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Colum McCann

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Beschreibung

Neufundland, 1919: Die beiden Flieger Jack Alcock und Arthur Brown unternehmen den ersten Nonstopflug über den Atlantik mit Kurs Irland. Dublin, 1845: Der schwarzamerikanische Abolitionist Frederick Douglass reist durch das von Hungersnot gepeinigte Irland, wo die Leute schlimmer leiden als unter der Sklaverei. New York, 1998: US-Senator George Mitchell verlässt seine junge Frau und sein erst wenige Tage altes Baby, um in Belfast die Nordirischen Friedensgespräche zu einem unsicheren Abschluss zu führen. «Transatlantik» verwebt drei ikonische historische Momente mit dem Schicksal dreier Frauen: Angefangen mit der irischen Hausmagd Lily Duggan, in der Frederick Douglass die Liebe zur Freiheit weckt, folgt der Roman ihrer Tochter Emily und ihrer Enkelin Lottie in die USA und, später, zurück auf die Insel. Ihr Leben spiegelt den Verlauf der bewegten Nationalgeschichte Irlands und Amerikas. Dabei spielt ein vergessener, über drei Generationen nicht geöffneter Brief eine entscheidende Rolle. «Transatlantik» ist ein kraftvolles Epos über die Kollision von Geschichte und persönlichem Schicksal – geschrieben mit unvergleichlicher dichterischer Intensität, mit leuchtenden Szenen und klingender Sprache.

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Colum McCann

Transatlantik

Roman

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

Über dieses Buch

Neufundland, 1919: Die beiden Flieger Jack Alcock und Arthur Brown unternehmen den ersten Nonstopflug über den Atlantik mit Kurs Irland.

Dublin, 1845: Der schwarzamerikanische Abolitionist Frederick Douglass reist durch das von Hungersnot gepeinigte Irland, wo die Leute schlimmer leiden als unter der Sklaverei.

New York, 1998: US-Senator George Mitchell verlässt seine junge Frau und sein erst wenige Tage altes Baby, um in Belfast die Nordirischen Friedensgespräche zu einem unsicheren Abschluss zu führen.

«Transatlantik» verwebt drei ikonische historische Momente mit dem Schicksal dreier Frauen: Angefangen mit der irischen Hausmagd Lily Duggan, in der Frederick Douglass die Liebe zur Freiheit weckt, folgt der Roman ihrer Tochter Emily und ihrer Enkelin Lottie in die USA und, später, zurück auf die Insel. Ihr Leben spiegelt den Verlauf der bewegten Nationalgeschichte Irlands und Amerikas. Dabei spielt ein vergessener, über drei Generationen nicht geöffneter Brief eine entscheidende Rolle.

«Transatlantik» ist ein kraftvolles Epos über die Kollision von Geschichte und persönlichem Schicksal – geschrieben mit unvergleichlicher dichterischer Intensität, mit leuchtenden Szenen und klingender Sprache.

Vita

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award for Irish Literature und den Rooney Prize. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Inhaltsübersicht

WidmungMotto2012Buch eins19191845–18461998Buch zwei1863–188919291978Buch drei2011Transatlantischer Dank

Dieses Buch ist für Loretta Brennan Glucksman.

Und für Allison und Isabella.

Und natürlich für Brendan Bourke.

Die Geschichte ist nicht stumm. Die Geschichte der Menschheit weigert sich, den Mund zu halten, ganz gleich, wie sehr man sie in Besitz nimmt, sie zerbricht und durch Lügen entstellt. Trotz Unwissenheit und Taubheit tickt die Zeit, die einst war, noch immer in der Zeit, die jetzt ist.

Eduardo Galeano

2012

Das Haus stand am Ufer des Loughs. Sie konnte hören, wie Wind und Regen über die weite Wasserfläche jagten: Sie fuhren durch die Bäume und arbeiteten sich durch das Gras.

Sie erwachte früh am Morgen, noch vor den Kindern. Es lohnte sich, dem Haus zuzuhören. Eigenartige Geräusche vom Dach. Anfangs dachte sie, es könnten vielleicht Ratten sein, die über die Schieferplatten huschten, doch bald entdeckte sie, dass es Möwen waren, die Austern auf das Dach fallen ließen, damit sie aufsprangen. Das geschah meist morgens, manchmal schon bei Tagesanbruch.

Die Muscheln schlugen mit einem scharfen Klicken auf, sprangen hoch und schlitterten gleich darauf klirrend über das Dach, bis sie in das lange, mit weißer Farbe besprenkelte Gras fielen.

Wenn eine Muschel mit der Kante auftraf, zerbrach sie, doch wenn sie auf der Seite landete, hielt sie stand. Dann lag sie da wie etwas nicht Explodiertes.

Geschickt wie Akrobaten stießen die Möwen auf die zerbrochenen Muscheln nieder. War ihr Hunger vorerst gestillt, flogen sie in blau-grauen Staffeln wieder zum Wasser.

Bald regte es sich in den Zimmern. Fenster, Türen und Schränke wurden geöffnet, und der Wind, der über das Lough wehte, strich durch das Haus.

Buch eins

1919

Wolkenschatten

Es war ein umgebauter Bomber. Eine Vickers Vimy. Nichts als Holz, Leinen und Draht. Sie war breit und schwerfällig, und doch fand Alcock, sie sei ein spritziges kleines Ding. Er tätschelte sie jedes Mal, wenn er an Bord kletterte und neben Brown ins Cockpit glitt. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung. Wenn er die Hand auf dem Gashebel und die Füße auf den Seitenruderpedalen hatte, kam es ihm vor, als hätten sie schon abgehoben.

Am besten gefiel es ihm, durch die Wolken zu stoßen und in klarem Sonnenlicht zu fliegen. Er konnte sich über den Rand des Cockpits beugen und den Schatten dort unten sehen, der sich auf der weißen Oberfläche der Wolken streckte und zusammenzog.

Brown, der Navigator, war zurückhaltender – derlei Aufheben war ihm peinlich. Er saß vornübergebeugt im Cockpit und lauschte auf die Hinweise des Motors. Er wusste instinktiv, welche Gestalt der Wind annehmen würde, doch er vertraute auf das, was er tatsächlich berühren konnte: die Kompasse, die Karten, das Schauglas des Treibstofftanks zu seinen Füßen.

 

Zu jener Zeit war der Begriff des Gentlemans beinahe nur noch ein Mythos. Der Große Krieg hatte die Welt erschüttert. Die unerträglichen Nachrichten von sechzehn Millionen Toten strömten von den großen Metalltrommeln der Zeitungsdruckereien. Europa war ein Beinhaus.

Alcock war für das Royal Flying Corps geflogen. Er hatte kleine, an der Unterseite der Maschine aufgehängte Bomben ausgeklinkt. Die unvermittelte Leichtigkeit des Flugzeugs. Ein Schub hinauf in die Nacht. Er beugte sich aus dem offenen Cockpit und sah unten den Pilz der Rauchwolke aufsteigen. Die Maschine fand die Horizontale und flog heim. Bei diesen Flügen wollte Alcock unerkannt bleiben. Er flog im Dunkeln, über ihm der offene Himmel und die Sterne. Dann kam unten ein Landestreifen in Sicht. Der Stacheldraht war beleuchtet wie der Altar einer seltsamen Kirche.

Brown hatte Aufklärungsflüge gemacht. Er besaß ein Gespür für die Mathematik des Fliegens. Er konnte jeden Himmel in eine Reihe von Zahlen verwandeln. Selbst am Boden setzte er seine Berechnungen fort und entwarf neue Methoden, seine Flugzeuge nach Hause zu leiten.

 

Beide wussten genau, was es hieß, abgeschossen zu werden.

Alcock erwischten die Türken bei einem Fernangriff auf die Bucht von Suvla. Maschinengewehrfeuer durchsiebte seine Maschine und zerschoss den linken Propeller. Er setzte auf dem Wasser auf und schwamm mit seinen beiden Crewmitgliedern an Land. Sie mussten nackt zu dem Lager marschieren, in dem die Türken lange Reihen kleiner Holzkäfige für die Kriegsgefangenen aufgestellt hatten. Dort waren sie der Witterung ungeschützt ausgesetzt. Im Nachbarkäfig saß ein Waliser, der eine Sternenkarte besaß, und so verbesserte Alcock unter den schimmernden Nagelköpfen der türkischen Nächte seine diesbezüglichen Fertigkeiten: ein Blick zum Himmel, und er konnte die genaue Uhrzeit bestimmen. Doch am meisten sehnte er sich danach, an einem Motor herumzuschrauben. Als er in ein Lager bei Kedos verlegt wurde, tauschte er seine Rotkreuzschokolade gegen einen Dynamo und sein Shampoo gegen ein paar Traktorenteile ein und baute aus Bambusrohr, Schrauben, Draht und Batterien eine Reihe Ventilatoren.

Auch Teddy Brown war in Kriegsgefangenschaft geraten, nachdem er bei einem Aufklärungsflug über Frankreich zur Landung gezwungen worden war. Eine Kugel hatte sein Bein zerschmettert, eine andere den Tank durchlöchert. Im Sinkflug warf er die Kamera hinaus, zerriss Karten und Aufzeichnungen und verstreute die Fetzen. Der Pilot brachte die B.E. 2c auf einem schlammigen Weizenfeld herunter und stellte den Motor ab. Sie reckten die Arme in die Luft. Die Feinde kamen aus dem Wald gerannt, um sie aus dem Wrack zu zerren. Brown roch das Benzin, das aus den geborstenen Tanks floss. Einer der Krauts hatte eine brennende Zigarette im Mund. Brown war für seine Zurückhaltung bekannt. Excuse me, rief er, doch der Deutsche kam immer näher. Nein, nein. Der Deutsche blies eine kleine Rauchwolke aus. Der Pilot schwenkte die Arme und brüllte: For fucksake, stop!

Der Deutsche blieb unvermittelt stehen, legte den Kopf in den Nacken, verschluckte die brennende Zigarette und rannte weiter auf die beiden Flieger zu.

Es war eine Geschichte, die Browns Sohn Buster zum Lachen brachte, als er sie zwanzig Jahre später hörte, kurz bevor er selbst in den Krieg zog. Excuse me. Nein, nein. Als hätte dem Deutschen das Hemd aus der Hose gehangen. Als hätte er sich die Stiefel nicht ordentlich geschnürt.

 

Brown wurde noch vor dem Waffenstillstand in die Heimat entlassen und verlor seinen Hut im Gewirbel der Hüte über dem Piccadilly Circus. Die Frauen trugen roten Lippenstift auf. Die Rocksäume gaben die Beine bis fast zu den Knien hinauf frei. Er wanderte an der Themse entlang, folgte dem Fluss so weit, bis er ihn zum Himmel hinaufzuführen schien.

Alcock kehrte erst im Dezember nach London zurück. Er sah Männer in schwarzen Anzügen und mit Bowlerhüten über Schutt und Trümmer steigen. In einer Gasse, die von der Pimlico Road abging, machte er bei einem Fußballspiel mit und trat das Leder hierhin und dorthin. Und doch hatte er wieder das Gefühl, in der Luft zu sein. Er zündete sich eine Zigarette an und sah dem Rauch nach, der sich kräuselte und verwehte.

 

Anfang 1919, als Alcock und Brown einander in der Vickers-Fabrik in Brooklands kennenlernten, spürten sie sogleich, dass sie beide einen Neuanfang brauchten. Die Auslöschung der Erinnerung. Die Erschaffung eines neuen Augenblicks, eines ungezügelten, dynamischen, kriegslosen Augenblicks. Es war, als wollten sie ihre jüngeren Herzen in die gealterten Körper verpflanzen. Sie wollten nicht an die Blindgänger denken, an die Explosionen und Stichflammen, an die Zellen, in die man sie gesperrt hatte, oder daran, in was für Abgründe sie in der Finsternis geblickt hatten.

Stattdessen sprachen sie über die Vickers Vimy. Ein spritziges kleines Ding.

 

Die vorherrschenden Winde wehten von Neufundland ostwärts und strömten kräftig und rasch über den Atlantik. Zweitausendneunhundert Kilometer über den Ozean.

Die Männer kamen mit dem Schiff aus England, nahmen sich Zimmer im Cochrane Hotel und warteten auf die Vimy. Sie kam in siebenundvierzig großen Holzkisten. Im Spätfrühling. In der Luft noch der Biss der Kälte. Alcock und Brown heuerten Männer an, die die Kisten vom Hafen heraufschaffen sollten. Sie banden die Kisten auf Fuhrwerke und bauten das Flugzeug auf freiem Feld zusammen.

Die Wiese lag auf einem niedrigen Hügel am Rand von St. John’s. Dreihundert Meter ebene Fläche, am einen Ende ein Sumpf, am anderen ein Kiefernwäldchen. Tagelang wurde geschweißt, gelötet, geschliffen und genäht. An den Bombenhalterungen wurden zusätzliche Treibstofftanks befestigt. Das freute Brown am meisten. Sie verwendeten den Bomber auf eine ganz neue Art: Sie entfernten den Krieg aus dem Flugzeug, befreiten das Ganze von seiner Neigung zum Blutbad.

Um die Unebenheiten der Wiese zu beseitigen, steckten sie Kabel in Zündpatronen und sprengten Felsen, rissen Schuppen ab, legten Zäune um und planierten Bodenwellen. Es war Frühsommer, doch die Luft war noch frisch. Vogelschwärme zogen fließend über den Himmel.

Nach vierzehn Tagen war die Startbahn fertig. Für die meisten war es bloß ein Stück Land, doch für die beiden Piloten war es ein fabelhaftes Aerodrom. Sie schritten die Startbahn ab, beobachteten den Wind in den Bäumen, hielten Ausschau nach Wetterzeichen.

 

Viele Schaulustige kamen, um die Vimy zu bestaunen. Manche hatten noch nie in einem Automobil gesessen, geschweige denn ein Flugzeug gesehen. Aus der Ferne hätte man meinen können, jemand hätte eine Libelle nachgebaut. Die Maschine war dreizehn Meter lang und beinahe fünf Meter hoch, und die Flügelspannweite betrug mehr als zwanzig Meter. Wenn sie mit dreitausendneunhundert Litern Benzin und hundertachtzig Litern Öl betankt war, wog sie fünftausendachthundert Kilo. Fast vierzig Kilo pro Quadratmeter Flügelfläche. Die Stoffbespannung war mit Tausenden Stichen zusammengenäht worden. Die anstelle der Bomben montierten Tanks enthielten Treibstoff für dreißig Flugstunden. Ihre Höchstgeschwindigkeit betrug hundertdreiundsechzig Stundenkilometer, die Reisegeschwindigkeit hundertfünfundvierzig Stundenkilometer, die Landegeschwindigkeit zweiundsiebzig Stundenkilometer. Sie verfügte über zwei wassergekühlte Rolls-Royce-Eagle-VIII-Motoren mit zwölf in zwei Reihen à sechs angeordneten Zylindern, 360 PS und einer Lastdrehzahl von 1080 UpM. Jeder Motor trieb einen vierflügeligen Holzpropeller an.

Die Schaulustigen strichen über die Streben, klopften auf die Stahlprofile und stießen mit Schirmspitzen gegen den straff gespannten Leinenstoff der Tragflächen. Kinder schrieben mit Buntstiften ihre Namen auf die Unterseite des Rumpfes.

Fotografen stülpten sich schwarze Tücher über. Alcock posierte für die Kameras und beschirmte wie ein Entdecker mit der Hand die Augen. Auf, auf!, rief er und sprang aus drei Metern Höhe ins nasse Gras.

 

Die Zeitungen schrieben, jetzt sei alles möglich. Die Welt wurde klein. In Paris wurde der Völkerbund gegründet. W. E. B. Du Bois berief den Pan-Afrikanischen Kongress mit Delegierten aus fünfzehn Ländern ein. In Rom hörte man Jazzplatten. Radiobegeisterte übermittelten Signale mit Hilfe von Vakuumröhren Hunderte von Kilometern weit. Eines nicht mehr fernen Tages würde man die aktuelle Ausgabe des San Francisco Examiner in Edinburgh, Salzburg, Sydney oder Stockholm lesen können.

In London hatte Lord Northcliffe von der Daily Mail für die erste Atlantiküberquerung, ganz gleich, in welcher Richtung, zehntausend Pfund ausgesetzt. Mindestens vier andere wollten es ebenfalls versuchen. Hawker und Grieve hatten bereits notwassern müssen. Andere, wie Brackley und Kerr, warteten auf Flugplätzen entlang der Küste auf Wetterbesserung. Der Flug durfte nicht länger als zweiundsiebzig Stunden dauern. Nonstop.

Es gab Gerüchte über einen reichen Texaner, der es versuchen wollte, über einen ungarischen Prinzen und sogar – das waren die schlimmsten – über einen Deutschen von der Fliegertruppe, der im Krieg einen Langstreckenbomber geflogen hatte.

Der Lord Northcliffe unterstellte Beilagenredakteur der Daily Mail hatte angesichts eines möglichen deutschen Sieges angeblich ein Magengeschwür entwickelt.

«Ein Deutscher! Ein verdammter Deutscher! Gott steh uns bei!»

In der Fleet Street ging er am Metteurtisch, wo die Titelseite gesetzt wurde, auf und ab und formulierte in Gedanken die möglichen Schlagzeilen. Seine Frau hatte eine englische Fahne auf das Futter seines Jacketts genäht. Er strich darüber, als wäre es ein Gebetsschal.

«Macht schon, Jungs», murmelte er. «Beeilt euch. Heim nach England.»

 

Jeden Morgen erwachten die beiden Flieger im Cochrane Hotel und ließen sich ein Frühstück aus Porridge, Eiern, Speck und Toast servieren. Dann fuhren sie auf steilen Straßen zur Forest Road und der von Schnee und Eis gesäumten Wiese. Der Wind wehte in wütenden Böen vom Meer. Sie zogen Drähte in ihre Flugmonturen, sodass diese mittels Batterien beheizt werden konnten, und versahen ihre Kappen, Handschuhe und Stiefel mit zusätzlichem Pelzfutter.

Eine Woche verging. Zwei Wochen. Das Wetter verhinderte den Start. Wolken. Sturm. Vorhersagen. Die Männer achteten darauf, sich jeden Morgen sorgfältig zu rasieren. Es war ein Ritual, das sie am Ende des Flugfelds vornahmen. In einem Zelt hatten sie einen kleinen Gasbrenner und eine Waschschüssel aus Stahl. Eine Radkappe diente als Spiegel. In ihrem Gepäck waren Rasierklingen: Nach ihrer Landung in Irland wollten sie auf jeden Fall frisch rasiert sein, präsentable Bürger des Empire.

An den immer längeren Juniabenden rückten sie ihre Krawatten zurecht, setzten sich unter die Tragflächen der Vickers Vimy und sprachen ausführlich mit den kanadischen, amerikanischen und britischen Reportern, die sich eingefunden hatten, um dem Start beizuwohnen.

Alcock war sechsundzwanzig. Aus Manchester. Er war schlank, gutaussehend, schneidig – ein Mann, der imstande war, ein Ziel unbeirrbar zu verfolgen, und dennoch offenblieb für Frohsinn und Gelächter. Er hatte rotblondes Haar. Er war Junggeselle und sagte, er liebe Frauen, aber noch lieber seien ihm Motoren. Nichts bereitete ihm mehr Vergnügen, als einen Rolls-Royce-Motor zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Er teilte seine Sandwiches mit den Reportern – oft war auf dem Brot ein schwarzer Fingerabdruck.

Brown saß neben Alcock auf der Kiste. Mit seinen zweiunddreißig Jahren wirkte er bereits alt. Da sein Bein verkrüppelt war, ging er am Stock. Er war in Schottland geboren, aber in der Gegend von Manchester aufgewachsen. Seine Eltern waren Amerikaner, und er hatte einen leichten amerikanischen Akzent, den er kultivierte, so gut es ging. Er betrachtete sich als Transatlantiker. Er hatte gelesen, was Aristophanes über den Krieg zu sagen hatte, und bekannte sich zu der Vorstellung, dass er am glücklichsten wäre, wenn er den Rest seines Lebens fliegend verbringen könnte. Er war gern allein, suchte aber nicht die Einsamkeit. Manche fanden, er sehe aus wie ein Vikar, doch in seinen Augen leuchtete ein fernes Blau, und er hatte sich kürzlich mit einer jungen Schönheit aus London verlobt. Er schrieb Kathleen Liebesbriefe. Er schrieb ihr, er habe gute Lust, seinen Krückstock in den Sternenhimmel zu werfen.

«Mein lieber Mann», sagte Alcock. «Das hast du ihr wirklich geschrieben?»

«Ja.»

«Und was hat sie geantwortet?»

«Dass ich dann keinen mehr brauche.»

«Ah! Wahre Liebe!»

Bei den Pressekonferenzen übernahm Alcock das Ruder. Brown navigierte durch Sekunden des Schweigens, indem er an seiner Krawattennadel herumfingerte. In seiner Innentasche hatte er einen Flachmann mit Brandy. Gelegentlich wendete er sich ab, schlug das Revers hoch und nahm einen Schluck.

Auch Alcock trank, doch er tat es laut, öffentlich und im Überschwang. Er lehnte sich in der Bar des Cochrane Hotel an die Theke und sang Rule, Britannia – allerdings so falsch, dass die Darbietung ironisch doppeldeutig war.

Die Einheimischen – hauptsächlich Fischer, ein paar Holzfäller – trommelten auf die Tische und sangen Lieder über geliebte Menschen, die auf dem Meer verschollen waren.

Sie sangen bis spät in die Nacht, als Alcock und Brown längst zu Bett gegangen waren. Selbst im dritten Stock hörten sie, wie die traurigen Rhythmen sich in Wellen von Gelächter brachen, und ein wenig später wurde auf dem Klavier der Maple Leaf Rag gespielt:

Oh go ’way, man,

I can hypnotize dis nation,

I can shake de earth’s foundation

With the Maple Leaf Rag.

Alcock und Brown standen bei Sonnenaufgang auf und warteten auf klaren Himmel. Sie wandten die Gesichter dem Wind zu. Schritten das Flugfeld ab. Spielten Rommé. Warteten. Sie brauchten einen warmen Tag, einen guten Mond und einen kräftigen Rückenwind. Sie glaubten, es in nicht einmal zwanzig Stunden schaffen zu können. Mit der Möglichkeit des Scheiterns befassten sie sich nicht, doch Brown schrieb insgeheim ein Testament, in dem er Kathleen seinen gesamten Besitz vermachte. Den Umschlag verstaute er in der Innentasche seiner Montur.

Alcock setzte kein Testament auf. Er erinnerte sich an das Grauen des Krieges und war zu Zeiten noch immer überrascht, dass er morgens aufwachen konnte.

«Verglichen damit ist alles andere ein Hühnerschiss.»

Er klopfte mit der flachen Hand auf den Rumpf der Vimy und warf einen Blick auf die Wolken, die sich im Westen auftürmten.

«Außer natürlich noch mehr von diesem verflixten Regen.»

 

Der Blick hinab zeigt eine Reihe von Kaminen, Zäunen und Türmen, der Wind kämmt die Grasbüschel zu silbrigen Wellen, Flüsse überfluten die Gräben, zwei weiße Pferde rennen auf einer Koppel herum, die langen Schals der Teerstraßen zerfasern zu unbefestigten Feldwegen – Wald, Buschland, Kuhställe, Gerbereien, Werften, Fischhallen und Lebertranfabriken, das ganze Gemeinwesen, und wir schwimmen auf einem Meer aus Adrenalin – sieh doch, Teddy, da unten: ein Ruderboot auf dem Fluss, ein Handtuch auf dem Strand, ein Mädchen mit Schaufel und Eimer, und die Frau zieht ihren Rocksaum hoch, und da drüben, siehst du den jungen Burschen in dem roten Pullover, der mit dem Esel am Strand entlangrennt, los, flieg noch eine Kurve und jag ihm mit dem Schatten einen Schreck ein …

 

Am Abend des 12. Juni machen sie noch einen Probeflug, diesmal im Dunkeln, damit Brown seine Sumner-Tabellen erproben kann. Dreitausenddreihundert Meter. Das Cockpit ist offen. Die Kälte ist grimmig. Sie ducken sich hinter die Windschutzscheibe. Ihre Haarspitzen erstarren vor Kälte.

Alcock versucht, ein Gespür für die Maschine zu entwickeln, für ihr Gewicht, ihre Manövrierfähigkeit, ihre Lastverteilung, während Brown seine Berechnungen anstellt. Unten warten die Reporter auf die Rückkehr des Flugzeugs. Das Flugfeld ist von Kerzen in braunen Papiertüten eingerahmt. Als die Vimy landet, werden die Kerzen umgeweht und brennen im Gras. Einheimische Jungen rennen mit Eimern voll Wasser herbei und löschen die Flammen.

Unter dem Applaus des Publikums klettern die beiden Flieger aus dem Cockpit. Es verwundert sie, dass eine der örtlichen Reporterinnen – Emily Ehrlich – so viel ernster ist als die anderen. Sie stellt nie eine Frage, sondern steht immer in Strickmütze und Handschuhen herum und macht sich Notizen. Klein und unvorteilhaft dick. In den Vierzigern oder Fünfzigern. Sie stapft mit schweren Schritten über das schlammige Flugfeld. Sie hat einen Gehstock. Ihre Knöchel sind stark geschwollen. Sie sieht aus wie die Frauen, die in Konditoreien oder ländlichen Kaufläden hinter der Theke stehen, schreibt aber, wie die beiden wissen, gewandt und mit spitzer Feder. Sie haben sie im Cochrane Hotel kennengelernt, wo sie mit Lottie, ihrer Tochter, seit vielen Jahren wohnt. Die Siebzehnjährige handhabt die Kamera mit erstaunlicher Lässigkeit und Souveränität – es ist, als würde sie damit flirten. Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist sie hochgewachsen, schlank, lebhaft, neugierig. Oft lacht sie und flüstert ihrer Mutter etwas ins Ohr. Ein seltsames Paar. Die Mutter schweigt; die Tochter macht die Fotos und stellt die Fragen. Das erregt den Unwillen der anderen Zeitungsleute – eine junge Frau ist in ihr Revier vorgedrungen –, doch ihre Fragen kommen schnell und präzise. Welchem Winddruck kann das Gewebe standhalten? Was für ein Gefühl ist es, wenn das Meer unter einem verschwindet? Gibt es in London eine Dame Ihres Herzens, Mr. Alcock? Gegen Abend gehen Mutter und Tochter über die Wiesen, Emily zu ihrem Hotelzimmer, wo sie ihre Reportage schreibt, Lottie zum Tennisplatz, wo sie stundenlang spielt.

Jeden Donnerstag steht Emilys Name auf der Titelseite des Evening Telegram, fast immer begleitet von einem Foto, das ihre Tochter gemacht hat. Einmal die Woche bekommt sie Gelegenheit, sich über ein Thema ihrer Wahl auszulassen: den Untergang von Fischerbooten, örtliche Auseinandersetzungen, politische Ereignisse, die Holzindustrie, die Suffragetten, das Grauen des Krieges. Sie ist berühmt für eigenartige Abschweifungen. Einmal hat sie in einen Artikel über die Gewerkschaften ein Rezept für einen Kuchen eingebaut. Ein anderes Mal ging die Analyse einer Rede des Gouverneurs von Neufundland unvermittelt in eine Schilderung der anspruchsvollen Kunst der Eislagerung über.

Man hat Alcock und Brown geraten, vor ihnen auf der Hut zu sein, denn Mutter und Tochter haben allem Anschein nach einen Hang zur Nostalgie und verfügen über ein feuriges irisches Temperament. Dennoch mögen sie die beiden, Emily und Lottie, und das Element der Eigenartigkeit, das sie in die Menge der Schaulustigen bringen: die seltsamen Mützen und langen Kleider der Mutter, ihre sonderbaren Anfälle von Schweigen, die raschen, ausgreifenden Schritte, der Tochter, wenn sie durch das Städtchen geht und dabei mit dem Tennisschläger an ihre Wade klopft.

Außerdem hat Brown Emilys Artikel im Evening Telegram gelesen, und sie gehören zu den besten, die er bisher gesehen hat: Heute wölbte sich ein träger Himmel über dem Signal Hill. Am Flugfeld erklingen Hammerschläge wie Glockengeläut. Jeden Abend gleicht die untergehende Sonne mehr und mehr dem Mond.

 

Sie werden an einem Freitag, dem 13., starten. So schlagen Flieger dem Tod ein Schnippchen: Man wählt einen Unglückstag und bietet dem Schicksal die Stirn.

Die Kompasse sind eingestellt, die Transversalen sind berechnet, das Funkgerät ist kalibriert, die Stoßdämpfer sind an den Achsen befestigt, die Spanten sind mit Schellack überzogen, der Stoff ist mit Spannlack bestrichen, das Kühlwasser ist destilliert. Sämtliche Nieten, Splinte und Nähte sind doppelt und dreifach überprüft. Die Hebel für die Benzinpumpen. Die Magnetzünder. Die Batterien, die ihre Fliegermonturen wärmen sollen. Ihre Stiefel sind geputzt. Die Thermosflaschen sind mit heißem Tee und Fleischbrühe gefüllt. Die sorgsam geschnittenen Sandwiches sind verstaut. Listen werden gewissenhaft abgearbeitet. Mit Malzextrakt angereicherte Milch. Mehrere Tafeln Schokolade. Vier Stangen Lakritz für jeden. Eine Halbliterflasche Brandy für den Notfall. Sie stecken Zweige von weißem Heidekraut in das Pelzfutter ihrer Kappen, als Talisman. Und sie nehmen zwei ausgestopfte Tiere mit – beides schwarze Katzen. Die eine legen sie unter die Schräge der Windschutzscheibe, die andere binden sie an eine Spante hinter dem Cockpit.

Dann ziehen knicksend Wolken auf, Regen kniet sich auf das Land, und das Wetter wirft sie volle anderthalb Tage zurück.

 

Im Postamt von St. John’s hüpft Lottie Ehrlich über einen Schattenkäfig auf dem Boden und tritt an den mit drei Gitterstäben versehenen Schalter, wo der Beamte den schwarzen Augenschirm hochschiebt, um sie zu betrachten. Sie schiebt einen verschlossenen Umschlag über den Tresen.

Sie kauft eine Fünfzehn-Cent-Marke mit dem Bild von Cabot und sagt dem Beamten, dass sie noch einen Ein-Dollar-Zuschlag für die Transatlantikbeförderung braucht.

«Wir haben leider keine mehr», sagt er. «Die sind uns schon vor einiger Zeit ausgegangen.»

 

Abends verbringt Brown viel Zeit in der Lobby des Hotels. Er schickt Kathleen Telegramme. Er ist schüchtern, denn er weiß, dass auch andere seine Worte lesen. Seine Telegramme haben etwas Förmliches. Etwas Verkniffenes.

Für einen Mann in den Dreißigern geht er die Treppe recht langsam hinauf. Der Stock klopft hart auf die hölzernen Stufen. Drei Brandys schwappen in ihm hin und her.

Das Licht fällt eigenartig verändert auf das Geländer, und als er aufsieht, erblickt er in dem Spiegel mit dem reich geschnitzten Rahmen auf dem Treppenabsatz Lottie Ehrlich. Für einen Moment ist die junge Frau wie ein Gespenst, ihre Gestalt erscheint im Spiegel und tritt deutlicher hervor, sie wird größer, sie hat rotes Haar. Sie trägt Nachthemd, Morgenmantel und Pantoffeln. Beide erschrecken ein wenig über die Begegnung.

«Guten Abend», sagt Brown, und seine Zunge ist etwas schwer.

«Warme Milch», sagt die junge Frau.

«Wie bitte?»

«Ich hole meiner Mutter ein Glas warme Milch. Sie kann nicht schlafen.»

Er nickt, zupft an einer imaginären Hutkrempe und tritt beiseite.

«Sie kann nie schlafen.»

Ihre Wangen sind gerötet, es ist ihr wohl ein wenig peinlich, im Morgenmantel auf dem Korridor ertappt zu werden, denkt er. Wieder zupft er an der imaginären Hutkrempe, überwindet den Schmerz in seinem schlechten Bein und geht drei Stufen hinauf. Die Brandys setzen ihm zu. Sie bleibt zwei Stufen unter ihm stehen und sagt, förmlicher als nötig: «Mr. Brown?»

«Ja?»

«Sind Sie bereit für die Vereinigung der Kontinente?»

«Ehrlich gesagt», antwortet er, «hätte ich erst einmal lieber eine gute Telefonverbindung.»

Sie geht eine Stufe weiter hinunter und legt die Hand an den Mund, als müsste sie husten. Ihr eines Auge sitzt höher als das andere – es sieht aus, als hätte sich vor langer Zeit eine sehr hartnäckige Frage in ihren Gedanken eingenistet.

«Mr. Brown?»

«Miss Ehrlich?»

«Würde es Ihnen wohl große Umstände machen?»

Sie schlägt kurz die Augen nieder und hält inne, als hätte sie ein paar verirrte Worte auf der Zunge, seltsame kleine Dinger ohne jeden Fluss, und wüsste nicht, wie sie sie herausbringen soll. Sie steht da und balanciert sie und fragt sich, ob sie fallen werden. Brown denkt, dass sie, wie alle anderen in St. John’s, fragen will, ob sie, sollte es noch einen weiteren Probeflug geben, wohl einmal im Cockpit sitzen darf. Das ist natürlich unmöglich – sie können keinen Passagier mitnehmen, schon gar nicht eine junge Frau. Sie haben den Reportern nicht einmal erlaubt, sich ins Cockpit der stehenden Maschine zu setzen. Es ist ein Ritual, ein Aberglaube, etwas, das er nicht wird tun können, und er fragt sich, wie er es ihr sagen soll, und fühlt sich, als säße er in der Falle, ein Opfer seiner spätabendlichen Ausflüge.

«Würde es Ihnen große Umstände machen, etwas mitzunehmen?»

«Nein, natürlich nicht.»

Sie geht die Treppe wieder hinauf und eilt durch den Korridor in ihr Zimmer. Die Jugendlichkeit des Körpers unter dem Weiß des Morgenmantels.

Er kneift die Augen zusammen, reibt sich die Stirn, wartet. Ein Talisman vielleicht? Ein Memento? Ein Erinnerungsstück? Wie dumm, dass er ihr überhaupt Gelegenheit gegeben hat, ihn zu fragen. Er hätte einfach nein sagen sollen. Sie abwimmeln, in sein Zimmer gehen und verschwinden sollen.

Sie erscheint am Ende des Korridors, mit raschen, energischen Bewegungen. Der Morgenmantel gibt den Blick auf ein Dreieck weißer Haut an ihrem Hals frei. Er spürt den unvermittelten, schmerzhaften Stich des Verlangens nach Kathleen und ist froh über dieses Verlangen, die Zufälligkeit des Augenblicks, diese eigenartige Treppe, dieses abgelegene Hotel und die drei Brandys. Er vermisst seine Verlobte – ein klares, einfaches Gefühl. Er wäre gern zu Hause. Er würde sich an ihren schlanken Körper schmiegen und sehen, wie ihr Haar auf ihrem Schlüsselbein liegt.

Seine Hand greift etwas zu fest nach dem Geländer, als Lottie sich nähert. In der Linken hat sie ein Stück Papier. Er nimmt es entgegen. Ein Brief. Das ist alles. Nur ein Brief. Er wirft einen Blick auf die Adresse. Eine Familie in Cork. In der Brown Street, ausgerechnet.

«Meine Mutter hat ihn geschrieben.»

«Tatsächlich?»

«Könnten Sie ihn in den Postsack stecken?»

«Selbstverständlich. Das macht überhaupt keine Umstände», sagt er, dreht sich abermals um und steckt den Umschlag in die Innentasche seiner Jacke.

 

Am Morgen sehen sie Lottie aus der Hotelküche treten. Ihr Haar ist zerzaust, der Morgenmantel hochgeschlossen. Sie trägt ein Tablett voller Sandwiches, eingeschlagen in Wachspapier.

«Schinkensandwiches», sagt sie triumphierend und stellt das Tablett vor Alcock und Brown ab. «Hab ich extra für Sie gemacht.»

«Vielen Dank.»

Sie geht zur Tür und winkt dabei über ihre Schulter.

«Ist das nicht die Tochter der Reporterin?»

«Ja.»

«Die sind beide ein bisschen übergeschnappt, nicht?», sagt Alcock, zieht die Fliegerjacke an und späht hinaus in den Nebel.

 

Ein starker Wind weht böig aus Westen. Sie liegen schon sechsunddreißig Stunden hinter dem Zeitplan zurück, doch jetzt ist der Augenblick gekommen: Der Nebel hat sich aufgelöst, und die Großwetterlage ist gut. Keine Wolken. Der Himmel sieht aus wie gemalt. Die augenblickliche Windgeschwindigkeit ist hoch, wird aber wahrscheinlich auf dreißig Stundenkilometer sinken. Später werden sie einen guten Mond haben. Unter vereinzelten Hochrufen klettern sie an Bord, legen die Gurte an und überprüfen noch einmal die Instrumente. Ein kurzes Salutieren des Starthelfers. Kontakt! Alcock gibt Gas und bringt die beiden Motoren auf volle Touren. Er winkt, damit die Holzklötze vor den Rädern entfernt werden. Der Mechaniker duckt sich unter die Tragflächen, klemmt sich die Klötze unter die Arme, tritt zurück und wirft sie beiseite. Er reckt beide Arme in die Luft. Die Motoren husten Rauch. Die Propeller wirbeln. Die Vimy dreht die Nase in den Wind, bis er ihnen in einem kleinen Winkel entgegenweht. Bergauf. Los jetzt, los. Der Geruch nach warmem Öl. Geschwindigkeit und Auftrieb. Das unglaubliche Gebrüll der Motoren. In der Ferne die Bäume. Am Ende der Startbahn die Herausforderung eines Entwässerungsgrabens. Sie sagen nichts. Kein: Na dann. Kein: Komm schon. Sie kriechen, sie taumeln dem Wind entgegen. Los, los. Das Gewicht des Flugzeugs unter ihnen. Besorgniserregend. Langsamer denn je. Die Steigung hinauf. Die Maschine ist schwer heute. So viel Benzin. Hundert Meter, hundertzwanzig, hundertsiebzig. Sie sind zu langsam. Als würden sie sich durch Aspik bewegen. Die Enge des Cockpits. Schweiß in ihren Kniekehlen. Die Motoren drehen auf Hochtouren. Die Enden der Tragflächen wippen. Die Grashalme unter ihnen beugen sich und reißen ab. Sie holpern dahin. Zweihundertfünfzig. Das Flugzeug hebt ein wenig ab, setzt mit einem Seufzer wieder auf und reißt Furchen in die Erde. Herrgott, Jackie, zieh sie hoch. Die dunkle Reihe der Kiefern am Ende der Wiese kommt näher, näher, immer näher. Wie viele Männer sind schon so gestorben? Nimm das Gas weg, Jackie. Zieh sie in eine Kurve. Abbruch. Jetzt. Dreihundert Meter. Lieber Himmel. Eine Bö fährt unter die linke Tragfläche, sie taumeln ein wenig nach rechts. Und dann spüren sie es. Ein Gefühl im Bauch wie von kalter Luft. Wir steigen, Teddy, sieh doch, wir steigen! Langsam aufwärts, eine winzige Erleichterung, und jetzt ist die Maschine ein paar Meter hoch und steigt weiter, der Wind pfeift in den Spanndrähten. Wie hoch sind diese Bäume? Wie viele Männer sind gestorben? Wie viele von uns sind gefallen? In Gedanken verwandelt Brown die Bäume in mögliche Geräusche. In das Knirschen von Borke. Das Knistern von Zweigen. Das Knacken von Ästen. Den Aufprall. Komm schon, komm. Die Kehle noch immer wie zugeschnürt. Sie erheben sich ein wenig von den Sitzen, als könnten sie dadurch das Gewicht des Flugzeugs unter ihnen verringern. Höher jetzt, na los. Der Himmel jenseits der Bäume ist ein Ozean. Zieh sie hoch, Jackie, zieh sie hoch, Herrgott, zieh sie hoch. Die Bäume. Da kommen sie. Ihre Schals flattern im Wind, und dann hören sie unter sich den Beifall der Zweige.

 

«Das war ein bisschen knapp!», brüllt Alcock gegen den Lärm an.

 

Sie fliegen genau gegen den Wind. Die Nase hebt sich. Die Maschine wird langsamer. Ein mühsamer, quälender Aufstieg über Baumwipfeln und niedrigen Dächern. Vorsicht, jetzt nicht überziehen. Halt sie einfach im Steigflug. Sie gewinnen an Höhe und gehen in eine weite Kurve. Mit leichter Hand, alter Freund. Zieh sie herum. Eine majestätische Kurve, voller Schönheit und Balance, sie zeugt von einer eigenen Art von Selbstbewusstheit. Sie halten ihre Höhe. Die Kurve wird jetzt enger, bis sie den Wind von achtern haben und die Nase sich senkt und ihr Flug tatsächlich beginnt.

Sie winken dem Starthelfer, den Mechanikern, den Meteorologen und den wenigen Schaulustigen dort unten zu. Keine Emily Ehrlich vom Evening Telegram, keine Lottie: Mutter und Tochter sind bereits heimgegangen, früher als sonst. Sie haben den Start verpasst. Schade, denkt Brown. Er klopft an seine Jacke, in deren Innentasche noch der Umschlag steckt.

Alcock wischt sich den Schweiß von der Stirn, winkt ihrem Schatten auf dem letzten Stück festem Boden zu und steuert mit halbem Gas in Richtung Meer. Ein Streifen goldgelber Strand. Im Hafen von St. John’s schaukeln Boote. Spielzeugboote in einer Badewanne.

Alcock schaltet die primitive Sprechanlage ein und schreit beinahe hinein: «He, alter Freund.»

«Ja?»

«Tut mir leid.»

«Was tut dir leid?»

«Dass ich’s dir nie gesagt hab.»

«Was hast du mir nie gesagt?»

Alcock grinst und sieht hinunter auf das Wasser. Seit acht Minuten sind sie unterwegs, sie fliegen in dreihundert Metern Höhe und mit einem Rückenwind von etwa fünfzig Stundenkilometern. Sie schlingern über die Conception Bay. Das Wasser ist eine sich bewegende graue Matte. Flecken aus Sonnenlicht und gleißenden Reflexen.

«Ich kann nicht schwimmen.»

Für einen Augenblick ist Brown verblüfft – im Geiste sieht er sie notwassern, mit den Armen rudern, hölzerne Spanten und rollende Tanks umklammern. Aber Alcock ist doch an Land geschwommen, nachdem ihn die Türken über der Bucht von Suvla abgeschossen hatten. Vor vielen Jahren. Nein, nicht vor Jahren. Vor Monaten erst. Es erscheint Brown seltsam, sehr seltsam, dass eine Kugel vor gar nicht so langer Zeit seinen Oberschenkel durchbohrt hat und er diese Beschädigung heute zurück über den Atlantik befördert, einer Heirat, einer zweiten Chance entgegen. Seltsam auch, dass er überhaupt hier ist, in dieser Höhe, über diesem endlosen Grau, wo die Rolls-Royce-Motoren in seinen Ohren dröhnen und ihn in der Luft halten. Alcock kann nicht schwimmen? Unmöglich. Vielleicht, denkt Brown, sollte ich ihm die Wahrheit sagen. Es ist nie zu spät.

Er setzt zum Sprechen an, überlegt es sich aber anders.

 

Die Maschine steigt stetig. Sie sitzen nebeneinander im offenen Cockpit. Die Luft strömt kalt an ihren Ohren vorbei. Brown morst an die Station auf dem Festland: Alles in Ordnung, sind unterwegs.

Die Sprechanlage besteht aus einer Reihe von um den Hals gewickelten Drähten, die die Schwingungen des Kehlkopfs auffangen. Die Hörer stecken unter ihren Fliegerkappen.

Nach zwanzig Minuten greift Alcock unter seine Kappe, reißt die lästigen Hörer heraus und wirft sie über Bord. Die drücken zu sehr, gibt er durch Zeichen zu verstehen.

Brown zeigt ihm den erhobenen Daumen. Schade. Jetzt können sie sich nur noch durch Gesten und hingekritzelte Worte verständigen. Aber jeder hat die Gebärden und Bewegungen des anderen längst kartographiert: Jede Regung ist wie ein Wort, die Abwesenheit einer Stimme ist die Anwesenheit eines Körpers.

Ihre Kappen, Handschuhe, Jacken und Kniestiefel sind pelzgefüttert. Darunter tragen sie wasserfeste Overalls. Selbst hinter der geneigten Windschutzscheibe wird es kalt sein, ganz gleich, in welcher Höhe sie fliegen.

Zur Vorbereitung hat Alcock in St. John’s drei Abende in einer Kühlkammer verbracht. Einmal hat er sich auf einen Stapel aus verpacktem Fleisch gelegt, konnte aber nicht schlafen. Einige Tage danach schrieb Emily Ehrlich im Evening Telegram, er rieche noch immer wie frisch geschlachtet.

 

Sie steht mit ihrer Tochter an einem Fenster im zweiten Stock, die Hände an den hölzernen Rahmen gelegt. Anfangs sind sie sicher, dass es ein Trugbild ist, ein Vogel, der in mittlerer Distanz über den Himmel gleitet. Doch dann hört sie leise den Klang der Motoren, und sie wissen, dass sie den Start verpasst haben – auch ein Foto gibt es nicht. Doch es ist auch eigenartig erregend, das Flugzeug aus der Ferne zu sehen, bevor es – silbern, nicht grau – im Osten verschwindet, eingerahmt von einem Hotelfenster. Dies ist ein Sieg des Menschen über den Krieg, der Triumph der Ausdauer über die Erinnerung.

Dort draußen ist der Himmel klar und wolkenlos. Emily gefällt das Geräusch, mit dem die Tinte in ihren Füllfederhalter gesaugt wird, das leise Klappern, wenn sie die Kappe zuschraubt. Zwei Männer fliegen mit einem Sack voller Post über den Atlantik, einem kleinen weißen Leinensack, der hundertsiebenundneunzig mit Sonderstempeln versehene Briefe enthält, und wenn sie ihr Ziel erreichen, werden diese Briefe die erste Luftpost sein, die von der Neuen in die Alte Welt befördert worden ist. Ein ganz neuer Gedanke: transatlantische Luftpost. Sie probiert den Ausdruck aus, schreibt ihn immer wieder: transatlantisch, trans atlas, trans antik. Die Entfernung ist endlich überwunden.

 

Unten treiben Eisberge. Das grob geriffelte Meer. Sie wissen, dass es keine Umkehr gibt. Von nun an ist alles Mathematik. Treibstoff wird in Zeit und Entfernung umgesetzt. Der Gashebel ist so eingestellt, dass die Verbrennung optimal ist. Die Winkel und Linien und die Abstände zwischen ihnen werden berechnet.

Brown wischt die Feuchtigkeit von seiner Brille, greift in das aus Holz gefertigte Fach hinter seinem Kopf, holt die Sandwiches hervor und wickelt sie aus dem Wachspapier. Eines reicht er Alcock, der mit einer behandschuhten Hand das Steuer hält. Das ist eines der vielen Dinge, die Alcock zum Lächeln bringen: Wie besonders es ist, ein Schinkensandwich zu essen, das eine junge Frau in einem Hotel in St. John’s gemacht hat, dreihundert Meter unter ihnen. Das Sandwich wird durch den Umstand, dass sie schon so weit gekommen sind, nur umso köstlicher. Weizenbrot, frisch geschnittener Schinken, die Butter mit etwas mildem Senf vermischt.

Er greift nach der Thermosflasche in dem Fach, öffnet den Verschluss und lässt ein Dampfwölkchen entweichen.

Der Lärm dröhnt in ihren Körpern. Manchmal verwandeln sie ihn in Musik, in einen Rhythmus, der vom Kopf durch die Brust bis zu den Zehen schwingt, doch dann verlieren sie ihn, und er ist wieder nur Lärm. Ihnen ist nur zu bewusst, dass sie bei diesem Flug das Gehör verlieren könnten, dass dieses Brüllen sich in ihnen festsetzen könnte, sodass ihre Körper es vielleicht wie menschliche Grammophone mit sich tragen und sie es, sollten sie es tatsächlich nach drüben schaffen, irgendwie für immer hören werden.

 

Den berechneten Kurs einzuhalten, erfordert eine Mischung aus Genie und Zauberei. Zum Navigieren muss Brown alle verfügbaren Mittel nutzen. Der Baker-Navigationsapparat steht auf dem Boden des Cockpits. Der Apparat zur Berechnung von Kurs und Entfernung ist am Rumpf befestigt. Der Abdriftanzeiger befindet sich, zusammen mit einer Libelle, die die Kurvenneigung anzeigt, unter dem Sitz. Sie haben drei Kompasse, allesamt mit fluoreszierender Anzeige. Sie haben Sonne, Mond, Wolken, Sterne. Wenn alles andere versagt, wird er gissen müssen.

Brown kniet auf seinem Sitz und späht hinaus. Er dreht und wendet sich hierhin und dorthin und stellt anhand von Horizont, Wellenform und Sonnenstand Berechnungen an. Er nimmt den Notizblock und kritzelt: Halt sie eher bei 1200 als bei 1400. Sobald er den Zettel gesehen hat, nimmt Alcock das Gas etwas zurück, trimmt die Maschine und lässt die Motoren mit drei Viertel der Höchstdrehzahl laufen, um sie nicht zu überlasten.

Es hat viel Ähnlichkeit mit Reiten: die Art, wie sich das Flugzeug im Verlauf einer langen Reise verändert, die Gewichtsverlagerung durch den Verbrauch von Treibstoff, das Galoppieren der Motoren, das willige Ansprechen auf kleine Bewegungen des Ruders.

Etwa alle halbe Stunde bemerkt Brown, dass die Vimy etwas kopflastiger wird, und dann sieht er, dass Alcock das Steuer ein wenig anzieht, um die Maschine wieder in die Horizontale zu bringen.

Alcock ist immer mit ihr in Verbindung – er kann das Steuer nicht loslassen, nicht einmal für eine Sekunde. Er spürt bereits den Schmerz in den Schultern und Fingerspitzen. Sie haben kaum ein Drittel des Weges zurückgelegt, und schon hat sich der Schmerz in allen Fasern festgesetzt.

 

Als Kind, in Manchester, war Brown oft auf der Rennbahn, um die Pferde zu sehen. An Wochentagen, wenn die Jockeys trainierten, rannte Brown auf der von der Bahn umschlossenen Wiese im Kreis herum, und die Kreise wurden größer, je älter er wurde: Es war, als schöbe er die Begrenzung immer weiter hinaus.

In dem Sommer, als er sieben war, kamen die Pony-Express-Reiter aus Amerika und bauten am Ufer des Irwell ihre Wildwestshow auf. Seine Landsleute. Aus dem Land seiner Mutter und seines Vaters. Amerikaner. Brown wollte wissen, wer er eigentlich war.

Da standen Cowboys und wirbelten mit ihren Lassos. Es gab Broncos, Büffel, Maultiere, Esel, Trick-Ponys und ein paar Hirsche. Er ging zwischen den riesigen Kulissen umher, auf die Präriebrände, Staubstürme, Steppenhexen und Tornados gemalt waren. Am erstaunlichsten aber waren die Indianer, die mit reich verziertem Kopfschmuck durch die Teestuben von Salford stolzierten. Charging Thunder war ein Angehöriger des Stammes der Blackfoot. Seine Frau Josephine war Scharfschützin, ein Cowgirl mit bestickter Lederjacke und einem Pistolengurt mit zwei Revolvern. Gegen Ende des Sommers bekam ihre Tochter Bessie Diphtherie, und als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, zogen sie in die Thomas Street in Gorton, in das Haus neben dem seines Onkels und seiner Tante.

Sonntagnachmittags fuhr Brown mit dem Fahrrad nach Gorton und versuchte, durch das Fenster in das Haus zu spähen, in der Hoffnung, die Silbermünzen an Charging Thunders Kopfschmuck blinken zu sehen. Aber Charging Thunder trug das Haar jetzt kurz, und seine Frau stand in einer Schürze am Herd und machte Yorkshire Pudding.

 

Nach ein paar Stunden hört Brown ein Schnalzen. Er setzt die Brille auf, beugt sich hinaus und sieht den kleinen Propeller, der den Strom für das Funkgerät erzeugt, noch ein paar taumelnde Umdrehungen machen und zerbrechen. Kein Funkgerät mehr. Kein Kontakt mit irgendjemand. Bald auch kein Strom mehr für die Heizdrähte in ihren Monturen. Aber das ist noch nicht alles. Ein Schnalzen könnte ein anderes nach sich ziehen. Eine weitere Materialermüdung, und die ganze Maschine könnte auseinanderfallen.

Wenn Brown die Augen schließt, kann er das Schachbrett des Flugzeugs sehen. Er kennt die Gambits in- und auswendig. Tausend kleine Züge, die zu machen sind. Er sieht sich gern als Zentrumsbauern, der langsam und methodisch vorrückt. Seine Ruhe ist eine Form von Angriff.

Eine Stunde später ertönt ein Knattern, das für Alcock wie ein Hotchkiss-Maschinengewehr klingt. Er sieht zu Brown, doch der hat den Grund bereits ermittelt und zeigt auf den Steuerbordmotor, wo das Auspuffrohr einen Riss bekommen hat. Das Metall glüht rot, dann weiß, und schließlich ist es beinahe durchscheinend. Als ein Stück abbricht, stieben Funken auf. Es wird für einen Augenblick hochgeschleudert, beinahe schneller als das Flugzeug selbst, bevor es im Luftstrom davonschießt.

Das ist keine Katastrophe, aber sie sehen beide das durchlöcherte Rohr, und wie als Reaktion ist der Motorenlärm mit einemmal doppelt so laut. Sie werden sich für den Rest des Wegs damit abfinden müssen, aber Alcock weiß, wie einschläfernd das Dröhnen ist. Der Rhythmus kann einen so einlullen, dass man schlafend auf dem Meer aufschlägt. Es ist harte Arbeit – er spürt die Maschine in seinen Muskeln. Das Zerren an seinem Körper. Die Erschöpfung des Geistes. Wolken nach Möglichkeit vermeiden. Immer nach einem Orientierungspunkt suchen. Sich alle möglichen Horizonte schaffen. Das Hirn gaukelt einem Phantomkurven vor. Das Innenohr gleicht alle Schieflagen aus, bis das Einzige, worauf man sich noch wirklich verlassen kann, der Traum vom Ankommen ist.

 

Keine Panik, als sie in die Luftschicht zwischen den Wolken hineinfliegen. Sie rücken die Brillen und die pelzgefütterten Kappen zurecht und binden sich Schals vor das Gesicht. Na dann. Der Schrecken, sich in der Weiße zu verirren. Die Aussicht auf einen Blindflug. Über ihnen Wolken. Unter ihnen Wolken. Sie müssen den Mittelweg finden.

Sie steigen, doch die Wolken bleiben. Sie gehen tiefer. Keine Veränderung. Eine dichte Nässe. Man kann sie nicht einfach wegblasen. Nicht mal der große böse Wolf könnte das. Ihre Kappen, Gesichter und Schultern triefen vor Nässe.

Brown lehnt sich zurück und wartet darauf, dass es aufklart, damit er navigieren kann. Er sucht nach einem Widerschein von Sonnenlicht auf dem Tragflächenende, er hofft darauf, dass sie durch die Wolkendecke brechen, damit er den Horizont sehen, ein paar rasche Berechnungen anstellen und die Sonne schießen kann, um den Längengrad zu ermitteln.

Das Flugzeug taumelt hin und her, schlingert durch die Turbulenzen. Der unvermittelte Verlust von Höhe. Es fühlt sich an, als wären unter ihnen keine Sitze mehr. Aber sie steigen wieder. Der unaufhörliche Lärm. Das Holpern. Das Herz kommt aus dem Tritt.

Das Licht schwindet, sie kommen an eine weitere Lücke in den oberen Wolkenschichten. Die Sonne geht rot unter. Tief unten kann Brown kurz das Meer sehen. Die Schönheit der Krümmung, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er hebt die Libelle vom Cockpitboden, neigt sie, setzt sich auf, rechnet. Wir haben ca. 250 km geschafft, liegen ungefähr auf Kurs, aber etwas zu weit südlich.

Zwanzig Minuten später stoßen sie auf eine weitere gewaltige Wolkenbank und steigen, bis sie eine Lücke zwischen den Schichten finden. Wir werden bei Sonnenuntergang nicht über den Wolken sein. Sollten auf Dunkelheit und Sterne warten. Kannst du bei Kurs 60 über die Wolken gehen? Alcock nickt, korrigiert den Kurs und schwenkt die Maschine durch den Raum. Rote Funken sprühen im Nebel.

Beide wissen, was für Streiche der Geist einem spielen kann, wenn man in Wolken gefangen ist. Man denkt, das Flugzeug fliegt horizontal dahin, während es in Wirklichkeit Schräglage hat. Die Maschine könnte sich in stetem Sinkflug befinden, ohne dass sie es merken – sie könnten ohne Vorwarnung auf dem Wasser aufschlagen. Sie müssen nach dem Mond, den Sternen, dem Horizont Ausschau halten.

So viel zur verdammten Wettervorhersage, kritzelt Brown, und an Alcocks Reaktion, dem leichten Drosseln der Motoren, der Bedachtsamkeit seiner Bewegungen, erkennt er, dass auch Alcock besorgt ist. Sie schlagen die Kragen hoch gegen die nasse Luft, die ihnen ins Gesicht schlägt. An der Windschutzscheibe kriechen Tropfen hinauf. Die Batterie auf dem Sitz zwischen ihnen schickt noch immer schwach pulsierende Wärme durch die Drähte in ihren Monturen.

Brown kniet sich auf den Sitz und beugt sich hinaus, um eine Wolkenlücke zu finden, doch es gibt keine.

 

Keine Sicht. Flughöhe 2000 Meter. Fliegen nach gegisstem Besteck. Wir müssen durch die Wolkendecke stoßen. Auch die Heizung lässt stark nach!

 

Die Knochen in den Ohren schmerzen. Der Lärm hat sich in ihren Köpfen festgesetzt. Das kleine weiße Zimmer ihres Geistes. Das Dröhnen, das von den Wänden widerhallt. Manchmal hat Brown ein Gefühl, als wollten die Motoren aus dem Raum hinter seinen Augen ausbrechen, als wären sie ein zum Tier gewordenes metallisches Objekt, das einem im Nacken sitzt.

 

Erst kommt der Regen. Dann der Schnee. Dann Schneeregen. Das Cockpit ist so gestaltet, dass sie recht gut geschützt sind. Aber Hagel könnte die Bespannung der Tragflächen zerfetzen.

Sie steigen weiter, die Schneeflocken werden weicher. Kein Licht. Keine Erleichterung. Sie ducken sich, während ringsum der Sturm tost. Noch mehr Schnee. Härtere Flocken. Sie sinken wieder. Der Schnee brennt auf den Wangen, und das Schmelzwasser rinnt ihnen am Hals hinab. Bald ist der Boden des Cockpits schneebedeckt. Wenn sie sich aufschwingen und hinabblicken könnten, würden sie einen offenen Raum mit zwei Gestalten in eng anliegenden Kappen sehen, der durch die Luft rast. Nein, seltsamer noch: einen Raum, der sich durch Dunkelheit und heulenden Wind bewegt, und zwei Männer, deren Oberkörper immer weißer werden.

Als Brown mit der Taschenlampe die Instrumente hinter seinem Kopf beleuchtet, stellt er fest, dass das Schauglas des Treibstoffüberlaufs mit Schnee bedeckt ist. Nicht gut. Der Überlauf soll Vergaserproblemen vorbeugen. Er hat das schon oft gemacht, hat sich im Cockpit umgedreht und die Hände gefährlich weit über den Kopf gehoben, aber nicht bei solchem Wetter. Trotzdem, es muss sein. Dreitausend Meter über dem Ozean. Was für eine Form von Wahnsinn ist das?

Brown zieht die Handschuhe straff, schnallt die Ohrenklappen fester und rückt den Schal zurecht. Er dreht sich um. Sein versehrtes Bein pocht, wenn er sich bewegt. Rechtes Knie an den Cockpitrand. Dann das linke, das schwache. Er hält sich an einer hölzernen Strebe fest und richtet sich auf. Das Chloroform der Kälte. Die Luft zerrt an ihm. Das Brennen der Schneeflocken auf den Wangen. Seine nassen Kleider kleben an Hals, Schultern und Rücken. An seiner Nase hängt ein Rotzstalaktit. Das Blut zieht sich aus Fingern und Gehirn ins Innere des Körpers zurück. Die fünf Sinne erlahmen. Vorsichtig jetzt. Er reckt sich in den tosenden Wind, kann das Schauglas aber nicht ganz erreichen. Seine Jacke behindert ihn zu sehr. Er öffnet den Reißverschluss, spürt den Wind an der Brust, reckt sich abermals und kratzt mit der Spitze seines Messers den Schnee vom Glas.

Herrgott. Diese Kälte. Da bleibt einem fast das Herz stehen.

Er kauert sich schnell wieder hin. Alcock zeigt ihm den erhobenen Daumen. Brown verbindet die Drähte wieder mit der Batterie. Er braucht es nicht aufzuschreiben: Heizung ganz ausgefallen. Auf dem Boden, zu seinen Füßen, liegen die Karten. Er stampft auf und gibt acht, dass er sie nicht beschmutzt. Seine Fingerspitzen brennen. Seine Zähne klappern derart, dass er denkt, sie könnten zerbrechen.

In dem kleinen Fach links hinter ihm sind der Brandy für den Notfall und die Thermosflasche mit Tee.

 

Es dauert ewig, die Flasche zu öffnen, doch dann betäubt der Alkohol seine Brust.

 

Sie bleiben im Hotelzimmer. Der Tisch steht noch immer am Fenster, für den Fall, dass das Flugzeug zurückkehrt. Mutter und Tochter warten und halten Ausschau. Es gibt keine Neuigkeiten. Keinen Funkkontakt. Auf dem improvisierten Aerodrom regt sich nichts. Seit zwölf Stunden liegt die Wiese verlassen.

Lottie ertappt sich dabei, dass sie den Fensterrahmen umklammert. Was mag geschehen sein? Es war, findet sie, ein schlechter Gedanke von ihrer Mutter, an die Familie in Cork zu schreiben. Es könnte die beiden ablenken. Sie fühlt sich wie eine Komplizin. Noch eine Sorge, ganz gleich, wie klein, war wirklich das Letzte, was Brown brauchte – warum hat sie ihn auf der Treppe angesprochen, warum hat sie ihm den Brief gegeben? Was sollte das überhaupt? Vielleicht sind sie abgestürzt. Bestimmt sind sie abgestürzt. Sie sind abgestürzt. Ich habe ihm einen Brief gegeben. Er war abgelenkt. Sie kann hören, wie sie abstürzen. Das Pfeifen des Windes in den Spanndrähten.

Sie legt die Fingerspitzen an das kalte Fensterglas. In solchen Augenblicken mag sie sich nicht: ihr eigenartiges Betragen, ihre heftige Befangenheit, ihre Jugend. Sie wollte, sie könnte aus sich heraustreten und durch die Luft schweben, aus dem Fenster und hinunter. Ah, aber vielleicht ist das gerade der Sinn der Sache. Bestimmt ist das der Sinn. Ja. Chapeau, Mr. Brown und Mr. Alcock, wo immer Sie jetzt sein mögen. Sie wollte, sie könnte ein Foto von diesem Augenblick machen. Heureka! Der Sinn des Fliegens ist, sich von sich selbst zu befreien. Das ist Grund genug.

 

Unten, in der Lobby, versammeln sich die anderen Reporter um den Telegraphenapparat. Einer nach dem anderen meldet sich bei seinem Redakteur. Nichts Neues. Fünfzehn Stunden sind vergangen. Entweder nähern Alcock und Brown sich gerade Irland, oder sie sind tot, Opfer ihres Verlangens. Die Reporter schreiben die ersten Absätze ihrer Artikel in zwei Versionen, einer frohlockenden und einer klagenden – Wir jubeln über die Verbindung zweier Welten; Wir trauern über den Verlust zweier Helden. Sie sind darauf erpicht, als Erster den Finger am Puls zu haben, und noch erpichter sind sie darauf, als Erster am Telegraphen zu sein, wenn die echten Neuigkeiten eintreffen.

 

Kurz vor Sonnenaufgang und nicht mehr weit von Irland entfernt stoßen sie auf Wolken, die sie nicht umfliegen können. Keine Möglichkeit zur Peilung. Kein Horizont. Undurchdringliches Grau. Eintausenddreihundert Meter über dem Atlantik. Es ist noch immer dunkel, kein Meer, kein Mond. Sie gehen tiefer. Der Schnee hat nachgelassen, doch jetzt tauchen sie in eine riesige weiße Wolkenbank ein. Sieh dir das an, Jackie. Wie sie näher kommt. Gewaltig. Unvermeidlich. Über und unter uns.

Sie werden verschluckt.

Alcock klopft an das Glas des Fahrtmessers. Die Nadel regt sich nicht. Er gibt etwas mehr Gas, sodass die Maschine die Nase hebt. Noch immer steht die Nadel unbewegt. Er gibt noch mehr Gas. Zu plötzlich, verdammt.

Herrgott, Jackie, bring sie ins Trudeln. Wir müssen es versuchen.

Die Wolke umschließt sie immer fester. Sie wissen genau, wenn sie es jetzt nicht schaffen herauszukommen, werden sie abschmieren. Die Maschine wird immer schneller und in unzählige Stücke zerschlagen werden. Der einzige Ausweg ist Trudeln. Die Kontrolle behalten und zugleich aus der Hand geben.

Los, Jackie.

Die Motoren spucken trotzige rote Flammen, und dann hängt die Vimy für einen Augenblick reglos in der Luft, wird schwerer und kippt zur Seite, als hätte sie einen Schwinger kassiert. Anfangs ist es die langsamste Form des Fallens. Es liegt etwas wie ein Seufzen darin. Nimm diese ermüdende Plage des Fliegens von mir, lass mich fallen.

Der eine Flügel steht, der andere hebt sich.

Tausend Meter über dem Meer. In der Wolke ist ihr Gleichgewichtssinn dahin. Kein Gefühl für oben und unten. Siebenhundertfünfzig. Sechshundert. Regen und Wind klatschen ihnen ins Gesicht. Die Maschine bebt. Die Kompassnadeln kreiseln. Die Vimy trudelt. Sie werden in die Sitze gedrückt. Was sie brauchen, ist ein Blick auf den Himmel oder das Meer. Ein Sichtkontakt. Aber ringsum ist nichts als dichte graue Wolke. Brown reckt den Kopf in alle Richtungen. Kein Horizont, kein Mittelpunkt, kein Rand. Lieber Himmel. Irgendwo … Irgendwo … Halt sie, Jackie.

Dreihundertfünfzig Meter, sie fallen noch immer, dreihundert, zweihundertfünfundsiebzig. Wie sich die Schulterblätter an die Sitzlehne pressen. Wie das Blut zu Kopfe steigt. Wie schwer sich der Hals anfühlt. Ist das oben? Ist das unten? Sie trudeln noch immer. Vielleicht sehen sie das Wasser vor dem Aufprall gar nicht. Den Gurt lösen. Das war’s. Das war’s, Teddy. Sie werden noch immer in die Sitze gedrückt. Brown greift nach dem Logbuch und steckt es in die Innentasche seiner Jacke. Alcock sieht es aus dem Augenwinkel. Was für eine herrliche Idiotie. Die letzte Handlung eines Piloten. Die Aufzeichnungen retten. Der süße Trost des Wissens, wie es geschehen ist.

Noch immer kreiselt die Nadel. Zweihundert Meter, hundertfünfzig, hundertzwanzig. Kein Wimmern. Kein Klagen. Das Kreischen der Wolke. Der Verlust des Körpers. Alcock lässt die Maschine durch das endlose Weiß und Grau trudeln.

Eine neue Art von Licht. Eine Fläche von anderer Farbe. Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, es zu begreifen. Ein Streifen Blau. Fünfunddreißig Meter. Seltsames Blau, wirbelndes Blau, sind wir raus? Hier Blau. Dort Schwarz. Wir sind raus, Jack, wir sind raus! Fang sie ab. Fang sie ab, Mann! Lieber Himmel, wir sind raus. Sind wir raus? Da ist noch eine andere Schwärze. Das Meer steht dunkel in Habacht. Licht, wo Wasser sein sollte. Meer, wo das erste Tageslicht sein sollte. Dreißig Meter. Achtundzwanzig. Da ist die Sonne. Ja, da ist die Sonne, Teddy, da ist die Sonne! Da, auf achtzig Grad. Die Sonne! Alcock gibt Gas. Da drüben. Dreh auf, dreh auf. Die Motoren brüllen auf. Die Vimy rüttelt. Das Meer wirbelt. Die Maschine findet die Horizontale. Fünfzehn Meter, zwölf, zehn. Alcock blickt auf den Atlantik, dessen schaumgekrönte Wellen unter ihnen dahingaloppieren. Gischt stiebt auf die Windschutzscheibe. Keiner der beiden sagt etwas, bis das Flugzeug sich gefangen hat und sie wieder steigen.

Stumm sitzen sie da, starr vor Schreck.

Oh go ’way man