Frieden - Colum McCann - E-Book

Frieden E-Book

Colum McCann

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Beschreibung

Schwester Beverly ist vor Bürgerkrieg und Gewalt aus Kolumbien in die USA geflohen, nachdem sie von der Guerilla entführt und gefoltert wurde. Jahre später plagen sie die Schrecknisse dieser Zeit noch immer in Albträumen, lassen sie an ihrem Glauben zweifeln und behindern sie bei ihrer Arbeit in einem Kinderheim in Houston. Eines Abends schaut sie die spanischsprachigen Spätnachrichten, es läuft ein Bericht über Friedensverhandlungen zwischen den kolumbianischen Bürgerkriegsparteien, die soeben in London begonnen wurden. Und aus dem Augenwinkel erkennt sie dort – Carlos, jenen brutalen, sadistischen Guerillero, der sie damals gefoltert und vergewaltigt hat, jetzt elegant und glatt im blauen Serge-Anzug als Mitglied einer Delegation. Schockiert und wie gelähmt verharrt Beverly ein paar Tage, dann kauft sie sich ein Flugticket nach London … Colum McCanns dramatische Erzählung ist ein Plädoyer für das Verzeihen, den Frieden, aber sie zeigt, wie schwer beide zu erlangen sind.

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Seitenzahl: 57

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Colum McCann

Frieden

Eine Erzählung

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Schwester Beverly ist vor Bürgerkrieg und Gewalt aus Kolumbien in die USA geflohen, nachdem sie von der Guerilla entführt und gefoltert wurde. Jahre später plagen sie die Schrecknisse dieser Zeit noch immer in Albträumen, lassen sie an ihrem Glauben zweifeln und behindern sie bei ihrer Arbeit in einem Kinderheim in Houston.

Eines Abends schaut sie die spanischsprachigen Spätnachrichten, es läuft ein Bericht über Friedensverhandlungen zwischen den kolumbianischen Bürgerkriegsparteien, die soeben in London begonnen wurden. Und aus dem Augenwinkel erkennt sie dort – Carlos, jenen brutalen, sadistischen Guerillero, der sie damals gefoltert und vergewaltigt hat, jetzt elegant und glatt im blauen Serge-Anzug als Mitglied einer Delegation.

Schockiert und wie gelähmt verharrt Beverly ein paar Tage, dann kauft sie sich ein Flugticket nach London …

Über Colum McCann

Inhaltsübersicht

12

1

Ganz sacht verfällt sie dem Alter. Nicht die Mühsal des morgendlichen Aufstehens beunruhigt sie, die Mattigkeit der Augen oder die Schmerzen in der Brust, die immer regelmäßiger auftreten, sondern die Sprödigkeit der Erinnerung – die Vergangenheit gleitet davon, die Gegenwart treibt dahin, und nur manchmal gibt es eine Kollision –, sodass sie sich, als sie ihren Folterer im Fernsehen sieht, erst nicht sicher ist, ob ihr die Phantasie einen Streich spielt oder ob er sich einfach aus dem Sand der Erinnerung befreit und siebenunddreißig Jahre übersprungen hat, um sie zu einem schrecklichen Fehler zu verleiten, und ob dieser lässige, gutaussehende, beherrschte Mann, den sie in den spanischsprachigen Spätnachrichten sieht, überhaupt wirklich er ist.

Ein frisch gebügeltes blaues Hemd mit offenem Kragen. Die Zähne in weißem Kontrast zur dunklen Haut. Seine Haltung zeugt von entspannter Souveränität. Die Aufnahmen stammen von einer Konferenz, wo er mit mehreren anderen vor einer Reihe von Mikrofonen sitzt.

So unvermittelt taucht er am Ende der Nachrichten auf, dass sie heftig zusammenzuckt und die beiden anderen Schwestern auf dem Sofa erschreckt.

Beverly hebt beruhigend die Hand: Entschuldigung, alles in Ordnung, ich bin’s nur, schlaft weiter.

Sie beugt sich mit der Fernbedienung vor, um den Ton lauter zu stellen, doch der Mann ist schon wieder verschwunden, und eine junge blonde Reporterin blickt selbstbewusst in die Kamera und beendet ihren Bericht. Im Hintergrund die Themse. Wie ist das möglich? Hat sie vielleicht die Bilder durcheinandergebracht, die Beiträge verwechselt? Schon allein die geographischen Gegebenheiten sind schwindelerregend.

Solche Aussetzer häufen sich in letzter Zeit. Verstümmelte Sätze, verlegte Schlüssel, vergessene Namen. Verbale Wolkenbrüche, dann Dürre. Vergangene Woche erst hat sie sich bei einem Spaziergang am Strand der Bucht entlang verlaufen und den falschen Pfad durch die Dünen genommen. Der Wind peitschte die Grashalme an ihre Füße. Fünf Kilometer vom Haus entfernt musste sie jemanden bitten, ihr ein Taxi zu rufen. Und dann fiel ihr die genaue Adresse nicht ein.

Zu viele Ungewissheiten, sodass sie selbst absolute Gewissheiten – den Wochentag, wie man einen Schnürsenkel bindet, den Rhythmus eines Gebets – schon in Zweifel gezogen hat. Und doch hat das Gesicht dieses Mannes – und sei es nur für einen Sekundenbruchteil – etwas an sich, das ihr das Mark gefrieren lässt. Diese kurze Nahaufnahme. Die Art, wie er sich zwischen all den Würdenträgern der Kamera präsentiert hat. Was genau war es? Die eigenartige Sicherheit, die das Alter ihm verliehen hat? Der Zugang zu den Mikrofonen? Die Ungeheuerlichkeit seines Wiederauftauchens? Die eine kurze Nahaufnahme?

Ihr Folterer. Ihr Misshandler. Ihr Vergewaltiger.

 

Im Licht des Halbmonds hinter dem Haus tastet Beverly in der Tasche ihrer Strickjacke nach dem Feuerzeug.

Sie ist die einzige Raucherin unter den Schwestern. Es ist eine uralte Angewohnheit aus ihrer Kindheit in Irland, die sie all die Jahre mit sich herumgeschleppt hat, nach Belgien, Marseille, Kolumbien, Saint Louis, Baltimore, in das Mädchenheim in Houston und jetzt an das Südufer von Long Island.

Ein ruhiges Plätzchen, hat man ihr gesagt. Ein, zwei Monate Erholung. Frische Seeluft. Zeit zum Ausspannen. Doch ihr ist klar, was das bedeutet: Sie ist sechsundsiebzig und mit nur einem einzigen Koffer an diesem Ort letzter Gebete eingetroffen.

Sie klopft eine Zigarette fest, dreht das Rad des Feuerzeugs und nimmt einen tiefen Zug. Ihr wird ein bisschen schwummrig. Die Blechdose ist bereits zu einem Viertel mit Zigarettenstummeln und Asche gefüllt. Die anderen Schwestern tolerieren ihre Schwäche, ja sie empfinden eine widerwillige Bewunderung für sie, die hochgewachsene, dünne irische Nonne, die Einzelgängerin, die sich gewohnheitsmäßig abseitshält.

Sie sieht zu, wie Kälte und Rauch der Luft Gestalt verleihen. Hinter ihr erlöschen, eins nach dem anderen, die Lichter im Haus – die anderen Schwestern sprechen ihr Nachtgebet.

Die Bäume heben sich dunkel vom Himmel ab. Es ist Spätsommer oder Frühherbst, sie weiß nicht mehr genau, welches Wort wohin gehört. Aber das spielt keine Rolle – es ist die Jahreszeit, in der die Dunkelheit sich früh herabsenkt.

Sie raucht ihre zweite Zigarette, tritt sie im Gras zu ihren Füßen aus, bückt sich, sucht zwischen kalten Halmen den Filter und wirft ihn in die aufgehängte Blechdose.

Er war es. Sie ist sich ganz sicher.

Ein Windstoß lässt die Fliegentür hinter ihr mit einem scharfen Knall ins Schloss fallen. Sie streckt die Arme aus wie eine kürzlich Erblindete. Die Dunkelheit weicht in dem Maß, in dem ihre Augen sich daran gewöhnen.

Im Wohnzimmer bleibt sie vor dem großen Flachbildfernseher stehen. In den Apparaten unter dem Fernseher leuchten ein paar Lichter: ein Kabeltuner, ein DVD-Spieler. Sie streicht über den Rand des Fernsehers, kann aber keine Tasten finden. Sie sucht die Fernbedienung und stößt gegen den Sofatisch. Der Teppich verströmt einen dumpfen Geruch. Ein zu Boden gefallener Löffel. Eine Zeitung.

Erst jetzt fällt ihr das Feuerzeug ein.

Im Licht der Flamme entdeckt sie die Fernbedienung, die zwischen zwei Sofakissen steckt. Ein Menü: HDMI1, HDMI2, PC. Heutzutage muss man Atomphysiker sein, um einen Apparat einzuschalten. Sie zappt durch die Programme. Vampire, Baseball, Krimiserien. Für einen Augenblick ist sie in Versuchung, bei einer Reality-Show über eine Mormonenfamilie zu bleiben.