Lou Andreas-Salomé - Linde Salber - E-Book

Lou Andreas-Salomé E-Book

Linde Salber

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Beschreibung

Die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937) hat ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen, aber ihren Platz in der deutschen Kulturgeschichte sicherte sie sich durch ihre ungewöhnliche Persönlichkeit. Dank ihrer Bildung und intellektuellen Beweglichkeit, ihrer unkonventionellen Lebensführung und der Freundschaft mit namhaften Zeitgenossen wurde sie als selbstbewusste, emanzipierte Frau zum Vorbild nachfolgender Generationen. Von Friedrich Nietzsche wurde sie leidenschaftlich geliebt; mit Rainer Maria Rilke verband sie eine lebenslange enge Freundschaft. In ihren letzten Lebensjahrzehnten wurde sie zu einer Vertrauten Sigmund Freuds und gab der damals jungen Psychoanalyse wichtige Impulse. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Linde Salber

Lou Andreas-Salomé

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937) hat ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen, aber ihren Platz in der deutschen Kulturgeschichte sicherte sie sich durch ihre ungewöhnliche Persönlichkeit. Dank ihrer Bildung und intellektuellen Beweglichkeit, ihrer unkonventionellen Lebensführung und der Freundschaft mit namhaften Zeitgenossen wurde sie als selbstbewusste, emanzipierte Frau zum Vorbild nachfolgender Generationen. Von Friedrich Nietzsche wurde sie leidenschaftlich geliebt; mit Rainer Maria Rilke verband sie eine lebenslange enge Freundschaft. In ihren letzten Lebensjahrzehnten wurde sie zu einer Vertrauten Sigmund Freuds und gab der damals jungen Psychoanalyse wichtige Impulse.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Linde Salber

Linde Salber, geb. 1944 in Tütz (Pommern), promovierte Diplompsychologin und Psychotherapeutin, arbeitete als Akademische Oberrätin an der Universität zu Köln. Ihr Forschungsschwerpunkt sind die Zusammenhänge zwischen Lebensgeschichte und künstlerischem Schaffen. Linde Salber war die letzte Analysandin Dorothy Tiffany Burlinghams und hat zusammen mit Anna Freud deren Beiträge zur Psychoanalyse des Kindes ins Deutsche übersetzt.

Für rowohlts monographien schrieb sie die Bände über Anaïs Nin (1992), Frida Kahlo (1997), Marlene Dietrich (2001) und Salvador Dalí (2004); bei Rowohlt erschienen außerdem «Der dunkle Kontinent» (2006) und «Tausendundeine Frau» (1996).

Einleitung

Den Namen Lou Andreas-Salomé verbinden wir heute weniger mit ihrem literarischen Werk und ihren Essays über Kunst, Religion, Erotik und Psychoanalyse als mit drei großen Repräsentanten der deutschen Geistesgeschichte: Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud. Als Lous erste Bücher erschienen, ging ihr der Ruf voraus, sie habe einen Heiratsantrag Nietzsches abgelehnt. Das übte – neben ihrer persönlichen Wirkung – auf die meisten Menschen ihres Umgangs einen besonderen Reiz aus.

Leben und Werk der Lou Andreas-Salomé rufen Kritik wie Begeisterung hervor. Wieweit man ihren Werken künstlerischen Rang zuerkennen kann, ist durchaus umstritten. In ihrer Zeit schätzte man ihre Werke sehr. Albert Soergel widmete ihr einen ausführlichen Abschnitt in seiner Darstellung der «Dichter und Dichtung der Zeit» des Naturalismus und seiner Gegen- und Nebenströmungen von Symbolismus und Neuromantik. Maßgebliche Literaturkritiker der Jahrhundertwende, wie die Brüder Hart, lobten sogar ihr pseudonym erschienenes Erstlingswerk Im Kampf um Gott, was Lou belustigte. Der Philosoph Paul Deussen, Schopenhauerianer und Übersetzer altindischer Philosophie, muss nach Lektüre des Buchs gestehen, daß er viel Geist darin gefunden und sich in diesen Geist verliebt habe. Lous Biographin Angela Livingstone spricht dem Werk jeden künstlerischen Wert ab wegen der dekorativ überladenen, geschwollenen und pathetischen Sprache und der vagen Andeutungen von tieferem Sinn.[1] Darin spricht sich ein Urteil aus, das wir heute fällen können, das aber der Bedeutung des Werkes in seiner Zeit nicht gerecht wird. Immerhin wurde Nietzsche von einem Gedicht der Zwanzigjährigen zu Tränen gerührt. Auch wenn uns das Lebensgefühl von Neuromantik und Symbolismus nach zwei Weltkriegen, nach Dadaismus und Existenzialismus mit Recht etwas fremd geworden ist, müssen wir doch würdigen, dass ihr Werk an einer literarischen Umwälzung teilhatte. Soergel zählt sie zu den ganz Jungen, die bei aller Verschiedenheit ihrer künstlerischen Ziele das kritische Gefühl beherrschte: los von der Tradition, von der Tradition im Leben wie in der Kunst! Das Dichten der Lou Andreas-Salomé leite über «von den tendenziösen Temperamentkünstlern, die mit Pathos eine gewisse Tendenz einbläuen, zu den Intellektuellen mit Kunstverstand, von den Anklägern zu den seelischen Analytikern, von den Beobachtenden zu den Kombinierenden, vom Naturalismus zum Symbolismus … von den Herrschaftsjahren Zolas zu den Herrschaftsjahren Nietzsches»[2].

Loslösung von der Tradition bedeutet Chance für neue Lebensansichten und Verlust von Stabilität zugleich. Ludwig Feuerbachs und Ernest Renans psychologische Analyse des Christentums sowie Paul Bourgets Rekonstruktion der zeitgenössischen Psychologie im Roman hatten eine Sichtweise eröffnet, die dem irdisch-menschlichen Leben eine neue Dignität verlieh. Nietzsches zugespitzte Einsicht des «Gott ist tot», seine radikale Kritik an der dekadenten westlichen Kultur, seine «Umwertung aller Werte» sowie seine Ablehnung der philosophischen Konstruktion von «Hinterwelten» führten zur Grundlegung einer neuen Psychologie, die in der Literatur breite Wirkung entfaltete – auch im Werk Lou Andreas-Salomés.

Rilkes Dichtung, die sich den seelischen Leiden des modernen Menschen zuwandte, der orientierungslos nach neuen Geborgenheiten sucht, entwickelte sich im Austausch mit Andreas-Salomé. In ihrer Liebe zu Rilke hat Lou an der Schöpfung einer neuen dichterischen Sprache, die ihr eigenes Wollen und Können übersteigt, Anteil.

Neben dem Philosophen und dem Sprachkünstler steht der Psychologe Sigmund Freud. Er entwirft sein neues Bild vom Menschen, indem er von den seelischen Konflikten und Krankheiten des Menschen in der viktorianischen Zeit ausgeht. Er untersucht, was Lou immer wichtig war, die Wirksamkeit dunkler, unbewusster Kräfte, die die hohen Werte des bürgerlichen Menschen wie Anstand, Ordnung, Fleiß, Sauberkeit jederzeit umzustürzen drohen.

Wie viele andere Intellektuelle suchten Nietzsche, Rilke und Freud den Umgang mit Lou. Sie fanden in ihr eine Frau, die sie herausforderte, anregte und ihren Gedanken einen adäquaten Widerhall gab, da sie in der Lage war, sie zu verstehen und selbständig fortzusetzen. Ihr klarer Intellekt, ihre mitreißende Phantasie, ihr Drang, das Unkonventionelle zu wagen, hat sie alle fasziniert.

Lous Reiz steigerte sich noch dadurch, dass trotz der aktuellen Gemeinsamkeit mit einem von ihnen doch spürbar war, sie werde sich nicht vereinnahmen lassen. Bei aller Zuneigung zu dem anderen behielt sie sich das Recht vor, in einem nur ihr bekannten Augenblick sich von ihm abzuwenden, um ihr Leben in eigener Regie fortzusetzen. Für diese Selbständigkeit und Unabhängigkeit war ihr kein Preis zu hoch. Man hat sie deshalb als «femme fatale» bezeichnet oder als Frau, die Männer wie Trophäen sammelt. Man sah in ihr aber auch eine Muse mit der außerordentlichen Fähigkeit, die Männer ihres Umgangs dergestalt zu befruchten, dass sie wenige Monate nach der Begegnung ein Geisteskind zur Welt brachten.

Andere verehrten in ihr das Ideal der autarken Frau, die selbst leidvollen Erfahrungen einen Zuwachs an Lebensglück abgewinnen konnte. Legendenbildung und Idealisierung werden dadurch begünstigt, dass Lou die Grenzen der männlich ausgelegten Vernunftwelt und den darin für die Frau abgesteckten Rahmen sprengt. Damit wird ihr Leben zu einem Sinnbild für die Möglichkeiten anderer Lebensformen. Rationalität und Beherrschung zeigen nur eine Richtung an, nach welcher Wirklichkeit ausgelegt werden kann. Das ganze Leben der Lou Andreas-Salomé zeigt uns aber auch die Probleme eines solchen Versuchs. In ihren literarischen wie in ihren psychoanalytischen Veröffentlichungen fragt sie im Grunde nach sich selbst als Kind, als Schwester älterer Brüder, als junges Mädchen, als Ehefrau, als Geliebte, als Nicht-Mutter, als Künstlerin, als Narziss. Sie fragt nach den Möglichkeiten, die das Leben ihrer Zeit bereitstellt, und nach solchen, die es verwehrt, wählt häufig das in ihrer Zeit «Unmögliche» und beweist – zum Erstaunen und oft zum Entsetzen der anderen –, dass das als unmöglich Definierte gar nicht so festliegt.

Die Balanceprobleme zwischen der Vielfalt möglicher Rollen und einem umgrenzten Bild ihrer selbst sind der eigene Erfahrungshintergrund für ihr Interesse an psychologischen Fragen. Hier liegen ihr besonderes Können wie auch ihre Bedeutung für unser Verständnis der Kultur, in der wir heute leben. Werk und Leben der Lou Andreas-Salomé zeigen am Beispiel des sich wandelnden Bildes der Frau grundlegende Probleme eines Kulturwandels. Der Streit um die Bedeutung einzelner Werke ist demgegenüber weniger belangreich.

Kindheit und Jugend in Russland

Am 12. Februar 1861 wird Louise von Salomé in St. Petersburg geboren. In einer Zeit voller Gegensätze wächst sie in einer Familie auf, die von dieser Zeitlage nicht beunruhigt zu sein scheint. Inmitten der heftigen Kontroversen zwischen slawophilen Nationalisten und Bewunderern des Westens, zwischen Konservativen und Liberalen, Gemäßigten und Fanatikern sowie zwischen Jung und Alt gelingt es dieser Familie offenbar, eine vor Unruhe geschützte Feudalwelt zu erhalten. Gustav von Salomé (1804–79) steht als General im Dienst des Zaren. Mit 25 Jahren war er bereits wegen besonderer Auszeichnung im polnischen Aufstand zum Oberst ernannt worden und hatte vom Zaren Nikolaus I. einen goldenen Ehrensäbel erhalten. Seit Generationen lebte die deutschstämmige Familie im Baltikum, ursprünglich von Hugenotten in Avignon abstammend, die im 16. Jahrhundert aus Frankreich vertrieben wurden. 1810 zog die Familie nach St. Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreichs.

Zar Peters Orientierung an Wissenschaften und Technologien des Westens hatte dazu geführt, dass Holländer, Engländer, Franzosen, Schweden und Deutsche bei Hofe besonderes Ansehen genossen. In Adelskreisen sprach man Französisch, und in den Straßen der Stadt war jede Sprache des Westens zu hören. Schwer zu ermitteln, welches unsere allererste Sprache gewesen: das Russische, damals überwiegend nur im Volk gebräuchlich, wäre ohnehin gleich dem Deutschen und Französischen gewichen. Vorherrschend ward in unserem Falle die deutsche Sprache; sie blieb das Bindeglied zwischen uns und meiner Mutter Heimat.[3] Vom Russentum unterschieden sich die Einwanderer besonders durch ihre gemeinsame Religion, die als Ausdruck ihrer Identität bedeutsam war; die evangelischen Kirchen, zu denen die Mehrzahl gehörte, und die ihnen angegliederten Schulen bezeichnen so – trotz der ungeheuren Zerstreuung der Gemeinden über die riesig ausgedehnte Stadt – gewissermaßen Mittelpunkte einer Stadt für sich[4]. Gustav von Salomé hatte vom Zaren die Erlaubnis für die Gründung einer deutsch-reformierten Kirche in St. Petersburg eingeholt. Gesellschaftlich bewegten sich die Salomés zwar weitgehend in Einwandererkreisen, fühlten sich aber nicht nur in russischem ‹Dienst›, sondern als Russen[5]. Sie haben ein Landhaus in Peterhof, nicht weit entfernt von der Sommerresidenz des Zaren.

1844 hatte der General die neunzehn Jahre jüngere Waise Louise Wilm (1823–1913), Tochter eines wohlhabenden Zuckerfabrikanten norddeutscher und dänischer Abstammung, geheiratet. Sie leben in der großzügig ausgestatteten Dienstwohnung in der Morskája[6] in der Abteilung des Generalitätsgebäudes an der Moika gegenüber dem Winterpalais. Fünf Söhne, zwei früh verstorben, waren bereits aus der Ehe hervorgegangen. Mit der Geburt eines Mädchens, zu der der Zar selbst ein Glückwunschschreiben schickte, ergibt sich für die Familie von Salomé eine überraschende Ergänzung. Vom 57 Jahre alten Vater wird es mit Begeisterung, von den Brüdern – Alexandre (zwölf Jahre alt), Robert (neun Jahre alt) und Eugene (drei Jahre alt) – mit überlegenem Staunen oder auch mit Eifersucht, von der Mutter mit gemischten Gefühlen angenommen. Die Kinderschar kann nun nicht mehr als gleichförmige Einheit behandelt werden. Ein Töchterchen muss anders erzogen werden, zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das bereichert das Leben der Mutter zwar, aber kompliziert es auch.

Zur Ernährung wird das Kind zunächst einer russischen Amme übergeben. Nur ich hatte eine Amme. Meine Amme, eine sanfte, schöne Person (die später, nachdem sie eine Fußpilgerung nach Jerusalem getan, sogar zur kirchlichen Kleinen Heiligsprechung gelangte – worüber meine Brüder wieherten, was mich aber doch stolz auf meine Amme machte), hing sehr an mir. Russische Njankis stehen ohnehin im Ruf grenzenloser Mütterlichkeit (weniger freilich ebensolcher Erziehungskunst), worin sie keine leibliche Mutter übertreffen könnte.[7] Bei ihr erfährt Louise körperliche Nähe und Geborgenheit, nicht so sehr bei der leiblichen Mutter – auch später nicht. Da ist es der Vater, an den sich Louise schmiegen kann. In der zärtlichen Bindung an den Vater eröffnen sich Erlebensqualitäten, die den kindlichen Versuch, ein Bruder unter Brüdern zu werden, übersteigen. Im Verhältnis zum Vater kann sich Louise als kleines Mädchen geben, das Schutz, Zuwendung und Großzügigkeit genießt. Der recht gestrenge General wird durch den Charme des kleinen Mädchens zu einer Haltung des Gewährenlassens verführt. Ihm erlaubt und verzeiht er mehr als seinen Söhnen. Die erwachsene Lou erinnert sich gern jener Zärtlichkeit, die Mund und Augen meines Vaters für mich gehabt, zugleich geeint unbezweifelbar er Machtfülle[8]. In der Erzählung Die Stunde ohne Gott[9] erfahren wir etwas von den heimlichen Zärtlichkeiten, die vor der Mutter verborgen wurden. Vor der strengeren Mutter nimmt der Vater das Kind in Schutz. Im Umgang mit der Mutter erprobt Louise Zuneigung und Abgrenzung zugleich. Im Ganzen gesehen wird Ljola, so lautet ihr russischer Kosename, zum Seelchen ihrer Familie.

In diesen vielfältigen Beziehungen erfährt sich das Kind selbst als vielfältig und wandelbar. Je nachdem, mit wem es gerade zu tun hat, entfaltet es andere Seiten. Solange es keine feste Realität mit Grenzen, Regeln und Verbindlichkeiten gibt, existiert auch noch keine umgrenzte Einheit mit festen Zügen und dem Namen Louise, die ein Mädchen ist. Ein Grundgefühl, alles sein und werden zu können, bildet sich in ihren frühesten Lebensjahren heraus. Als sich Louises Spielraum erweitert, unterstützt die Vielgestaltigkeit des Hauswesens dieses Gefühl. Neben den russischen Dienstboten gab es Tataren als Kutscher und Diener bevorzugt wegen ihrer Alkoholabstinenz, und Esten; es mischte sich Evangelisch, Griechisch-Katholisch und Mohammedanisch, Gebet nach Osten und Gebet nach Westen, alter und neuer (Kalender-)«Styl» hinsichtlich Fasten und Gehaltsausgabe. Noch bunter ward dies dadurch, daß unser Landhaus in Peterhof von schwäbischen Kolonisten verwaltet wurde, die in Tracht wie Sprache sich noch genau an ihr Vorbild in der langverlassenen Schwabenheimat hielten.[10]

Die notwendige Erfahrung, eine einzelne bestimmte Person zu sein, die sich in bestimmte Grenzen zu fügen hat, versucht das Kind gewissermaßen mit einem Trick zu vermeiden: Es ist immer mit Gott zusammen. Unter dem Namen Gott schafft es sich eine unbefragt zur Verfügung stehende Ergänzung. Auf diese Weise erlebt sich das Kind als Teil einer Totalität, die gewährleistet ist durch die enge Verbindung zu einem, der um alles weiß und alles kann. Der Gott dieses Kindes hat Züge eines idealisierten Vaters. Er erwies sich als mein ganz alleiniger Spezialgott dadurch, daß er ein Gott der Opposition war – eine Partei bildend mit dem Kinde, gegenüber allen Erwachsenen mit ihren fremdartigen Begriffen und Interessen und ihrer Leidenschaft für Pädagogik. Die kindischen Korrekturen unter göttlicher Legitimation hinderten, Bruch oder Zwiespalt in mir selber kennenzulernen. Nicht nur wurde das später von Bedeutung für mich, insofern ich mit meinem ganzen Denken und Wollen in starken Gegensatz zu meiner Umwelt geriet und dieses seine Wesensselbstverständlichkeit leicht dabei hätte einbüßen können, sondern überhaupt wurde von vornherein damit der gefährlichsten Gewalt des «Verbotenen» und «Gebotenen» die Spitze abgebrochen und damit die Tendenz zum Verdrängen auf gewissen Gebieten abgestumpft.[11]

Um so bestürzter erlebt das Kind eines Tages, dass dieser Macht und Sicherheit gewährende Vertraute, Gott, nicht verfügbar ist. Bedrängt durch die scherzhafte Erzählung eines Dienstboten über die Auflösung zweier Menschen (aus Schnee)[12], wendet es sich erstmals um eine Antwort an Gott, die es ihm nicht, wie bisher, selbst in den Mund legen kann. Zum Entsetzen des Kindes bleibt Gottes Antwort aus. Wer nicht antwortet, das hat das Kind längst herausgefunden, der kann ja wohl nicht anwesend sein. Und wenn Gott im wirklich wichtigen Augenblick nicht anwesend ist, dann existiert er womöglich gar nicht. Das Kind Louise muss zum ersten Mal einen unbegreiflichen Sachverhalt selbst klären. Da ist etwas, das nicht einfach umerzählt werden kann, etwas, das standhält, eine offenbleibende Frage. Lou hat dieses Erlebnis später als Ur-Schock bezeichnet, den jeder Mensch beim bewussten Erwachen zum Leben erfahre. Diese Erfahrung belebte sich wieder, wenn sie vor einem Spiegel stand, wo sie ebenfalls spürte, dass sie ein einzelnes, bestimmtes, von allem anderen unterschiedenes Wesen war. Wenn ich da hineinzuschauen hatte, dann verdutzte mich gewissermaßen, so deutlich zu erschauen, daß ich nur das war, was ich da sah: so abgegrenzt, eingeklaftert: so gezwungen, beim Übrigen, sogar Nächstliegenden einfach aufzuhören.[13]

Im Umgang mit ihrer Mutter, mit der französischen Gouvernante und mit ihren Brüdern kommt es in dieser Zeit, die noch vor dem Schuleintritt liegt, zu Spannungen. Sie beanspruchen, Louises vielfältige Möglichkeiten einzuschränken. Die Forderung nach mädchenhafterem Verhalten erlebt Louise als unangemessene Reduktion auf eine bestimmte Rolle. Natürlich war sie bisher stolz, wenn Vater sie als kleine Frau würdigte, sodass sie sich sehr anstrengte, auf Zehenspitzen eingehängt mit ihm spazieren zu können. Aber im Spiel mit den Brüdern übernahm sie genauso gern die Rolle eines wilden Pferdchens. Auch die Rolle des kleinen Hätschelkindes im Umgang mit der Amme wollte Louise nicht missen. Von einem Spaziergang mit einem wenig älteren Mädchen zurückgekehrt, erzählt Louise ihren Eltern eine tolle Geschichte ihrer Erlebnisse. Plötzlich wirft ihre Begleiterin entrüstet ein: «Aber du lügst ja!»[14] Das ist befremdlich, denn lügen will Louise wirklich nicht. Sie möchte gern ein braves Kind sein. So reagiert sie schließlich mit einer Einschränkung der Berichte aus ihrer Welt. Von nun an sondert sich eine private Phantasie weit ab von der Wirklichkeit, die Louise mit den anderen teilt.

In der privaten Welt, die sie nach dem Gottesverlust als verantwortungsvoller Schöpfer selbst phantasierend gestaltet, spielt sich das Leben nach Louises Regeln ab. Vor dem Einschlafen erzählt sie die Geschehnisse des Tages in Geschichten weiter. Dabei verfügt sie über unendliche Möglichkeiten der Rollenverteilung, hat Umbesetzungen, szenischen Hintergrund, das ganze Bühnenbild in der Hand. Louise entschädigt sich. Während sie sich in der mit anderen gemeinsamen Wirklichkeit fremden Inszenierungen unterworfen sieht, kann sie daneben, gleichsam in einem Phantasiereservat, das passiv Erlittene aktiv herstellen, ohne dass ein anderer sein Maß darüberstülpen könnte. Allerdings beginnt sie unter der Verantwortung, die sie für die verschiedenen Einzelschicksale in ihren Geschichten allein zu tragen hat, zu leiden. Louise übernimmt sich in der Allmächtigkeitsgebärde. Rückblickend schreibt Lou, dass ihre Kindheit durchaus nicht nur glücklich gewesen sei. Louise entwickelt eine ganz eigene Art, Wirklichkeit zu behandeln, indem sie beobachtend wirklichen Menschen und Begebenheiten nachgeht und die Vielfalt des Beobachteten im Ganzen einer Geschichte zusammenhält. Sie wendet all ihre Verstehenskraft auf, um zu verhindern, dass das Beobachtete ins Partikulare zerfällt und eine Wirklichkeit übrig bleibt, die ihr unzugänglich fremd gegenüberstünde. Vorformen ihrer späteren schriftstellerischen Tätigkeit finden sich in dem Versuch, Bedeutung und Schicksal einiger Figuren in ihrem Zusammenspiel schriftlich festzulegen, bis Louise über Knoten eines Netzwerkes[15] verfügt.

Die nähere Bekanntschaft mit der Welt der anderen in der Schule konnte sie nicht sehr begeistern. Die Schule wird im Rückblick von Lou Andreas-Salomé dementsprechend kurz erwähnt als Ort, wo sie nichts lernte.[16] Louise besucht die protestantisch-reformierte Petrischule mit Gymnasialrang. Während der Vater seinen Söhnen vorschrieb, was sie zu werden hatten, zwingt er seine Tochter nicht, sich den Schulanforderungen zu unterwerfen. Auf Louises Klagen über die russische Sprache, die in den höheren Klassen obligatorisch wurde, reagiert er gelassen mit der Bemerkung «Schulzwang braucht die nicht»[17], und lässt Louise nur noch hospitieren. Ein Schulheft mit Aufsatzentwürfen über die Académie Française, französische Gedichte, Theater, Pascal und Descartes in französischer Sprache und ein Schulheft mit deutschen Aufsätzen über Schiller und allgemeine Themen hat sie aufgehoben. Literatur und Philosophie werden sie durch ihr ganzes Leben begleiten.

Die Bekanntschaften, welche sie in der Schule knüpft, sind nicht geeignet, Louise mit dem russischen Lande auf eine neuartige Weise zu verbinden, die sie zunehmend interessiert, nämlich politisch. Denn schon braute und gärte bis in die Schulanstalten hinein der Geist des Aufstandes, der bei den Narodniki, den «ins Volk Gehenden», sein erstes Programm gefunden hatte. Es war kaum möglich, jung und lebendig zu sein, ohne davon miterfaßt zu werden, zumal der Geist des elterlichen Hauses, trotz der Beziehungen zum vorigen Kaiser (Zar Nikolaus I., dem Lous Vater nahestand), doch sorgenvoll zum herrschenden politischen System stand, namentlich nach der reaktionären Wandlung des ‹Zarbefreiers› Alexander II., nachdem er die Leibeigenschaft aufgehoben hatte.[18]

Politisch im Sinne des direkten Eingreifens oder im Sinne einer Bindung an eine bestimmte Vereinigung von Gleichgesinnten ist Lou Andreas-Salomé nie gewesen. Die Haltung des Opponierens dagegen ist ihr nicht fremd. Durch die dogmatische Haltung des Konfirmationspfarrers wurde die Siebzehnjährige an die Erfahrung des Gottesverlustes erinnert. Hermann Dalton, ein Vertreter der orthodoxen protestantischen Auffassung, spricht so, als gäbe es keinen Bruch im Ganzen der Wirklichkeit. Er behauptet, Gott sei immer und überall gegenwärtig. Da entbrennt Louises Kampf mit intellektuellen Waffen. Es gäbe sehr wohl einen Ort ohne Gott, die Hölle[19], entgegnet sie.

Die Hölle ist für Louise ein Ort der Vereinsamung, wo wir selbst uns entwendet werden, also zwiespältig werden, also nicht einmal mehr allein, sondern in der Gesellschaft des Unheimlichen sind[20]. Louise nimmt zwar, um ihren erkrankten Vater nicht zu enttäuschen, weiter am Konfirmationsunterricht teil, aber für sie steht es fest, dass sie sich von Dalton nicht einsegnen lassen wird.

Sie besucht die Predigt eines anderen Geistlichen. Hendrik Gillot, Pastor der Niederländischen Gesandtschaft und Erzieher der Kinder des Zaren, vertrat eine liberale Auffassung, die durch den deutschen Theologen Otto Pfleiderer geformt wurde. Dessen «Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage» war gerade erschienen. Mit Pfleiderers Gedanken zur Geschichte der Gottesverehrung hatte sich Gillot in einer eigenen Veröffentlichung auseinandergesetzt. Die Rekonstruktion verschiedener Entwicklungsstufen religiösen Verhaltens wird sich später in Lous Essays zur Religion wiederfinden. Gillots Betrachtung der Religion als eines geschichtlichen Phänomens setzt eine Theologie fort, die mit den englischen Freidenkern als Gegenbewegung zur Auffassung der geoffenbarten Religion stand. Da Gillot von Louise keinen blinden Glauben verlangt, ermöglicht er dem jungen Mädchen, sich weiter mit der Frage nach der Bedeutung Gottes für den Menschen zu beschäftigen.

Als Louises Vater am 23. Februar 1879 stirbt, spricht sie ihre Weigerung gegen die Konfirmation ihrer Mutter gegenüber offen aus. Das führt zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Mutter hält Louises Rebellion für exaltiert und egoistisch. Ihre Abwendung von der Glaubenstradition der Familie wird erst recht verständlich, wenn wir sie vor dem politischen Hintergrund Russlands nach der Bauernbefreiung sehen. Den Dichter Iwan Turgenjew kannte Louise persönlich, sicher auch sein Buch «Väter und Söhne», in dem er den Nihilisten als neuen Menschentyp charakterisiert. Der Nihilist Basarow übernimmt «nichts» von den Vätern, das er nicht zuvor selbst überprüft und für gut befunden hatte. Auch den Roman «Was tun?» von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, den damals jedes Schulkind kannte, wird sie gelesen haben. Tschernyschewski gehörte zu den «Populisten», die die soziale und ökonomische Lage des vorindustriellen Russland durch Übernahme westlicher Naturwissenschaft und Technologie verbessern wollten, ohne die Nachteile von Industrialisierung und Kapitalismus. Es gab eine Fülle kontroverser Konzepte für die Realisierung, doch alle Populisten waren sich darin einig, dass der Staat die Verkörperung eines Systems der Gewalttätigkeit und Ungleichheit und daher ein Übel an sich war; er musste beseitigt werden. Die Dorfgemeinschaft, den «mir», hielten sie für den idealen Keim der sozialistischen Gruppen, auf denen die zukünftige Gesellschaft aufbauen könnte. Der Anschauung Alexander Herzens folgend, glaubten sie, dass die Geschichte kein «Libretto»[21] habe, sondern durch den entschiedenen Willen selbständig denkender und handelnder Menschen gestaltet werden musste. Individualismus und Freiheit waren das Herzstück des populistischen Humanismus. Außerordentlich misstrauisch waren die Populisten daher gegen Reformen von oben.[22]

«Von einem echten russischen Schriftsteller erwartete man nicht nur, daß er seine Leser unterhielt, sondern daß er sie durch den Wirrwarr der damals auftauchenden lebenswichtigen Probleme führte.»[23] Tschernyschewski erfüllte diese Erwartung mit einer sozialen Utopie, die wie ein Erziehungsroman des «neuen Menschen» zu lesen ist. Max Stirners Heiligung des individuellen Ich, seine Auffassung, dass jeder ein «Einziger»[24] sei, der sein Leben selbst in die Hand nehmen müsse, ohne durch eine Macht außerhalb seiner selbst begrenzt oder gesichert zu sein, überformt Tschernyschewski zur Weltanschauung des «vernünftigen Egoismus». Die russischen Revolutionäre versuchten, diese Literatur vom neuen Menschen in Leben umzusetzen. Louise sympathisierte mit ihnen. Es lag in ihrem Schreibtisch verborgen – ein Bild der Wera Sassúlitsch, der, sozusagen, Einleiterin des russischen Terrorismus, die den Stadthauptmann Trepow anschoß (den für die verbotene Auspeitschung eines Untersuchungshäftlings Verantwortlichen) und nach dem Geschworenen-Freispruch … auf den Schultern einer jubelnden Menge hinausgetragen wurde[25].

Lou schreibt es Gillots Wirkung zu, dass sie keinen Anschluss an die revolutionären Schüler- und Studentenzirkel suchte. Nach dem Tod des Vaters belebt sich in der Gemeinschaft mit Gillot die frühe Erfahrung der Gott-Vater-Kind-Einheit. Gillot macht ihr eine neue Form zugänglich, das Leben als Ganzes zu haben: im Entwurf von Denksystemen. Zunächst hielt Lou ihre Stunden des Privatunterrichts vor der Mutter geheim. Sie spürte wohl, dass etwas Verbotenes im Spiel war. Nicht, dass sie Gillot liebte oder er sie, sondern wie sie ihn liebte, schien ihr, betrachtet mit den Augen der anderen, bedenklich. In Gillot war die Einheit mit Gott-Vater für sie leibhaftig zu haben. Auf seinem Schoß fällt die Achtzehnjährige zitternd in Ohnmacht. Übersteigertes Erleben kennzeichnet die ganze Zeit der gemeinsamen Arbeit. Sie lesen Spinoza, Leibniz, Kant, Kierkegaard, beschäftigen sich mit der Geschichte der Theologie und dem gemeinsamen Kern verschiedener Religionen.

Gillot macht sie mit dem streng methodischen Denken westlicher Philosophie vertraut. Das bedeutet für sie, die bis dahin in tagtraumartigen Phantasien lebte, eine Revolution ihrer Denkungsart. Endlich findet sie eine eigene Richtung, in der ihre von den konservativen Vorstellungen ihrer Mutter abweichenden Ansichten über die Interessen einer Frau Gestalt gewinnen. Sie besucht nicht die Feste in der vornehmen Gesellschaft, bereitet sich auch nicht auf die Rolle eines Hausmütterchens vor, sondern will erst einmal studieren.