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Die Romanhandlung erzählt über das Fremd-Sein in der Welt. Die Kernthematik befasst sich mit dem Prozess des Rückwärtsalterns. Im Mittelpunkt der Erzählhandlung steht der Hauptprotagonist Sillas, der als Toter geboren wird, das Leben rückwärts durchlebt und schließlich als ungeborener Fötus beim Orgasmus seiner Eltern stirbt. Im Laufe der Erzählhandlung werden die verschiedenen Entwicklungsphasen beschrieben, die der rückwärtsalternde Sillas durchlebt. An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass dieses Buch einen indirekten Bezug auf meinen ersten Roman nimmt. Das wird deutlich, als Sillas im weiteren Verlauf der Erzählhandlung auf seinen älteren Bruder Glathener trifft, der zugleich auch als Hauptprotagonist meines ersten Romans dient. Deshalb gilt dieses Manuskript als indirekte Fortsetzungsfolge meines ersten Romans. Die Erzählhandlung begleitet den Hauptdarsteller durch die verschiedenen Entwicklungsphasen beginnend mit seiner Auferstehung als alter Mann auf einem nächtlichen Friedhof, gefolgt von seinem provisorischen Wohnaufenthalt beim Freund und der Zeit als Kriegstourist in einem Land, dessen Name aufgrund von Datenschutzgeheimnissen nicht verraten wird bis hin zu seiner Kindheit im Armutsviertel. Statt in die Zukunft führt dieses Buch in die Vergangenheit des Hauptprotagonisten. Die Erzählhandlung erschafft somit eine Welt außerhalb unseres herkömmlichen Zeitempfindens. Der Roman endet damit, dass Sillas im Moment der Zeugung als ungeborener Fötus beim Orgasmus seiner Eltern stirbt. Der Tod im Augenblick seiner Zeugung kennzeichnet zugleich auch die Neugeburt von Sillas. Im darauffolgenden Epilog wird als Nachwort beschrieben, wie das Leben eines frisch geborenen Säuglings in dem Moment beginnt, als Sillas im Mutterleib stirbt. Es stellt sich heraus, dass der Neugeborene das Bewusstsein des verstorbenen Sillas in sich trägt. Daraus folgt, dass der Hauptprotagonist als neugeborener Säugling in einem Paralleluniversum weiterlebt.
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Seitenzahl: 114
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Von Alexandra Caragata
Die Hände rissen sich sanft aus dem Herzen der Erde und fremde Landschaften begrüßten den Neuling wieder ins alte Heim. Um ihn herum senkte die Dunkelheit ihren tiefen Schatten. Die Gräber verneigten sich vor dem Auferstandenen und die Erde gewährte freien Lauf.
Im Tod gab es die Stille. Aber die Stille verschwand, sobald es Leben gab. Daran dachte Sillas, als sich das Gefühl seiner wühlenden Hände dem Körper bemächtigte. So verschwand die Stille, als wäre sie nie dagewesen.
Der Lärm schien betörend. Nicht unweit waren Menschen zu hören. Um späte nächtliche Uhrzeit. Unterhaltungen, Gekicher, böse, belustigte Worte. Alleine die Musik der Natur konnte ihn daraus retten. Zum ersten Mal seit undenkbarer Zeit konnte Sillas wieder den Gesang der Eule hören, ihre tiefen verschreckten Schreie als nächtliche Hymne.
Sillas spürte seine Hände, er fühlte die alten, heraustretenden Adern, er strich sich über die faltige rissige Haut, die wie Schleifpapier kratzte. Immer höher streckten sich diese alten Hände empor und gruben sich den Weg nach draußen. Ins Freie. Bis das Gesicht und der Körper frei wurden. Nun konnte Sillas seine Umgebung erkennen. Ein Friedhof. Rund um ihn nur die Trauerlandschaft der Gräber und Bäume und Bänke.
Die Erde fühlte sich sandig, körnig und bitter auf seiner Zunge an. Gierig saugte Sillas die freie Luft in sich auf, ausgehungert setzten sich seine Schritte in Bewegung. Sillas hatte nichts mehr zu verlieren – außer sich selbst. Aber: Wer war er selbst? Ein leerer Name ohne Erinnerungen. Bei diesem Gedanken betrat er die Reise ins Ungewisse. Seine Beine fühlten sich schwer an, von der Last der Zeit getragen. Die Schritte zitterten bei jedem Anlauf. Befremdlich und ungewöhnlich war das Gehen für ihn.
Sillas hatte ein zweites Leben erhalten. Eine zweite Chance. Er kam als alter Mann zur Welt und sollte als Baby beim Orgasmus seiner Eltern sterben. Diese Geschichte, Sillas Geschichte bildet zugleich das Fundament für diese Erzählung.
Mit langsamen, wackeligen Schritten machte sich Sillas auf den Weg in die Freiheit. Es war ihm klar, dass diese gewonnene Freiheit ihm Ungewissheit schenkte. Ungewissheit für den Faden der Zukunft, der sich aus der Vergangenheit nährte.
Sillas verabschiedete sich vom Friedhof der verlassenen Existenzen und betrat bald ein Wäldchen. Er nahm einen langen Fußmarsch auf sich und gewann allmählich wieder das Körpergefühl über seine laufenden Beine. Sillas marschierte vorbei an den Ruinen der Vergangenheit. Geschlossene Fabriken. Verlassene Hotels. Überbleibsel aus der Geschichte einer Nation.
Aus den Ruinen dieser Vergangenheit tauchte Sillas in die Gegenwart des Industriegebiets ein. Lange marschierte er durch das unbekannte Industriegebiet, das sich in der Nähe der verlassenen Ruinen befand.
Während dieses langen Fußmarsches machte Sillas eine seltsame Entdeckung. Zwei Hirsche mitten im Industriegebiet. Ungewöhnlich-zutrauliche Wildtiere, verirrt in der menschlichen Zivilisation. Nicht unweit von der Schnellstraße.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen beobachtete der auferstandene Greis die verirrten Wildtiere entlang der Schnellstraße. Zwei Hirsche, ungestört vom tobenden Verkehrslärm der rasenden Autos. Sich selbst überlassen. Sillas konnte nur staunen. Die verlassenen Hirsche weideten auf dem Parkplatz eines Wäschereiunternehmens, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Hin und wieder liefen die Wildtiere auch zwischen den geparkten Fahrzeugen herum.
Sillas fing an, sich Fragen zu stellen: Was hatten diese Wildtiere im Industriegebiet zu suchen? Normalerweise seien Hirsche menschenscheu. Reine Waldtiere. Das wusste der auferstandene Greis instinktiv aus dem früheren Leben. Deshalb lag die Vermutung nah, dass die Hirsche auf der Flucht vor Jägern seien; schließlich hatte Sillas während seines Fußmarsches zahlreiche Jägersitze in den umliegenden Wäldern gesehen.
Aus Angst vor den Jägern hatten sich die beiden Hirsche vermutlich vor ihrem natürlichen Dasein, dem Wald entfernt und waren mitten auf dem Parkplatz eines Industrieunternehmens gestrandet, denn dort mussten sie nicht um ihr Leben bangen.
Auf der Flucht vor den Menschen und schließlich unter den Menschen gestrandet. Ein unauflöslicher Widerspruch, der Mensch sein alleiniger Verursacher.
Zugleich ließen die in der Zivilisation gestrandeten Hirsche eine Vorahnung zu – die Vorahnung, dass der Platz fehlte. Für die Natur. Für das Allein-Sein. Für die Harmonie. Für die Gesundheit. Für die Privatsphäre.
Sillas betrat eine zugebaute Gesellschaft, die stets nur auf Fortschritt bedacht war. Eine modernisierte Gesellschaft, wo sich der Mensch alles nahm, was im Weg stand.
Gedankenverloren marschierte Sillas weiter. Bis ihm ein Streifenwagen entgegenkam. Der Lärm der Polizeisirene pochte in seinen Ohren. Erst dann bemerkte Sillas, dass er mitten auf der Verkehrsstraße lief.
Es gäbe keine Zeit für Ausreden. Er sei mitten auf einer belebten Verkehrsstraße gelaufen. Ob er denn ein Zuhause habe, wollte der Polizist wissen. Sillas antwortete nicht. Es schien, als ob er die Sprache verlernt hätte. Schweigend, mit dem Kopf nach unten gerichtet, so saß er da im Verhörzimmer der Polizei. Drei Polizisten waren anwesend, zwei Männer und eine Frau.
Ob er ein Zuhause habe, so die wiederholte Frage des Polizisten. Ein stilles, schüchternes Nein, die Antwort von Sillas. Bei dieser Antwort schlug der Polizist hart auf den Tisch des Verhörzimmers. Sillas wurde nach draußen in die Sperrzone des Polizeireviers eingeladen.
In der Sperrzone präsentierte der Polizist ihm ein fremdes, unbekanntes Auto. Ob er dieses Auto kenne, so die Frage des Polizisten. Sillas schüttelte schweigsam den Kopf. Mit diesem fremden Auto sei er aber gefahren, beharrte der Polizist.
Sillas wurde verwirrt, man habe ihn doch angehalten, weil er mitten auf der belebten Verkehrsstraße lief. Ja, aber zuvor sei er mit diesem fremden Auto gefahren, dann ausgestiegen und angehalten, so die weitere Aussage des Polizisten.
An seinem unangemessenen Fahrstil hatten die Polizisten erkannt, dass etwas nicht stimmte. Zudem wurden überhaupt keine gültigen Dokumente für das Auto gefunden, scheinbar befand sich das Fahrzeug nicht im Besitz des Festgenommenen. Auch den Sicherheitsdreieck gab es in diesem Fahrzeug nicht.
Sillas wurde zunehmend verwirrter. Dieses Auto meinte er zum ersten Mal zu sehen. Damit sei er noch nie gefahren, sagte er zu den Polizisten. Er käme vom Friedhof, daraufhin sei er durch den Wald zur Schnellstraße gewandert, wo er auf Wildhirsche traf und von der Polizei festgehalten wurde. Die Polizisten sahen ihn ungläubig an, offenbar fühlten sie sich betrogen.
„Bitte lassen Sie mich gehen!“, flehte Sillas die Polizisten an.
„Sie müssen für Ihre schlechten Taten geradestehen“, so die Aussage des jungen Polizisten.
„Na gut, ich wusste nicht, was es für Folgen haben könnte“, erwiderte Sillas.
„Dummheit bestraft das Leben“, entgegnete die Polizistin, die den Fall am Computer protokollierte.
„Raus mit den Namen, wem gehört das Auto wirklich?“, brüllte der Polizist im Raum.
Für Sillas wurde die Situation immer auswegloser. Er musste raus, die stickige Luft des kleinen Verhörzimmers benebelte seine Sinne. Bei diesem Gedanken fiel ihm auch eine passende Ausrede ein.
„Ich habe starke Halsschmerzen und muss dringend raus“, klagte Sillas.
„So schnell kommen Sie hier nicht weg“, schrie der Polizist.
„Ich sterbe vor Halsschmerzen!“, rief Sillas und fasste sich am Hals.
„Dann haben wir keine andere Wahl, als den Krankenwagen zu holen, wir wollen ja schließlich niemanden quälen“, erwiderte die protokollierende Polizistin und lächelte heimtückisch.
Der zweite Polizist ging in das benachbarte Dienstzimmer, um den Notdienst anzurufen, während der andere Polizeibeamte im Verhörzimmer blieb und weiterhin auf Sillas einredete.
„Raus mit den Namen!“, so die wiederholte Forderung des Polizisten.
„Offenbar hat das gestohlene Fahrzeug ein polnisches Kennzeichen, gehört es dann einem Polen?“
„Ich weiß es nicht, bitte lassen Sie mich raus, die Halsschmerzen sind wirklich unerträglich“, Sillas täuschte Tränen vor.
In diesem Moment kam der zweite Polizist wieder und kündigte an, dass der Notdienst in wenigen Minuten da sein werde. Danach folgten weitere, scheinbar endlose Fragen rund um das gestohlene Fahrzeug, die der unwissende Sillas jeweils mit „Ich weiß es nicht“ oder mit der Aussage „Ich habe so starke Halsschmerzen“ beantwortete.
Das setzte sich so fort, bis der Krankenwagen eintraf und der festgenommene Sillas nach draußen gebeten wurde. Daraufhin stieg er in den Krankenwagen ein und wurde vom zuständigen Notarzt untersucht.
Der Notarzt schien, die anwesenden Polizisten gut zu kennen, denn sie duzten sich untereinander. Womöglich sei es so wegen den häufigen Polizeieinsätzen, dachte Sillas, während er im Krankenwagen untersucht wurde. Die ärztliche Untersuchung dauerte nicht lange – schnell gelangte der Notarzt zu der Feststellung, dass der Festgenommene kerngesund sei.
„Trotz Ihres fortgeschrittenen Alters erfreuen Sie sich bester Gesundheit“, sagte der Notarzt zu Sillas.
„Siehst du, so eine dämliche Ausrede, diese angeblichen Halsschmerzen!“, rief einer der Polizisten zum Notarzt.
„Das kann nicht sein…“, wollte Sillas sagen, aber er kam nicht dazu, denn die Polizisten waren schneller und packten ihn schmerzhaft an den Schultern.
„Zurück ins Verhörzimmer!“, brüllten die treuen Gesetzeshüter.
Sillas wollte aufgeben, sich von den Polizisten abführen lassen, und der Notarzt war gerade dabei abzufahren – in diesem Augenblick kam die Rettung. Die Rettung trug die Gestalt des polnischen Freundes, woran sich Sillas offenbar nicht mehr erinnerte.
„Wer sind Sie denn?“, so die verwunderte Frage des Polizisten.
„Was sucht mein Auto auf Ihrem Polizeirevier?“, so die Gegenfrage des Freundes von Sillas.
„Wir dachten, es sei ein gestohlenes Fahrzeug“, antwortete der Polizist.
„Wir müssen einiges klären“, sagte der Freund von Sillas.
„Erstens: Dieser festgenommene Mann hier ist mein Freund. Zweitens: Ich habe ihm mein Auto freiwillig ausgeliehen. Sie liegen falsch bei der Vermutung, dass dieses Fahrzeug gestohlen sei.“
Die Polizisten sagten zunächst nichts, ihre unverständlichen Blicke wanderten zwischen dem alten, schäbigen Sillas und seinem Freund.
Schließlich richtete einer der Polizisten die Frage an Sillas: „Kennen Sie diesen Mann?“
„Ja“, antwortete Sillas, obwohl er nicht den Eindruck hatte, sich an diesen Mann zu erinnern.
„Na gut“, erwiderte der Polizist misstrauisch. Wieder folgte ein Moment lang Stille.
Schließlich sagte der Polizist zum Freund von Sillas: „Offenbar sind Sie Ihrer Pflicht als Autofahrer nicht gefolgt. In Ihrem Fahrzeug gibt es keinen Sicherheitsdreieck und ein paar weitere Mängel sind noch zu verzeichnen. Deshalb müssen wir Ihnen eine Geldstrafe verhängen.“
„Den Strafzettel können Sie mir per Post schicken“, erwiderte der Freund von Sillas zum Polizisten und ging mit ihm ins Dienstzimmer, um seine Kontaktdaten zu hinterlassen.
„Warte hier kurz, ich werde gleich bei dir sein“, sagte der Freund zu Sillas.
Sillas blieb zurück auf dem Parkplatz des Polizeireviers und beobachtete, wie der Krankenwagen abfuhr. Die Wartezeit schien lange. Sillas geriet ins Grübeln. Immerhin war er jetzt an der frischen Luft, und nicht mehr in diesem stickigen, kleinen Verhörzimmer. Er war auf freiem Fuß. Zurück im Leben.
Alles schien ihm so fremd, die Auferstehung und die wilde Naturwelt mit ihren seltsamen Begebenheiten, das angeblich gestohlene Fahrzeug und der Mann, der sich als sein Freund ausgab. Fremde Landschaften… Und dabei war er zurückgekehrt. In diese fremden Landschaften, die zum Teil seines Lebens wurden. Ja, er lebte, erlebte und miterlebte ein Dasein, das ihm nicht gehörte.
Die Stimme des unbekannten Freundes ertönte. Plötzlich erwachte Sillas aus dem gedanklichen Halbschlaf.
„Worauf wartest du noch, steig ein“, rief der Freund ihm zu.
Obwohl das Auto des Freundes nur wenige Meter von ihm entfernt stand, rannte Sillas mit schneller Geschwindigkeit dahin und dann stieg er wortlos ins fremde Auto ein. Kurz danach fuhr der unbekannte Freund ab. Auf Nimmerwiedersehen, treue Gesetzeshüter, dachte sich Sillas.
Der unbekannte Freund seufzte voller Anspannung, offenbar war er gestresst, und das war verständlich.
„Den Strafzettel werde ich in der kommenden Woche beim Polizeirevier persönlich abholen müssen“, sagte der Freund zu Sillas.
„Es tut mir leid“, erwiderte Sillas.
Der Freund schüttelte traurig den Kopf.
„Es wird an der Zeit, dass du dein Leben auf die Reihe kriegst, du bist so alt und stehst noch immer nicht fest im Leben, Sillas“, sagte der gutwillige Freund zu ihm.
„Ich verstehe“, erwiderte Sillas.
„Bei mir wirst du nur vorübergehend wohnen können“, sagte der unbekannte Freund.
Sillas nickte abwesend mit dem Kopf.
„Warum verhältst du dich so...?“, fragte der Freund, ohne die Frage zu beenden.
„Wie verhalte ich mich?“, fragte Sillas unwissend.
„So fremd, du verhältst dich so fremd“, erwiderte der Freund.
„Als ob du mich überhaupt nicht kennen würdest, dabei sind wir gute Freunde seit vielen Jahren.“
Sillas wurde unsicher und suchte sich so die gedanklichen Worte und Sätze als passende Reaktion auf die Aussage des Freundes zusammen. Zu viel Angst hatte er davor, das Falsche zu sagen.
„Obwohl wir Freunde sind, kann ich mich nicht an dich erinnern“, schickte sich Sillas an.
„Du weißt nicht, wer ich bin, das glaube ich nicht“, sagte Dariusz, der polnische Freund.
Sillas sah ihn weiterhin ungläubig an. Schließlich erkannte Dariusz, dass sein Freund wirklich nicht den Eindruck machte, als würde er sich an ihn erinnern.
„Ich bin Dariusz, dein langjähriger Freund.“
In diesem Moment, als der langjährige und doch unbekannte Freund sich gezwungen sah, die seelische Notlage von Sillas zu erkennen, da kamen sie an. Sie kamen zu Hause an.
Es galt jedoch, Vorsicht zu bewahren mit diesem WortZuhause, denn nur Dariusz konnte von diesem Wort Gebrauch nehmen. Dariusz hatte ein Zuhause, Sillas dagegen hatte nichts dergleichen.
Das WortZuhause– das war die Wohnanschrift von Dariusz. Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte hatte Sillas nämlich kein Zuhause, keine Wohnung, keine Familie.
„Wir sind da“, sagte der Freund plötzlich zu Sillas, nachdem er das Fahrzeug geparkt hatte.
„Wo?“, fragte Sillas unschlüssig.
„In der Fremde“, scherzte der Freund übermutig.
„Na, bei mir zu Hause sind wir angekommen, hier wirst du nur vorübergehend wohnen können, also bitte, nichts Langfristiges.“
Bei dieser Aussage spürte Sillas, wie die Übelkeit in ihn heraufstieg. Wie ein Knoten, der zu fest im Rachen sitzt. Er hatte das Gefühl, an seinem eigenen Kummer zu ersticken.
„Steig doch aus, worauf wartest du noch“, rief der Freund zu Sillas.
Sillas stieg aus. Langsam, mit zitternden Beinen schritt er dahin, ins Ungewisse. In die Fremde. Und er sah eine Landschaft mit lauter verlassenen Autos. Die Fahrzeuge, die auf dem häuslichen Hof des Freundes standen, schienen vor langer Zeit nicht mehr befahren worden zu sein – so kaputt sahen sie aus.
„Warum gibt es hier so viele kaputte Autos?“, fragte Sillas.
„Ich bin Schrotthändler, kaputte Autos sind mein liebstes Werkzeug, schon vergessen“, erwiderte Dariusz.
„Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern, ist dein Gedächtnis etwa in der Walachei verschwunden, hmm?“
Sillas antwortete nicht, sondern wandte den Kopf nach unten.
„Geht es dir gut?“, fragte Dariusz besorgt.
„Mir ist übel“, stammelte Sillas dem Ersticken nahe.
Der unsichtbare Knoten hatte sich in seinem Rachen verdichtet, verfestigt und verengt. Bis Sillas kaum noch Luft bekam. Statt der Luft schien es ihm, als würde er nur noch Schmerzen, lauter Halsschmerzen atmen.
Sillas fühlte sich erschöpft. Wahrgenommen wie ein Mensch dritter Klasse. Ein Mensch der vorübergehenden Wohnmaßnahme. Und genau das verursachte ihm eine unerträgliche, körperliche Übelkeit.
Sillas wurde schwach. Er konnte nicht mehr gegen das Unwohlbefinden ankämpfen. Er wollte wieder in den Tod zurückkehren. Wie ein vermenschlichter Zombie, der zum Gegenstand des öden Alltags geworden war. Und so übergab er sich.