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Freediver Timo Niessner zeigt in seinem Buch erprobte Atemtechniken und praktische Atemübungen, um endlich wieder richtig durchzuatmen, einen klaren Kopf zu bekommen, die eigene innere Kraft zu entfalten und so mit voller Power Beruf und Alltag zu meistern – auch in stürmischer See. Mit seinem Wissen gelingt es, selbst in stressigen Momenten, gelassen zu bleiben, neue Routinen zu etablieren und motiviert an den eigenen Zielen zu arbeiten. Die Atmung ist für ihn DAS Werkzeug, um seine körperliche und mentale Gesundheit zu stärken.
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Seitenzahl: 212
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Timo Niessner
Originalausgabe
1. Auflage 2024
Verlag Komplett-Media GmbH
2024, München
www.komplett-media.de
E-Book ISBN: 978-3-8312-7157-3
Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Korrektorat: Elisa Garrett, Bayreuth
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Layout & Illustrationen: Heike Kmiotek, www.heike-kmiotek.de
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Bookwire, Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH, Frankfurt am Main
Aufgrund der besseren Lesbarkeit habe ich mich in diesem Buch gegen das Gendersternchen entschieden. Dafür verwende ich abwechselnd und ausgewogen sowohl das generische Maskulinum als auch das Femininum, um anzuzeigen, wie wichtig mir ein diverses Bild unserer Gesellschaft ist. Alle weiteren Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint.
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
FÜR LIAM UND INES,
die mir täglich zeigen,wie kostbar jeder Momentdieses Lebens ist.
MEIN ANTRIEB:
Das Abenteuer unter Wasser und der Weg zu mir
EINATMEN
MUT GEWINNEN:
Mal die Luft anhalten, den richtigen Fokus setzen und neue Ziele erkennen
MEINE STORY: Es muss sich etwas ändern
Steigere deine Aufmerksamkeit – die Gamma-Atmung
AUFBRUCH:
Akzeptieren und Loslassen
MEINE STORY: Das Meer ist mein Spiegel
Körperlich und mental entspannen – die Schäfchenwolken-Technik
DOWNSIZING:
Sich bereit machen und dafür das Leben entrümpeln
MEINE STORY: Vom Innen ins Außen und zurück
Löse dich aus toxischen Beziehungen – »Mein Hotel«
Spüre deine Emotionen – Belly Release
CHECK:
Anspannungen lösen und sich mit der Umgebung verbinden
MEINE STORY: Viele Reisen und neue Erfahrungen
Mache einen Reset – der Body Scan+
WASSERKONTAKT:
Den Kopf abschalten und sich tragen lassen
MEINE STORY: Ein neues Kapitel beginnt
Atme leicht, langsam und leise – die 3L-Atmung und Stretchingübungen
BUDDY:
Unterstützung anfordern und Kontrolle abgeben
MEINE STORY: Mein neues Ich
Befreie dich – Emotional Release
ATEMPAUSE
EINSTIEG SCHAFFEN:
Den Körper schlafen legen und einen völlig klaren Kopf bekommen
TAUCHGANG: Mein Shutdown-Ritual
Die Umwelt ausblenden – das Breath-up
ABTAUCHEN:
Verletzlichkeit akzeptieren und Stärke erlangen
TAUCHGANG: Mein inneres Programm
Den Atemraum vergrößern – Stretchingübungen
DRUCKAUSGLEICH:
Mit dem Druck wachsen und Vertrauen gewinnen
TAUCHGANG: Ich kann das!
Umarme deine Ängste – Equalize easy
STILLSTAND:
Die Grenze betreten und dem Flow folgen
TAUCHGANG: Ist eine Umkehr möglich?
Mentale Manifestation – Silent Touch
FREEFALL:
Volle Entspannung bei zunehmendem Druck genießen
TAUCHGANG: Unter Druck entstehen Diamanten
Druck umwandeln: Prüfungsangst adé
TOUCHDOWN:
Den Grund berühren und höchsten Druck umwandeln
TAUCHGANG: Blick in den hellen Tunnel
Kopf abschalten – Full Yogic Breath
TURN:
Den Moment feiern und wieder nach oben gelangen
TAUCHGANG: Zurück, aber wohin?
Deinen Körper intensiv spüren – Electric Motion
ATEMREIZ:
Ruhe am Limit bewahren
TAUCHGANG: Und jetzt stirbst du …
Hilfreiche Strategien für Extremsituationen – Empty Lung Breathhold
STILLES LICHT:
Auffangen und Abfangen
TAUCHGANG: Rückkehr nach oben
Vertrauen gewinnen – Recovery Breath
AUSATMEN
RESET:
Im neuen Ich ankommen
MEINE STORY: Veränderungen annehmen
Innere Ruhe etablieren – Humming, die Bienenatmung
REFLEXION:
Lachen, weinen, schreien
MEINE STORY: Verantwortung übernehmen
Sich ganzheitlich betrachten – holotropes Atmen
RÜCKKEHR:
Den eigenen Weg wertschätzen
MEINE STORY: Hier gehöre ich hin
Sich in Wärme baden – Tummo 2.0
Equilibrium: Was hat sich verändert?
Danksagung
Quellen
Das Abenteuer unter Wasser und der Weg zu mir
Meine Augen öffnen sich, nicht weil ich es will, sondern weil es der Moment ist, dem ich mit offenen Augen begegnen soll. Was ich sehe, ist Schmerz, Einsamkeit, Trauer, Hilflosigkeit, Verletzlichkeit. Was ich fühle, ist ein mich aufnehmendes unendliches Blau, weiche Wellen über mir, tanzende Sonnenstrahlen verschmelzen, Lichtblitze, die mein Herz vor Leichtigkeit überschäumen lassen. Die Gewissheit, angekommen zu sein. Diesen Kampf mit der eigenen Sicht, dem Verstand erklären zu wollen, was die Augen nicht sehen können. Diesen Kampf kenne ich nicht nur unter Wasser. Aber muss es ein Kampf sein? Kann ich nicht auch meine Sicht ändern, meinen Glauben hinterfragen, mehr zu mir finden, ganz ohne einen innerlichen Kampf?
Lass mich dich auf eine Reise mitnehmen. Eine Reise voller Grenzen, deren solide Mauern nicht in Höhe oder Dicke gemessen werden können. Denn diese Grenzen stecken in uns. Mal sehen wir sie, mal schauen wir weg, mal wollen wir erst gar nicht nach ihnen suchen, aber sie existieren, und das wissen wir.
Wir besitzen alles Nötige, um uns diesen Grenzen zu stellen, sie zu meistern und aufzulösen. Als Erstes brauchen wir den Willen, etwas verändern zu wollen. Dabei sprechen wir jedoch nicht gleich von tiefen Einschnitten in unser Leben. Sieh es eher als eine Reise. Ganz gleich ob Wochenendtrip, Jahresurlaub oder mit dem Rucksack einmal um die Welt. Auch dort wird es neue Situationen geben, auf die du dich einstellen darfst. Das Tempo dabei gibst du vor, und es soll sich immer richtig für dich anfühlen.
Ich werde dich auf deiner Reise begleiten, mit dir Atemtechniken und persönliche Erfahrungen teilen, abtauchen in das Blau der Weltmeere und eintauchen in eine ganz besondere Welt der Atmung. Du bekommst Übungen an die Hand, die du sofort umsetzen kannst und die deinen persönlichen Veränderungsprozess unterstützen können.
Mein Element ist das Wasser, jedoch ist das Meer auch mein Spiegel, der mich den ungeschminkten Wahrheiten meines Lebens ins Auge blicken lässt.
Die daraus entstehenden Momente des inneren Tumults, die mir zeigen, dass mein erwünschtes Leben eher gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, die mich immer weiter dazu bringen, mich von mir zu entfernen, anstatt mich bei mir ankommen zu lassen. Ich kenne sie nur zu gut, vor ihnen hatte ich Angst, noch bevor ich wusste, dass auch sie tief in mir existieren. Was ich daraus lernte? Es ist immer Luft nach oben, auch dann, wenn ich glaube, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, nicht mehr atmen zu können.
»Freiatmen« ist kein Buch, in dem eine Atemtechnik nach der anderen erklärt wird. Vielmehr soll es dir verständlich machen, wie Atemtechniken auf verschiedene Lebenssituationen anwendbar sind, und es soll einen detaillierten Einblick in die Möglichkeiten und Wirkungsweisen der Atmung geben. Mein Ziel ist es, dir direkt etwas an die Hand zu geben. Geschichten, mit denen du dich vielleicht identifizieren kannst; Atemtechniken, die du ausprobieren und Übungen, mit denen du direkt loslegen magst.
Für mich sind die eigenen Erfahrungen mit der Atmung eine emotionale, faszinierende Reise ins Unterbewusstsein. Auch mentale Prozesse sind direkt mit den Atemtechniken verwoben und spielen eine entscheidende Rolle für deren Wirksamkeit. Stell dir vor, du begehst deine ganz eigene Atemreise, in der du dir erlaubst, dich selbst zu öffnen, um neue Erfahrungen zu machen.
Es gibt zu jeder Atemtechnik Atemübungen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die an deinen eigenen Trainingsstand angepasst werden können. In den ersten Kapiteln erkläre ich dir die funktionellen Grundlagen der Atmung, die sich bis zum Ende des Buchs in komplexe Atemübungen nahtlos einfügen. Auch wenn bereits alles Nötige in dir steckt, um die meisten Übungen anwenden zu können, benötigt es oft ein längeres Training, um die Atemtechniken wirklich zu meistern. Nimm dir genug Zeit für die Umsetzung der Inhalte dieses Buches.
Damit du ein Gefühl davon bekommst, welcher Weg mich an den Punkt gebracht hat, an dem ich heute stehe, nehme ich dich im ersten großen Kapitel »Einatmen« mit an meinen Geburtsort und in meine Zeit als Jugendlicher bis hin ins Studium. Die dort beschriebenen Ereignisse sind chronologisch aufgebaut, um zu verstehen, woher mein Antrieb kommt. Auch das letzte große Kapitel »Ausatmen« endet mit chronologischen Ereignissen, die zu meinem aktuellen Punkt auf diesem Weg geführt haben.
Der Hauptteil des Buchs »Atempause« wird durch einen erlebten Apnoetauchgang, an dem sich unterschiedliche Schlüsselerlebnisse meines Lebens als persönliche Geschichten orientieren, bestimmt. Sie bauen nicht chronologisch aufeinander auf, werden aber im Verlauf meiner Vita zugeordnet. All meine erlebten Schlüsselmomente unterstützen mich heute dabei, gelassen durch den Sturm zu gehen, bei mir zu sein oder den Aufgaben des Lebens als zu meisternde Herausforderungen zu begegnen.
Damit du die Geschichten dem zeitlichen Verlauf und den Schauplätzen meines Lebens zuordnen kannst, findest du anbei meine Vita in Stichpunkten:
1984
geboren in Sindelfingen
1986–2004
aufgewachsen und Schule in Böblingen
2004–2005
Entdecken des Gerätetauchens in Australien und Mittelamerika
2005–2012
Studium der Sportökonomie auf Diplom an der Universität Bayreuth.
Erasmus in Gran Canaria (Spanien)
Mehrere Auslandsaufenthalte, Praktika, Tauchjobs und Weiterbildungen weltweit, in den Semesterferien und darüber hinaus.
2012–2013
Als Gerätetauchlehrer in mehreren Ländern aktiv. Erste Apnoetaucherfahrung und Ausbildungen.
2013–2015
Freiberuflicher Teamleiter für Automobil-Events
2014
Ausbildung zum Systematischen Business Coach (SHB), Angst-Coach und Apnoelehrer. Gründung meines ersten Unternehmens FREEDIVE YOUR LIFE.
2014–2020
Weltweite Tätigkeiten als Atem-Coach, Apnoelehrer und Business-Coach. Zahlreiche Weiterbildungen und Selbsterfahrungen zur Atmung und dem Apnoetauchen.
2020–heute
Entwicklung der Breathwork Coach / Atemtrainer Ausbildung RESTORATIVE BREATHING®. Umzug nach Teneriffa und Graz. Familiengründung.
Die Stretchings bedürfen einer langsamen Herangehensweise und du solltest dich vor jeder Übung aufwärmen. Gehe nur Schritt für Schritt in die Dehnungen hinein, auch wenn die Dehnung primär über die Ein- oder Ausatmung stattfindet.
Bitte verzichte vor den Atemübungen auf ein üppiges Mahl und wahrnehmungsverändernde Substanzen wie Koffein, Nikotin, Alkohol, THC o. Ä. Diese können die Effekte der Atemübungen verfälschen, verstärken oder hemmen.
Alle Übungen, die in Verbindung mit Wasser stehen, sollten nur zusammen mit einem erfahrenen und qualifizierten Apnoelehrer ausprobiert oder angewandt werden. Bitte
niemals
Luftanhalte-Übungen allein im Wasser oder mit einer nicht qualifizierten Person probieren, trainieren oder durchführen.
Während ich dieses Buch schrieb, verunglückte während eines Tauchgangs einer meiner Lehrer. Er kannte seinen Körper wie kaum ein anderer, brach viele Rekorde und respektierte seine Grenzen. An diesem einen Tag passierte jedoch etwas, auf das er nicht vorbereitet war, und es kostete ihn viel zu früh sein Leben. Für mich war es ein erneuter Reminder, nicht leichtfertig mit meinen eigenen Grenzen umzugehen, auch das möchte ich dir mit auf den Weg geben. Gib dir daher bitte die Zeit, alle erwähnten Techniken und Übungen auszuprobieren und dich Schritt für Schritt heranzutasten.
Die im Buch als optimal beschriebene Sitzposition ist ein gerader Rücken mit dem Kopf in der Verlängerung der Wirbelsäule und den Knien unterhalb der Hüfte. Nutze hierfür gern eine Matte, Blöcke, Kissen, eine Meditationsbank, die Stuhlkante oder die Kante deiner Couch. Das Wichtigste dabei ist, dass es für dich gemütlich ist und du in dieser Position für mehrere Minuten entspannt verweilen kannst.
Ganz gleich, wann du bei den Übungen aussteigst, es ist völlig okay, es nicht bis zum Schluss durchzuhalten oder auch nur einen Teil des Trainings abzuschließen. Die Übungen sollen Spaß machen, auch wenn es vielleicht eine Weile dauern wird, bis du der einen oder anderen Übung mit einem Lächeln begegnest.
Wenn einer der unten genannten Punkte bei dir zutrifft, bitte ich dich, die hochaktivierenden Atemübungen Full Yogic Breath (→ Seite 141) und Electric Motion (→ Seite 150), nicht außerhalb deiner Komfortzone durchzuführen. Möchtest du eine dieser Übungen trotzdem machen, klär dies bitte davor mit deinem Arzt oder Therapeuten ab.
Schwangerschaft ab dem 3. Monat
Einnahme von Psychopharmaka
Besuch einer Traumatherapie
Offene unausgeheilte Wunden
Kürzliche Hirn- oder Torso-Operationen
Probleme mit dem Herz-Kreislauf-System
Andauernde psychotherapeutische Behandlung
Herzschwäche
Epilepsie oder Multipe Sklerose
Unser Leben beginnt mit einer ersten Einatmung und endet mit einer letzten Ausatmung. Dazwischen liegen im Durchschnitt 551 880 000 Atemzüge. Obwohl die Atmung ein autonomer Prozess unseres Körpers ist, können wir zwischen Geburt und Tod unsere Atmung aktiv beeinflussen.
Hierbei unterliegt die Beeinflussung unserer Atmung einem Zusammenspiel aus drei Komponenten: dem mentalen Zustand, der körperlichen Verfassung und dem erlernten Atemrhythmus. Ändert sich also unser mentaler oder körperlicher Zustand, passt sich die Atmung direkt daran an.1
Die Besonderheit besteht darin, dass wir willentlich unsere Atmung verändern können und damit direkt auf unser vegetatives Nervensystem und seine Prozesse einwirken.2
»Die schönste
HARMONIE
entsteht durchZusammenbringen derGegensätze.«
– HERAKLIT –
Mal die Luft anhalten, den richtigen Fokus setzen und neue Ziele erkennen
Die Atemübungen in den folgenden Kapiteln spielen mit den bewusst beeinflussbaren Teilen des vegetativen Nervensystems: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Damit du diese Zusammenhänge von Anfang an verstehst, erläutere ich dir hier ihre Wirkungsweisen.
Der Sympathikus und der Parasympathikus sind zwei Teile des vegetativen Nervensystems, die eine wichtige Rolle bei der Regulation verschiedener Körperfunktionen spielen. Sie wirken oft gegensätzlich zueinander und bilden eine fein abgestimmte Balance, um den Körper auf verschiedene Situationen vorzubereiten und aktiv zu reagieren. Diese beiden Systeme arbeiten in einer dynamischen Wechselwirkung, um einen inneren Gleichgewichtszustand des Körpers aufrechtzuerhalten.
Der Sympathikus wird oft als »Fight and Flight Response« bezeichnet. Er ist aktiviert, wenn der Körper mit stressigen oder bedrohlichen Situationen konfrontiert wird. Der Sympathikus bereitet den Körper auf eine schnelle und energetisch intensive Reaktion vor, um entweder gegen eine Bedrohung zu kämpfen, oder vor ihr zu fliehen. Die Aktivierung des Sympathikus führt zu einer Erhöhung der Herzfrequenz, einer Erweiterung der Atemwege und einer Freisetzung von Stresshormonen wie Adrenalin.
Der Parasympathikus hingegen wird oft als »Rest and Digest Response« bezeichnet. Er ist aktiviert, wenn der Körper sich in einer entspannten Umgebung befindet und keine unmittelbare Bedrohung besteht. Er fördert die Erholung, die Verdauung, die Speicherung von Energie und initiiert restaurative Prozesse. Er senkt die Herzfrequenz und erhöht die Aktivität des Verdauungstrakts.
Die Interaktion zwischen Sympathikus und Parasympathikus ist entscheidend, um sicherzustellen, dass der Körper angemessen auf verschiedene Situationen reagiert und ein stabiles inneres Gleichgewicht aufrechterhält. Die Aktivierung des einen Systems führt dabei zur Hemmung des anderen Systems und umgekehrt. Diese Balance ermöglicht es dem Körper, seine Ressourcen je nach Bedarf zu aktivieren oder zu erhalten.
Wenn du plötzlich einer gefährlichen Situation in unserem Alltag, beispielsweise einer Prüfung, gegenüberstehst (Stressmoment), wird der Sympathikus aktiviert, um deine Herzfrequenz zu erhöhen, deine Atmung zu beschleunigen und Energie für den Kampf oder die Flucht bereitzustellen. Sobald die Bedrohung vorbei ist, wird im Idealfall der Parasympathikus aktiviert, um den Körper in einen entspannten Zustand zurückzuführen, die Herzfrequenz zu senken und die Verdauung wieder aufzunehmen.
Leider reagiert unser Nervensystem in unserer westlichen Gesellschaft eben auch auf nicht lebensbedrohliche Situationen mit einer hohen sympathischen Aktivität. Dies kann dazu führen, dass wir durch eine zu schnelle Atmung uns zwar wach fühlen, aber Teile unseres Gehirns mit Blut unterversorgt werden. Dies ist einer evolutionsbedingten Umverteilung des Bluts geschuldet, die uns primär schützen sollte. Konkret können folgende Gehirnareale während akuten Stresses weniger durchblutet sein:
Der präfrontale Cortex ist für komplexe kognitive Funktionen wie Urteilsvermögen, Entscheidungsfindung, Impulskontrolle und Problemlösung verantwortlich. Eine abnehmende Durchblutung kann dazu führen, dass rationale und reflektierende Denkprozesse beeinträchtigt werden. Zeitgleich kann der Hippocampus weniger durchblutet werden. Dieser ist wichtig für die Gedächtnisbildung und Lernprozesse. Kurzfristig können dadurch das Gedächtnis und die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung beeinträchtigt werden.
Dazu kommt die Amygdala, der Mandelkernkomplex. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung von Emotionen, insbesondere bei der Angstreaktion. Während akuten Stresses kann die Durchblutung der Amygdala erhöht sein, was zu einer verstärkten Reaktion auf bedrohliche Reize führen kann.
Im Alltag können das Klingeln des Handys, Nachrichten, Social Media, Werbeanzeigen, Stimmen in der Bahn oder genereller Lärm eine konstante erhöhte sympathische Aktivierung zur Folge haben. Diesen Zustand sollten wir langfristig vermeiden oder ausgleichen, da er sehr viel Energie kostet und zu einer Überreizung bis hin zu verschiedenen Krankheitsbildern führen kann.
Meist sind wir im Alltag unserer westlichen Gesellschaft zu hoch aktiviert. Dazu gehören Situationen, die unser Gehirn als »lebensbedrohlich« einstufen kann, wie das Öffnen unseres E-Mail-Programms. Diese Reaktion kann unsere Atmung langfristig so verändern, dass sie sich auf einen anhaltenden Alarmzustand einpegelt. Um diesen Zustand auszugleichen und vorzubeugen, schauen wir uns nun die funktionelle Grundlage unserer Atmung an. Hierbei spielen wir lediglich mit zwei Variablen unserer Atmung:
1. Die Geschwindigkeit
Diese bezieht sich darauf, wie schnell wir ein- und ausatmen und wie lange die Atempause nach der Ein- und/oder Ausatmung ist. Im Folgenden nennen wir sie die Atemfrequenz. Diese kannst du in Sekunden (Zeit) oder Schritte (Gefühl) unterteilen. Schritte sind dabei Teil-Atmungen, um deine Lunge zu füllen oder zu leeren.
2. Die Tiefe
Wie tief wir ein- und ausatmen, hängt eng mit den Bereichen zusammen, die wir durch unsere Atmung aktiv anspielen können. Im Folgenden nennen wir sie die Atemtiefe.
Die Einatmung ist ein primär aktiver Prozess, bei dem die Atemmuskulatur aktiviert wird und über ein Vakuum Luft in die Lunge hineinzieht. Während dieses Vorgangs findet eine Aktivierung unseres Körpers statt. Die Ausatmung ist ein primär passiver Prozess, bei dem sich die Atemmuskulatur entspannt, wobei die Luft aus unserer Lunge fließt und über Mund und/oder Nase unseren Körper verlässt.
Um natürlich und tief einatmen zu können, benötigst du das Gefühl für den Raum, den du mit einer Einatmung einnehmen kannst. Damit du besser nachvollziehen kannst, was ich meine, machen wir erst mal einen Test.
Zähle von 3 runter bis 0 und atme zeitgleich ganz aus. Atme anschließend nur durch die Brust so tief ein wie möglich, ein kleines bisschen geht noch, ja, sehr gut, und jetzt die Luft anhalten. Atme nun zusätzlich tief in deinen Bauch ein und fülle auch diesen Bereich, so gut es geht.
Fühlt sich das komisch an? Wie gern würde ich jetzt das Fragezeichen auf deiner Stirn sehen, denn das geht gar nicht. Sobald wir in die Brust eingeatmet haben, verlieren wir den Zugriff auf das Volumen in unserem Bauchraum.
Spüre mal rein, wie sich dieser Atemzug angefühlt hat, und lass die Luft aus dir herausfallen. Realisierst du jetzt, wie wichtig es ist, primär dein Zwerchfell über die Bauchatmung zu nutzen? Nicht? Dann mach gleich den zweiten Teil des Tests.
Zähle von 3 runter bis 0 und atme zeitgleich ganz aus. Atme anschließend durch deinen Bauch ein, fülle ihn, so gut es geht, und atme dann weiter ein. Lass jetzt auch die Luft in deinen Brustkorb wandern und fülle ihn, bis du wirklich voll bist.
Spür mal rein, wie sich dieser Atemzug angefühlt hat, vergleiche ihn mit dem ersten Versuch, der nur durch die Brust ging, und lass die Luft wieder aus dir herausfallen. Wie hat sich diese Einatmung angefühlt? Voller? Mehr Raum?
Wie du merkst, kannst du durch die bewusste Nutzung der zwei erwähnten Bereiche, Bauch und Brust, viel mehr Luft einatmen. Komm, lass uns noch mehr Raum schaffen. Du wirst überrascht sein, wie viel Luft du zukünftig ein- und ausatmen kannst.
Lust auf einen Gascocktail? Also einen gesunden, sogar sehr gesunden Gascocktail? Es gibt da nämlich ein Gas, das in unserem Körper produziert wird und einen wichtigen Beitrag als Atemgas leistet: das Stickstoffmonoxid.
Ich nenne das Zusammenspiel von Sauerstoff, Kohlendioxid und Stickstoffmonoxid gern das magische Dreieck der Atemgase, denn wir können willentlich mit diesen drei Gasen spielen, sie mit unserer Atmung bewusst beeinflussen.
Stickstoffmonoxid wurde bereits 1992 von der Fachzeitschrift »Science« aufgrund seiner Wichtigkeit für im Körper ablaufende Prozesse zum »Molekül des Jahres« gekürt. Der in unserem Körper produzierte Stickstoffmonoxid-Nebel reguliert unter anderem den Gefäßdurchmesser, den Blutdruck und die Blutgerinnung. Produziert wird das Gas von der innersten Wandschicht der Blutgefäße, dem Endothel.3 Relevant für die Sauerstoffaufnahme wird Stickstoffmonoxid direkt bei deiner Einatmung, jedoch nur dann, wenn du durch die Nase atmest. Hierbei wird bis zu 100-mal4 mehr Stickstoffmonoxid vom Naseneingang bis zu den Nasennebenhöhlen produziert als in den danach folgenden Luftwegen bis zur Lunge. Dieser Stickstoffmonoxidnebel wandert nach der Einatmung über die Nase bis in die Alveolen (Lungenbläschen), öffnet die Gefäße und verbessert damit die Aufnahme von Sauerstoff.5 Zusätzlich ist Stickstoffmonoxid ein Schlüssel bei der Produktion von Surfactant, das die Oberflächenspannung in den Alveolen reguliert sowie Ödeme und einen Lungenkollaps verhindert.
Surfactant (Surface active agent) wird von den Lungenzellen produziert. Die Substanz verringert die Oberflächenspannung der Lungenbläschen (Alveolen), damit sich die Lunge gut entfalten kann. Dank der elastischen Struktur der Lunge und ihrer oberflächenaktiven Substanz (Surfactant) verkleben Alveolen nicht. Surfactant wirkt der natürlichen Tendenz der Alveolen entgegen und verhindert, dass sich diese schließen.
Da die Nasenöffnungen deutlich kleiner sind, erzeugt die Nasenatmung in wachem Zustand einen bis zu 50 Prozent höheren Atemwiderstand als eine Mundatmung. Durch die so verlangsamte Atmung und gesteigerte Stickstoffmonoxidproduktion kann dein Blut in der Folge 10–20 Prozent mehr Sauerstoff aufnehmen.6 Wenn du nun eine volle tiefe Atmung mit einer Nasenatmung kombinierst, maximierst du den Gasaustausch, steigerst die Sauerstoffaufnahme, aktivierst deinen Parasympathikus und bist damit viel leistungsfähiger, präsent und unterstützt deinen Körper bei einer aktiven körperlichen sowie mentalen Regeneration.
Weitere positive Effekte einer Nasenatmung sind:
Öffnung der Nasennebenhöhlen
Reinigung der Atemwege
Ent- und Befeuchtung der Atemluft
Reduzierung der Atemfrequenz
Aktive Schmutz- und Virenschranke
Besserer und effizienterer Gasaustausch
Förderung der Durchblutung
Vasodilatation der Atemwege
Da die reine Mundatmung viele Benefits der Nasenatmung vereitelt, wird sie leider meist als eine nicht erwünschte Art zu atmen gesehen. Die Mundatmung trägt jedoch auch zu vielen psychophysiologischen Prozessen bei, die für uns, abhängig von der Situation, wünschenswert sein können. Dazu gehört der Effekt, einfacher ins Unterbewusstsein abtauchen zu können, wie du im Kapitel »TURN« (→ Seite 147ff.) noch erfahren wirst. Eine reine Mundatmung kann viele negative Auswirkungen auf deinen Körper, das Nervensystem sowie deinen mentalen Zustand haben.
Im Detail können folgende Effekte der Grund einer primären Mundatmung sein:
Chronische Hypokapnie (→
Seite 145
)
Chronische Hyperventilation und Tachypnoe (→
Seite 74
)
Atemnot
Kurzatmigkeit
Durchblutungsstörungen
Primäre sympathische Aktivierung auch in ruhigen Momenten
Erhöhtes Stressempfinden
Konzentrationsprobleme
Schnarchen
Schlafapnoe
Verringerte Regenerationsfähigkeit
Trockener Mund und Mundgeruch
Beeinträchtigte Mundgesundheit bis hin zu Karies und Parodontose
Verringerte Immunabwehr
Chronische Entzündungen der Nasennebenhöhlen
Verstopfte Nase
Erhöhter Puls und niedrige Herzratenvariabilität
Geringere Leistungsfähigkeit
Häufige Müdigkeit im Alltag
Die Autoren Sandra Kahn und Paul R. Ehrlich sehen sogar einen direkten Zusammenhang von einer primären Mundatmung mit einer Veränderung des Kiefers bis hin zu schiefen Zähnen.7 Die genannten Effekte dienen dir als Beispiele und Referenzen, damit du feststellen kannst, ob bei dir eine primäre Mundatmung vorliegen könnte. Sobald du zu einer primären Nasenatmung wechselst, wirst du schnell bemerken, wie sich einige dieser Effekte verändern.
Persönlich integriere ich eine reine Nasenatmung in mein hochintensives Training genauso wie in über den Tag hinweg eingebaute Atemroutinen über Luftanhalte-Phasen, Kohlendioxidtraining bis hin zu deaktivierenden Atemübungen. Seit ich vor einigen Jahren damit anfing, öffneten sich meine Nasennebenhöhlen, hörte ich auf zu schnarchen, schlafe seither erholsamer und es hat sich auch eine reine Nasenatmung über Nacht bei mir etabliert.
Ein weiterer positiver Effekt der gezielten Nasenatmung ist die maximierte Aufnahme des selbst produzierten Stickstoffmonoxids. Atmest du nur durch den Mund, nimmst du den in großen Mengen produzierten Stickstoffmonoxid nicht über deine Einatmung auf. Deine Atemwege können nicht von einem in den Nasennebenhöhlen produzierten erhöhten Stickstoffmonoxidgehalt profitieren.
Zusammenfassend gesagt: Eine reine Nasenatmung ist während eines Großteil des Tages die optimale Variante. Während der Atemübungen in diesem Buch spiele ich bewusst mit dem Wechsel von Mund- und Nasenatmung, um die Effizienz bestimmter Atemtechniken zu verbessern.
Eine natürliche Atmung definiere ich dabei wie folgt:
eine primäre Nasenatmung eine horizontale Bauchatmung mögliche Expansion der Lunge in die Bereiche: Bauch, horizontal, unterer Rücken, oberer Rücken und Brust eine Atemfrequenz in Ruhe zwischen 6 bis 10 Atemzügen8 ein bewusstes Spiel zwischen Mund- und NasenatmungDie meisten Menschen in unserer westlichen Gesellschaft haben sich leider aufgrund von Angstzuständen, Stress oder anderen emotionalen Zuständen eine unnatürliche Atmung angeeignet.9 Ich zeige dir, wie du dir eine natürliche Atmung wieder aneignest.
Jede Atemsession besteht aus drei Phasen. Die Übungen in diesem Buch kannst du final direkt diesen Phasen zuordnen. Möchtest du also deine eigene Atemsession gestalten, baue sie anhand der folgenden Phasen auf, ganz gleich wie lange deine Session geht:
Der Start in deine Atemsession. Hierzu gehört ein Warm-up, wie Stretchings oder eine Wahrnehmungsübung.
Das ist der Kern der Atemsession, mit Fokus auf den erwünschten Effekt wie: Entspannung, einen klaren Kopf oder das Erschließen von einem größeren Lungenvolumen.
Ende und Herausführen aus der Atemsession beinhaltet meist eine deaktivierende oder beruhigenden Übung.
Alle Atemtechniken und Übungen kannst du auch isoliert üben. Den größten Effekt haben sie jedoch, wenn du erst die funktionelle Grundlage deiner Atmung beherrscht. Anschließend wirst du jede Atemtechnik weiter ausbauen können. Du wirst sehen, damit fällt es dir leichter, auch die verschiedenen Varianten umzusetzen und ihre Effekte voll auszukosten.
Meine Augen schließen sich, der Blick taucht nach innen ab. Ich atme tief ein, atme ganz aus und halte nun, so lange ich kann, die Luft an. Das bringt mich ganz in den Moment, in meinen Körper, zu mir. Es herrscht Ruhe. Ein anschwellendes Schlagen meines Herzens, als wolle es sich einen Weg durch meinen Brustkorb ins Freie erkämpfen, lässt mich kurze Zeit später wieder einatmen. Wirre Gedanken tanzen durch meinen Kopf, während mein Herz zu einem normalen Schlag-Rhythmus zurückkehrt. Warum mache ich das?
Ich stehe an der Bushaltestelle und warte auf die 701, die mich aus der Stadt zurück in mein behütetes Heim bringen soll. Da bricht dieser Gedanke wie ein Keim aus meinem Herzen empor. »Du bist leer, obwohl du glaubst, alles zu haben, was dich erfüllt. Du spürst es. Es fehlt etwas. Dies ist nicht dein Leben. Timo, du gehörst hier nicht hin.«
Der 15-jährige Teenager, der zu diesem Gedanken gehört, bin ich. Timo Niessner. Aufgewachsen im Herzen des schwäbischen Automobils, nie einen Mangel gekannt, in ein leichtes privilegiertes Leben gebettet wie in weichste weiße Daunenbettwäsche. Dieser erste Keim, er wuchs weiter, nahm sich Raum, ließ mich hinterfragen, was mich erfüllt. Er war der Anstoß zu wissen, es müsse sich etwas ändern, aber was? Und wie?
Es sollte noch weitere 14 Jahre dauern, bis ich mich entschied, dieser Welt, die so schön aussieht und gespickt ist mit Verlockungen, den Rücken zu kehren, loszulassen, meinen eigenen Weg zu suchen und diesen stattdessen zu beschreiten.