Söhne großziehen als Feministin - Shila Behjat - E-Book

Söhne großziehen als Feministin E-Book

Shila Behjat

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Beschreibung

Lässt sich Feminismus mit der Erziehung von Söhnen vereinen? „Ein wichtiges Buch, das wir jetzt brauchen. Weil es ein Türöffner ist.“ Mithu Sanyal

Ihren Feminismus hat Shila Behjat durch unzählige Erfahrungen erlernt und sie kämpft für eine Welt, in der Männer nicht länger das Maß aller Dinge sind. Nun ist sie Mutter zweier Söhne – die im Alltag so manches Rollenmuster ins Wanken bringen. Persönlich und ungemein berührend erzählt Behjat anhand ganz alltäglicher Situationen, wie das Leben mit zwei heranwachsenden Jungs ihre feministische Haltung verändert hat – und verortet ihre Erfahrungen und Gedanken in den Debatten unserer Zeit. Auf diese Weise stellt sie sich lange vernachlässigten Fragen der Gleichberechtigung, die nicht nur Eltern, sondern die Gesellschaft als Ganze angehen. Ein konstruktives, selbstkritisches und sehr bewegendes Debüt, das zeigt: Es ist Zeit für ein Streitgespräch – mit uns selbst!

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Das ist das Cover des Buches »Söhne großziehen als Feministin« von Shila Behjat

Über das Buch

Ihren Feminismus hat Shila Behjat durch unzählige Erfahrungen erlernt und sie kämpft für eine Welt, in der Männer nicht länger das Maß aller Dinge sind. Nun ist sie Mutter zweier Söhne — die im Alltag so manches Rollenmuster ins Wanken bringen. Persönlich und ungemein berührend erzählt Behjat anhand ganz alltäglicher Situationen, wie das Leben mit zwei heranwachsenden Jungs ihre feministische Haltung verändert hat — und verortet ihre Erfahrungen und Gedanken in den Debatten unserer Zeit. Auf diese Weise stellt sie sich lange vernachlässigten Fragen der Gleichberechtigung, die nicht nur Eltern, sondern die Gesellschaft als Ganze angehen. Ein konstruktives, selbstkritisches und sehr bewegendes Debüt, das zeigt: Es ist Zeit für ein Streitgespräch — mit uns selbst!

Shila Behjat

Söhne großziehen als Feministin

Ein Streitgespräch mit mir selbst

Hanser

You know who you are

Der Anfang

Wie fing es eigentlich an?

Womöglich so.

Plötzlich legen sich zwei straffe, glatte, weiche Arme um meinen Hals, ziehen mich an ein warmes, süßlich riechendes Gesicht, drücken mich, ganz fest, ganz fest, ganz fest. Ein Kuss auf meine Wange, feucht, klebrig, heiß. »Mama«, sagt eine Stimme. »Du bist die beste Mama der Welt.«

Dieses Mama, Ansprache und Funktion zugleich, ist eine Allerweltsbeschreibung. Und doch ein Stück meines innersten Ich. Es gibt in diesem Moment auf diesem Planeten viele, viele Mütter, um genau zu sein, zwei Milliarden, und trotzdem steckt Einzigartigkeit in dem Wort: Für diesen Menschen, dessen zuckrige Wange da an meiner reibt, bin nur ich ebendiese. Für ihn. Für meinen Sohn, denke ich ganz verwundert und wie zum ersten Mal.

Ich bin Feministin.

Und ich bin Mutter zweier Söhne.

Ich möchte diese Sätze aus einer Position der Stärke schreiben. Beide.

Mädchen können alles, was Jungs können. Frauen können alles ohne Männer. Mein Leben lang habe ich als Frau einen Kampf gegen Dominanz geführt. Und ebenso gegen die, die diese Dominanz verkörpern. Feminismus, wie ich ihn gelernt habe, stellt als End-Vision auch das Ende des Mannes in Aussicht, auf jeden Fall des weißen Mannes, wie er heute alles und jedes dominiert.

Und nun bin ich also Mutter zweier künftiger Männer. Die auch noch blond sind, mit heller Haut. Wie bin ich hierhergekommen? Und vor allem: Was mache ich jetzt?

Noch ein Kuss, die Arme bleiben fest um meinen Nacken geschlungen. Inzwischen sitzt er auf meinem Schoß, beinahe unbemerkt ist er hinaufgeklettert, jene natürliche Symbiose, die wir eingehen können, wenn unsere Körper Kontakt aufnehmen. Wie zum Beispiel für unsere legendäre Pyramide. Um sie in Gedanken aufzubauen, muss ich auch den anderen erwähnen. Den, dessen warmer Körper sich jetzt an meine Seite schmiegt. Gelassen und ruhig lehnt er sich an mich, sucht Nähe, aber nicht mit der Wucht seines Bruders, sondern in seiner ihm eigenen Sanftheit. Das ist mein zweiter Sohn. Er ist der Ältere. Und er sagt jetzt den gleichen Satz, auf seine vernünftige, gutmütige Art:

»Mama. Du bist die Beste. Alles Gute zum Geburtstag.«

Es ist irgendein Moment. Ein Geburtstag, mein Geburtstag, eine Geste meiner Kinder. Und es ist trotzdem kein beliebiger Moment, wenn ich darüber nachdenke, was es bedeutet, in dieser Welt Söhne zu haben.

Es geht in diesem Augenblick an einem Geburtstagsnachmittag irgendwann vor einigen Jahren schlicht nicht nur darum, wie mein Leben für sich genommen verlaufen ist, was es alles für mich geboten hat oder nicht, was für mich nicht funktionierte oder eben doch, wo mir Dinge gelungen sind oder ich versagt habe.

Es geht in diesem Moment um die Wegstrecke, die ich mit den beiden Menschen hinter mich gebracht habe, die mir mehr bedeuten als alles andere auf der Welt. Ja, das kann ich jetzt so schreiben, ich traue es mich, auch wenn ich Angst davor habe, wie pathetisch es klingt. Ich will keinen Mutterkult, erhebe keinen Erhabenheitsanspruch, ich bin nicht die Person, die meinen Kindern grundsätzlich am besten tut, ganz sicher nicht.

Aber: Fast zehn Jahre lang haben wir gemeinsam die Welt erlebt, haben uns in sie hineingestürzt, was bei der ersten ängstlichen S-Bahn-Fahrt mit Baby anfing und damit endete, dass ich den beiden einen Schubs gab und sie an einem Gurt in 500 Meter Höhe über einen See hinweg eine Zipline entlangrasten, mein Herz dabei in die Tiefe sackend. Wir sind zusammen auf einer Reise, ununterbrochen. Und das eben zum Teil in unserer Pyramide. Bei der ich Jonah, den Größeren der beiden, auf die Schultern nehme, oder besser: er vom nächstgelegenen Stromkasten auf diese klettert. Und dann kommt Bo, der Jüngere auf meinen Arm. So können wir gehen, und weitergehen. Und immer weiter. Oder sie sitzen mit jeder Menge Klimbim vor mir im Fahrrad, der Wind fährt uns dreien durch die Haare. Manchmal singen wir vor uns hin. Manchmal kann ich dann verstehen, wie sie die Welt sehen, diese Welt der Erwachsenen mit ihrer Hast, ihren Regeln, ihrer notorischen Ruppigkeit. Dann kann ich mich mit ihnen darüber wundern, was das alles hier überhaupt soll, mit ihnen, mit meinen — Söhnen.

Zweimal erlebte ich, wie die Frauenärztin beim Ultraschall »etwas sah«. Einen Jungen. Und ich, gleich mehrere gendersensible Stufen überspringend, dachte: Er darf bloß kein Arschloch werden. Darin steckte kein Schock und keine Trauer. Ich hatte nicht den Wunsch gehabt, eine Tochter zu bekommen. Über die Möglichkeit eines Sohnes jedoch hatte ich auch nicht nachgedacht, und diese Möglichkeit entpuppte sich nun: als eine Aufgabe.

Mit vielen Müttern von Söhnen habe ich für dieses Buch gesprochen, ihre Geschichten darf ich hier teilen. Immer wieder formulierten wir füreinander, wie sehr wir unsere Söhne neben allem Glück und aller Freude auch als eine Art von seltsamer Aufgabe sahen und sehen. Als die Aufgabe, zu verhindern, dass sie einer jener Männer werden.

Erst später, Monate nach den Momenten am Ultraschallgerät der Frauenärztin, entdeckte ich allmählich, wie haarscharf und ungerecht meine eigenen Genderlinien verliefen, unstrittig entlang des äußeren Merkmals eines Glieds … und wie sehr ich daran ebenjene Verurteilung knüpfte, deren Pauschalität wir Feministinnen doch immer entrüstet von uns weisen. Nur, weil ich eine Frau bin, heißt das noch lange nicht: Das. Dies. Und jenes. Aus dem künftigen Mann in meinem Bauch schloss ich schlicht das Fürchterlichste, so viel ich auch theoretisch über die Konstruiertheit von Geschlecht wusste.

Ein künftiger Mann im Bauch einer Feministin!

Die Gedanken entwickelten sich wie Snapshots: vor der Geburt, nach der Geburt, beim Wickeln, beim Stillen, den Sohn an meiner Brust: ein Mann. Ein Mann! Ein Mann, dessen Männlichkeit mir wortwörtlich in Händen lag. Der mir ausgeliefert war, den ich versorgte, dem ich noch viele Jahre lang helfen würde, über den ich nachdenken, mit dem ich mitfühlen würde. Ein Mann, den ich, ohne selbst viel darüber zu wissen, notgedrungen darauf vorbereiten würde, wie es sein würde, als Mann in dieser Welt zu leben. Oder eben gerade doch nicht als Mann? So scharf meine unreflektierte, spontane Geschlechtereinteilung zum Zeitpunkt des Ultraschalls eingestellt war, so akut beschlich mich nach und nach das Gefühl, dass nicht das Geschlecht der entscheidende Faktor im gemeinsamen Leben dieser Menschen mit mir sein würde. Sondern, ja, womöglich, was andere damit taten und daraus machten.

Und das wiederum kannte ich als eine um Gleichstellung Kämpfende ja eigentlich gut. Ich kannte das Lebensgefühl, ständig zu wünschen, zu wollen und zu hoffen, für die eigene Art geschätzt und gesehen zu werden — hat Humor, ist interessiert und zugewandt, mag den intelligenten Schlagabtausch, solche Dinge — und dann immer wieder festzustellen, dass andere mich zuallererst als das eine wahrnehmen: als eine Frau.

Von alldem erzählt mir mein Geburtstag mit diesem einen kleinen großen Moment der Liebesbekundungen meiner Söhne an mich als ihre Mama. Er erzählt mir davon sogar noch auf andere Weise. Denn der Tag damals nimmt noch einen völlig anderen Verlauf. Es gibt Kuchen, wir sitzen auf einer Dachterrasse, Freunde sind auch da, wir stoßen an, erzählen. Immer wieder schweift der Blick über die Stadt. Und der Zucker beginnt zu wirken. Die Freunde haben eine kleine Tochter, die am Sofa entlangdruckst, vermutlich malt sie etwas. Meine Jungs jedoch sind hochgejazzt, sie beginnen zu rennen, dann kommt bald schon die nächste Stufe: Rangeln, wobei sie sich wie Ringer an den Oberarmen greifen und hin- und herziehen. Das jedoch bekomme ich nur beiläufig mit, denke mit einer Spur wohliger Trägheit: Ach, lass sie doch heute mal. Doch dann plötzlich Streit. Ein wütender Ausruf. Und plötzlich schmerzerfülltes Weinen. Und eine sprudelnde, heftige Platzwunde an der Stirn.

Es ist der Ältere, der Sanfte, der, bei dem ich mich immer frage, ob ich ihn auf irgendeine geheimnisvolle Weise »zu lieb« erzogen habe — eine Frage, die für dieses Buch entscheidend ist —, wobei zugleich klar ist, dass ich mir die künftigen Männer empathisch und einfühlsam erhoffe, in der Lage, anderen Raum zu eröffnen, statt ihn voll einzunehmen. Zugleich fühle ich jedoch immerzu, dass die Welt, in die ich diese beiden künftigen Männer gesetzt habe, solches Verhalten keineswegs belohnt. Ganz im Gegenteil. Ein Junge ohne einen gewissen Killerinstinkt droht unterzugehen, denke ich manchmal, ertappe mich dabei, es zu denken. Ich kann kaum glauben, dass ich einen Satz über Jungen und Killerinstinkte auch nur schwarz auf weiß festhalte.

Aber nach zehn Jahren als Mutter von Söhnen und gleichzeitig als Frau, die sich als Feministin versteht und ihr Leben in vielen kleinen und großen Entscheidungen danach ausgerichtet, ihr Leben dafür eingesetzt hat, das auch in Tat und Wort zu sein, enthält er eben eine Einsicht, die mich schier zerreißt. Killerinstinkte. Ich wünsche meinem Kind Killerinstinkte, weil es ein Junge ist.

Und da steht der Ältere, Sanftere der beiden an meinem Geburtstag auf der Dachterrasse nach dem Rangeln also plötzlich vor mir, das schöne Gesicht mit den großen Augen, den großen Lippen und den großen Zähnen schmerzverzerrt. Das Blut fließt ihm von der Stirn auf sein T-Shirt. »Bo hat mich gepackt und geschubst!« Mitten auf die scharfe Tischkante. Und ebenjener Zweite ist immer noch am Ort des Unglücks, sein Gesicht trotzig, wütend. Das hat er verdient, sagt seine Miene.

Erst kann ich mich noch zusammenreißen. Der Notarzt kommt, die Wunde wird versorgt. Doch dann bricht es aus mir heraus. Ich bin auch wütend, und zwar ungeheuer wütend. Ich packe Bo am Arm. Ich schimpfe und schreie auf ihn hinunter. Ich, eine fast vierzigjährige Frau, schreie ihn, einen gerade einmal Siebenjährigen, an. Wie kann er nur, ob er denn spinnt. Ob er weiß, was er da Schreckliches getan hat, als er seinen Bruder schubste. Wie furchtbar gefährlich das war und wie gemein von ihm. Gemein, bösartig!

In diesem Moment tatsächlich selbst ohne jegliche Empathie und Erbarmen möchte ich nicht nur, dass mein siebenjähriger Sohn versteht, was er getan hat. Sondern ich rede mich derart in Rage, dass ich erst viel später begreife, als ich im Bett liege — die Wunde getapt, der Schreck überstanden, die Brüder versöhnt, meine Geburtstagstorte mit einer Verzögerung von drei Stunden zu Ende gegessen —, dass ich gegen eine Angst angeschrien habe. Dass ich, die ihrem Sohn, um als Mann zu überleben, unbedacht etwas so Absurdes wie Killerinstinkte wünscht, zugleich panische Angst habe, dass mein Sohn zum Aggressor geworden sein könnte, dass der Anfang seines Daseins als Aggressor genau hier und jetzt bei der Gewalt gegen seinen eigenen Bruder hätte liegen können.

Wie würde er dann erst später mit anderen Menschen umgehen, mit Frauen? Mit Schwächeren?

Danach fragt dieses Buch. Und es nimmt auch mich in den Blick, die panisch und wütend und hoffnungsvoll diese Fragen stellt.

Frauenkörper

Ich möchte meine Söhne beschützen. Und zwar unter anderem auch vor meinen eigenen Verallgemeinerungen: davor etwa, dass ich sie so sehr als Söhne, und damit als Männer, wahrnehme und nicht einfach als Kinder.

Und trotzdem stimmt ja etwas an meiner Emotion. Ich will meine Söhne auch davor beschützen, in ein System hineingeboren zu sein, in dem ich pauschal als Frau betrachtet werde und deshalb Angst haben muss, nachts allein durch die Straßen zu gehen. Angst nur, weil es Männer gibt. Aber gleichzeitig wünsche ich meinen Söhnen, dass sie bitte nicht pauschal verdächtigt werden, eine Gefahr zu sein, allein, weil sie Männer sind. Denn ich weiß ja, dass sie mehr und anders sind, wie wir alle das sind — aber was bedeutet das in einer Welt, die ja doch ganz allgemein und pauschal mit Gewalt und Geschlechterungerechtigkeit zu kämpfen hat?

Wieder und wieder ertappe ich mich dabei, wie ich glaube, in ihnen Zeichen und Anfänge zu sehen, die sie zur Gefahr, zu einem »dieser Männer« machen. Diese Männer, die ich mein Leben lang gefürchtet und bekämpft habe.

Meine Angst vor Männern, meine Kritik an ihnen — mein gesamtes, ich muss es so nennen: Feindbild — beginnt sozusagen an meinen Rändern, beginnt an dem an mir, was von außen sichtbar ist. Eine Frau, man sieht eine Frau. Bei allen Versuchen, die Genderlinie nicht hart zu ziehen, muss ich in dieser meiner Gestalt trotzdem einer Lebenswirklichkeit ins Gesicht sehen: Die Welt ist für mich gefährlich, weil ich eine Frau bin. Und sie ist für mich als Frau gefährlich, weil es Männer gibt. In jeder Faser des Körpers steckt das fest. Wann habe ich zum ersten Mal die Mahnung gehört, nachts nicht allein durch die Straßen zu gehen? Vermutlich, als ich das erste Mal nachts durch die Straßen gehen wollte. Die Kralle mit dem Schlüsselbund, die Straßenseite wechseln, einmal, zweimal, dann noch mal. Der Selbstverteidigungskurs in meiner Grundschule, der Grundschule, weil einem Mädchen auf dem Heimweg von einem Mann aufgelauert worden war. Jede Frau kennt die Erwartung, eines Tages Opfer von Gewalt zu werden, so sehr, dass diese einen Lebenszustand darstellt. Oder, wie es die Philosophin Ann Cahill beschreibt: »Obwohl ich selbst kein Opfer von Vergewaltigung bin, hat die Gefahr der Vergewaltigung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Struktur und Qualität meines Lebens.«1

Nachdem ihr Vergewaltiger vor Gericht freigesprochen worden war, notierte Rebecca Walker, auf die der Begriff der »Dritten Welle« des Feminismus zurückgeht: »Ich schreibe dies hier als einen Appell an alle Frauen, vor allem aber an die Frauen meiner Generation: Werdet wütend, wenn die Erfahrungen von Frauen nicht ernstgenommen werden. Verwandelt eure Wut in politische Macht. Wählt sie nicht, solange sie nicht für uns arbeiten. Schlaft nicht mit ihnen, brecht nicht das Brot mit ihnen, ernährt sie nicht, wenn sie nicht eure Freiheit unterstützen, selbst über eure Körper und eure Leben zu bestimmen. Ich bin keine postfeministische Feministin. Ich bin die Dritte Welle.«2

So lang schon, so global, so universell leben Frauen in diesem Zustand der Bedrohung, dass es längst von der Selbstidentifikation als Frau nicht weit ist zum Feindbild Mann. »Der moderne Anspruch an neue Männlichkeit ist gar kein so großer: Bitte bringt weniger Frauen um«, twitterte Sebastian Hotz alias El Hotzo im Frühjahr 2023. Und gleichzeitig weiß jede Frau und jede non-binäre Person natürlich im Innersten auch, dass es nicht zu diesem Äußersten für jede:n von uns kommen muss und seine potenzielle Gewaltsamkeit dennoch alles durchdringt. Angela Saini beschreibt in ihrem Buch Die Patriarchen, dass die Dominanz des Mannes ein Konstrukt ist, das aufrechtzuerhalten vieler einzelner — in meinen Worten — Mikro-Aggressionen bedarf.3 Zugleich erhält sich eben auch das Feindbild Mann aufrecht durch die vielen kleinen Bedrängungen, Erniedrigungen, die ständige Erinnerung an diese.

So viele meiner Erlebnisse als Frau fügen sich ein in diese Ungleichheit. Ich als Volontärin, die anders als die männlichen Kollegen erst einmal zum persönlichen Kaffee mit dem Vorgesetzten geladen wird. Ich als junge Redakteurin, die in der Gehaltsverhandlung gesagt bekommt: »Aber dein Freund verdient doch gut.« Ich später beim Fernsehen, als mir mitgeteilt wird, ich hätte zehn Jahre früher in den Bereich wechseln sollen: »Ab sechsunddreißig wird es schwer für eine Frau vor der Kamera.« Ich als Frau, die in Ruhe und Sicherheit durch die Straßen gehen und dabei nicht kleingemacht, exotisiert und sexualisiert werden möchte … die also schlichtweg immer wieder darum kämpfen muss, als Mensch wahrgenommen zu werden und nicht zuerst als Frau, und die wieder und wieder realisieren muss, dass das unmöglich ist. Mit den harten Worten von Rachel Cusk ist man als Frau eben wie kontaminiert, eine »verstrahlte Kreatur«: Wer davon ausgehe, eine Person und eine Frau zu sein, sei wie ein Mensch mit Alkoholsucht, der an die Idee maßvollen geselligen Trinkens glaube.4

Erschütternd klar antwortete der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit 2021 im Deutschlandfunk zur Neuauflage seiner berühmten Studie aus den späten Siebzigerjahren Männerphantasien auf die Frage, ob ihn wundere, dass diese noch immer aktuell sei: Nein. Das Problem seien nach wie vor die Männer. Vieles, was Gewalt befördere, sei noch in ihnen angelegt. Und zwar — und hierin liege ein Unterschied zur weiblichen Aggression — eine Art von Gewalt, die die Zerstörung des anderen zum Ziel hat. Vor allem aber müsse er schlicht feststellen: Die Männer, sie hätten sich so gut wie nicht verändert.

Generation Badass

Als Frau meiner Generation, ein gutes Dutzend Jahre jünger als die 1969 geborene Rebecca Walker, bewege ich mich zwar weiterhin im Zustand der Bedrohung durch männliche Gewalt, wähne mich jedoch keineswegs immer nur im Konflikt mit dem Patriarchat. Das Ausbeutungsverhältnis hat sich verändert und zumindest an der Oberfläche zivilisiert: Meine Generation besteht aus den ersten Mädchen, in die kollektiv massive Hoffnung abseits des Kinderkriegens gesetzt wurde. Wir sind’s, die Powerfrauen. Badass Bi***es!!!!

Die Journalistin Ada Calhoun beschreibt das so: »Bei allem Respekt vor denen, die älter oder jünger sind als wir, aber wenn es um den ›Having it all‹-Virus geht, war die Generation X von einer besonders hartnäckigen Variante befallen.« Zum Beispiel, so Calhoun weiter in ihrem Buch über ihre Generation Why We Can’t Sleep mit diesem einfachen Satz, der uns Töchtern dieser Zeit immer wieder begegnete: »Wenn man sagte, man wolle Krankenschwester werden, war die beinahe automatische Antwort: ›Warum nicht Ärztin?‹« Jede Frau meiner Generation, so kam es mir irgendwann vor, wird und muss etwas ganz Großartiges leisten. Das war Emanzipation, war Feminismus. Jede von uns wurde so zur Manifestation der neuen Ära, des Endes der Beherrschung, und nicht nur das, denn: Wir selbst sollten nun zu den neuen Siegerinnen und Herrscherinnen werden und waren umgeben von lauter entsprechenden Erfolgsstorys, vom Triumph der Frauen in der Welt der Männer und damit letztlich auch: gegen sie. Wir schlugen sie in ihrem eigenen System.

Also sprang ich immer höher, lernte länger, schrieb mehr, versuchte, schlauer und besser vorbereitet zu sein als alle anderen in der Hoffnung … auf was? Ich jagte die Berge hoch, bis mir erst die Luft wegblieb und ich mich eigentlich übergeben musste, es aber nicht tat, weil es ja darum ging, durchzuhalten, nicht aufzugeben, keine Schwäche zu zeigen vor allem vor dem, den ich da hinter mir gelassen hatte, jedem anderen Läufer. In meinem Leben war es etwa mein eigener Lebenspartner, den ich mit aller Gewalt (vor allem gegen mich selbst) hinter mir zu lassen versuchte. Warum? Wir wollten doch eigentlich nur joggen gehen. Wir waren im Urlaub. Aber ständig ging es in meinem Kopf um dieses Prinzip, dass ein Mann mir als Frau meiner Generation nicht und niemals den Rang ablaufen dürfe — Nietzsches fundamentale Niederlage des weiblichen Geschlechts steckte mir so tief in den Knochen, und die Aufforderung meiner Generation, diese Niederlage endlich aufzuheben, war so groß, dass jedem Moment eine zentnerschwere Symbolik anhaftete. Immer und immer wieder ging es um uns herum um »die Erste, die«, und weiter ging der Satz stets damit, dass diese Jenige einen Mann in irgendetwas abgelöst hatte. Es ist das Zeitalter der Frauen. Wie könnte eine Joggingrunde da keine Bedeutung haben?

Dieses Abgerichtetsein auf die eigene Powerfrauenhaftigkeit beinhaltet jedoch eine perfide Facette, die sich einzugestehen vermutlich Erleichterung bringen würde, bis dahin jedoch selbstzerstörerisch in uns wütet. Die Männer, die wir so sehr bekämpfen und besiegen wollen, sie sollen uns eigentlich bewundern, uns auswählen. Das ist der Deal mit den Gatekeepern, wie sie bis heute überall sitzen und bis heute eben vor allem männlich, weiß und größtenteils heterosexuell sind. Sie müssen uns auswählen, damit wir überhaupt in Höchstform performen können. Sie sind es, die uns erst die Tür zur Manege öffnen. Hinter jeder erfolgreichen Frau steckt ein Mann, der ihr den Erfolg erst ermöglichte. Das ist auch Unterdrückung.

Wieder und wieder begegnete ich diesen männlichen Gatekeepern, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen die Förderung von Frauen auf die Fahnen geschrieben hatten. Von meinen Lehrern über Professoren an der Universität bis zu Tutoren und Chefs, ja selbst noch im sozialen Engagement befähigten mich beständig Männer, auf Podien zu sitzen, Förderungen zu bekommen, Leitungsfunktionen zu übernehmen, und all das auch da, wo bis vor Kurzem an meiner Stelle immer Männer gesessen waren. Ich erreichte vieles, machte viel gerne mit und wollte es ja auch, war ich doch von der Powerfrau-Idee meiner Generation befallen, die mich tatsächlich glauben ließ, dass das, was beim Leben herauskommt, allein damit zu tun hat, was man hineingibt, eine Frage der richtigen Leistung also.

Ein exotisches Mädchen

Dabei hängt am Ende alles nur von einem ab: dem Goodwill nicht lediglich des Mannes, sondern des weißen Mannes.

Als Tochter eines Iraners und einer deutschen sich selbst als solche bezeichnenden Feministin in den Achtzigerjahren in der Bundesrepublik aufgewachsen, und noch dazu als Teil einer wenig bekannten, schwer verfolgten, diskriminierten Minderheit — einer Minderheit in der Minderheit sozusagen —, war es bisweilen der Grundton meiner Existenz, herausragende Leistung zu zeigen. Weil das den Überlebensmodus für uns alle darstellte. Auf der einen Seite meine Mutter, die als Mädchen alles für sich hatte erkämpfen müssen, vom Recht darauf, Abitur zu machen (durfte sie nicht, holte sie nach, als sie bereits Mutter war), bis hin zu eigenen Hobbys (hatte sie nicht, sie sollte babysitten, während ihre Brüder Fußball spielen gingen). Eine weibliche Biografie im beschaulichen Allgäu, deren Schmerzpunkte einen Spiegel in der deutschen Frauenbewegung fanden, der sich meine Mutter darum vehement verpflichtete. Auf der anderen Seite die beständige Haltung des Ja-und-Amens, in die mein Vater geglitten war, seit er mit sechzehn Jahren nach Deutschland gekommen war. Sich einzufügen bedeutete für ihn, sich unterzuordnen, was er fortwährend tat, um durchzukommen. Ja, ihr habt natürlich recht. Ja, ich bin es, der komisch ist, nicht ihr. Ich werde mich bessern. Ich werde nicht mehr auffallen. Ich werde mir Mühe geben, nicht laut zu lachen, aber trotzdem immer höflich Danke, Bitte und Guten Tag sagen. Ich werde es zulassen, dass mein Nachname jedes einzelne Mal falsch ausgesprochen wird, der ist aber auch schwer. Amen.

Mein Vater sah in meinen Schwestern und mir das, was er in Deutschland erreichen wollte: Wir sollten funktionieren und glänzen, auf das Angenehmste perfekt sein. Meine Mutter wiederum sah in uns das Happy End ihres erbitterten Kampfes um Anerkennung und Gleichbehandlung als Tochter, Schwester, Frau, als deutsche Feministin. Meine Schwestern und ich machten Abitur, wir studierten und waren erfolgreich im Mannschaftssport. Wir waren unser ganz eigenes Girl-Power-Movement, multipliziert mit der Generation der »Vorzeigemigranten«, versetzt mit einer Prise Distinktion als »bessere, weil gebildete Ausländer«. Was dieser Cocktail von Anforderungen an uns ergab? Zumindest in meinem Fall eine Person, die durch und durch zersetzt war von einer kaum zu vereinenden Kombination aus Anspruchsdenken einerseits und Unterlegenheitsgefühl andererseits. Die immer wieder mit einzelnen Höchstleistungen versuchte, die Welt von sich zu überzeugen, und jede Zurückweisung als Ausdruck der Unzulänglichkeit ihrer gesamten Person las. Was dazu führte, die »Anderen« noch mehr als Gegner zu verstehen, die sich ihrer ach so großen Bestimmung in den Weg stellten, sie verhindern wollten, einfach nicht ermöglichten. Ich schreibe kopfschüttelnd über diese Person, obwohl ich sie doch selbst nach wie vor bin, die in dieser traurigen Kampflogik durch ihr Leben pflügt.

Als mich nach einem Schulwechsel der Direktor tatsächlich fragte, ob ich angesichts meines Zeugnisses »nicht einfach« von der neunten direkt in die elfte Klasse springen wolle, trug nichts mich stärker durch die darauffolgenden unbarmherzigen Zeiten des Lernens und Schindens als der Stolz meiner Eltern. Endlich hatten wir das auch in der Familie, eine, die einfach eine Klasse überspringen konnte, und das auf Aufforderung des Schulrektors hin! In einer befreundeten Familie war einem Sohn Ähnliches gelungen, nun konnte mein Vater dort von mir erzählen. Und weil doch alle gesagt hatten, ich würde alles »mit Leichtigkeit« schaffen, quälte ich mich, heillos überfordert, bis es dann knallte und ich in der mündlichen Prüfung für das Abitur einen Blackout hatte. Und wieder, als ich den Führerschein machte. Und dann noch mal, beim Staatsexamen. All dies im Namen der Frauenpower.

Wie viele Kindeskinder all dieser »Vorzeigemigrant:innen« machte und macht mich das unendlich wütend. Und deshalb muss ich jetzt von meinem Fahrrad erzählen. Ich kann mich noch an die Pedale erinnern, in die ich mit voller Wucht trat. An die warme Luft, die mir über das Gesicht blies, ein Gesicht, das heiß war vor Wut und Aufgewühltsein und dem Schlag, den es abbekommen hatte. Ich spüre noch die Schichten meiner Gefühle: Scham, aber darunter auch Stolz, den ich jedoch mit niemandem teilen konnte, und deshalb auch ein wenig Ärger.

Ich hatte mich nämlich mit einem Jungen gekloppt. Gehauen. Geprügelt. Dieser Junge, ich will ihn hier Robert Werner nennen, hatte mich gehänselt, seit ich in die Schulklasse gekommen war: »Shila schielt.« — »Behjat — BH.« Alles an ihm schien mir groß. Seine Hände, seine Schuhe, sein Mund. Ja, er war fast so groß wie unsere Klassenlehrerin Frau Richards, was die Sache oft noch schlimmer machte, wenn sie versuchte, ihn zu ermahnen, und ihn dafür nach vorn ans Lehrerpult bestellte und er sich dann vor ihr aufbaute. Beliebt war er nicht, nur eben gefürchtet. Einmal fragte er einen Jungen, ob dieser fliegen könne, und zerrte ihn dabei so sehr an den leicht abstehenden Ohren, dass diese für den Rest des Tages rot blieben. Meiner kleinen Schwester drohte er auf dem Nachhauseweg: »Ich steck dir ein Messer in den Po.« Sie war in Panik, wenn sie auch nur ahnte, dass er in der Nähe sein könnte.

Als Robert Werner an jenem Morgen wieder einmal »Shiiiiiiila« gerufen und dabei eine schielende Fratze vorgeführt hatte, hatte ich ihm geantwortet. Durch meine zusammengebissenen Zähne hindurch: »Halt den Mund, sonst …« Doch er lachte nur. Kannst du doch gar nicht, bist doch nur ein Mädchen. Da tat ich etwas, das ich rückblickend als putzig und doch auch cool empfinde.

Ich verabredete mich zum Prügeln.

Denn erst einmal stand Mathe an. So saß ich zunächst artig über die Einmaleinsreihen von Frau Richards gebeugt im Klassenzimmer, rechnete und grübelte, ließ mich jedoch keineswegs zum Umdenken bewegen. Ich blieb bei meinem Entschluss, dem ein für alle Mal hier und jetzt ein Ende setzen zu wollen, zu müssen. Wie? Das war mir überhaupt nicht klar. Und trotzdem fand ich mich gleich darauf auf einem leicht abschüssigen Rasenteil des Schulhofs wieder, den gegnerischen Oberarm im Griff, kneifend und krallend. In meinem Greifen steckte meine ganze Wut über die Tyrannei dieses einen Jungen über unsere Schulklasse, über unsere Leben. Darüber, dass er einfach tun konnte, was er wollte, und wir wehrlos waren, über die Angst meiner kleinen Schwester, darüber, dass er sich immer wieder herausnahm, grausam zu sein, und damit jedes einzelne Mal davonkam.