Freiheit zum Leben - Dietrich Bonhoeffer - E-Book

Freiheit zum Leben E-Book

Dietrich Bonhoeffer

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Beschreibung

Dietrich Bonhoeffer plante eine "Ethik" zu schreiben, konnte sie aber nicht mehr selbst abschließen. Mitten in der Arbeit an der "Ethik" ist Bonhoeffer von der Gestapo verhaftet worden. Die Fragmente zu dem Manuskript der "Ethik" überstanden den Krieg z.T. unter Dachsparren verborgen, z.T. im Garten vergraben. Erstmals 1949 erschienen, stellt die "Ethik" das erste postum aus dem Nachlass herausgegebene Werk Bonhoeffers dar. Bonhoeffers Gedanken zur Ethik bleiben auch heute noch herausfordernd: Bonhoeffer wusste, dass er als Christ Verantwortung trägt, dem Unrecht zu wehren. Aber was, wenn man dabei Schuld auf sich lädt, wenn man "dem Rad in die Speichen" greift und sich am Widerstand gegen Hitler beteiligt? Wer den Widerstandskämpfer Bonhoeffer verstehen will, muss seine "Ethik" kennen. Er sucht nach Antworten, wie sich Nachfolge Jesu im Alltag konkret gestaltet, denkt über die Unterscheidung von letzten und vorletzten Dingen nach und entwickelt seine Lehre von den vier biblischen Mandaten – Arbeit, Ehe, Obrigkeit und Kirche – mit der er die Vorstellung überwand, dass Kirche und Staat voneinander unabhängige Schöpfungsordnungen seien, die Kirche sich also in die Angelegenheiten des Staates nicht einzumischen habe. Bonhoeffer hatte nicht primär Theologen, sondern Laien, Juristen und Militärs als Leser im Auge. Darum enthält diese Ausgabe eine repräsentative Auswahl, die auch für Nichttheologen verständlich ist. Eine Einführung von Peter Zimmerling zu den einzelnen Texten macht Hintergrund und Bedeutung der Aussagen Bonhoeffers deutlich.

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Seitenzahl: 280

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DIETRICH BONHOEFFER

Freiheit zum Leben

ausgewählte Texte zur Ethik

Herausgegeben und mit Einführungen versehenvon Peter Zimmerling

Bibelzitate entsprechen der von Bonhoeffer verwendeten Fassung bzw. dort, wo Bonhoeffer den Predigttext nicht mitgegeben hatte, der Lutherbibel 1912.

Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden um der besseren Lesbarkeit willen weitgehend aktualisiert und offensichtliche Fehler korrigiert.

Die hier abgedruckten Texte finden sich auch in Dietrich Bonhoeffer, Ethik, Hrsg. von Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, DBW Bd. 6, 2., überarb. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1998: Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt: S. 31-61; Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate. Das Gebot Gottes in der Kirche: S. 392–412; Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung: S. 125–136; Die letzten und die vorletzten Dinge: S. 137–162; Das natürliche Leben: S. 179–216; Die Geschichte und das Gute: S. 256–299; Kirche und Welt: S. 342–353; Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt: S. 354–364

Bei den Seitenzahlen in den Einführungstexten ist zuerst der Verweisauf den in diesem Buch abgedruckten Text angegeben, die zweite Zahl verweist auf DBW Bd. 6.

© 2021 Brunnen Verlag Gießen

Umschlagfoto: ShutterstockUmschlaggestaltung: Celia Friedland

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-3763-9ISBN E-Book 978-3-7655-7626-3

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Zu dieser Ausgabe

Einführung von Peter Zimmerling

Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt

Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate. Das Gebot Gottes in der Kirche

Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung

Die letzten und die vorletzten Dinge

Das natürliche Leben

Die Geschichte und das Gute

Kirche und Welt

Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 von den Nazis hingerichtet. 2015 war es 70 Jahre her, dass dieses Verbrechen geschah. Nach 70 Jahren werden die Bücher und Texte eines Verstorbenen „gemeinfrei“. Das schien dem Brunnen Verlag und mir eine gute Gelegenheit, die allgemein verständlichen Werke Bonhoeffers neu herauszugeben und einem größeren Lesepublikum zugänglich zu machen. Inzwischen sind insgesamt acht Bände erschienen. Zunächst vier Bücher, die bereits zu seinen Lebzeiten gedruckt wurden: „Die Psalmen – Das Gebetbuch der Bibel“, „Gemeinsames Leben“, „Nachfolge“, „Schöpfung und Fall“. Es folgten zwei Bände mit Texten aus dem Gefängnis (bekannt geworden unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“): Unter dem Titel „Aber bei dir ist Licht“ Gebete, Gedichte und Gedanken Bonhoeffers und unter dem Titel „Du wartest jede Stunde mit mir“ seine Briefe aus dem Gefängnis an die Eltern, die Verlobte Maria von Wedemeyer und den Freund und theologischen Gesprächspartner Eberhard Bethge. Schließlich folgten noch zwei Bücher mit einer Auswahl von Predigten Bonhoeffers: der Band „Bleibt der Erde treu“ und der Band „Ist Dein König nicht bei Dir?“ mit „Bibelarbeiten und Predigten an Wendepunkten“, also Bonhoeffers Kasualpredigten.

Die Bonhoeffer-Reihe im Brunnen Verlag findet mit dem vorliegenden neunten Band ihren Abschluss. Er enthält eine repräsentative Auswahl der Ethikfragmente, die erstmals 1949 als Buch erschienen sind und überhaupt das erste postum aus dem Nachlass herausgegebene Werk Bonhoeffers waren.

Leipzig, im Frühjahr 2021

Peter Zimmerling

Einführung von Peter Zimmerling

Entstehung und Hintergrund

Im September 1939 trat Dietrich Bonhoeffer offiziell als ziviler V-Mann in die Abwehr ein.1 Das Amt stand unter der Leitung von Admiral Canaris und General Oster. Hans von Dohnanyi, Bonhoeffers Schwager, gehörte zu den leitenden Mitarbeitern und hatte ihm den Weg in die Abwehr gebahnt.2 Obwohl die Aufgabe des Amtes offiziell darin bestand, Spionage-Aktivitäten ausländischer Geheimdienste gegen das Dritte Reich aufzudecken, waren dessen führende Männer gleichzeitig in der Konspiration gegen Hitler aktiv. Durch seine Mitarbeit in der Abwehr wurde Bonhoeffer zum Doppelagent. Seine theologischen Überlegungen mussten sich dadurch noch einmal ganz neu und anders als bisher bewähren, nämlich außerhalb von Theologie und Kirche in einem weltlichen Tätigkeitsbereich auf dem Feld des gesellschaftspolitischen Engagements, im aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Allerdings hat Bonhoeffer auch während seiner Teilnahme an der Verschwörung gegen Hitler seine Mitarbeit in der Bekennenden Kirche nie aufgegeben.3 Sein offizieller Beruf war und blieb der eines Visitators der Bekennenden Kirche. Dieser Tatsache entspricht die Beobachtung, dass er Teile der „Ethik“ aller Wahrscheinlichkeit nach für den Bruderrat der Bekennenden Kirche verfasst hat.

Zwei Ziele prägten die Arbeit in der Konspiration: Einerseits planten speziell die Mitglieder des militärischen Widerstands die gewaltsame Beseitigung Hitlers, andererseits ging es den Verschwörern um die gesellschaftliche Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg. Beide Herausforderungen prägten Bonhoeffers Arbeit an der „Ethik“. An vielen Stellen lassen sich zeitgeschichtliche Bezüge nachweisen, ohne dass er – aus verständlichen Gründen – diese unmittelbar zum Ausdruck gebracht hätte.

Für Bonhoeffer hatte die Arbeit an seiner „Ethik“ von Anfang an einen sehr hohen Stellenwert. Am 18. November 1943 schrieb er aus dem Gefängnis an Eberhard Bethge: „Persönlich mache ich mir Vorwürfe, die Ethik nicht abgeschlossen zu haben (zum Teil ist sie wohl beschlagnahmt) […].“4 Im Brief vom 15. Dezember 1943 meinte er sogar: „[…] manchmal denke [ich], ich hätte nun eigentlich mein Leben mehr oder weniger hinter mir und müsste nur noch meine Ethik fertigmachen.“5 Neben der Kirche war die Ethik im Laufe seines Lebens mehr und mehr zum bestimmenden Thema von Bonhoeffers theologischem Nachdenken geworden. Spätestens seit seinem Vortrag über „Grundfragen einer christlichen Ethik“ in Barcelona 1929 hat er sich immer wieder öffentlich zu ethischen Problemen geäußert. Vor allem durch den Studienaufenthalt am Union Theological Seminary in New York 1930/31, wo er mit der Diskriminierung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten konfrontiert wurde, und durch die Mitarbeit in ökumenischen Organisationen in den nachfolgenden Jahren wurde sein Blick auf ethische Fragestellungen gerichtet. Es ging ihm, ausgehend von seiner Entdeckung der Bergpredigt als Richtschnur christlichen Handelns, in seinem ethischen Nachdenken immer stärker um die Frage nach der Verkündigung des „konkreten Gebots“ durch die Kirche. „In Zeiten, in denen die Lebensordnungen fest und allgemein anerkannt sind, mag das Ethische vor allem als theoretisches Problem behandelt werden. Bonhoeffer aber wurde durch äußerst konkrete und gefährliche Probleme bedrängt und wollte gerade sie erörtern, als er seine ‚Ethik‘-Manuskripte schrieb.“6 Zu diesen „äußerst konkreten und gefährlichen Problemen“ zählten die nationalsozialistische Unterwanderung der Kirche, die Kriegslüsternheit Hitlers und das Juden-Vernichtungs-Programm des Dritten Reiches.

Unerlässliche Voraussetzung der Verkündigung des konkreten Gebots durch die Kirche stellt für Bonhoeffer die Nachfolge Jesu Christi dar. Bonhoeffers Fragestellung, die sein Buch „Nachfolge“ zu beantworten sucht, lautet: Wie sieht im Kampf mit dem Nationalsozialismus Nachfolge Jesu Christi konkret aus? Die „Nachfolge“ will junge Theologen befähigen, angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus in der Nachfolge zu beharren. Das Anliegen der „Ethik“ ist auf der gleichen Linie zu suchen. Sie will angesichts gefährlicher werdender ethischer Herausforderungen Antworten für ein konkretes – der Nachfolge gemäßes – Verhalten geben. Da die Adressaten der „Ethik“ nicht primär Theologen, sondern Juristen und Militärs sind, hält sie sich allerdings nicht so eng wie die „Nachfolge“ an die Sprache der Bibel und der Verkündigung. Die Ethik-Fragmente besitzen genauso wie der Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“, verfasst an Weihnachten 1942 für Eberhard Bethge, Hans von Dohnanyi und Hans Oster, zum großen Teil seelsorgerlichen Charakter. Die Schriften sind aus dem Bedürfnis heraus entstanden, das Handeln der Verschwörer theologisch zu legitimieren. Bonhoeffer stellt darin seine theologischen Erkenntnisse in den Dienst der seelsorgerlichen Begleitung der Mitverschwörer. Es handelt sich um eine Form von politischer Seelsorge auf dem Feld des theologischen Denkens.

Bonhoeffer hat die „Ethik“ nicht abschließen können, sondern ist mitten in der Arbeit am Manuskript von der Gestapo verhaftet worden. Eberhard Bethge fand nach der Gefangennahme eine Reihe von Zettelnotizen zur „Ethik“ auf Bonhoeffers Schreibtisch. Teile des Manuskripts waren zunächst beschlagnahmt worden. Das Manuskript überstand den Krieg zum Teil unter Dachsparren verborgen, zum Teil im Garten vergraben. Nach dem Krieg stellte Eberhard Bethge aus den erhaltenen Entwürfen, Notizen und abgeschlossenen Teilarbeiten die „Ethik“ zusammen. Sie ist 1949 als Buch erschienen und war damit das erste postum aus dem Nachlass herausgegebene Werk Bonhoeffers. Erst als zweites kam „Widerstand und Ergebung“ 1951 heraus. Dabei machte nicht die „Ethik“, sondern erst „Widerstand und Ergebung“ Bonhoeffer weltberühmt. Die Reaktionen auf die erste Ausgabe der „Ethik“ waren ziemlich gering. Erst im Gefolge der Beschäftigung mit „Widerstand und Ergebung“ setzte ein verstärktes Interesse auch an der „Ethik“ ein.

Die vorliegende Auswahlausgabe der „Ethik“ entspricht weithin der Neuordnung der Manuskripte, wie sie von den Herausgebern für Bd. 6 der DBW (Dietrich Bonhoeffer Werke) in den 1990er-Jahren vorgenommen wurde. Sie haben mit Akribie und detektivischem Spürsinn die Reihenfolge der Texte nach ihrem Entstehungszeitpunkt rekonstruiert, wobei ein Bündel von Kriterien berücksichtigt wurde (z. B. mögliche Hinweise auf die Texte in zeitgleichen Briefen, Papiersorte und -qualität, Schriftbild, Tintenschattierung, Füllfederbreite, Blei-, Kopier- und Farbstiftbenutzung). Für die Neuherausgabe wurden überdies sämtliche Originalmanuskripte noch einmal sorgfältig in Augenschein genommen. Inhaltliche Kriterien – etwa im Sinne einer angenommenen Weiterentwicklung von Bonhoeffers Denken, wie sie noch bei der Erstausgabe von 1949 und noch einmal bei der 6. Auflage der „Ethik“ von 1963 eine Rolle gespielt haben – blieben unberücksichtigt. Leserinnen und Leser sollten sich klarmachen, dass weder die von Bethge zusammengestellte „Ethik“ noch die der DBW identisch ist mit dem Buch, das Bonhoeffer selbst zur Drucklegung gebracht hätte. Wie wir von seinen anderen Büchern her wissen, sind seine Manuskripte nicht nach einem von vornherein feststehenden Gliederungsplan entstanden, sondern erst allmählich organisch zusammengewachsen, sodass jede auf inhaltlichen Kriterien beruhende Rekonstruktion nur begrenzten Wert besitzt.

Eines hat die jüngste Rekonstruktion der Textteile der Ethik nach ihrem Entstehungszeitpunkt in inhaltlicher Hinsicht belegt: Der früher angenommene Bruch zwischen Bonhoeffers ethischen Überlegungen und seiner neuen Theologie in „Widerstand und Ergebung“ lässt sich so nicht aufrechterhalten, vielmehr muss von einer Kontinuität ausgegangen werden. Gerade die zuletzt, also unmittelbar vor der Verhaftung, verfassten Teile der „Ethik“ weisen eine große inhaltliche Nähe zur „Nachfolge“ auf.

Theologiegeschichtliche Zusammenhänge

Zum Verständnis von Bonhoeffers ethischen Überlegungen ist es hilfreich, sich kurz die theologiegeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Entstehung vor Augen zu stellen. Mit der Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs war in Deutschland die Monarchie abgeschafft und damit die traditionelle Verbindung von „Thron und Altar“ aufgelöst worden. Die Kirche existierte fortan nicht länger als Staatskirche. An die Stelle der Monarchie als Schutzmacht des Protestantismus war die weltanschaulich neutrale Weimarer Republik getreten. In den Anfangsjahren wurde sie durch die sozialdemokratische Partei dominiert, die damals überwiegend kirchenkritisch eingestellt war und von ihren kommunistischen Wurzeln her den christlichen Glauben weithin ablehnte. Eine protestantische Ethik, die Antworten auf die für die Kirche und das protestantische Christentum vollkommen neue Situation hätte geben können, gab es nicht.

„Im protestantischen Vorkriegsmilieu hatten Religion, Kultur und Staat […] sich im grundlegenden Einvernehmen entwickelt.“7 Die damals vorherrschende liberale Theologie strebte eine Symbiose von Christentum und Kultur an. Durch den Zusammenbruch der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg ohne realpolitischen Rückhalt war diese Harmonie durch Karl Barth auch in theologischer Hinsicht als unbiblisch gekennzeichnet worden. Seine dialektische Theologie ging davon aus, dass aufgrund der Sünde zwischen Gott und Mensch ein „unendlicher qualitativer Unterschied“ besteht. Eine mögliche positive Beziehung zwischen Glaube und Kultur bzw. zwischen Staat und christlicher Gemeinde oder Kirche stand von daher nicht zur Debatte.

Parallel zur dialektischen Theologie kam es in den 1920er-Jahren zu einer vor allem von Karl Holl ausgelösten Lutherrenaissance. Diese war zwar genau wie Karl Barths Theologie offenbarungstheologisch orientiert. Sie ergänzte die biblische Orientierung jedoch in den 1920er-Jahren durch die Kategorie des Volkes als natürliche Ordnung bzw. sogar als Schöpfungsordnung Gottes. Eine andere ethische Strömung, vertreten durch zwei weitere führende Vertreter der dialektischen Theologie, Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten, lehnte ungefähr zur gleichen Zeit die Möglichkeit einer speziellen christlichen Ethik überhaupt ab. Schließlich bildete sich eine „neulutherische“ Ethik heraus, deren Vertreter aufgrund einer höchst einseitig interpretierten lutherischen Zwei-Reiche-Lehre davon ausgingen, dass Kirche und Staat nach Gottes Willen unabhängig voneinander existierten und mit je eigenem Auftrag und Gesetz von Gott ausgestattet sind. Sie behaupteten, „dass das Gesetz Gottes […] für den Christen konkret [werde] in den sittlichen Forderungen der natürlichen Ordnungen, nämlich Familie, Volk und Rasse, auf diese habe das Evangelium keinen Einfluss.“8 Es leuchtet ohne Weiteres ein, dass von hier aus eine theologische bzw. kirchliche Kritik an staatlichem, d. h. nationalsozialistischem, Unrechtshandeln sehr erschwert war. Bonhoeffer hat seine „Ethik“ in der Auseinandersetzung mit dem liberalen und mit diesem neulutherischen Ansatz formuliert.

Theologische Eigenart

Den Ausgangspunkt der „Ethik“ bildet die theologische Frage, „wie die in Jesus Christus offenbar gewordene Wirklichkeit Gottes im menschlichen Leben in der Welt Gestalt gewinnen kann“.9 Bonhoeffers ethischer Ansatz ist also, genauso wie seine ganze übrige Theologie, konsequent christologisch ausgerichtet. Damit zeigt sich auch an dieser Stelle die inhaltliche Nähe seines theologischen Denkens zu Karl Barth. Diese Nähe bringt Bonhoeffer selbst in einem Brief wie folgt zum Ausdruck: „Er [Karl Barth] bezieht (gut biblisch) alle Ordnungen der geschaffenen Welt streng auf Christus und sagt, dass sie nur von ihm her recht zu verstehen seien und an ihm ihre Ausrichtung finden müssten.“10 Es geht Bonhoeffer in seiner „Ethik“ ebenso wie Barth darum, zu zeigen, wie einerseits die Wirklichkeit der Welt, „alle Ordnungen der geschaffenen Welt“, ihr Recht behalten. Andererseits will er deutlich machen, dass die Ordnungen der Welt gerade dadurch zu ihrem Recht kommen, dass sie von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus her neu interpretiert und auf diese hin ausgerichtet werden. Voraussetzung für die „Ethik“ ist daher Bonhoeffers Überzeugung, dass die Aufrichtung der Christusherrschaft über die Welt sie nicht unter ein ihr fremdes Gesetz zwingt. Die Christusherrschaft bedeutet gerade keine Fremdbestimmung für die Welt, sondern verhilft ihr, zu ihrem Eigenen zu finden. Grund dafür ist die Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi: Die Welt ist durch ihn geschaffen. Indem sie das Gebot Jesu Christi befolgt, findet sie zu ihrem Eigenen zurück, erfüllt sie ihre Bestimmung.

Bedeutung für heute

Die Rezeption der Ethik sah und sieht sehr unterschiedlich aus. Neben wohlwollenden gab und gibt es kritische Stimmen, die Bonhoeffers Überlegungen für überholt halten.11 Die folgenden Überlegungen wollen deutlich machen, dass es sich auch heute noch lohnt, sich mit Bonhoeffers Ethik zu beschäftigen.

•Eine wesentliche Stärke von Bonhoeffers ethischer Konzeption besteht in ihrer konsequenten Orientierung an Jesus Christus. Es gelingt Bonhoeffer damit, gleichermaßen die Bezogenheit auf Christus und die Würde des weltlichen Lebens herauszustellen. Unter der Herrschaft Jesu Christi kommen die weltlichen Ordnungen nicht unter eine Fremdherrschaft, sondern zu ihrem eigentlichen Wesen. Sinn und Ziel der Christusherrschaft über die Welt ist nicht die Verchristlichung oder Verkirchlichung der weltlichen Ordnungen, sondern ihre Befreiung zu echter Weltlichkeit, wobei Weltlichkeit bei Bonhoeffer nicht mit „platter und banaler Diesseitigkeit“ verwechselt werden darf. Er versteht sie als „tiefe Diesseitigkeit“, die „voller Zucht“ ist und „in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist“,12 wie er später in „Widerstand und Ergebung“ schreibt.

•Bonhoeffer nimmt in seiner Ethik einerseits Gedanken der reformatorischen Ethik auf und führt sie andererseits angesichts der Herausforderungen seiner Zeit kongenial weiter. Das lässt sich besonders deutlich am Beispiel seiner Mandatenlehre zeigen. Wie Luther geht Bonhoeffer davon aus, dass sich der Christ in den „weltlichen“ Bereichen der Wirklichkeit nicht anders als im Raum der Kirche als Christ zu bewähren hat. Durch das Neuluthertum war es hier zu einer Uminterpretation von Luthers ursprünglichem Ansatz gekommen, die zu einer Verselbstständigung, ja sogar zu einer Eigengesetzlichkeit der weltlichen Wirklichkeitsbereiche führte. Eine angesichts des Dritten Reiches folgenschwere Fehlinterpretation. Bonhoeffers Mandatenlehre stellt demgegenüber Luthers Intentionen wieder her. Er holt die „weltlichen“ Mandate der Arbeit, der Ehe und der Obrigkeit in den Gültigkeitsbereich des göttlichen Gebots zurück. Allerdings betont Bonhoeffer stärker als Luther die bleibende Abhängigkeit der Mandate von ihrem göttlichen Auftraggeber. Göttlich sind diese Mandate nur aufgrund ihres göttlichen Auftrags, nicht aus sich selbst heraus. Das zeigt sich z. B. daran, dass nach Bonhoeffers Auffassung ein Mandat im Extremfall bei permanenter Missachtung des göttlichen Gebotes erlöschen kann. Dabei hängt die unterschiedliche Akzentuierung mit dem unterschiedlichen Gegner Luthers bzw. Bonhoeffers zusammen. Ging Luthers Kampf gegen die mittelalterliche Verkirchlichung und Klerikalisierung des weltlichen Lebens, so ging Bonhoeffers Einsatz gegen die These von der Eigengesetzlichkeit der Weltwirklichkeit, die unter dem Nationalsozialismus zu einer Zerstörung von Freiheit und Gerechtigkeit führte.

•Heute, angesichts einer pluralistisch verfassten, weltanschaulich neutralen Zivilgesellschaft, erweist sich die Ethik Bonhoeffers erneut als zukunftsfähig. Seine ethische Konzeption erlaubt es ihm, daran festzuhalten, dass die Verantwortung der christlichen Gemeinde für die Welt zwei Brennpunkte besitzt. Der eine besteht in der Christusverkündigung: „Eine Verkündigung an die Welt ohne Christuszeugnis, d. h. ohne den allein tragfähigen Grund einer solchen Verkündigung, ist für das Neue Testament undenkbar. So ist die entscheidende Verantwortlichkeit der Gemeinde für die Welt immer die Christusverkündigung.“13 Der andere Brennpunkt besteht in der Mitverantwortung für das menschliche Zusammenleben.14 „Je ausschließlicher wir Christus als unseren Herrn erkennen und bekennen, desto mehr enthüllt sich uns die Weite seines Herrschaftsbereiches.“15 Der persönliche Glaube an Jesus Christus und die Teilhabe am Leben der Mitmenschen in der Gesellschaft gehören untrennbar zusammen.

•Dabei besticht der Realismus, mit dem Bonhoeffer die unterschiedliche Situation der christlichen Gemeinde je nach Größe und Staatsform berücksichtigt und daraus die unterschiedlichen Möglichkeiten der Mitverantwortung bestimmt: „Es gibt durchaus verschiedene Möglichkeiten für die Gemeinde ihre Verantwortung gegenüber der Welt wahrzunehmen; anders wird sie es tun in der Missionssituation, anders in der Situation staatlicher Anerkennung der Kirche, anders in Verfolgungszeiten. Die Missionsgemeinde in der Minorität wird durch volle Konzentration auf die Christuspredigt als Ruf zur Gemeinde sich erst die Bahn brechen müssen, um irgendwie weltlich mitverantwortlich arbeiten zu können; für die staatlich anerkannte Kirche und für die Christen in weltlichem Amt und Verantwortung gehört die Bezeugung des Gebotes Gottes über Staat, Wirtschaft etc. zum Christusbekenntnis. Je mehr die Christen in die Situation nach Apokalypse 13 nicht die am Unrechttun der Welt Verantwortlichen, sondern selbst die Unrecht Leidenden sind, desto mehr wird sich ihre Verantwortung für die Welt nur noch in gehorsamem Leiden und in ernster Gemeindezucht bewähren.“16

•Heute befinden wir uns in Deutschland in einer Situation des Übergangs, was es nicht leicht macht, die Aufgabe der Kirche zwischen Mission und gesellschaftlicher Mitverantwortung konkret zu bestimmen. Beobachter sind sich uneins, ob wir noch in einer spät- oder bereits in einer nach-volkskirchlichen Zeit leben. Dabei ist nicht zu leugnen, dass die Situation der großen Kirchen bis auf Weiteres von einer privilegierten Partnerschaft mit dem Staat geprägt bleiben wird. Angesichts dessen hat die Stimme der Kirche in gesellschaftlichen Debatten durchaus Gewicht. Aufgrund fortschreitender Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozesse wird jedoch gleichzeitig die Erfüllung des missionarischen Grundauftrags der christlichen Gemeinden immer wichtiger und sollte nicht von ihrem sozialethischen Engagement in den Hintergrund gedrängt werden.

•Aktuell ist schließlich auch Bonhoeffers Erkenntnis, dass die kirchliche Verkündigung die weltlichen Ordnungen unter die Christusherrschaft und unter den Dekalog zu führen hat.17 Ohne explizite Verkündigung der Christusherrschaft und des Dekalogs können die weltlichen Ordnungen ihren Dienst nur in beschränktem Maße und in vorläufiger Weise tun. „Also nicht zum Absehen von Christus, sondern zur vollen Verkündigung der Gnade der Christusherrschaft, kann die Kirche durch die Erkenntnis geführt werden, dass hier und da auch ohne gehörte Predigt – aber doch niemals ohne das Dasein Jesu Christi! – weltliche Ordnung möglich ist. Der unbekannte Gott wird nur als der bekannte, weil offenbarte, gepredigt.“18 Aus dem Gesagten folgt, dass die kirchliche Verkündigung sich nicht mit einer allgemeinen Ethik der Liebe zufriedengeben darf, sondern in gegenwärtigen ethischen Streitfragen wagen muss, das konkrete Gebot Gottes in öffentlichen Diskussionen engagiert zu vertreten.

Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt

Einführung

Bonhoeffer versucht in diesem Abschnitt das Denken in zwei Räumen – hier Kirche, dort Welt – zu überwinden, ohne ihre Unterschiedenheit aufzugeben. Dabei stand er vor der doppelten theologischen Herausforderung: Zum einen begründen zu müssen, warum es keinen Bereich der Welt gibt, der nicht der Herrschaft Jesu Christi untersteht, und zum anderen, warum Welt und christliche Gemeinde trotzdem zu unterscheiden sind. Die unauflösliche Zusammengehörigkeit zwischen Gott und Welt begründet Bonhoeffer christologisch mit der Schöpfungsmittlerschaft und der Menschwerdung Jesu Christi. Auch im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Gott und Welt argumentiert er streng von Christus her: Durch das Kreuz Jesu Christi hat Gott über die Welt, so wie sie ist, sein Nein gesprochen.

Wie die gleichzeitige Zusammengehörigkeit und Unterschiedenheit zwischen Gott und Welt im Alltag konkret gelebt werden kann, löst Bonhoeffer durch seine Mandatenlehre. Für jeden, der schon einmal am gregorianischen Psalmgesang teilgenommen hat, wird sich beim Begriff „Mandat“ die Erinnerung an „mandatum“ als Übersetzung für Gebot bzw. Gesetz Gottes im lateinischen Psalter einstellen. Ein Mandat ist weniger eine unpersönliche, feststehende Größe, ein Gesetz, als vielmehr ein persönliches Gebot Gottes im Blick auf das Handeln.

Die Mandatenlehre als Ganzes wie auch die einzelnen Mandate müssen konsequent vom christologischen Grundansatz der Theologie Bonhoeffers her verstanden werden. „Göttlich sind diese Mandate allerdings allein um ihrer ursprünglichen und endlichen Beziehung auf Christus willen“ (44/55f.). [Die erste Seitenzahl verweist hier und im Folgenden auf dieses Buch, die zweite auf DBW, Bd. 6.] Indem Bonhoeffer mit der Mandatenlehre begründet, wieso es keine Bereiche der Wirklichkeit gibt, die nicht der Herrschaft Jesu Christi unterstehen, befindet er sich im Einklang mit der zweiten These der „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“

Bonhoeffer leitet vier Mandate aus der Bibel ab: Arbeit, Ehe, Obrigkeit, Kirche. Er modernisierte damit die Ständelehre Luthers, ohne sie aufzugeben. Ein erster Schritt zu dieser Modernisierung bestand darin, dass er den Nährstand, entsprechend der neuzeitlichen Trennung von Wohn- und Arbeitswelt, in die Mandate der Arbeit und Ehe aufteilte. Für Luther lag der Ursprung der Arbeit noch in der Ehe bzw. Familie als dem Mittelpunkt des wirtschaftenden Hauses (griechisch: oikos). Vor allem überführte Bonhoeffer die Mandate „aus der traditionellen lutherischen Ordnungs- und Stände-Lehre in den dynamischen Zusammenhang des geistlichen und weltlichen Regimentes Gottes in der Welt, sodass das auftraggebende Wort Gottes entscheidend ist, nicht der soziologische Bestand.“19 Die Konsequenz ist, dass jeder Mensch – der modernen freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung entsprechend – als unter allen vier Mandaten lebend gedacht werden muss: „Gott hat die Menschen unter alle diese Mandate gestellt, nicht nur jeden Einzelnen unter je eines derselben, sondern alle Menschen unter alle vier“ (44/55). Der dynamische Grundzug von Bonhoeffers Mandatenlehre zeigt sich außerdem daran, dass sich jedes Mandat durch seine permanente Orientierung an der christologischen Beauftragung auszeichnet. Dadurch bekommt das Mandat eine stärker situative Komponente. Nicht umsonst spricht Bonhoeffer ausdrücklich vom Mandat und nicht von Ordnung oder Stand (44/54f.).

Der dynamische Grundzug der Mandate wird schließlich an der Möglichkeit sichtbar, dass das göttliche Mandat im konkreten Fall erlöschen kann (45/56). Allerdings ist dabei deutlich Bonhoeffers Bestreben zu spüren, das Erlöschen eines Mandats als Sonderfall, als wirkliche Ausnahme, zu charakterisieren. Nur „in der beharrlichen und willkürlichen Durchbrechung des Auftrages“ erlischt ein göttliches Mandat im konkreten Fall. Man hat Bonhoeffer im Zusammenhang solcher Äußerungen eines überholten Konservativismus bezichtigt. Umgekehrt wurde er für andere Interpreten zum bewunderten Vertreter einer konservativen Werteethik.20Beides geht m. E. an den Tatsachen vorbei. Dahinter steht vielmehr Bonhoeffers theologisches Bestreben, jedem Ausweichen vor dem konkreten Gebot, das in diesem Fall dem Einzelnen in Gestalt der Mandate von Gott gegeben ist, einen Riegel vorzuschieben. Allerdings war er genauso davon überzeugt, dass das Neue nicht schon an sich das Bessere sein muss.

Nun zum konkreten Inhalt der einzelnen Mandate: Leider hat Bonhoeffer sich dazu nur fragmentarisch geäußert. Am weitesten sind seine Überlegungen im Hinblick auf die Gestalt des Mandats der Kirche gediehen (60-70/398-412).

Das Mandat der Arbeit

Das Mandat der Arbeit führt Bonhoeffer auf die Erschaffung des Menschen zurück (45/57). Nach Gen 2,15 soll der Mensch den Garten Eden „bebauen und bewahren“. Die Arbeit gehört zu seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung. Der Auftrag zur Arbeit bleibt auch nach dem Sündenfall bestehen, da in Gen 3,17-19 Gott Adam dazu verurteilt, sich sein Leben lang mit Mühsal vom Acker zu nähren. Der weitere Verlauf der Urgeschichte in Gen 4,17ff zeigt für Bonhoeffer, dass das Mandat der Arbeit nicht nur den Ackerbau, sondern auch die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kunst umfasst.

Zumindest ungewöhnlich ist die christologische Begründung des Mandats der Arbeit. Indem der Mensch arbeitet, wird diese Welt zum Abbild der himmlischen Welt und damit zu einer Welt, die auf die Wiederkunft Christi wartet. „Durch das göttliche Mandat der Arbeit soll eine Welt entstehen, die – darum wissend oder nicht – auf Christus wartet, auf Christus ausgerichtet ist, für Christus offen ist, ihm dient und ihn verherrlicht“ (46/58). Die christologische Begründung der Arbeit wird für Bonhoeffer weder dadurch infrage gestellt, dass viele Menschen gar nicht wissen, dass sie mit ihrer Arbeit an der Herstellung des Abbilds der himmlischen Welt mitwirken, noch dass es der in der Sünde verstrickte Mensch ist, der hier arbeitet. Bonhoeffer meint, dass die menschliche Arbeit auch dann noch die Signatur ihrer Bestimmung durch Jesus Christus trägt. Wie verzerrt, wie pervertiert auch immer: Die von Kain gebaute erste menschliche Stadt ist ein Abbild der himmlischen Stadt Gottes, des Neuen Jerusalem. So gewähren die von den Menschen gerade erfundenen Geigen und Flöten (Gen 4,21) einen Vorgeschmack der himmlischen Musik. Genauso weisen die Förderung und Verarbeitung der Metalle, die dem Schmuck der Häuser dienen, auf die himmlische Stadt mit ihrem Gold und ihren Edelsteinen hin.

Das Mandat der Ehe

Wie das Mandat der Arbeit führt Bonhoeffer auch das Mandat der Ehe auf die Erschaffung des Menschen durch Gott zurück (46/58). Charakteristikum der Ehe ist, dass Menschen in ihr als Voraussetzung für ihre Fruchtbarkeit eins werden. Wie beim Mandat der Arbeit bekommt der Mensch durch das Mandat der Ehe Anteil am Schöpfersein Gottes: Er wird von Gott befähigt, in der Ehe neues Leben zu schaffen.

Die konsequent christologische Ausrichtung des Mandats der Ehe begründet Bonhoeffer mit Eph 5,31f: Das Einssein von Mann und Frau in der Ehe weist auf die Einheit von Christus und seiner Kirche hin. Ziel der Fruchtbarkeit in der Ehe ist für Bonhoeffer nicht anders als für Luther, dass „Menschen erzeugt [werden] zur Verherrlichung und zum Dienste Jesu Christi und zur Mehrung seines Reiches“ (46/58). Das kann allerdings nur geschehen, wenn in der Ehe die Kinder zum Gehorsam Jesu Christi erzogen werden. Darum gehört für Bonhoeffer zur Bestimmung der Ehe, dass die Eltern erkennen, dass sie als Erzeuger und Erzieher in Gottes Auftrag als dessen Stellvertreter handeln.

Das Mandat der Obrigkeit

Zwischen den Mandaten der Arbeit und der Ehe und dem Mandat der Obrigkeit besteht für Bonhoeffer ein wesensmäßiger Unterschied. Er definiert das Mandat der Obrigkeit gegenüber den beiden erstgenannten als subsidiär, weil die Obrigkeit keine generative Funktion besitzt. „Das göttliche Mandat der Obrigkeit setzt die göttlichen Mandate der Arbeit und der Ehe schon voraus. […] Die Obrigkeit kann nicht selbst Leben oder Werte erzeugen, sie ist nicht schöpferisch […]“ (47/58). Schon Luther meinte, dass der politische Stand, die Obrigkeit, nicht wie Kirche und Ehe bzw. Hausstand eine Schöpfungsordnung, sondern eine Notordnung sei.21Die Konsequenz der Überlegungen Bonhoeffers besteht in einer Zurückdrängung der Bedeutung der Obrigkeit. „Niemals darf die Obrigkeit selbst zum Subjekt dieser Arbeitsbereiche [des Mandats der Arbeit und der Ehe] werden wollen, ohne das göttliche Mandat derselben wie auch ihr eigenes ernstlich zu gefährden“ (47/59). Gleichzeitig hält er an einer positiven Funktion der Obrigkeit fest. Sie hat die Aufgabe, die beiden anderen Mandate zu schützen, um deren ungestörte Entfaltung zu gewährleisten. Die ihr für diese Aufgabe zur Verfügung stehenden Mittel sind eine unparteiische Rechtsprechung und das Gewaltmonopol (47/58f.).

Auch das Mandat der Obrigkeit wird von Bonhoeffer christologisch begründet: „Durch Rechtsetzung und Schwertgewalt bewahrt die Obrigkeit die Welt für die Wirklichkeit Jesu Christi“ (47/59). Der Nationalsozialismus hatte die Gleichschaltung aller Lebensbereiche zum Ziel. Am Ende stand der totale Staat. Bonhoeffer will in seiner Mandatenlehre den Staat dagegen „entgöttlichen“ und auf seine christusgemäßen Aufgaben beschränken. Seine Lehre von der Obrigkeit bedeutet den Bruch mit einer weit vor dem Nationalsozialismus beginnenden, älteren und ehrwürdigen preußisch-deutschen Tradition, die den Staat als göttlich verstand. Deren prominentester Vertreter war der idealistische Philosoph Friedrich Hegel in Berlin während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bonhoeffer denkt weniger idealistisch. Er steht der Staatsauffassung der westlichen Demokratien näher, die er von den USA und von England her aus eigener Anschauung kannte. Allerdings scheint er darüber hinaus typisch deutsche staatsrechtliche Überlegungen aufzugreifen, wenn er davon spricht, dass die großen Bereiche der Arbeit zwar nicht von der Obrigkeit selbst gepflegt werden sollen, aber doch ihrer Aufsicht unterstehen und „in gewissen – erst später darzulegenden Grenzen ihrer Lenkung [unterstehen]“ (47/59). Gern wüsste man, welche Lenkungsmechanismen Bonhoeffer konkret vor Augen standen. Parallele Überlegungen finden sich im gleichzeitigen Kreisauer Kreis, vor allem aber nach dem Krieg im sog. Ahlener Programm der CDU. Die heutige bundesrepublikanische soziale Marktwirtschaft zeichnet sich durch solche Steuerungsmechanismen gegenüber der Wirtschaft aus und darf aus diesem Grund nicht einfach mit dem amerikanischen Kapitalismus gleichgesetzt werden.

Es ist eine Zumutung sondergleichen, die an jeden, der das Problem einer christlichen Ethik auch nur zu Gesicht bekommen will, gestellt werden muss, die Zumutung nämlich, die beiden Fragen, welche ihn überhaupt zur Beschäftigung mit dem ethischen Problem führen: „wie werde ich gut?“ und „wie tue ich etwas Gutes“, von vornherein als der Sache unangemessen aufzugeben, und stattdessen die ganz andere, von jenen beiden unendlich verschiedene Frage nach dem Willen Gottes zu stellen. Diese Zumutung ist darum so einschneidend, weil sie eine Entscheidung über die letzte Wirklichkeit und damit eine Glaubensentscheidung voraussetzt. Wo sich das ethische Problem wesentlich in dem Fragen nach dem eigenen Gutsein und nach dem Tun des Guten darstellt, dort ist bereits die Entscheidung für das Ich und die Welt als die letzten Wirklichkeiten gefallen. Alle ethische Besinnung hat dann das Ziel, dass ich gut bin und dass die Welt (– durch mein Tun –) gut wird. Zeigt es sich aber, dass diese Wirklichkeiten des Ich und der Welt selbst noch eingebettet liegen in eine ganz andere letzte Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers, Versöhners und Erlösers, dann tritt das ethische Problem sofort unter einen völlig neuen Aspekt. Nicht, dass ich gut werde noch dass der Zustand der Welt durch mich gebessert werde ist dann von letzter Wichtigkeit, sondern dass die Wirklichkeit Gottes sich überall als die letzte Wirklichkeit erweise. Dass also Gott sich als das Gute erweist, auf die Gefahr hin, dass dabei ich und die Welt als nicht gut, sondern als durch und durch böse zu stehen kommen, wird mir dort zum Ursprung des ethischen Bemühens, wo Gott als letzte Wirklichkeit geglaubt wird. Alle Dinge erscheinen ja im Zerrbild, wo sie nicht in Gott gesehen und erkannt werden. Alle sogenannten Gegebenheiten, alle Gesetze und Normen sind Abstraktionen, solange nicht Gott als die letzte Wirklichkeit geglaubt wird. Dass aber Gott selbst die letzte Wirklichkeit ist, ist wiederum nicht eine Idee, durch die die gegebene Welt sublimiert werden soll, ist also nicht die religiöse Abrundung eines profanen Weltbildes, sondern es ist das gläubige Ja zu dem Selbstzeugnis Gottes, zu seiner Offenbarung. Handelte es sich bei Gott nur um eine religiöse Idee, so wäre nicht einzusehen, warum nicht hinter dieser angeblichen „letzten“ Wirklichkeit auch noch eine allerletzte Wirklichkeit der Götterdämmerung, des Göttertodes bestehen sollte. Nur sofern die letzte Wirklichkeit Offenbarung, das heißt Selbstzeugnis des lebendigen Gottes ist, ist ihr Anspruch erfüllt. Dann aber fällt an dem Verhältnis zu ihr die Entscheidung über das Lebensganze. Ihre Erkenntnis ist nicht nur ein stufenweises Fortschreiten zur Entdeckung innerer tieferer Wirklichkeiten, sondern diese Erkenntnis ist der Wende- und Angelpunkt aller Wirklichkeitserkenntnis überhaupt. Die letzte Wirklichkeit erweist sich hier zugleich als die erste Wirklichkeit, Gott als der Erste und der Letzte, als das A und das O. Alles Sehen und Erkennen der Dinge und Gesetze ohne Ihn wird zur Abstraktion, zur Loslösung vom Ursprung und vom Ziel. Alles Fragen nach dem eigenen Gutsein beziehungsweise dem Gutsein der Welt wird unmöglich, ohne vorher die Frage nach dem Gutsein Gottes gestellt zu haben, denn was sollte ein Gutsein des Menschen und der Welt ohne Gott für eine Bedeutung haben? Da aber Gott als letzte Wirklichkeit kein anderer ist als der, der sich selbst bekundet, bezeugt, offenbart, also als Gott in Jesus Christus, so kann die Frage nach dem Guten nur in Christus ihre Antwort finden.

Der Ursprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ich, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus. Das ist die Zumutung, die redlicherweise vor allem anderen an jeden gestellt werden muss, der sich das Problem einer christlichen Ethik angelegen sein lassen will. Sie stellt vor die letzte Entscheidungsfrage, nämlich mit welcher Wirklichkeit wir in unserem Leben rechnen wollen, mit der Wirklichkeit des Offenbarungswortes Gottes oder mit den sogenannten Realitäten des Lebens, mit der göttlichen Gnade oder mit den irdischen Unvollkommenheiten, mit der Auferstehung oder mit dem Tod. Diese Frage selbst, die kein Mensch von sich aus, aus eigener Wahl entscheiden kann, ohne sie falsch zu entscheiden, setzt schon die gegebene Antwort voraus, dass nämlich Gott, wie auch immer wir uns entscheiden, schon sein Offenbarungswort geredet hat und dass wir auch in der falschen Wirklichkeit gar nicht anders leben können als von der wahren Wirklichkeit des Wortes Gottes. Die Frage nach der letzten Wirklichkeit versetzt uns also bereits in eine solche Umklammerung durch ihre Antwort, dass wir uns gar nicht mehr entwinden können. Sie trägt uns selbst mitten hinein in die Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, aus der sie herkommt.

Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen, wie das Problem der Dogmatik die Wahrheit der