Frida Kahlo - Linde Salber - E-Book

Frida Kahlo E-Book

Linde Salber

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Beschreibung

Frida Kahlo (1907-1954) hat in der Welt der Kunst neue Maßstäbe gesetzt: als eine Malerin, die ganz eigene, unerhörte Wege ging. Kahlo war geprägt durch die Ideale der mexikanischen Revolution, denen sie sich – wie ihr Mann Diego Rivera – schon früh verschrieb. Ihre Bilder enthalten aber mehr als einfache politische Botschaften, sie rücken Ursprüngliches in den Blick: die Mythologie präkolumbianischer Kultur, die Kraft organischen Wachstums, die Leiden des menschlichen Körpers. Die filigranen Werke dieser Künstlerin haben als Beispiel für das Abweichen vom «männlichen Prinzip» in der Malerei heute bereits klassischen Rang. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Linde Salber

Frida Kahlo

Über dieses Buch

Frida Kahlo (1907–1954) hat in der Welt der Kunst neue Maßstäbe gesetzt: als eine Malerin, die ganz eigene, unerhörte Wege ging. Kahlo war geprägt durch die Ideale der mexikanischen Revolution, denen sie sich – wie ihr Mann Diego Rivera – schon früh verschrieb. Ihre Bilder enthalten aber mehr als einfache politische Botschaften, sie rücken Ursprüngliches in den Blick: die Mythologie präkolumbianischer Kultur, die Kraft organischen Wachstums, die Leiden des menschlichen Körpers. Die filigranen Werke dieser Künstlerin haben als Beispiel für das Abweichen vom «männlichen Prinzip» in der Malerei heute bereits klassischen Rang.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Linde Salber, geb. 1944 in Tütz (Pommern), promovierte Diplompsychologin und Psychotherapeutin, arbeitete als Akademische Oberrätin an der Universität zu Köln. Ihr Forschungsschwerpunkt sind die Zusammenhänge zwischen Lebensgeschichte und künstlerischem Schaffen. Linde Salber war die letzte Analysandin Dorothy Tiffany Burlinghams und hat zusammen mit Anna Freud deren Beiträge zur Psychoanalyse des Kindes ins Deutsche übersetzt.

Für rowohlts monographien schrieb sie auch die Bände über Anaïs Nin (1992), Marlene Dietrich (2001) und Salvador Dalí (2004); bei Rowohlt erschienen außerdem «Der dunkle Kontinent» (2006) und «Tausendundeine Frau» (1996).

Wirkung: Frida Kahlo als Galionsfigur

1907 geboren, hat die mexikanische Malerin Frida Kahlo ihren Lebensbeginn eigenwillig auf das Jahr 1910 verlegt.[1] Das geschah allerdings nicht in dem eitlen Bemühen, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen. Das Jahr 1910 markiert vielmehr einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte Mexikos. Der Beginn der Unabhängigkeitskämpfe von der spanischen Kolonialherrschaft lag hundert Jahre zurück und wurde vom Volk begeistert gefeiert. Nun galt es, sich von der am spanischen Vorbild orientierten mexikanischen Regierung des Diktators Porfirio Díaz zu befreien. Im Mai 1910 erschien Halleys Komet über Mexico City – worin mancher ein Omen für den Erfolg der Revolution sehen wollte, die in diesem Jahr ausbrach.

Frida Kahlo hatte keine Scheu vor Gesten der Selbststilisierung. Auch für die Nachwelt ist sie eine Figur mit der Aura des Revolutionären. Die Art, wie sie mit den Mitteln der Malerei das durch einen Unfall verursachte Leiden ihres weiblichen Körpers in Szene setzte, ist zudem ein Moment, das Frida Kahlo für eine Kultfigur der Frauenbewegung prädestiniert. Auch ihre glücklich-unglückliche Liebe zu dem mexikanischen Revolutionsmaler Diego Rivera, den sie zweimal heiratete und der ihr mit seinen vielfältigen Liebesbeziehungen das Leben nicht gerade leichtgemacht hat, spielt eine Rolle. Ebenso wichtig ist Frida Kahlos Umgang damit. Als Tochter der mexikanischen Revolution löste sie sich vom tradierten Bild der Frau und nahm schließlich für sich dasselbe Recht auf sexuelle Freiheit in Anspruch. Ihr Erfolg als Malerin – bereits 1939 erwarb der Louvre ein Selbstporträt (Der Rahmen) der Zweiunddreißigjährigen – wird von vielen als Präzedenzfall dafür gewertet, dass sich eine Frau auch auf dem Gebiet der Kunst durchsetzen kann.

In ihrem malerischen Werk, das man als künstlerische Autobiographie eingeschätzt hat, meint man die Selbstkonfrontation, Selbstauslegung und Selbstbespiegelung eines Frauenlebens sehen zu können. Seit Frida Kahlo von der Frauenbewegung in den USA wie in Europa in den achtziger Jahren wiederentdeckt und vereinnahmt wurde, folgt eine Hommage der anderen, so zum Beispiel die Ausstellung «Pasión por Frida» in San Francisco in «The Mexican Museum», Sommer 1992, wo auch einzelne Bilder und Zeichnungen der Künstlerin ausgestellt wurden.

Befremdlich wirken die Objekte, die im Museumsshop zu erwerben sind. Man kann nicht umhin, sie als Heiligenandenken zu bezeichnen: Uhren mit Frida Kahlos Antlitz auf dem Zifferblatt, Ohrringe mit ihrem Foto, Sticker mit den charakteristisch zusammengewachsenen Augenbrauen, in Metall gefasste Fotos nach Art von Ikonen, T-Shirts und Jeansjacken mit dem Aufdruck von Fotos oder Selbstporträts der Malerin, Reproduktionen des Schmucks, den sie trug, und vieles mehr. Wortschöpfungen wie «Fridomanie» oder «Fridolatrie»[2] bringen das Phänomen auf den Punkt. Ihre Lebensgeschichte wurde in dramatischen Schauspielen und Filmen reinszeniert. Die Schauspielerin Madonna, die zwei Gemälde der Kahlo besitzt (Marktwert über eine Million Dollar), möchte als Frida Kahlo auf der Kinoleinwand erscheinen.

1984 erklärte die mexikanische Regierung Frida Kahlos Werk zum nationalen Erbe. Eine regelrechte Andenkenindustrie vermarktet Frida Kahlo wie eine Nationalheilige. So wird aus Kunst im Handumdrehen Kitsch. In allen möglichen Geschäften in Mexico City begegnen einem die Objekte wieder. Schon im Flughafen kann man Frida Kahlos kleinformatige Bilder auf großflächigen, glänzenden Postern sehen. Etwa vierzig Jahre nach ihrem Tod ist Frida Kahlo durchaus «anwesend». Im Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts in Mexico Citys Einkaufsviertel «Zona rosa» hängt ein Originalfoto, das die Künstlerin Lola Alvarez Bravo aufgenommen hat. Der Händler verwahrt in seinem Safe ein Päckchen Briefe von einem gewissen Dr. José Maria Carlejosa aus den Jahren 1945–1947; es sind Liebesbriefe an Frida Kahlo. Der Händler erbietet sich, einen Kontakt zu vermitteln mit Esther Velasquez Peña, der Witwe des verstorbenen mexikanischen Malers Aguirre. Sie besitze Liebesbriefe, die Frida Kahlo an Aguirre geschrieben hat, und trage sich mit der Absicht, ein Buch über Frida Kahlos Liebhaber zu schreiben. Die mexikanische Biographin Martha Zamora erteilt bereitwillig Auskunft über ihre Sicht von Frida Kahlo und berichtet, dass sie für den Abdruck eines Bildes von Frida Kahlo 195 US-Dollar an die mexikanische Regierung habe zahlen müssen.[3]

 

Über Frida Kahlo ist viel geschrieben worden. Darüber hinaus zeigt sich die Wirkung von Werk und Lebensgeschichte der Künstlerin darin, dass andere sie als Vorwurf für eigene Werke – Gemälde, Installationen, Skulpturen, Theaterstücke – wählten. In Bonn gab es im April 1992 eine Ausstellung lateinamerikanischer Künstlerinnen zu Ehren Frida Kahlos.[4] Am Eröffnungstag wurde ein Theaterstück[5] aufgeführt, das die Lebensgeschichte der Künstlerin in Szene setzte. Das Plakat zeigte eine Stuntwoman für Frida Kahlo, von hinten fotografiert, welche vor einem Spiegel posiert. Spiegel haben im Leben der Kahlo eine wichtige Rolle gespielt. In monatelangen Zeiten der Bettlägerigkeit war sie von Spiegeln umgeben.

Auf Gabentischen für die Toten, sogenannten Ofrendas, sah man, dem mexikanischen Brauch entsprechend, Fisch, Krokodil, Tortenstück und anderes in Pappmaché, belegt mit breiten Bändern, wie wir sie von Beerdigungskränzen kennen: «Ruhe in Frieden» oder «Ein stilles Gedenken» stand darauf geschrieben. Auch Früchtefotos, den Bildern der Kahlo entsprechend, vor gemalten Himmeln wurden ausgestellt oder eine dreifache Frida mit dem Titel «Frida: Friede, Freude, Frust».[6]

Eine Assemblage wurde gezeigt mit Spiegelchen, Kahlo-Fotos, Muscheln, Stoffrosen und Plastikblättern: «Recuerdos de Mujer» (Grüße der Frau) von Monica Luca, auch eine ovale Kopie eines Selbstporträts der Frida Kahlo auf blauem Grund mit hellen Perlen und Nägeln, verhängt mit rotem Tüll; daneben ein von Strapsen zusammengehaltenes Diptychon «Vida de Mujeres» (Leben der Frauen), anspielend auf das vehemente Sexualleben der Kahlo; zur Seite ein halbes «Corset», aus Holz geschnitten nach Art von Laubsägearbeiten, rotgefärbt, von einer Kette umfangen, das an einer Waage hängend wie ein überdimensionales Kotelett in einem Schlachterladen wirkte. Ganz ähnlich umspielen viele Bilder der Kahlo die Frage, was das eigentlich ist, der menschliche Körper – ein weiches Fleischgebilde, durch Apparathaftes zusammengehalten?

Ein anderes Bild trug den Titel «Tocado» (Kopfschmuck): die Kopie eines Selbstporträts der Kahlo, mit Spitzen umrahmt nach dem Vorbild der Tehuantepec-Indios, das den europäischen Betrachter zugleich an die metallumrahmten Heiligen auf russischen Ikonen erinnerte. Ein schwarzes Samtband legte sich weitläufig um das Objekt herum. «Reloj de Arena» (Stundenuhr) hieß ein weiteres Bild mit der Inschrift «El espejo de Frida» (Fridas Spiegel) in Kinderschrift, wie sie sich häufig auf ihren Bildern nach dem Vorbild mexikanischer Exvotos findet. Fridas Kopf, der sich spiegelte, war umrahmt von zwei Stundengläsern. Über beide Gesichter lief Farbe wie Blut, präfiguriert in den Bildern der Kahlo. Frida Kahlo – eine Schmerzensfrau?

Auch Plastiken[7] waren ausgestellt: Neben Bambusgeäst, in Bronze gegossen, fand sich die Viererserie einer weichen Form in Glas und Porzellan, weiß, rosa, schwarz, kontrastiert durch dieselbe Form in Bronze, mit Nägeln versehen und im Gussgerüst belassen.

Ein weiteres Objekt[8] bestand aus Tonreliefs, zu einem großen Gebilde arrangiert. Darauf waren Muster abgebildet der prähispanischen mexikanischen Mythologie. Der große Mittelteil wirkte wie Gekröse oder wie eine Wunde.

Ein markanter Ausspruch der Kahlo nach der Amputation ihres rechten Fußes – «Wozu brauche ich Füße, wenn ich fliegen kann» – wurde illustriert[9]: durch einen Vogel in langem Gewand zwischen grünen Blättern auf schwarzem Grund. Ein anderes Bild zeigte Frida Kahlo «In San Angel», dem mit Diego Rivera bewohnten Doppelhaus, Frida inmitten von Kakteen mit ihrem Papagei.

Auf vielfältige Weise wurden Bildwerk und Welt der Kahlo umspielt, wobei Qualitäten des Herben, des Exaltierten, der Versehrbarkeit und des Leidens im Vordergrund standen.

Auch ein Video[10] gehörte zur Ausstellung: ein Rollstuhl, ein Schrei, eine Fahrt durch Wüstenlandschaft, eine transparente Wirbelsäule, Mörtel, Sand, Erde, Höhlung, Wasser, stachelige Pflanzen. Rauch, Stahlwirbelsäule inmitten von Pflanzen, dampfende Erde, abgehackte Bäume, Bewegung hinter Drahtverhau, Stahlwirbelsäule, Vulkan, gelbrote Eruption, wildes Tier hinter Drahtzaun, sich drehende Erde, Dampf, Stahlgerüst mit Dornfortsätzen, Ausbruch glühender Lava, Autobahnfahrt wie zu Beginn, Stahlgerüst: Am 13. Juli 1954 ist Frida Kahlo gestorben, 44 Jahre alt, lautet der kommentierende Text (sie war 47). Das Video heißt «Requiem für Frida Kahlo». Der Text dazu: «Angst, Schreie hilflos gegen sich selbst gerichtet, […] unwiederbringlich Verlorenes im eigenen Körper, […] tobende Lebensenergie gegen Dauerschmerz trotzt […], bannend fragender Blick, bohrend stiller Schrei […] auf der Suche nach Antwort noch jenseits des Todes […]; trotzdem immer wieder strahlende Lebenslust!» Das Stahlgerüst stand als Objekt neben dem Fernsehgerät. Kurzbiographie einer Leidensgeschichte könnte man diesen Film nennen.

 

Frida Kahlo – eine Märtyrerin? So hat man häufig ihr Leben interpretiert. Aber Frida Kahlo ist in der Dramatik ihres Lebens durchaus auch zu ihrem Recht gekommen, manchmal mit menschlich-allzumenschlichen Tricks und verzweifelten Winkelzügen, indem sie ihren lädierten Körper instrumentalisiert hat, um Menschen an sich zu binden. Dafür hat sie, nach Ansicht ihres Arztes Dr. Leo Eloesser, selbst den Preis von Operationen auf sich genommen.

Die Vereinnahmung von Frida Kahlo durch die Frauenbewegung hat zu einer beschränkten Auslegung des Werkes geführt. Will man seiner Eigenart gerecht werden, darf man es nicht auf den paradigmatischen Ausdruck eines Frauenlebens reduzieren.

Erst allmählich gerät in den Blick, was es bedeutet, dass die Bilder nicht im Klima der US-amerikanischen oder der europäischen Kultur entstanden sind. Die mexikanische Kultur ist trotz ihrer Vergewaltigung durch den spanischen Kolonialismus – vom 16. Jahrhundert an hieß Mexiko Neu-Spanien – eine Kultur ganz eigener Art, dem Europäer wie dem Nordamerikaner von Grund auf fremd und in seiner inneren Beschaffenheit vielleicht überhaupt unzugänglich. Martha Zamora gibt zu verstehen, dass eigentlich nur eine Mexikanerin angemessen über Leben und Wirken von Frida Kahlo schreiben könne.[11] Was den Europäer André Breton bei den Bildern der Kahlo an Surrealismus denken ließ, ist im Kontext der mexikanischen Lebenswelt und Kultur etwas anderes. Entstehung und Bedeutung des Surrealismus sind begründet in einem erlebten Mangel, der von der kopflastigen, verwissenschaftlichten, auf das Rationale reduzierten «faustischen» Kultur Westeuropas ausging. Carlos Fuentes stellt fest: «Frida Kahlo erinnert (mit Posada) am nachhaltigsten daran, dass das, woraus die französischen Surrealisten ein System machten, in Mexiko und Lateinamerika stets alltägliche Wirklichkeit war, Teil des kulturellen Stroms, eine spontane Verschmelzung von Mythos und Tatsache, von Traum und Wachsein, Vernunft und Phantasie.»[12]

Sitten und Bräuche Mexikos weisen hin auf eine eigenartige und andere Beziehung des Menschen zu Zeit und Tod. Im Werk der Kahlo zeigt sich der Zusammenhang mit der mexikanischen Tradition, mit der durch die vierhundertjährige Kolonisierung gebrochenen Tradition und den durch die Revolution wiederbelebten präkolumbianischen Eigentümlichkeiten.

Sensible Europäer wie Sergej Eisenstein, Antonin Artaud, D.H. Lawrence oder B. Traven haben gerade dieses Fremde, Andere, Ursprüngliche in Mexiko beachtet. «Der Schatz, den zu finden du die Mühen einer Reise nicht für wert hältst», schreibt Traven, «das ist der echte Schatz, den zu suchen dir dein Leben zu kurz erscheint. Der funkelnde Schatz, den du meinst, der liegt auf der andern Seite.»[13] Wenn man B. Travens «Die Baumwollpflücker» oder «Der Schatz der Sierra Madre» liest, nähert man sich dem Phänomen Mexiko an.

Eisenstein hat 1931 Mexiko als Wirklichkeit des Werdens erlebt. «Mexiko, wo alles das ursprüngliche, erste und gleichzeitig ewige Werden atmet […]. In ständiger Vermischung begegnen sich Leben und Tod, Entstehung und Untergang, Sterben und Erzeugen.»[14] Das entspricht der Weltanschauung Frida Kahlos: zu wissen, dass wir nichts anderes sind als Richtungsvektoren, Aufbau und Zerstörung um lebendig zu sein und die Beklemmung zu spüren, auf die nächste Minute zu warten, in dem vielgestaltigen Strom mitzuschwimmen und nicht zu wissen, dass wir auf uns selbst zukommen, über tausend Steinwesen – Vogelwesen – Sternwesen – Mikrobenwesen – Quellwesen zu uns selbst – Vielfalt des Einen, Unfähigkeit zum Zweiten zu entfliehen – zum Dritten, zum immerwährenden etc., um zum Einen zurückzukommen.[15]

D.H. Lawrence, der sein Mexiko-Bild unter anderem in dem Roman «Die gefiederte Schlange» eindrücklich gestaltet hat, beschreibt 1925 einen Rhythmus reinen Vergessens und reiner Erneuerung. Dass Leben und Tod nicht dichotomisiert werden wie in der europäischen Kultur, hat auch Eisenstein mit seinem Filmprojekt «Que viva Mexico!» einfangen wollen. «Im Unterschied zur europäischen Auffassung des Todes als Endlichkeit», schreibt der Mexikaner Carlos Fuentes, «sehen wir im Tod den Anfang. Wir kommen aus dem Tod. Wir sind alle Kinder des Todes. Ohne den Tod wären wir nicht hier, wären wir nicht am Leben. Der Tod ist unser Gefährte. Frida hatte eine Art, den Tod zum Narren zu halten, mit ihm herumzuspielen, sie nutzte ihre Sprachkraft und gab ihm Namen»: la mera dientona (der alte Raffzahn), la tostada (die Gegrillte), la chingada (die alte Hure), la catrina (die Ballkönigin), la pelona (die Kahle); auch nannte sie den Tod einen gewaltigen, einen sehr stillen Ausgang[16].

Der französische Dichter und Schauspieler Antonin Artaud betont, Mexiko bewege sich auf der Bahn der Sonne, und die Sonne sei ein Todesprinzip. Die mexikanische Kultur werde durch die Einsicht bestimmt, dass Zerstörung Verwandlung bewirke. Eine Verwirklichung der Oberhoheit des Todes sei aber nicht dasselbe wie Verzicht auf gegenwärtiges Leben, «sie bedeutet, dass man dem gegenwärtigen Leben seinen Platz anweist; man lässt es gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen ineinandergreifen; man spürt, wie tragfähig diese Ebenen sind, die die lebendige Welt zu einer großen, im Gleichgewicht befindlichen Kraft machen; sie bedeutet letztlich die Wiederherstellung einer umfassenden Harmonie»[17]. Artaud begreift «Die Eroberung Mexikos» als Aufeinanderprallen von «zwei Lebens- und Weltauffassungen», der dynamischen, aber fehlgeleiteten Auffassung der sogenannten christlichen Rassen und der statischen «Auffassung der scheinbar kontemplativen und wunderbar hierarchisch geordneten einheimischen Rassen».[18]

Artauds Mexiko-Impressionen sind auch Vorlage für die Oper «Eroberung von Mexiko» von Wolfgang Rihm, im Frühjahr 1992 in Hamburg uraufgeführt. Sehr wirkungsvoll wird die «weibliche» Kultur Montezumas in ihrer Überwältigung durch die «männliche», spanische Kultur des Hernando Cortez inszeniert. Ganz ähnlich hat bereits Friedrich der Große in seinem Libretto zur Oper «Montezuma»[19] von Karl-Heinrich Graun das Verhältnis der beiden Kulturen charakterisiert.

Man hat Frida Kahlo zu einer Galionsfigur stilisiert, indem man sie zum Symbol dafür machte, dass der Mensch – gegen Leiden aufbegehrend – die eigene Geschichte nach seinem individuellen Bild gestalten kann und muss. Eine genauere Betrachtung ihrer Lebens- und Werkgeschichte weist auf Eigentümlichkeiten hin, die über diese griffige Einschätzung hinausgehen. Frida Kahlos Besinnung auf die Ursprünge der mexikanischen Kultur, ihre Hinwendung zu kollektiven politischen Lösungen (Kommunismus) und ihre Vergegenwärtigung menschlicher Grunderfahrungen mit den Mitteln der Malerei werden im Folgenden untersucht. Die Wege und Umwege, die Frida Kahlo eingeschlagen hat, ihre leitenden fixen Ideen sowie die als unverrückbar erfahrenen Grenzen finden beredten Ausdruck im malerischen Werk, dessen Entstehungsbedingungen und Eigenart nachzuzeichnen sind.

Selbststilisierung: Tochter der Revolution (1907–1927)

Am 6. Juli des Jahres 1907 wird Magdalena Carmen Frieda Kahlo y Calderón[20] in Coyoacán am südlichen Stadtrand von Mexico City als fünfte Tochter von Guillermo Kahlo und als dritte Tochter von Matilde Kahlo, geb. Calderón y Gonzales, geboren. Der Vater ist 1872 in Pforzheim als Sohn eines ungarischen Juweliers, der aus Arat nach Deutschland übergesiedelt war, auf die Welt gekommen. Wilhelm Kahlo wandert 1891 nach Mexiko aus, verwandelt seinen Vornamen in Guillermo, heiratet, verliert seine erste Frau bei der Geburt ihrer zweiten Tochter und heiratet noch im selben Jahr, 1898, Fridas Mutter. Deren Vater ist Berufsfotograf. Fridas Großvater mütterlicherseits stammt von Indios ab, die Großmutter ist Tochter eines spanischen Generals.

Für die Hochzeitsreise leiht man[21] Guillermo Kahlo eine Kamera. Kahlo macht Aufnahmen von den Bauten «der altmexikanischen und der kolonialen Architektur»[22]; die Tätigkeit gefällt ihm. Guillermo Kahlo wird selbst Fotograf. Bereits sein Vater handelte mit Fotomaterial. Nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise richten sich die Kahlos das erste Fotostudio an der Avenida 16 de Septiembre ein. Guillermo Kahlo nennt sich in einer Annonce «Spezialist für Landschaften, Gebäude, Interieurs, Fabriken» und «fertigt nach Wunsch fotografische Aufnahmen».[23] Menschen fotografiert er nicht gern, weil er nicht genötigt sein will, was die Natur hässlich gestaltet habe, schön aussehen zu lassen.

Kahlo erhält den Auftrag, die Architektur in Mexico City, die als nationales Erbe gilt, aufzunehmen. Dank der Aufträge der Regierung kommt er bald zu Wohlstand und baut 1904 ein eigenes Haus, das Blaue Haus in Coyoacán, in welchem Frida geboren wird, abgesehen von wenigen Jahren später wieder leben und schließlich 1954 sterben wird.

Kahlos Auftraggeber ist die Regierung von Porfirio Díaz, der 1874 mit einem Staatsstreich an die Macht gekommen war und Mexiko aus einer relativ liberalen Phase unter Benito Juárez in eine Diktatur führt. Basis der Diktatur sind das Militär, der Großgrundbesitz, die erstarkende Bourgeoisie, der Klerus sowie die britischen und US-amerikanischen Auslandsgesellschaften, die im Besitz der Rohstoffe Mexikos, vor allem von Öl und Gold, sind.

Man könnte Kahlo der Bourgeoisie zuordnen, wiewohl er als Künstler doch aus deren Ordnungen herausfällt. Er ist ein stiller, zartbesaiteter Mann, glücklich, wenn er dem nachgehen kann, was er «sieht» in Stadt und Land und in der Dunkelkammer. Fridas Vater gestaltet auch kleine Malereien in Öl – sorgfältig, geradezu minutiös ausgemalte Stillleben und ländliche Genreszenen. Seine Bildvorstellungen und Kunstauffassung sind konventionell, europäisch geprägt. Der Höhepunkt seines beruflichen Erfolges fällt in die Zeit, als Mexiko sich ganz am Vorbild europäischer Lebensformen orientiert. Dem ursprünglichen Mexiko nähert er sich durch sein Interesse an Archäologie.

Fridas Mutter ist eine streng katholische Frau. Sie leidet unter depressiven Stimmungen und ist körperlich anfällig. Die beiden Töchter ihres Mannes aus erster Ehe, Margarita und María Luisa, gibt sie in ein katholisches Waisenhaus; sie kommen lediglich in den Ferien zur Familie. Frida wird von ihrer Mutter nur kurze Zeit gestillt und erhält eine Indiofrau als Amme. Darin sieht sie später einen der vielen Mosaiksteine zu ihrer Besonderheit. Das Verhältnis zur Mutter gestaltet sich spannungsreich. Die beiden älteren Schwestern, Matilde und Adriana, sollen sich mehr mit Fridas Erziehung befasst haben als die Mutter. Vor dem Essen mussten wir beten. Die anderen konzentrierten sich darauf, aber Cristi und ich sahen uns an und mussten uns das Lachen verkneifen.[24] Die Schwester Matilde ist neun Jahre und Adriana fünf Jahre älter als Frida, Cristina nur ein Jahr jünger.

Mit Cristina zusammen besucht Frida einen katholisch geführten Kindergarten. Frida ist ein wildes und ungestümes kleines Mädchen, das geradezu furios werden kann, wenn es sich beschämt fühlt.

Mit drei und vier Jahren wurden Cristina und ich in den Kindergarten gesteckt. Die Erzieherin war von der alten Sorte, mit künstlichen Haaren und sehr merkwürdigen Kleidern. Meine erste Erinnerung bezieht sich ausgerechnet auf diese Frau: Sie stand an der Stirnwand des ganz dunklen Raumes, in der einen Hand eine Kerze, in der anderen eine Orange, und erklärte das Universum, die Sonne, die Erde und den Mond. Ich machte mir in die Hose, so beeindruckt war ich. Sie zogen mir die nassen Hosen aus und zogen mir die eines anderen Mädchens an, das gegenüber im Haus wohnte. Dieses Mädchen begann ich deshalb so sehr zu hassen, dass ich sie eines Tages nah an unser Haus lockte und anfing, sie zu würgen. Ihr hing schon die Zunge raus, als ein Bäcker vorbeikam und sie meinen Händen entriss.[25] Die Szene hat etwas von den vehementen Bildern, die Frida später malen wird.

Mit sechs Jahren erkrankt Frida an Kinderlähmung. Während der Krankheit wendet sich der Vater ihr mit besonderer Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit zu. Neun Monate lang muss Frida das Bett hüten. Schmerzen im rechten Bein quälen sie. Sie wuschen mein Beinchen in einer Schüssel mit kleinen heißen Tüchern in Nusswasser.[26] Trotzdem behält Frida ein dünneres und etwas kürzeres Bein zurück.

Der Arzt empfiehlt körperliche Übungen. Es ist der Vater, der sich nun ganz besonders um Fridas Wiederherstellung bemüht. Er sorgt dafür, daß sie sich in den verschiedensten Sportarten übt. Das Bild des Mädchens seiner Zeit und Kultur missachtend, lässt er Frida sogar Fußball spielen und leitet sie im Box- und Ringkampf an. Mit Genugtuung sieht er, dass Frida den Jungen ihres Alters durchaus gewachsen ist. Auch ist er stolz darauf, dass sein Töchterchen eine ausgezeichnete Schwimmerin wird. Im körperlichen Training armiert sich Fridas kindliches Draufgängertum, und sie entspricht damit möglicherweise dem insgeheimen Wunsch des Vaters, eines seiner Kinder möge ein Junge geworden sein.

Von klein auf ist jedenfalls Frida das Lieblingskind des Vaters. «Frida ist die intelligenteste meiner Töchter, sie ist mir am ähnlichsten.»[27] Wenn er schon keinen Sohn hat, so wäre vielleicht Frida geeignet, später einmal das Geschäft zu übernehmen, weil sie Menschen und Welt ähnlich betrachtet wie er – aus einer ästhetischen Perspektive. Der Vater fördert nicht nur Fridas körperliche Fähigkeiten. Kaum dass sie lesen kann, gibt er ihr Bücher aus seiner Bibliothek und macht sie bei gemeinsamen Spaziergängen aufmerksam auf Steine, Pflanzen und Tiere.

Zu den Kindern ihres Alters gerät Frida aufgrund ihres körperlichen Handicaps in eine gespannte Beziehung. Erbarmungslos hänseln die Kinder sie. «Frida, pata de palos!», «Frida Hinkebein», rufen sie ihr nach. «Frida schimpfte dann mit allen ihr zu Gebote stehenden Flüchen zurück.»[28] Mag sein, dass Frida sich vor der Erkrankung allzu großherrlich benommen hat, sodass die kleinen Freunde nun eine Chance sehen, sie auch einmal demütigen zu können. Aber auf dem Fahrrad ist Frida nicht einzuholen. Im Übrigen entwickelt sie auch sehr bald eine normale Gangart und ist «durchaus graziös und harmonisch in ihren Bewegungen. Ihren Gehfehler wusste sie so geschickt auszugleichen, dass sie wie ein Vogel dahinzugleiten schien.»[29] In der Kindheit haben die Eltern sie einmal als Engel verkleidet, mit Strohflügeln – Frida ist untröstlich, da sie feststellen muss, dass sie mit ihnen nicht wirklich fliegen kann. Sie fühlt sich als etwas Besonderes, warum also nicht fliegen können?

Einmal schubst Frida in kindlichem Übermut ihre Halbschwester María Luisa vom Nachttopf. Auf deren wütenden Ausruf, «Du bist nicht die Tochter meiner Mutter und meines Vaters. Dich haben sie aus dem Müll geholt», reagiert sie außerordentlich verletzt. Dieser Ausspruch von ihr beeindruckte mich so sehr, dass ich mich in eine ganz introvertierte Kreatur verwandelte.[30] Frida sucht ihr Gebrechen zu bewältigen, indem sie sich häufig von den anderen zurückzieht. Im Zustand der Einsamkeit imaginiert sie dann ein Doppel ihrer selbst, ein Mädchen, das all ihre Gedanken und Gefühle teilt und versteht.

Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, als ich in der Phantasie eine intensive Freundschaft zu einem Mädchen … ungefähr meines Alters durchlebte. Auf das Fenster meines damaligen Zimmers, das auf die Allende Straße hinausging, auf eine der ersten Scheiben des Fensters «hauchte» ich. Und mit einem Finger zeichnete ich eine «Tür» … Durch diese «Tür» ging ich in meiner Phantasie mit großer Freude und Eile hinaus, überquerte den ganzen Platz, den man sehen konnte, bis ich zu einem Milchgeschäft kam, das DROSSEL hieß … Durch das O von DROSSEL trat ich ein und stieg zur Unzeit hinab ins Innere der Erde, wo «meine imaginäre Freundin» mich immer erwartete.[31] Das erinnert an «Alice in Wonderland». Wahrscheinlich kennt Frida das kleine Mädchen, das in Lewis Carrolls Erzählung am Fuße eines Baumes in das Innere der Erde und damit in die phantastische Welt kindlicher Entwürfe entschwindet.

Ihre imaginäre Freundin beschreibend, setzt Frida fort: