masih Alinejad. Olga Shparaga, eine belarussische Philosophin und Autorin, nennt es »Revolution mit weiblichem Gesicht«.
Wagt man sich an diese Bilder, diese Botschaften heran, dann ist der Resonanzraum unschwer zu erkennen, den es gibt, den es immer schon gab. Und dann besteht auch kein Zweifel daran, dass die Frauenbewegung in eine neue Phase eingetreten ist, in der sie untrennbar mit dem Kampf für die Demokratie verknüpft ist. Dass es diesen Frauen nicht nur um die Rechte von Frauen als unterdrückter »Minderheit« geht, sondern um die Verteidigung und Stärkung von Freiheitsrechten für alle. Dass ihr Widerstand eine neue Qualität bekommen und eine neue Dimension erreicht hat. Dass die fünfte Welle des Feminismus da ist.
Die Buzzfeed-Reporterin Tamerra Griffin hat die Kämpfe der Frauen im Sudan verfolgt und sie in einen größeren Kontext eingeordnet. Sie schreibt: »Auf der ganzen Welt erheben junge Frauen gerade ihre Stimme gegen Unterdrückung und fordern Veränderung. Von der globalen Klimakrise über Tote durch Schusswaffen in den USA bis hin zu Gewalt gegen Frauen in Südafrika, die Botschaft ist eindeutig: Frauen aus der Generation der Millennials und der Gen Z sind bereit zu kämpfen für die Zukunft, die sie verdienen.«4 Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Bisher gab es die Frauenbewegung auf der einen und die Demokratiebewegungen, bei denen einige Frauen dabei waren, auf der anderen Seite. Heute werden wir Zeug:innen der ersten von Frauen geführten Demokratiebewegungen, die sich all der Gleichzeitigkeiten bewusst sind, die ihre Kämpfe prägen.
Swetlana Tichanowskaja, eine der drei Frauen, die die Demokratiebewegung in Belarus anführten, sagte im Gespräch für dieses Buch: »Diese Bewegungen markieren eine neue Ära, in der Frauen nicht einfach nur Teilnehmende, sondern Anführerinnen im Kampf um die Demokratie sind. Frauen bringen eine besondere Perspektive in dieser Rolle mit, eine, die Empathie, Kollaboration und Gewaltlosigkeit in den Vordergrund stellt. Das ist entscheidend für diese Bewegungen, denn es geht ihnen nicht nur darum, Diktatoren zu stürzen, sondern danach inklusive Gesellschaften aufzubauen.« Der Spirit der Frauen, im Kampf um Frauenrechte gereift, zählt heute zu den stärksten Kräften gegen Unterdrückung und Gewaltherrschaft. Protestbewegungen gibt es so lange, wie es Formen gesellschaftlicher Ordnung gibt. Durch die signifikante Rolle, die Frauen nun erstmals spielen, erhalten sie eine neue, markante Form, die zeigt, wie die Realität aussehen kann, wenn Frauen in entscheidender Zahl zu politischen Akteurinnen werden. Wenn Frauen Revolution machen. Ich will von dieser neuen Zeit erzählen. Der Ära der Frauen für Demokratie.
Im Herbst 2022 schaut die Welt in den Iran, in die Hauptstadt Teheran, nach Sarandaj, nach Shiraz, nach Balutschistan, in alle 31 Provinzen des Landes. Was dort passiert, sucht seinesgleichen. Oder besser: ihres. Es sind Frauen, die dort Demonstrationen anführen, die vieles in den Schatten stellen, was das Land bisher erlebt hat. Ihre Unterdrückung ist der Anstoß für die größte, aussichtsreichste Protestbewegung im Iran seit 1979. Es sind Frauen und ihre entblößten Haare, die zum Symbol für Mut geworden sind, für Freiheit. Für die erste von Frauen angeführte demokratische Revolution im Iran.
Wie konnte es dazu kommen? Und was macht eine solche Revolution aus? Klar ist, der Slogan »Frau, Leben, Freiheit« (für den seit dem Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini mehr Männer als Frauen gestorben sind) endet nicht bei der Befreiung der Frauen vom Kopftuch. Es ist die Forderung nach etwas Neuem und eine einzigartige Entwicklung, die in ihrer spezifischen Ausprägung ihre Wurzeln im Mullah-Staat hat — und doch nicht unabhängig vom Rest der Welt entstanden ist.
In diesem Essay wird rasch deutlich werden, dass es sich bei der iranischen Revolution zwar um die bedeutsamste Bewegung ihrer Art der vergangenen Jahre handelt, sie jedoch keineswegs die einzige ist. Sie ist keine Ausnahmeerscheinung, kein Black Swan, kein unwahrscheinliches oder überraschendes Phänomen — zumindest dann nicht, wenn wir unseren Blick für die Rolle schärfen, die Frauen schon immer für gesellschaftliche Umbrüche gespielt haben und die sie gerade heute in besonderem Ausmaß innehaben. Der Mut der iranischen Frauen steht repräsentativ für die Zäsur, in der wir uns derzeit befinden. Für den Übergang in ein neues, ein weibliches Zeitalter.
Wenn wir uns die Straßen im Iran vor Augen führen, sehen wir eines in großer Klarheit: Frauen werden bis heute an vielen Orten der Welt unterdrückt, kleingehalten, systematisch entrechtet — aber sie sind nicht bloß Opfer, sie sind Kämpferinnen. Sie lassen sich ihre Handlungsmacht nicht nehmen. Und sie haben schon jetzt bewiesen, dass wir eine neue Sprache brauchen, wenn wir in globalen gesellschaftlichen Diskursen über Frauen sprechen. Sie sind nicht Opfer von Gewalt. Sie überleben Gewalt. Sie sind nicht überproportional von Armut »betroffen« wie von einer Naturgewalt, sie erkämpfen sich Zugänge zu Ressourcen und Netzwerken, obwohl es noch immer Widerstände gibt, die sie an der Teilhabe hindern. Frauen sind aktiv, nicht (mehr) nur reaktiv. Ich bin davon überzeugt, dass wir den ersten Schritt in ein weibliches Zeitalter bereits gemacht haben. Nun wird es darum gehen, abzustecken, wie die Welt ganz konkret aussehen und funktionieren kann, wenn diese neuen Freiheitsbewegungen demnächst erfolgreich gewesen sein werden.
Ein weibliches Zeitalter. Gegen eine solche Behauptung wird wohl eingewendet werden, dass die Realität vieler Frauen ein solches Statement noch immer Lügen straft. Dass es noch so viel Gewalt gibt. Dass männergemachte Kriege uns fest im Griff halten. Es stimmt, Frauen erzählen anders vom Krieg. »Der ›weibliche‹ Krieg hat seine eigenen Farben und Gerüche, seine eigenen Empfindungen und seinen Raum für Gefühle. Seine eigenen Orte«, schreibt Swetlana Alexijewitsch, die belarussische Literaturnobelpreisträgerin, in Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. »Darin kommen keine Helden und keine ihrer unglaublichen Taten vor, sondern einfach Menschen, die eine unmenschliche menschliche Arbeit tun. Und in diesen Geschichten leiden nicht nur sie (die Menschen), sondern auch die Erde, die Vögel und die Bäume. Die ganze irdische Welt. Leiden ohne Worte.« Deshalb suchte Alexijewitsch auch nach denen, die an der Frontlinie standen, sie sprach mit Pilotinnen und Soldatinnen. Die Geschichten der Frauen in diesen Kriegen bestanden »in Weinen und Klagen«, stellt Alexijewitsch fest.5 Es waren Frauen in den Kriegen der Männer.
Heute gibt es auch die Kämpfe der Frauen. Sind sind voller Kunst und Musik, weil auch diese unfrei sind in Diktaturen. Sie klingen wie der mit einem Grammy ausgezeichnete Song »Baraye« von Shervin Hajipour. Baraye heißt »für«, und Hajipour hat das Lied aus den Tweets junger Menschen im Iran zusammengestellt, als die Proteste für »Frau, Leben, Freiheit« Fahrt aufnahmen:
Für das Tanzen auf der Straße
Für den Moment der Angst beim Kuss
Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern
Für die Veränderung faulender Hirne
Für die Scham, für die Armut
Für die Sehnsucht nach normalem Leben …6
Nur ein Jahr vor der von Frauen geführten Freiheitsbewegung im Iran blickte die Welt auf Belarus und auf drei Frauen an der Spitze der Proteste gegen die dortige Autokratie. Im Sudan wurden Frauen zum Symbol des Widerstands gegen den islamischen Diktator al-Bashir. Das Verbot der Genitalverstümmelung wurde zum Zünglein an der Waage und zur Keimzelle einer viel größeren Bewegung, die verhindern wollte, dass der Sudan weiter in eine fundamentalistisch geführte Diktatur abrutschte. Hier gelang gar der Sturz — auch wenn genau jene federführenden Frauen danach im Stich gelassen wurden. In Polen mobilisierten Frauen ab 2023 eine breite Demonstrationswelle, ausgehend vom Widerstand gegen die verschärften Abtreibungsgesetze, dann ausgeweitet zu Protesten für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. 2024 waren es die Türkinnen, die bei den Regionalwahlen dem Autokraten Recep Tayyip Erdoğan die Stirn boten. Überproportional viele von ihnen wurden schließlich in politische Ämter gewählt.
Einigen dieser Frauen durfte ich begegnen. Ich versuche ihre Gedanken, ihren Mut, ihre Strategien und Motive zu verstehen, die Fasern in ihren Körpern auszumachen, die all das zu schaffen in der Lage sind. Ich versuche zu verstehen, was es bedeutet, eine Frau zu sein in einer Welt, die noch längst nicht die Gleichberechtigung und Sicherheit für sie bereithält, die wir uns wünschen. Und gleichzeitig in der Lage zu sein, über sich und andere hinauszuwachsen, Massen an Menschen zu bewegen und sich damit gegen genau diejenigen zu stellen, die nichts mehr fürchten als einen Zusammenschluss der Menschenfreund:innen. Autokraten, die Frauen so sehr zu fürchten scheinen wie die Freiheit selbst. Wenn man sich ansieht, wozu Frauen unbewaffnet, ohne offizielle Ämter und marginalisiert offenbar imstande sind, ist diese Angst wohl berechtigt.
Tatsiana Khomich ist die Schwester von Maria Kalesnikava, einer weiteren der drei belarussischen Oppositionsführerinnen. Als wir uns zum ersten Mal treffen, frage ich sie, was Maria als Kind ausgemacht habe, woher sie ihren Spirit wohl habe. Oft sucht man nach der einen Episode, dem entscheidenden Moment, der einen beeindruckenden Menschen zu dem macht, der er ist. Meistens ist diese Erzählung eine grobe Verkürzung.
Tatsiana Khomich sagt deshalb auch über ihre Schwester: »Sie ist eine Person, die, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, nicht davon ablässt.« Dann überlegt sie und fügt hinzu: »Sie ist resolut und gleichzeitig sozial intelligent, sie ist sehr, sehr empathisch und sieht in anderen deren Möglichkeiten. Diese Jahre im Gefängnis werden sie nicht brechen, sie nicht ändern.« Während diese Zeilen entstehen, ist Kalesnikawa noch Gefangene des Diktators Lukaschenko.
Als ich am 4. April 2024 mit einer Freundin aus der Türkei spreche, berichtet sie von einer Frauengruppe, die sich gerade erst in der Provinz Izmir gegründet hat. Sie wollen etwas tun. Sie schreibt mir: »Der Sturz Erdoğans wird durch die Frauen geschehen.« Nie zuvor hatten sich auch institutionell so viele Frauen zur Wahl gestellt, und nie zuvor wurden so viele in ein Amt gewählt. Die Politologin Özge Zihnioğlu schrieb wenige Tage nach diesen Regionalwahlen in der Türkei: »In den letzten Jahren ging der demokratische Rückschritt in der Türkei mit zunehmenden Angriffen auf die Rechte der Frauen einher, was zu neuen Formen des Aktivismus unter Frauen führte (…). Die größte Herausforderung für die Frauenrechtsbewegung besteht darin, sich auszuweiten, um eine breitere prodemokratische Agenda zu verfolgen und gleichzeitig den zunehmenden Druck des Staates zu bewältigen.«
Zu einer ähnlichen Bestandsaufnahme lässt es sich bei der Bewegung der iranischen Frauen kommen, bei der die Proteste ihre Initialzündung im Tod einer mehrfach marginalisierten jungen kurdischen Frau hatten. Es war ein kurdischer Leitspruch, der zum Slogan eines nationalen Schulterschlusses wurde: »Jin, Jiyan, Azadi«, hin und wieder abgewandelt zu »Zan, Zendegi, Azadi«, von den Demonstrierenden jedoch weltweit gleichermaßen gebraucht. Es ist ein Ausspruch, den einst Abdullah Öcalan prägte, der Mitbegründer der kurdischen PKK. Es waren jedoch die kurdischen Kämpferinnen in Syrien und im Irak, die ihn zum Leben erweckten: im Kampf gegen die Schergen des sogenannten Islamischen Staates. In Balutschistan, einer Provinz an der Grenze zu Pakistan, hört man ihn bis heute. Hier waren es die Balutschinnen, die Freitag für Freitag protestierten, und das, obwohl die Demonstrationen im Rest des Landes aufgrund der Einschüchterung durch Inhaftierungen und öffentliche Hinrichtungen immer weiter zurückgegangen waren. Balutschinnen bekommen im Iran noch nicht einmal Geburtsurkunden ausgehändigt. Aus der mehrfachen, intersektionalen Benachteiligung schöpfen sie einen umso größeren Willen zu Freiheit und Selbstbestimmung für alle Menschen, zu Accountability und Rechtsstaatlichkeit.
So ist es wohl eine Bestandsaufnahme, zu der inzwischen viele Frauen kommen, auch ich: dass es Gewalt und Unterdrückung, Strukturen der Benachteiligung gibt. Dass all das jedoch ein umso größerer Ansporn ist, dem etwas entgegenzusetzen. Weil wir wissen, dass die Unterdrückung jeder Grundlage entbehrt und wir inzwischen von Beweisen umgeben sind, dass eine gleichberechtigte Welt eine bessere Welt für alle ist. Mehr noch: weil wir sehen, dass eine Zukunft ohne gleichberechtigte Teilhabe der Frauen international keine wirkliche Option darstellt — weder politisch noch wirtschaftlich, weder ökologisch noch gesellschaftlich. Wie auch?
»In den letzten Jahren wurden global wie lokal die progressiven Positionen eher von Frauen vertreten, während Männer den größeren Anteil bei den konservativen und reaktionären Positionen einnahmen«, schreibt Meike Stoverock in ihrem Buch Female Choice. »Fridays For Future verbindet man mit Greta Thunberg und Luisa Neubauer, #MeToo begann mit den Berichten von Frauen, und der sogenannte intersektionale Feminismus setzt sich nicht für Frauen als einheitliche Gruppe ein, sondern auch für Minderheiten, die lange in Diskursen vernachlässigt wurden. Es sind dagegen mehrheitlich Männer, die Kohlekraft und Verbrennungsmotoren unterstützen, gegen Feminismus, Vegetarismus und die Aufnahme von Flüchtlingen sind.«7 Inzwischen sind viele Beobachtungen Stoverocks auch empirisch belegt. Eine Studie der Financial Times kam Anfang 2024 zu dem Schluss, dass unter den 18- bis 29-Jährigen junge Frauen linker werden, während sich junge Männer in eine konservative Richtung bewegen. Das zeigt sich in den USA, im Vereinigten Königreich, in Südkorea und auch in Deutschland. Männer, die die Welt verbrennen heißt das Buch des Journalisten Christian Stöcker, und in seinem Vorwort erklärt er, dieser Titel sei »keine Polemik, sondern eine nüchterne Tatsachenbeschreibung. Es gibt auf der Welt Männer, sogar ziemlich viele, die bereit sind, ihrem aktuellen Profit, ihrer persönlichen Macht die Zukunft der gesamten Menschheit unterzuordnen.«8 Und Frauen sind meist die Opfer dieses egoistischen Durchmarsches.
Dass Frauen Männer nicht mehr zum Überleben brauchen, dass es für einen anderen Lebensentwurf Vorbilder en masse gibt, kann als Lebenswirklichkeit im Geschlechtergefüge kaum überschätzt werden. Aus der wachsenden Unabhängigkeit über die vergangenen zwei bis drei Generationen hinweg wurde eine Stärke sichtbar, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, politischer und auch technologischer Entwicklungen immer mehr zum Tragen kommt. So kam die eben zitierte Financial Times-Studie etwa zu dem Ergebnis, dass Frauen besser in der Lage seien, einen Umgang mit den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, die wir gerade durchleben, zu finden — vielleicht auch gerade deshalb, weil sie im sich gerade verändernden Gefüge ohnehin oft ein »Fremdkörper« waren, weil das System nicht für sie gemacht war. Man denke an all die Daten, die die Autorin Caroline Criado-Perez in Unsichtbare Frauen zusammengetragen hat: Von der Medizin über die Sicherheit im Straßenverkehr bis hin zum Bürosessel ist diese Welt nicht für Frauen gemacht — weil nicht für sie und nicht von ihnen gedacht. Dass Frauen das neue System, das sich herauszuschälen beginnt, leichter und aktiver mitgestalten, geht für sie einher mit der Herausforderung, die eigene Rolle in der Öffentlichkeit neu zu definieren: nicht mehr in der Abhängigkeit von Männern, aber eben auch nicht mehr im Widerstand gegen sie. Vielmehr geht es darum, ein Selbstverständnis zu finden, das gar nicht mehr durch den Bezug auf Männer konzipiert ist, das allein aus sich selbst heraus Bestand hat.
Frauen kommen nicht nur durch dieses Wissen besser mit der sich rasant wandelnden Welt zurecht, sondern auch, weil die gesellschaftlichen Herausforderungen, die sie meistern mussten, sie auf die neuen Bedingungen besser vorbereitet haben, als es viele Männer gerade für sich erleben. Wir werden es zum Beispiel zunehmend mit einer Welt zu tun haben, die sich technologisch so schnell entwickelt, dass körperliche Arbeit, physische Stärke, die althergebrachte Domäne des Mannes, immer zweitrangiger werden. Das Informationszeitalter, die sogenannte Knowledge Economy, funktioniert nach anderen Regeln. Wir werden es außerdem mit einer Welt zu tun haben, in der die Sphären des Öffentlichen und Privaten mehr und mehr verschwimmen. Viele Frauen haben es sich über mindestens die letzten beiden Generationen hinweg antrainiert, fließend zwischen diesen beiden Lebensbereichen hin und her zu wechseln, aus dem Office zur Kita zu eilen, um dann auf dem Spielplatz mühelos den spontanen Call eines Mandanten entgegenzunehmen. Abgeordnete, die im Parlament stillen, sind keine Seltenheit mehr. Und auch Mütter nicht, die Revolutionen anführen und politische Gefangene werden.
Die iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh sitzt wegen ihrer politischen Arbeit derzeit im Gefängnis. Aus der Haft schrieb sie an ihren Sohn und formulierte die Zweifel, die sie bisweilen plagten — ob es richtig sei, was sie tue und wofür sie kämpfe, auch wenn es bedeutete, dass sie nicht wie eine »normale Mutter« für ihren Sohn da sein könne. Sie kommt zu dem Schluss: »Genauso wie du mich brauchst, brauchen mich die Kinder im Iran.« Sie benutzt das Wort »batachahe«, das im Persischen »Kinder« bedeutet, aber auch allgemein für »Menschen« stehen kann. Sotoudeh bedient sich der Doppeldeutigkeit des Wortes und führt uns auf diese Weise vor Augen, was man vielleicht als Charakteristikum speziell weiblichen Engagements bezeichnen kann — eine Verbindung von Persönlichem und Öffentlichem, von Privatem und Politischem. Sotoudehs politische Arbeit ist von ihrer Rolle als Frau und Mutter nicht zu trennen. Sie kämpft nicht (nur) mit den Bandagen der Männer, sondern aus einem eigenen, unabhängigen Selbstverständnis heraus.
Die US-amerikanische Autorin Glennon Doyle hatte zwar vermutlich nicht Frauen wie Nasrin Sotoudeh vor Augen, als sie ihr Buch schrieb, aber sie nennt dieses aus dem Eigenen schöpfende Selbstbild Untamed.9 Das gleichnamige Buch wurde zum internationalen Bestseller und Doyle zu einer der Prophetinnen weiblicher Wahlfreiheit. Die Entscheidung einer Frau, das Leben zu leben, das sie in ihrem Innersten für sich als stimmig empfindet, trifft heute auf einen bunten Resonanzkörper aus Millionen anderen, die sich ebenso dazu entschlossen haben, gerade damit beginnen oder schon weiter sind und die diese eigenen Zustände, Empfindungen und Erfahrungen in Milliarden Posts in den sozialen Medien zugänglich machen. At your fingertip, wie es so schön heißt. Frei verfügbare Anschlussfähigkeit. Eine globale Popkultur, bestehend aus vielen verschiedenen Nischen, die zugänglich sind und nicht mehr eindimensional funktionieren, sondern Austausch und Zusammenschluss ermöglichen. Als Audre Lordes Gedanken in den 1980er-Jahren erstmals auf Farsi erschienen, so berichtet mir die Übersetzerin Shadi Amin, schmuggelten die Student:innen die Bücher noch unter ihren Achseln durch die Universitäten und tauschten sie klammheimlich untereinander aus. Heute kann die nächste Generation Jugendlicher im Iran Audre-Lorde-Zitate auf Instagram teilen und findet darin dieselbe Resonanz, und zugleich eine viel größere Verortungsfähigkeit im eigenen Leben. Es verbindet sie unwillkürlich mit Tausenden, die diesen Beitrag auf Farsi ebenfalls liken, teilen, kommentieren.
Die Codes der Selbstermächtigung waren vermutlich immer dieselben, nur sind sie heute sichtbarer geworden, teilbar. Deshalb bewegt der Slogan der iranischen Freiheitsbewegung »Frau, Leben, Freiheit« Frauen auf der ganzen Welt. Der Dreiklang trifft es heute wie kaum ein anderer, ganz egal, in welchem Stadium der Emanzipation sich eine Frau befindet. Die westliche Frauenbewegung hat auf die Orte, an denen heute die engagiertesten feministischen Proteste stattfinden, lange herabgeschaut. Das ist so nicht mehr möglich, oder nur mit einem gehörigen Maß an Ignoranz aufrechtzuerhalten. Denn wenn der Hintergrund dieses Slogans bekannt wird, die Bilder der kurdischen Kämpferinnen mit ihren bunten Tüchern, dann ist es heute möglich und leicht, sich in dieser globalen Aufbruchsstimmung wiederzufinden. Die weltweite Identifikation mit »Frau, Leben, Freiheit« liegt so viel näher, als diese Frauen und ihren Kampf als ein regionales Phänomen abzutun. Und tief eingeschrieben in diese neue Phase der Bewegung ist das zunehmend aufkeimende Selbstverständnis, dass Gleichstellung nicht aus der Opferrolle, sondern aus der der Protagonistinnen heraus erstritten wird.
Ein weibliches Zeitalter. Warum fällt es uns so schwer, diese Vorstellung zuzulassen? Steckt dahinter vielleicht auch eine (zutiefst weiblich sozialisierte) Angst vor der eigenen Größe? Die Frauen, denen ich begegnet bin, haben jedenfalls keine Angst. Und: Sie haben keine Zeit zu verlieren.
Frauen machen Revolution. Frauen verteidigen die Demokratie. Und das an vorderster Front. »Being as fearless as one can be and making it as elegant as possible«: Diesen Spruch habe ich kürzlich gelesen und immer wieder an die Frauen gedacht, über die ich schreiben darf. Sie sind ein Lehrstück gegen die Angst. Sie bieten den größten Aggressoren der Gegenwart die Stirn, sie entwerfen neue Konzepte moderner, inklusiver sich verändernder Demokratien und tragen ihre Herzen dabei vor sich her und sprechen so nicht nur den Freiheitswillen vieler an, sondern berühren auch deren Herzen. Irgendwann während meiner Arbeit habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr nur von ihren Taten begeistert war, sondern mehr und mehr auch davon, wer sie sind. Deshalb werde ich in diesem Buch beschreiben, was sich ereignet hat: vier von Frauen geführte Demokratiebewegungen in nur fünf Jahren. Und ich möchte zeigen, wer die Protagonistinnen sind, wie ich ihnen begegnet bin — und welche Epoche sie mit ihrem Mut und ihrem Engagement eingeläutet haben. Frau versus Diktator. Ohne Frauen keine Demokratie. Die Arbeit geht also weiter.
1
Molly Strong veröffentlichte am 19. Januar 2021 folgende Worte von Amanda Gorman auf ihrem Blog:
Sehe mich als die Veränderung.
Sag, dass ich Bewegung bin
Dass ich das Jahr bin
Dass ich die Ära bin
der Frauen1
Drei Tage dauerte es, bis eine Nutzerin kommentierte: »Wir können es kaum abwarten, mehr von Amanda zu hören.« In diesen drei Tagen hatte die Welt Bekanntschaft mit einer jungen Dichterin gemacht, und wie. Einen Tag nach dem Post von Strong stand Amanda Gorman am Capitol Hill, gelber Mantel, ein rotes Haarband, und rezitierte The Hill We Climb anlässlich der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden.
Oft wurde darauf verwiesen, dass Gormans Spoken Word einen Aufruf zur Kooperation darstellte, nach Jahren der gesellschaftlichen Spaltung durch Donald Trump, durch Covid, durch den Schrecken des Sturms auf das Kapitol. Visionäre Zeilen, Worte, die sich auch auf der anderen Seite des Atlantiks warm und gut anfühlten, beruhigend. Endlich. Aber die Ära der Frauen — wird sie wirklich spürbar, wenn ein 79-jähriger Mann das Amt des US-Präsidenten antritt? Die Veränderung sahen zu diesem Zeitpunkt viele in Kamala Harris, der ersten Vizepräsidentin und inzwischen gegen Donald Trump gescheiterten Präsidentschaftskandidatin der USA. Auf Twitter postete Hillary Clinton noch am Tag von Bidens Vereidigung ein Bild von Gorman, Bill Clinton und sich: Gorman habe ihr angekündigt, 2036 ins Rennen um die US-Präsidentschaft zu gehen. »And I can’t wait.« Doch es wäre möglich, dass das Versprechen Gormans, die Ära der Frauen, sich früher einlösen könnte — und dann vielleicht nicht in den USA.
Im Jahr 2020 lähmte Covid die ganze Welt, so auch den Iran. Die Proteste, die bis Ende des vorangegangenen Jahres angehalten hatten, waren abgeklungen. Nein, sie waren brutal und blutig erstickt worden.
Am 15. November 2018 hatte die Regierung in Teheran eine Preiserhöhung verkündet, und das inmitten einer wirtschaftlichen Situation, die durch die internationalen Sanktionen ohnehin düster war. Hinzugekommen war eine drastische Wasserknappheit, eine Folge des anhaltenden Klimawandels. Und so hatten die Proteste ihren Lauf genommen. Bauern blockierten die Städte, Arbeiter streikten. »Kein Geld für Gaza oder Beirut« hieß es, und »Nieder mit dem Diktator«. Was damit gemeint war: keine Unterstützung der Verbündeten des islamischen Regimes mehr. Die Spannungen mit dem erklärten Erzfeind Israel wirkten dieses Mal nicht als Ablenkung von den großen inneren Problemen. Und immer wieder wiesen die internationalen Berichte über die Proteste auf eine offenbar herausragende Tatsache hin: Es waren ungewöhnlich viele Frauen beteiligt.
2019 erreichten die Demonstrationen einen ersten Höhepunkt. Die Antwort des theokratischen Regimes: gewaltsames Vorgehen gegen die Demonstrierenden, Inhaftierung, Folter. Diese Reaktion sollte sich in das kollektive Gedächtnis der jungen Generation einbrennen, derer, die nicht zur Elite des Landes, zu den »aghazadehs«, gehören, die sich gerne beim Essen goldbedeckter Filets zeigten und an Pools und in atemberaubenden Villen ein Leben größter Freizügigkeit zelebrieren konnten. »The Rich Kids of Teheran« heißt einer der Accounts, die zum Internetphänomen für jenen »anderen Iran« wurden, den sich viele in der Diaspora herbeisehnten und den auch der Westen bevorzugte, weil er die Appeasement-Politik der Zeit bestätigte und einfach gemütlicher war als die andauernden Menschenrechtsverletzungen. Es ist jener Iran, den auch das Regime selbst propagieren will, weil es dann in Ruhe gelassen wird, nicht zur Rechenschaft gezogen wird, weder für die Menschenrechtslage noch für die Atombombe, deren Bau die Regierung ohne Zweifel kontinuierlich weiterverfolgt. Von der Realität von drei Vierteln der jungen Generation, die in ihrem Land keine Zukunft sehen, weil sie unter der Armutsgrenze leben, sind diese Bilder denkbar weit entfernt. Und das unter einem Präsidenten Hassan Rohani, der im Westen, gefüttert durch die iranische Propaganda, als »Reformer« geführt wurde.
Doch auch unter dem vermeintlichen »Reformer« wütete das Regime, und auf die Proteste 2019 folgten politisch motivierte Hinrichtungen. Der Frauentrakt des berüchtigten Evin-Gefängnisses in der Nähe der Hauptstadt, bereits von massenhaften Covid-Ausbrüchen, Überfüllung und katastrophalen hygienischen Zuständen gezeichnet, wurde voller und voller. Umweltaktivistinnen, Frauenrechtlerinnen, Gewerkschafterinnen, Lehrerinnen — sie waren es, die das Gefängnis schier zum Bersten brachten. In den folgenden Jahren sollten sich die Zustände immer weiter verschärfen. 2024 sprechen die Insassinnen dieses Gefängnisses, das ob der hohen Zahl der inhaftierten Akademiker:innen sarkastisch als »Universität des Iran« bezeichnet wird, in einem Telefonat von einem »Taubenschlag«. Nur eben, dass viel mehr Menschen hinein- als herauskommen.
Die Kämpfe für mehr Freiheit, Demokratie und Frauenrechte, die wir gerade im Iran erleben, haben ihre Vorläufer in den 1970er-Jahren. Zu den Frauen, die damals aktiv beteiligt waren, zählt auch Shirin Ebadi, die erste Frau, die im Iran ein Richteramt bekleidete zu ebenjener Zeit. Bereits kurz nach der Einsetzung Ayatollah Khomeinis im Jahr 1979 verlor sie ihren Posten. In ihrer Autobiografie beschreibt sie den Morgen, an dem sie aus der neu gegründeten Tageszeitung Enghelabe Eslami (Islamische Revolution), erfuhr, dass sie fortan nicht mehr als Richterin arbeiten würde.2 »Die grauenvollen Gesetze, gegen die ich den Rest meines Lebens ankämpfen sollte, starrten vom Papier aus zurück«, schreibt sie. Für ihre Bemühungen um Demokratie und Menschenrechte wurde Ebadi 2003 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
1979 hatten sich viele Frauen für den Sturz des Schahs, der das Land aus Sicht der aufgebrachten Bevölkerung an den Westen verhökerte und sich daran bereicherte, mobilisiert — auch Ebadi — und waren dann in einer neuen Realität aufgewacht. Am 27. Februar 1963 hatte Reza Schah das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Nach 1979 wurden sie aus der Politik, aus der Öffentlichkeit wieder zurückgedrängt. Stattdessen hielten Gesetze über öffentliche Steinigungen von Frauen und das Recht der Männer auf Polygamie Einzug in den Rechtekanon. Das Mindestalter für eine Heirat wurde auf neun Jahre herabgesetzt und Frauen die Möglichkeit genommen, ohne Erlaubnis ihres Vaters oder Ehemanns eine Arbeitsstelle anzutreten oder einen Pass zu beantragen — um nur einige Beispiele zu nennen.
Manasoureh Shojaee, die aus der gleichen Generation stammt wie Ebadi und zu den führenden Vertreterinnen der iranischen Frauenrechtsbewegung zählt, fasst die Situation so zusammen: »Wir wurden 1979 fallen gelassen, von allen, an deren Seite wir gestanden haben. Die Frauen wurden im Stich gelassen.« Und sie schließt mit einem Nachsatz: »Und so ist es auch heute.« Shojaee äußerte dieses düstere Fazit in einer Rede, die sie 2023 in Berlin hielt, anlässlich einer Preisverleihung an die iranische Anwältin Nasrin Sotoudeh, die in ihrer Heimat in den 2000er-Jahren zahlreiche Dissident:innen verteidigt hatte und sich zu diesem Zeitpunkt wegen ihres Engagements in Hausarrest befand. Wie so oft fließen auch an diesem Morgen in Berlin die Tränen. Fünf Frauen im Publikum stehen auf und rufen »Jin, Jiyan, Azadi«.
Dass Frauen von den Revolutionen, an denen sie sich beteiligt hatten, verraten werden, das scheint wohl geradezu eine Regel zu sein. 1789 stürmten die Frauen mit den Männern die Bastille, doch in der darauffolgenden Aufklärung wurden sie herausdividiert aus der Gesellschaft, nicht als vollwertige Bürger definiert und nicht mit den gleichen Rechten ausgestattet. Es mutet wie ein ironischer Scherz der Geschichte an, dass es knapp zweihundert Jahre später gerade ein französischer Intellektueller war, der die iranischen Frauen und ihr Schicksal vollkommen außer Acht ließ, als er sich 1979 zum europäischen Chronisten der Islamischen Revolution aufschwang. Bis heute, so sagt es die Historikerin Janet Afary, hätten die Frauen im Iran Michel Foucault das nicht verziehen: »Foucaults problematische Behandlung des iranischen Islamismus stammte auch daher, dass er die Warnungen der iranischen und westlichen Feministinnen ignorierte.«3
1983 fand das Kopftuchgebot für Frauen Einzug in das iranische Strafgesetz: »Frauen, die sich ohne den religiösen Hijab in der Öffentlichkeit zeigen, werden mit 74 Peitschenhieben bestraft.« Trotz dieser Zementierung entwickelte sich unter iranischen Frauen ab Ende der 1980er-Jahre eine laxere Haltung zum Kopftuch. Bis in die frühen 2000er-Jahre hinein veränderte sich das Straßenbild — Kopftuch: ja, aber immer halbherziger. Dazu Jeans. Oder Camouflage-Hosen. Die Antwort des Regimes bestand in der Einführung der Sittenpolizei, die vor allem auf Frauen angesetzt wurde (wenngleich sie auch Männer drangsaliert, etwa, wenn sie kurze Hosen tragen). Nach den Jahren des klerikalen Präsidenten Mahmud Ahmadineschād war der »gemäßigte« Hassan Rohani Präsident der Islamischen Republik. Der Umgang mit Frauenrechten wurde auf beinahe zynische Weise pragmatisch. Nur ein Beispiel der vergangenen Jahre: Wurden mehr Ingenieure gebraucht, so wurden Frauen massenweise ins Studium der Ingenieurswissenschaften getrieben; wurden sie dort aber zu viele oder gar zu gut, beschwerte sich womöglich ein Mann darüber, so wurden sie vom Studiengang wieder ausgeschlossen. Doch immer seltener gingen die Frauen protestlos.
Obwohl die Frauenbewegung nach der Islamischen Revolution noch stark in politische Lager zersplittert war und um eine Haltung zur Religion einerseits und zur Monarchie andererseits rang, so begannen sich doch nach und nach neue Bündnisse zu formieren — eine Entwicklung, die im weiteren Verlauf die Grundlagen dafür schuf, dass ein breiterer Zusammenschluss möglich wurde. In den frühen 2000er-Jahren waren es die Mütter, die sich zusammentaten und gegen willkürliche Verhaftungen ihrer Söhne stemmten. Lehrerinnen protestierten. Die öffentlichen Steinigungen von Frauen mobilisierten im In- und Ausland Widerstand. Inzwischen waren Frauen zwar von 69 Studienfächern ausgeschlossen, insgesamt dennoch häufiger akademisch und besser ausgebildet als Männer. 2006 starteten Aktivistinnen eine Petition mit einer Million Unterschriften gegen die diskriminierenden Gesetze im Iran.
Betrachtet man die Entwicklungen rückblickend, scheint der revolutionäre Funke über die Jahre stetig heller geworden zu sein. Bis im Jahr 2017 das »Mädchen von der Revolutionsstraße« auf den Plan trat. Vida Movahed stieg am 27. Dezember 2017 auf einen Stromkasten, nahm ihr weißes Kopftuch ab und hob es in die Luft. Dieses Foto ging viral. So startete die Bewegung »Girls of Enghelab Street«. Überall im Land standen die Frauen auf den Stromkästen, die Kopftücher in die Luft reckend.
Und schließlich: Im November 2018 erklärte die Aktivistin Masih Alinejad, die eine Millionen-Followerschaft auf ihren Accounts vereint, aus dem US-amerikanischen Exil heraus, also ausgerechnet aus jenem Land, in dem Amanda Gorman die »Ära der Frauen« für angebrochen erklärt hatte: Die nächste Revolution im Iran wird eine von Frauen geführte sein. »Ich wurde damals für verrückt erklärt, weil von Kalifornien aus natürlich niemandem klar war, was sich im Iran gerade tat. Vier Jahre später war es offensichtlich«, sagt Alinejad heute.
Immer öfter und mehr, als es diesem Regime lieb war, mussten Frauen als politische Kraft ernst genommen werden. Vielleicht sogar mehr als in jedem anderen Land auf der Welt zu diesem Zeitpunkt. Und so verkündete die Regierung im Oktober 2020 eine »dramatische Gesetzesänderung«. Ab 2021 dürfen nun auch Frauen als Kandidatinnen für das Präsidenten-, nun wohl Präsident:innenamt, antreten.
Dieser Move, die Zulassung zur Wahl des höchsten säkularen Amtes, war taktischer Natur. Und freilich eine absolut theoretische Übung in einem Land, das Frauen nicht einmal erlaubt, eigenständig offizielle Dokumente zu erhalten, in einer Staatsform, die darauf aufbaut, Frauen zu minderwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erklären. Zur selben Zeit versucht Mina die Geburtsurkunde für ihre in Teheran geborene Tochter zu erhalten. Mina lebt seit 25 Jahren in Berlin und war für die Geburt zu ihrer Familie in den Iran zurückgekehrt. Doch auf der Behörde wird sie nicht einmal angehört. Ihr Onkel ist es, der einen Termin bekommt, um für die Nichte die Urkunde ausstellen zu lassen. Auf ihren Protest hin hatte der Beamte Mina entrüstet gefragt: »Glauben Sie wirklich, gute Dame, wir könnten Frauen mit so etwas betrauen?«
Es sollte anders kommen. Anders für die Frauen und anders für das Regime. Nur eineinhalb Jahre später stand die Frage, ob sie es stürzen könnten, ernsthaft im Raum. Sie, die Frauen. Es, das Regime. Zahlreiche Männer schlossen sich den Frauen an, weil sie ihnen genau das zutrauten. Der Aufstand, der seine Wurzeln in einer langen Geschichte und seinen Anlass in der Empörung über ein Stück Stoff hatte, war so groß geworden, dass er das Gefüge einer ganzen Region ins Wanken bringen konnte. 2022 wurde das Jahr der Frauen im Iran.