Im Leben der Geschichte vom Dasein - Alexandra Caragata - E-Book

Im Leben der Geschichte vom Dasein E-Book

Alexandra Caragata

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Beschreibung

Es handelt sich hierbei um einen Roman mit dem Titel: Im Leben der Geschichte vom Dasein. Dieser Roman erzählt die Hypnoseerfahrung des psychisch-labilen Hauptprotagonisten Glathener Kyrias, der eine Faszination für das Wortzählen hat. Im Laufe dieser Hypnoseerfahrung durchlebt der Hauptprotagonist die Reisegeschichte in eine unbekannte Parallelwelt, die in diesem Sinne als Papierwelt bezeichnet wird. Die Papierwelt besteht aus symbolischen Leidenschaften. Im Zuge dieser Erlebnisse verwandelt sich Glathener in den Wortzähler, da seine größte Leidenschaft dem Wortzählen gilt. Während des reisegeschichtlichen Verlaufs begegnet der symbolisierte Wortzähler mehreren verabscheuten Gefühls- und Gemütsvorstellungen (Freude, Konvention, geschlechtliches Neutrum), die sich dem Hauptprotagonisten in menschlicher Form zur Überwindung offenbaren. Im Verlauf der Reisegeschichte gibt es deshalb verdeckte Benennungen für bestimmte Aspekte, etwa allmächtigwissende Mobilitätsgeräte für Smartphones, der religiöse Reformator für Martin Luther oder der große Diktator während der Hungerrevolution für Mao Zedong. Die symbolische Reisegeschichte schließt mit der Ankunft des Wortzählers im Papierschloss. Dort begegnet er der Staubkönigin als Herrscherin zwischen Vergangenheit und Zukunft. Durch die Begegnung mit der Staubkönigin schließt der Wortzähler Frieden mit sich selbst und mit dem zeitlichen Geschehen – er löst sich von den zeitlichen Normen und von der Uhrzeit, er durchlebt die Zeit-Entschleunigung und findet so die eigene Zeit, die als eine Einheit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fungiert. Der Roman endet damit, dass Glathener aus der Hypnoseerfahrung wieder zum Bewusstsein erwacht und die Reisegeschichte, die er als Wortzähler durchlebte, zu Papier bringt.

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Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Im Leben der Geschichte vom Dasein

Titel SeitePrologDie PapierweltDie Vergangenheit, ein schwindender TraumDie ReisegeschichteIm Tintenfluss der verstorbenen WünscheDas geschlechtliche NeutrumErinnerung an die siamesischen BergeGedanken über menschliches DaseinDie LeidtragendenTitelEin unliebsamer AbschiedEingesperrt in der IndustrieZeitliche VerfremdungDer Handlungsfreiheit beraubtTitel - 1Titel - 2Titel - 3Titel - 4Titel - 5Titel - 6Titel - 7Titel - 8Titel - 9Titel - 10Titel - 11Titel - 12Titel - 13Titel - 14„Ich höre“, erwiderte der maschinelle Richter.Titel - 15Titel - 16Titel - 17Titel - 18„Ja, das bin Ich“, gestand der Richter.Titel - 19Titel - 20Titel - 21Titel - 22Titel - 23Titel - 24Titel - 25Titel - 26Titel - 27Titel - 28Titel - 29Im freien FlugTitel - 30Titel - 31Titel - 32Titel - 33Titel - 34Titel - 35Titel - 36Titel - 37Titel - 38Titel - 39Titel - 40Titel - 41Titel - 42Verwelkte TraumblüteTitel - 43Titel - 44Titel - 45Titel - 46Titel - 47Titel - 48Titel - 49Titel - 50Titel - 51Titel - 52Titel - 53Titel - 54Titel - 55Titel - 56Titel - 57Titel - 58Titel - 59Titel - 60Titel - 61Titel - 62Titel - 63Titel - 64Der IdeensammlerTitel - 65Titel - 66Titel - 67Titel - 68Titel - 69Titel - 70Titel - 71Titel - 72Titel - 73Titel - 74Titel - 75Titel - 76Titel - 77Titel - 78Titel - 79Titel - 80Titel - 81Titel - 82Titel - 83Titel - 84Titel - 85Titel - 86Titel - 87Titel - 88Titel - 89Titel - 90Titel - 91Titel - 92Die Stille wurde immer bedrückender.Titel - 93Titel - 94Titel - 95Titel - 96Titel - 97Titel - 98Titel - 99Titel - 100Titel - 101Titel - 102Wiedersehen mit dem gnädigen GelehrtenDas PapierschlossDie StaubköniginAbschied und HeimkehrLeben

Titel Seite

Im Leben der Geschichte vom Dasein

Von

Elmtrid Tettler

Prolog

Katharsis

Das Leben scheint viele Mysterien in sich zu bergen, viele undenkbare Dinge, die sich auf den zweiten Blick als realistisch denkbar entpuppen. So sah der Wortzähler das Leben an. Als ein reales Mysterium. Voller Zufallsketten, Undenkbarkeiten. Seine Fantasie vergrößerte sich, nahm märchenhafte Ausmaße. Die verwirrende Realität wurde ihm bedrohlich, gar verdächtig. Fantasiewolken standen dem Zerplatzen nah, Ideen schmerzten den Kopf. Die Wörter wurden fleißig gezählt. Tag für Tag, Stunde um Stunde, Sekunde um Sekunde, seitdem er sich als Individuum begreifen konnte. Das blieb ihm lange Zeit ein Lebenssinn in der Welt.

Bis dann eines Tages – dunkelheitsverhangen, vernebelt – der Wortzähler seine Messerspitze umarmte, die ihn aus dieser Welt befördern sollte. Er hielt seine Leidensentschädigung fest umschlungen in der Hand, eine seiden-glänzende Messerspitze aus schönem Edelstahl.

Die Kopfschmerzen wurden wirklichkeitsberaubend, die Hand zittrig, die Sicht unscharf, die Zähne verfaulend. Ein paar wenige verschmierte Sätze im Tränenfluss, ein Elendsblatt des Abschieds, die Reise stand an, eine Reise ohne Wiederkehr, ins ungewisse Land. Das Blut tropfte ihm aus dem Zahnfleisch, die Schmerzen zerflossen mit dem Blut, die Messerspitze entglitt seiner Hand, das letzte Werk war vollbracht, es galt nun abzuwarten, die Zeit abzuwarten. Bis auch die Realität zerfloss mit dem Blut und den Schmerzen und die Ohnmacht zur Quelle der Erlösung wurde. Die Sinne entfernten sich allmählich vom Körper, das Licht wurde dunkel vor seinem Angesicht, lediglich ein lauter Piepton war vernehmbar und je leiser der Ton wurde, umso mehr erschlaffte der Herzschlag, bis die Wirklichkeit zur Dunkelheit wurde. Befreiungsakt von pochenden Geistesblitzen, den Ideen seiner Vergangenheit ganz fern. Mentaler Selbstreinigungszustand, Schmerzzufuhr. Ein amputiertes Zahnfleisch in ohnmächtigen Händen.

Von den Gedanken wurde der Wortzähler durch die Dunkelheit geleitet, in rasendem Geistestempo, die einzige Helligkeit waren die Türen, unzählige Türen, die sich rasch hintereinander öffneten, ihr Licht von unbeschreiblicher Helligkeit. Durch jede dieser Tunneltüren sah der Wortzähler einen Lebensabschnitt vorbeiziehen, schnellbewegte Filmaufnahmen von der Vergangenheit, die gestorben ist, vom jungen Ich, das nie wieder jung sein wird, das eigene Leben in der Welt der Materie – ein geistiges Resümee von dem, was einmal war. Jeder Abschnitt wird noch einmal durchlebt, jedes Gefühl wird noch einmal durchfühlt, mit höchstbeschleunigender Sorgfalt, in klarheitsberaubender Schnelligkeit, das ist die Ewigkeit in einem Augenblick…

Erinnerungen verschwinden in die Vergessenheitsskala, dringen nach oben auf die höchsten Rangplätze, letzte Vergangenheitsflecken verblassen ins Nirgendwo, verfliegen mit den vergessenen Schmerzen. Vergessenheit. Ankunft im Nirgendwo vom Irgendwo. Ein Fenster tut sich auf, im Irgendwo vom Nirgendwo, am Ende aller Türen des Tunnels. Und dieses Fenster spuckt Licht heraus, ein ansteckendes Licht, hell aber nicht blendend, sanft aber nicht zudringlich, offenbart das Fenster am Ende des Tunnelganges ein Bild; der Wortzähler erkannte darin seine Zeit, die Zukunft, die bevorstand und er trat auf die andere Seite des Fensters, hinterließ das zurück, das hinter ihm lag, die Vergangenheit. Aber: gab es so etwas überhaupt, so etwas wie eine Vergangenheit oder eine Zukunft oder eine Gegenwart – lebte die Hülle, sein ehemals physischer Körper nicht in unterschiedlichen Zeiten, die Zeit des Augenblicks, des Hochgenusses, die Zeit der Nimmerwiederkehr, wonach er sich in stillen Augenblicken sehnte, die Zeit der Fantasie, der geistesssüßen Tagesträume im einsamen Bett der Nacht – hatte er denn jemals seine Zeit gefunden, die Zeit, die ihm gehörte und nicht der Gesellschaft, die ihn umgab – der Wortzähler lebte in unterschiedlichen Zeiten, jede dieser Zeiten, eine Ausfluchttür von der kalten Realität in warme Gedanken hinein, gefüllt mit Zeitersparnissen.

Und nun leuchtete die Zeit entgegen, die eigene Zeit, ein Fenster tat sich auf, am Ende aller Tunneltüren, ein Fenster, das Licht spuckte, ein ansteckendes Licht, der Wortzähler hatte seine Zeit gefunden, seine Zeit war die Zukunft auf der anderen Seite der Wirklichkeit, die Zukunft, die bereitstand, für ihn, den Wortzähler – er brauchte nur in sie einzudringen. So trat der Wortzähler auf die andere Fensterseite, umarmte die gefundene Zeit, sein liebliches Besitztum, hinterließ das zurück, das hinter ihm lag, die Vergangenheit der mit Unsicherheit gefütterten Zeiten, die unzähligen Türen im Tunnel, der nun zu Nebel wird. Die Zeiten, sie änderten sich schwindend… Nun scheinen sie sich endlich zu einer Einheit zusammengefunden zu haben, einem unsichtbaren Staubknoten gleich, im Scheinfaden des Nebels verstrickt. Die Wirklichkeit, eine gefundene Zeit, andere Fensterseite, meine Zeit, Zeit….

Eine Stimme – im tiefen Inneren durchwühlend – sagte ihm, dass diese Türen das Leben symbolisierten, das Leben, das da hinter ihm lag.

Die Papierwelt

Der Wortzähler konnte sich seiner Ankunft nicht mehr entsinnen. Die Zeit hatte einen Stillstand erlitten. Er war angereist – so schien es ihm – in die Welt der Wörter. Den Blick nach unten gerichtet, die Schritte von den Gedanken geleitet, so betrat er die Welt jenseits der Sinne.

Sie hieß ihm willkommen, die Welt der papiernen Wörter. Überall wo der Wortzähler sie mit dem verzweifelt- liebenden Blick der Schrift durchforstete, fand er seine Leidenschaft wieder. Die Wörter. Eine lieblichpapiernzartduftende Welt der Sprache. Ganze Landschaften, Wiesen, Bäume, umhüllt in die streichelsanftgeschmeidigen Blätter der Schrift. Ein beschrifteter Himmel. Sterne, die nach Buchstaben glänzten. Flüsse aus Tinte. Beschriftete Baumäste, die sich lesbar darboten. Die ganze Welt war eine Geschichte aus Papier. Eine Geschichte, die überall in der Natur stattfand. Er konnte diese Schönheit bereits von der Ferne durchschauen, ohne wirklich in sie eingedrungen zu sein.

Nach einer Weile des regungslosen Anblicks fasste der Wortzähler seinen geistigen Mut zusammen. Ihm blieben keine Verluste mehr übrig, die physische Wirklichkeit war eine ferne Vergangenheit, und obwohl der Abschied frisch war, schien es für den Wortzähler, nie einen Abschied gegeben zu haben. Die Papierwelt bahnte ihn in ihren Duft – je mehr er in sie eintauchte – und alle Vergänglichkeit, alles Leid wurde vergessen. Die physische Lebensgeschichte wurde wegradiert, mit weißer Blendungsfarbe überstrichen, allein der Lebenssinn blieb ihm ein unsterbliches Denkmal seines Selbst. Der Sinn offenbarte sich in dieser Welt der Wörter, die ihre beschriftete Pforte für den Seelenverwandten öffnete, eine Welt, die sich aus Schriftstücken nährte. Sein Lebenssinn. Viele Buchstaben, Wörter, Sätze, Geschichten erwarteten ihn dort – sie warteten darauf von ihm gezählt zu werden, hafteten überall in der Natur herum, einem vegetierenden Eigenleben gleich. Sein Blick sprach ihm die Freude vorzeitig zu, denn die geistigen Augen erreichten die Landschaften aus Sprache, von fernher. Der Wortzähler beschritt den Boden seines Geistes, langsam, bedächtigen Schrittes. Er ging durch die geöffnete Pforte, trat in die Leidenschaft ein.

Angekommen in der Papierwelt, folgte der Wortzähler fortan seiner inneren Stimme; ihm wurden gedankliche Laute vernehmbar, die forderten: sein Blick möge sich auf den frisch gewonnenen Leib richten. Und die Augen erfassten einen Leib aus weißem Papier. Ein Leib, der raschelte und seinen Geist umhüllte, ein Leib, der mit einer Geschichte beschriftet ward, seine eigene Lebensgeschichte. Die Gedanken wurden schmerzhaft bei dieser Erkenntnis. Hatte er noch ein Gesicht, Beine, Arme, eine Identität? Nein, es sei lediglich die Form hiervon übrig, das Urgesicht, die Urform eines menschlichen Körperbaus; der innere Zusammenhalt dieses menschenähnlichen Formgebildes seien jedoch nicht die Organe, sondern papierbestückte Geschichten. Dem Wortzähler gelang es nicht, die eigenen Gedanken zu verstehen, sie zeugten von Verwirrung, ja es war ihm, als wenn seine Gedanken eine Fremdherrschaft im eigenen Selbst übernahmen. Er hörte auf, sich mit der Frage nach der gedanklichen Fremdherrschaft zu belästigen, zu verlockend standen ihm die zahlreichen Wörter, Geschichten vor dem inneren Auge; ihm wurde nur lediglich gewahr, dass die Seele sich seinen Gedanken entfremdete, eigene Wege ging, auf eine hinterlistige Art. Doch wenn nicht die Gedanken das eigene Selbst waren – wer war er dann?

Ungeachtet dieser belastenden Fragestellungen entschied sich der Wortzähler, seine Lieblingsbeschäftigungsinnenwelt weiter zu verfolgen, und zu entdecken. Der Blick erfreute sich an den vielen Schriftzügen der Wolken, des Himmels, der Natur. Da trat ihm ein Wesen entgegen, es besaß die menschlich-anatomische Urform, aber eine Haut aus weißem Papier, durchzogen von unzähligen reihenförmig gegliederten Schriftzügen, sodass der wortzählende Geist des Neuankömmlings augenblicklich verstummte. Das Wesen stellte sich ihm als der gnädige Gelehrte vor. Der Wortzähler erwiderte nicht den Gruß, gedankenverloren schien er einem frischen, noch nie dagewesenen Kummer verfallen zu sein.

„Warum Sie nicht antworten?“, wollte der gnädige Gelehrte wissen.

Immer noch keine Antwort.

„Sie scheinen wohl den Blick steinfest auf meine schöne Schrifthaut gerichtet zu haben, Herr Wortzähler? Nun kennen Sie denn auch den Sinn hinter all´ diesen Schriftzügen, die meine Haut bedecken?“

Der Wortzähler kämpfte mit dem Missgeschick seiner Gedanken. „Nein, verehrter Gelehrte der Gnade, ich kenne nur meine Unfähigkeit, Ihre Schriftzüge zusammenzuzählen.“

Der gnädige Gelehrte stoß ein schadenfrohes Lachen aus. „Die Schriftzüge auf meiner Haut beherbergen eine Geschichte, meine eigene Geschichte. Ich bin urgekleidet im eigenen Lebensverlauf. Heben Sie den Blick vom Boden, betrachten Sie die neue Umgebung, fühlen Sie sich so frei, Herr Wortzähler!“

Und der Wortzähler hob seinen schamvollen Blick vom Boden – zum ersten Mal besah er die anderen umliegenden Wesen der Bäume, Pflanzen, Tiere, des Himmels und der Wolken. Alle Wesen, die er sah, trugen einen Schriftzug aus un-un-unzähligen Buchstaben und Wörtern, deren Sinn und Anzahl der leidenschaftliche Wortzähler nicht erfassen konnte.

„Alle Wesen in unserer Papierwelt tragen ihre eigene Geschichte am Leib. Die unendlich lang scheinenden Schriftzüge auf der Hautoberfläche dieser Wesen, das ist ihr Lebensverlauf, ihre Geschichte.“

Die Wörter des gnädigen Gelehrten verstummten nach dieser Aussage, er entfernte sich rasch, ohne ein Wort des Abschieds. Der Wortzähler nahm sein Verschwinden nicht wahr, zu beschäftigt waren seine Blicke damit, den Himmel zu analysieren. Er suchte nach Sonne, nach Sternen und fand sie nicht – er fand nur den Himmel oder zumindest das, was wie ein Himmel aussah, eine Nachahmung des Himmels vielleicht, eine länglich-blassfarben-beschriftete Papierwand dort oben; da drängte sich ihm die Frage auf, warum es sie hier nicht gebe, die Sonne, den Himmel, die Nacht und den Tag. Der Himmel zeugte nur von einer papiernen Blässe der Schriftzeichen, nichts weiter. Und der Wortzähler drehte sich bei dieser Erkenntnis um, seine Blicke begaben sich auf die Suche nach dem gnädigen Gelehrten, er hatte eine Frage, einen ersten Mangel entdeckt – erst da wurde ihm bewusst, dass der Gelehrte längst verschwunden war. Da stoß der Wortzähler seine Frage in die papierraschelnde Luft hinaus; warum es sie hier nicht gebe, die naturbelassenen Beweismittel dafür, dass die Zeit, seine Zeit vergeht, das wolle er wissen, so die ausgebrüllte Aufforderung.

Ein Geräusch wurde ihm kurz danach vernehmbar, sein Gemüt verlangsamte sich, der Wortzähler wartete auf weitere Geräusche, verfolgte sie mit den Ohren. Vergeblich. Nur Stille. Da wurde sich der Wortzähler dem Schmerz der Hilfslosigkeit bewusst – das Geräusch entstammte seiner eigenen Stimme, es war der Schall davon. Und je länger sich der zeitliche Faden ausbreitete, umso größer wurde die WundeEinsamkeit. Der Wortzähler besann sich allmählich nicht mehr auf seine Begabung, das Wortzählen. Ihm blieben die Fragen übrig, unzählige, langausdehnte Fragen, ohne Antworten. Warum es diese Welt gab? War sie ein Erzeugnis seiner eigenen Fantasie oder eine parallele Wirklichkeit? Wie lautete der Sinn dieser Welt aus Papier? Warum gab es hier keine Himmelsgestirne? War er, der Wortzähler, tot? Oder hielt er sich in einer anderen Wirklichkeit auf? Vielleicht in einer Wirklichkeit der spielenden Worte? Ruhelosigkeit. Fieberhafte Fragen. Selbstgespräche mit der Stille. Erfreulich-beängstigend. Keine Gegenreaktionen, keine Gegenwehr. Vollkommenster Zuhörerkreis. Die Stille unterbrach nicht, vergab keine Antworten.

Krampfhaft suchte der Wortzähler weiter, suchte nach dem Sinn des Lebens, suchte nach Antworten für unerklärliche Fragen, gab sich dem Gedankenfluss hin. Orientierungslos, ziellos, verschmäht, angekommen in den vollkommenen reaktionsträgen Frieden. Hier durfte der Wortzähler seine Leidenschaft ausleben: die Wörter und ihre Zahlen.

Ein süßlich-welker Duft berührte die Nasenwurzel, der Wortzähler folgte mit den Schritten in die Richtung des Geruchs. Seine Sinne hatten ihn nicht getäuscht, dem Anschein nach schienen Pflanzen, gediehene Pflanzen den Duft erzeugt zu haben. Seine Augen fingen unkrautähnliche Pflanzen ein, Landschaften überwuchernd wie Efeu – launische Vegetation im Humus eines kleinen Waldes, von herrlichem Grün umwoben. Die Schritte raschelten über das herrliche laubgrüne Papier derMutter Natur, und als er raschelte wurde sich der Wortzähler den Geräuschen bewusst, seinen eigenen Geräuschen. Er nahm sich anerkennend wahr, erkannte seine Existenz an den Schritten, denn er war diese Schritte, die verloren durch das Papier stapften, Spuren, die im Irgendwo vom Nirgendwo übrigblieben, in der Papierwelt, seiner eigenen Zeit, umgeben von bunten Landschaften aus papiernen Schriftzügen, Papierdüften, Papierfarben und den Geschichten aller Wesen, die diese Landschaften bevölkerten und bevölkern. Die Lebensgeschichten, die sich als Schriftstücke überall verankerten und verankern. Die eigene Zeit, der schönste Fund im Leben, denn alle erdenklichen Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – waren, sind und werden in ihr verankert sein, in der eigenen Zeit. Bei diesem Gedanken flimmerte ein kleiner Funken Lebensgeschichte, eine kleine verdunkelte Fenstertür, die immer näher rückte, vor dem Auge, den kein Blick erfassen kann.

Die eigene Vergangenheit tauchte als blasser Erinnerungsfleck auf, eine Plage des Gelebt-Worden-Seins: es war das, was hinter ihm lag. Schnell setzten die Gedanken auf Abwehr gegen die Qualen des Gelebt-Worden-Seins. In der Hülle eines Körpers. Die Selbstinszenierung für die Umwelt. Körpersprache, Äußerlichkeiten. Eine menschliche Vorstellung der besonders alltäglichen Art, Selbstexposition, nach außen bestimmte Lebenspräsentation. So schwimmen die Gedanken im Fluss der Vergangenheit des gesellschaftskonformen Gelebt-Worden-Seins, letzte Erinnerungsflecken tauchen auf.

Die Vergangenheit, ein schwindender Traum, der immerfort heller aufleuchtete, ein schwindender Traum, der sich zu einem Bild vereinigte und zur rasenden Wirklichkeit wurde und die Gedanken entblößte. Gesetzeskonformität, Regeln, Überwachung, Todesangst. Ja, es gab Ansatzstellen in dieser ehemals durchlebten Wirklichkeit… Ansatzstellen, wo die eigene Freiheit endete, weil die Freiheit des Stärkeren anfing… Es gab Ansatzstellen in dieser Wirklichkeit, wo nur Anpassung und Selbstbetrug zählten. Die Anpassung an die Anpassung der anderen Existenzen, weil die anderen Existenzen, die Gesellschaft diese Anpassung so verlangte, und nicht das Selbst, das wahre individuelle Ich… Deshalb wird die Evolutionstheorie immer und überall ihren Bestand finden... Denn überall, wo die physische Materie existiert, überleben nur die Bestangepassten … Darwins Grundsatz gilt überhaupt für alles Leben, das physisch, organisch, materiell ist. Der Fluch des menschlichen Verlassen-Seins, des Nicht-Dazugehören-Könnens, der inneren Kälte in kalter Realität, dieser Fluch fand einen Namen. Durch Darwins Hand. Es ist die Evolution und ihre herzliche natürliche Auslese. Der natürlichste Schrecken im Leben. Und an dieser Stelle setzt der Erinnerungsfleck des Wortzählers an das, was einmal war, an die wechselnden Zeiten der Vergangenheit.

Die Vergangenheit, ein schwindender Traum

Der Himmel über Drenkesians präsentierte sich mit milden Tagesfarben, Wolken von glasscherbenklarer Helligkeit, stechende Sonne, die verdunkelte Augen blendete. Ein schöner Sommermorgen. Perfekter Start in den Tag. So eine abgenutzte Redewendung, billionenfach kopiert, gebrandmarkt, überall nur nicht in mir, zum Glück…. Selbstbetrügerische Überlegenheit…Der perfekte Start in den Tag, tra la la, und schon steht das Wochenende vor der Tür, tra la la, die Arbeitskollegin schien köstlichen Gefallen daran zu finden, sie summte ein abgenutztes Lied mit schlechter Tonlage, vollkommen im Einklang mit ihrer lächerlichen Selbstinszenierung und schnell senkte Glathener Kyrias den Kopf, denn er anerkannte sie wieder, seine Umwelt, er anerkannte sie als Aversion, als verwünschte Wirklichkeit der physisch-organischen Lächerlichkeit, einzig der zum Boden gesenkte Blick mochte ihn davor bewahren. Vor weiteren Erniedrigungen.

Die summende Arbeitskollegin fixierte nun ihren Blick auf ihn, suchte offenbar nach Vorwürfen, nach einem neuen Opfer, das sie ärgern konnte – sie hatte das Opfer schnell gefunden, der neue Arbeitskollege.

„Ähm Herr Ky-Rias.“

„Glathener Kyrias, verehrte Kollegin, freut mich in ihre Bekanntschaft zu treten.“