Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist? - Colum McCann - E-Book

Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist? E-Book

Colum McCann

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Beschreibung

Neue Erzählungen vom amerikanisch-irischen Bestsellerautor Colum McCann: lebensnah, politisch und poetisch. «Das unglaubliche Mysterium der menschlichen Erfahrung ist die Klammer dieser Erzählungen, und dass sie so zwingend erscheinen, ist das Zeichen für McCanns Genie», schreibt die Washington Post. In der längsten, der Novelle «Dreizehn Sichtweisen», geht ein alter Mann an einem verschneiten Tag in Manhattan mit seinem Sohn essen. Der Sohn muss los, und als der Mann später allein das Restaurant verlässt, wird er auf offener Straße überfallen und umgebracht. Die mit dem Fall betrauten Kriminalbeamten rekonstruieren seine Wege, die Überwachungskameras bei ihm zu Hause, im Lokal und auf der Straße aufgezeichnet haben. Ihre Arbeit gleicht der von Dichtern: der Suche nach einem zufälligen Schlüssel, der, an der richtigen Stelle eingepasst, plötzlich allem Sinn verleiht. Dieses «Schlüssel»-Stück des vorliegenden Bandes, wenn nicht sogar von McCanns Werk, wird ergänzt durch weitere Erzählungen. Eine Frau ruft an Silvester aus einem Unterstand in den afghanischen Bergen zu Hause an; eine andere erkennt ihren früheren Folterer als Mitglied einer Friedensverhandlungskommission im Fernsehen wieder. Die Themen von McCanns Erzählungen sind vielfältig, immer stark an den Ereignissen dieser Welt orientiert, doch letztlich geht es ihm um die Zerbrechlichkeit seiner Figuren und die Kraft, die diese aus dem Leben schöpfen. Und er findet noch in den hintersten Winkeln unseres Daseins das, was uns groß macht.

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Colum McCann

Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?

Drei Erzählungen und eine Novelle

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Neue Erzählungen vom amerikanisch-irischen Bestsellerautor Colum McCann: lebensnah, politisch und poetisch.

 

«Das unglaubliche Mysterium der menschlichen Erfahrung ist die Klammer dieser Erzählungen, und dass sie so zwingend erscheinen, ist das Zeichen für McCanns Genie», schreibt die Washington Post. In der längsten, der Novelle «Dreizehn Sichtweisen», geht ein alter Mann an einem verschneiten Tag in Manhattan mit seinem Sohn essen. Der Sohn muss los, und als der Mann später allein das Restaurant verlässt, wird er auf offener Straße überfallen und umgebracht. Die mit dem Fall betrauten Kriminalbeamten rekonstruieren seine Wege, die Überwachungskameras bei ihm zu Hause, im Lokal und auf der Straße aufgezeichnet haben. Ihre Arbeit gleicht der von Dichtern: der Suche nach einem zufälligen Schlüssel, der, an der richtigen Stelle eingepasst, plötzlich allem Sinn verleiht.

Dieses «Schlüssel»-Stück des vorliegenden Bandes, wenn nicht sogar von McCanns Werk, wird ergänzt durch weitere Erzählungen. Eine Frau ruft an Silvester aus einem Unterstand in den afghanischen Bergen zu Hause an; eine andere erkennt ihren früheren Folterer als Mitglied einer Friedensverhandlungskommission im Fernsehen wieder.

Die Themen von McCanns Erzählungen sind vielfältig, immer stark an den Ereignissen dieser Welt orientiert, doch letztlich geht es ihm um die Zerbrechlichkeit seiner Figuren und die Kraft, die diese aus dem Leben schöpfen. Und er findet noch in den hintersten Winkeln unseres Daseins das, was uns groß macht.

Über Colum McCann

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Literary Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Für Lisa, Jackie, Mike und Karen.

Für alle, die am Aufbau von Narrative 4 arbeiten.

Im Andenken an meinen Vater Sean McCann.

Dreizehn Sichtweisen

I

Zwischen zwanzig verschneiten Bergen

War das Einzige, das sich bewegte,

Das Auge der Amsel.

Die erste ist hoch oben in dem Bücherregal aus Mahagoni verborgen. Sie zeigt den ganzen Raum, in dem er auf vielen Kissen in seinem großen Bett liegt und schläft.

Das Kopfteil des Betts ist reich geschnitzt. Der Bettrahmen hat die Form eines Schlittens. Der Bettbezug hat ein Amish-Muster. Auf dem linken Nachttisch steht eine Urne, auf dem rechten liegt ein Stapel Bücher. An der Wand eine alte Laternenuhr mit sichtbaren Rädern und Gewichten neben einem schmalen, vom Alter braun und fleckig gewordenen Spiegel. Unter dem Spiegel, in der Ecke und beinahe versteckt, eine kleine Sauerstoffflasche.

Auf den Sessel, der in einigem Abstand zum Bett steht, hat jemand ein halbes Dutzend Kissen gelegt. Auf einem Eichenstuhl mit lederbezogenen Armlehnen liegen ebenfalls welche.

Unweit der Tür ein Schreibtisch, darauf ein ordentlicher Stapel Papier, ein silberner Brieföffner, ein Petschaft, ein aufgeklappter Laptop. Auch eine Pfeife liegt dort, doch Tabak, Streichhölzer oder Aschenbecher sind nirgends zu sehen.

Die Bilder an den Wänden sind von zeitgenössischen Künstlern: drei Stadtansichten aus Blöcken und scharfen Linien, neben der Tür zum Badezimmer ein kleines abstraktes Seestück.

Inmitten all dieser Dinge liegt er im Bett, eine Schwellung, eine von der Decke geformte Gestalt, sein Kopf kaum mehr als ein verschwommener Fleck.

II

Ich war dreierlei Meinung,

Wie ein Baum,

In dem drei Amseln sitzen.

Ich wurde geboren, als ich mein erstes Plädoyer hielt. Er sollte aufstehen, ein Notizbuch suchen und den Satz aufschreiben, aber es ist kalt im Zimmer, die Heizung hat sich noch nicht eingeschaltet, und darum bleibt er lieber liegen. Unter der Decke ist es warm und gemütlich. Vielleicht ist Sally in der Nacht da gewesen und hat ihn zugedeckt, denn er erinnert sich an einen Ausflug, nein, mehrere Ausflüge oder vielmehr endlose Reisen ins Badezimmer. Ich wurde geboren, als ich meine letzte Abenteuerreise unternahm. Über ihm rotiert der Deckenventilator. Die Handwerker haben die Drehrichtung umgekehrt. Wie kommt es, dass ein Ventilator mit umgekehrter Drehrichtung Wärme erzeugt? Es hat irgendwas mit dem Verhalten von warmer Luft, mit Luftströmen zu tun. Wenn wir uns ihnen doch nur überlassen und unsere eigene Drehrichtung umkehren könnten! Ich wurde geboren, als ich mein erstes Plädoyer hielt. Seltsam, in diesem hohen Alter an seine Memoiren zu denken, aber was bleibt ihm übrig? Damals, in den Achtzigern, war man überrascht, dass die Verkaufszahlen des Buches eher schlecht waren, obwohl es gut lektoriert worden war, gut aufgemacht, gut beworben. Alles gut. Bei aller Bescheidenheit hatte er doch angenommen, dass es sich einigermaßen verkaufen würde, aber nach drei Monaten hatte es auf den Ramschtischen gelegen. Ich wurde geboren, als ich meinen ersten öffentlichen Misserfolg erlebte. Aber wann wurde ich eigentlich wirklich geboren? Ich wurde geboren, als ich das erste Mal mit Eileen schlief. Ich wurde geboren, als ich die Hand meines Sohns Elliot berührte. Ich wurde geboren, als ich im Cockpit einer Curtiss SOC-3 saß. Ach, Quatsch. Quatsch mit Soße. In Wirklichkeit wurde er mitten in seinem ersten Fall geboren, als er, ein frischgebackener stellvertretender Staatsanwalt, vor dem Bezirksgericht in Brooklyn plädierte und die Worte genau so sprach, wie er es sich vorgestellt hatte, und sie sich durch die Luft bewegten und er spüren konnte, wie sie pulsierten und wirkten, nicht nur bei den ausschließlich männlichen Geschworenen, sondern auch bei dem wohlwollenden Richter, aus dessen strahlendem Gesicht so etwas wie Stolz sprach. Eine überaus schlüssige Argumentation, Mr. Mendelssohn. In diesem Augenblick wusste er, dass er nie mehr davon würde lassen können. Er war für die Juristerei geschaffen. Wie viele Zeitalter ist das jetzt her? Er sollte es aufschreiben. Aber das ist das Problem mit dem Alter: Man hat ein Gefühl, aber kein Datum. Und wenn man das Datum ausgräbt, verliert man das Gefühl.

Ein Stift und Papier. Sally, meine Liebe, ist das vielleicht zu viel verlangt? Ich wurde geboren, als ich zum ersten Mal das Gedächtnis verlor. Warum, ach, warum liegt nie ein Stück Papier auf dem Nachttisch? Vielleicht sollte ich ein Diktiergerät benutzen. Oder eins von diesen digitalen Wunderdingern. Vielleicht gibt es so was auf meinem Blackberry – angeblich kann dieser Apparat doch alles. In letzter Zeit hat er sich angewöhnt, ihn in die Pyjamatasche zu stecken, wo das kleine rote Licht die ganze Nacht vor sich hin blinkt. Eine wundersame Maschine – während er döst und schnarcht, sammelt sie die Nachrichten über die neuesten Triumphe und Terrorattacken ein. Staatsstreiche, Kriege, Revolutionen, Rebellionen und allerlei andere Malaisen planen ihren Ausbruch aus der Geborgenheit seines Betts.

Das ist interessant: Bei den Pyjamajacken ist die Tasche auf der linken Seite, über dem Herzen. Ob das wohl medizinische Gründe hat? Ein Täschchen, in das der Arzt einen Blick werfen kann. In dem man die Stents und Schläuche verstauen kann, die Pillen, die bei einem Anfall einzunehmen sind. Die Requisiten des Alters. Er sollte seinen alten Freund Dr. Marion fragen. Warum ist die Tasche über dem Herzen, Jim? Vielleicht ist es nur ein modischer Gag. Wer ist eigentlich darauf gekommen, Pyjamas mit Taschen auszustatten? Wozu überhaupt? Für ein Stück Brot, einen Cracker, einen Toast, falls man in der Nacht Hunger bekommt? Für alte Liebesbriefe? Als Futteral für ein Alter Ego, das auf seinen Auftritt wartet?

Ach, die Gedanken schweifen und planen ihren Ausbruch: durch das überfrorene Fenster hinaus in die Welt. Und wer ist eigentlich darauf gekommen, dass jedes Kissen eine kühle Seite hat?

Er bewegt die Zehen unter der Decke, reibt sie langsam aneinander und spürt die Wärme in den Beinen hinaufkriechen. Die Heizungsanlagen in New York hat er nie verstanden. All die unterirdischen Rohre, all die Tankwagen, all die Eigentümerversammlungen mit ihren Diskussionen über neue Heizkessel, all die nobelpreiswürdigen Ingenieure, die oberschlauen Architekten, die Spezialisten für globale Erwärmung – es ist eine regelrechte, mit lauter Genies besetzte Denkfabrik –, und trotzdem hört man jeden Morgen dieses grässliche Klack-klack-klack. Dante hockt im Keller und versucht, Wärme in die Rohre zu leiten. Lieber Himmel, man sollte meinen, dass es ihnen, verdammte Scheiße – bitte sehen Sie einem weitgereisten Mann die starken Worte nach –, im 21. Jahrhundert vielleicht gelingen könnte, das Rätsel der Beheizung von Wohnräumen zu lösen, aber nein, es gelingt ihnen nicht, es ist ihnen noch nie gelungen, und es wird ihnen vermutlich auch nie gelingen. Solange draußen keine ostsibirische Kälte herrscht, schaltet man den Heizkessel erst um fünf Uhr morgens ein. Der Hausmeister ist ein Schach-Großmeister, stammt aus Sarajevo und hat mal gegen Spasski gespielt, er prahlt mit Hirnkapazität und behauptet, Mitglied von Mensa zu sein, aber selbst er bekommt die verdammte Heizung nicht in den Griff.

Er erweckt den Blackberry zum Leben. Zweiundzwanzig Minuten vergehen, bis die Rohre aufhören zu klopfen. Er erwägt, sein Ritual zu durchbrechen und einen Blick auf Nachrichten und E-Mails zu werfen, widersteht aber der Versuchung und schiebt den Blackberry wieder in die Tasche. Ich wurde geboren, als ich mein erstes Plädoyer hielt, und draußen, auf der Court Street, war mein Gang federnd. Stimmt nicht ganz. Mein Gang war eigentlich nie federnd, nicht mal damals. Und ich war nie ganz vorn. Ich war nie ganz Joe DiMaggio oder Jesse Owens oder Wilt Chamberlain oder sonst irgendwer. Das Federnde war in der Sprache, in der Intonation, in der Art, wie er mit Worten umging. Manchmal saß er die ganze Nacht an seinem Mahagonischreibtisch und feilte an den Sätzen. Als er jünger gewesen war, hatte er Schriftsteller werden wollen. Die Quellen des Helikon. Ich wurde geboren, als ich meinen ersten Einspruch einlegte. Große Plädoyers hatten nichts mit Substanz zu tun. Da ging es vielmehr um Stil. Das rechte Wort zur rechten Zeit. Jeder Dummkopf weiß, dass man mit schönen Worten noch die größte Idiotie glänzen lassen kann. Bei Gericht studierte er die Gesichter der Geschworenen, um zu sehen, welche schönen Worte er ihnen injizieren könnte. Die Eleganz eines Redners und die Gestalt einer Schlange, hatte ein Kollege es einmal kommentiert – oder hatte er von der Gestalt eines Redners und der Eleganz einer Schlange gesprochen? Ein Kompliment jedenfalls. Schlaue, zischelnde Schlangen.

Eileen liebte es, seine Urteilssprüche zu lesen, besonders in späteren Jahren, als er zum Obersten Gericht von Kings County befördert worden war und immer irgendeine Zeitung auf ihm herumhackte: die Village Voice, die New York Times oder dieses Revolverblatt, wie hieß es noch – irgendwas mit New Amsterdam. Nicht der Brooklyn Eagle, den gab’s damals schon nicht mehr. Einmal haben sie eine Karikatur gebracht, in der er als Gottesanbeterin dargestellt war. Er hasste das Gesicht, das sie ihm gegeben hatten, die schlaffen Wangen, die auf der Nasenspitze balancierende Brille, das runde Bäuchlein, während er sich eine andere Gottesanbeterin einverleibte. Dummköpfe. Sie lagen vollkommen falsch. Nur das Weibchen frisst das Männchen auf, und zwar nach der Begattung. Aber trotzdem – das war kein Kompliment.

Und warum wurden Richter als stattliche Fleischberge dargestellt? Er war immer so mager wie nur was. Eine Bohnenstange. Eine Vogelscheuche. An dir ist weniger Fett als an einem Fleischermesser, sagte Eileen immer. Aber die Karikaturisten und Gerichtszeichner bestanden darauf, ihn mit Hängebacken und Bauch auszustatten. Eileen ärgerte sich furchtbar darüber. Sie setzte ihn sogar auf eine Diät, bis er sich, wenn er seitlich vor dem Spiegel stand, kaum noch sehen konnte. Er dachte immer, eine der Gnaden des Alters werde es sein, die Eitelkeit zu verlieren, aber die ist in letzter Zeit eher größer geworden: die Schlaffheit der Haut, die Falten, die Überraschung in den Augen beim Anblick seines Spiegelbildes. Neulich hat er einen Blick in den Spiegel geworfen: Herrgott, seit wann sehe ich aus wie mein Großvater? Die Jahre kommen nicht einfach, sondern brechen über ihn herein, sie brausen durch die Tür und hinterlassen Zerstörung: kein Saft, spröde Gefäße, tief in die Höhlen gesunkene Augen und schmerzendes Zahnfleisch, doch er will sich nicht beklagen, er hatte viele Jahre Zeit, sich daran zu gewöhnen, und er war weiß Gott kein Frauentyp, aber er hat seine Frau bekommen, er hat sie umworben, ihr Herz erobert, er hat sie sich geschnappt. Ja, ich wurde geboren, als ich zum ersten Mal verliebt war.

Er streckt den Arm zur anderen Seite des Betts. Saudade. Ein gutes Wort. Portugiesisch. Komm her zu mir, Eileen. Kuschel dich an mich. Es gibt kein besseres Wort für die Sehnsucht nach dem, was nicht mehr da ist.

Sie hat immer gesagt, dass er bei seinen ersten Verhandlungen in Brooklyn ein Muster an Geduld, List und Schläue war. Das war irgendeine literarische Anspielung – sie war eine große Bewunderin von Joyce. Schweigen und Exil. Jeden Morgen bügelte sie sein Hemd und stärkte den Kragen, und jedes Mal, wenn er einen Fall gewonnen hatte, schenkte sie ihm einen Gedichtband und eine Krawatte aus dem Geschäft in der Montague Street. Aneinandergereiht hätten sie von hier bis zu der Näherei in Asien gereicht – die Krawatten, nicht die Gedichte. Eileen allein hat wahrscheinlich all die chinesischen Mädchen ernährt, die für Gucci arbeiten – die zahllosen Krawatten in seinem Schrank, sorgfältig nach Farben und Mustern sortiert. Eileens dunkles Haar, ihre kecke kleine Nase, das Muttermal auf ihrer Wange. Sie war wunderbar, damals und immer, wie die Frau in diesem Lied: Sie ist und bleibt ganz wunderbar, und Mondlicht schimmert in ihrem Haar. Manchmal sprüht er ein wenig von ihrem Parfüm auf ihr Kissen und tut, als wäre sie noch da. Rührselig natürlich, aber was ist das Leben ohne Rührseligkeit? Und mal ehrlich: Wann hatte er zuletzt einen Anfall von guter alter Lust?

Frag den Blackberry, der wird es wissen. Er scheint ja auch von allem anderen zu wissen: von missratenen Söhnen und verzweifelten Töchtern und dem nächsten Leck im Golf von Mexiko.

Er hört Sally, die schon aufgestanden ist und sich in der Küche zu schaffen macht. Das Klingeln der Löffel. Das Scharren der Untertasse und das Klirren, mit dem sie die Teetasse begrüßt. Der helle Ton des Glases für den Orangensaft. Der Mixer, der aus dem Schrank geholt wird. Das leise Seufzen der Kühlschrankdichtung. Das Quietschen der untersten Schublade. Die Karotten, die eingefüllt werden, die Erdbeeren, die Ananas, die Orangen, und zum Schluss das nüchterne Klackern der Eiswürfel. Der Saft. Sally sagt, er soll das Zeug Smoothie nennen, aber das Wort gefällt ihm nicht, ganz einfach. Neulich ist er im Park umhergeschlurft – man kann es nicht anders nennen, es ist ein Schlurfen –, und an einer der Parkbänke beim Reservoir hat er eine junge Frau gesehen, auf deren Hintern in rosaroter Schrift das Wort Saftig stand, und selbst in seinem vorgerückten Alter musste er zugeben, dass das ziemlich genau der Wahrheit entsprach. Mit einer Entschuldigung an Eileen, natürlich, desgleichen an Sally und Rachel und Riva und Denise und MaryBeth und Ava, und selbstverständlich auch an Oprah und Brigitte und Simone de Beauvoir – warum nicht? – und all die anderen Frauen der Welt: Entschuldigung also, aber der Hintern war tatsächlich saftig, wie er da vorbeischaukelte, oben begrenzt von einem Streifen dunkler Haut, unten übergehend in herrliche Beine, und es hat eine Zeit gegeben – lang, lang ist’s her –, da hätte er was daraus machen können, also komm mir nicht mit Smoothies. Er hatte einen gewissen Ruf, aber es war immer nur harmloses Geplänkel. Er ist nie vom Kurs abgewichen, muss aber zugeben, dass er ein paarmal gegensteuern musste. Tut mir leid, Eileen, aber so war es. Schwierigkeiten machten ihm eher seine konservativen Kollegen. Ein Haufen verschrumpelter Moralapostel – wie, wenn nicht durch Parteipolitik, waren sie überhaupt an ihr Richteramt gekommen? Was glaubten sie eigentlich – dass ein Mann sein Leben unter seiner Richterrobe verbergen muss? Dass er den lüsternen Kopf einziehen und unter dem Panzer verstecken muss? Dass der Hammerschlag das einzige Geräusch ist, das er machen darf? Nein, nein, nein, man muss eine Rinne in die Rinde des Lebens schneiden, man muss den Saft auffangen. Vergiss das Fruchtfleisch. Der Saft des Lebens. Das ist der wahre Smoothie für einen Juden.

Ach, wie die Gedanken wirbeln. Tut mir leid, Eileen. Früher war ich leidenschaftlich, könnte man sagen. Ich habe gern geflirtet. Aber nicht mehr als das. Ich bin nie zudringlich geworden. Das ist etwas, das er Elliot überlassen hat. Ein Jammer. Und nun sieh dir den armen Jungen an. Aber genug davon. Das ist keine Art, einen Tag zu beginnen: mit seinem fehlgeleiteten Sohn, seinen schweifenden Augen, Händen und Ohren, seiner verführerischen Zunge, seiner überzeugenden Brieftasche.

Da ist es wieder, das leise Klopfen. Los, Wärme, beeil dich. Steig in die Heizkörper.

Wie kann es sein, dass New Nork nie ein Genie hervorgebracht hat, das imstande ist, das Heizungsproblem zu lösen? Man sollte doch meinen, dass unter all den Kindern, die in dieser hämmernden Metropole geboren werden, mindestens eins ist, dem das Klopfen der Rohre und das Zischen des Dampfs auf die Nerven geht. Und dass dieses Kind beschließt, eines Tages Abhilfe zu schaffen. Aber nein, nein, nein. Die jungen Genies ziehen los und verdienen Millionen an der Wall Street oder am Broadway oder in Palo Alto oder Los Alamos oder sonst wo, aber wenn sie dann heimkehren, wohnen sie in Wohnungen, die für Höhlenmenschen entworfen sind.

Was ist diese verdammte Wohnung eigentlich wert? Vor siebenundzwanzig Jahren eine halbe Million. Da haben wir das Brownstone in der Willow Street verkauft und sind wie alle anderen auf die Upper East Side gezogen. Um Eileen glücklich zu machen. Sie liebte es, im Park spazieren zu gehen, am Reservoir entlangzuschlendern, einen Ausflug zu Greenberg zu machen. Sie hängte sogar eine Mesusa an die Tür. Zum Schutz – auch zum Schutz ihrer Investition. Inzwischen ist die Wohnung zwei Millionen wert, heißt es, vielleicht sogar zwei Komma vier Millionen, und trotzdem werfen sie die Heizung nicht vor fünf Uhr morgens an? Im Weißen Haus sitzt ein Schwarzer, und wir zittern vor Kälte? Wir können eine Rakete zum Mars schicken, aber in der East 86th Street muss man sich die Eier abfrieren? Wir können uns einen Blackberry in die Pyjamatasche über dem Herzen stecken und schaffen es nicht, Dampf durch ein Rohrsystem zu leiten, ohne dass er einen Höllenlärm veranstaltet?

Ah, da kommt er, da kommt er. Das erste Klopfen des Tages. Als würde da unten jemand einen Schieber betätigen. Ein zweites Klopfen. Ein drittes. Und dann ein Schlag. Wumm, peng, schepper. Gut gemacht, Dante. Das ist wirklich eine göttliche Komödie. Lasst alle Hoffnung fahren. Jazzmusik, auf Heizungsrohren gespielt. Ach, wenn es nur so wäre. Weck mich, Thelonious Monk. Tob dich in meinen Heizkörpern aus. Und wenn du schon mal da bist: Schau doch mal im Keller vorbei.

Sally!

Er hört, wie der Mixer das Eis zerkleinert, das Stammeln der Messer, das Rasseln der Eisstückchen am Glas.

Sally!

Der Mixer läuft immer langsamer, das Geräusch erstirbt. Stille.

Sally, ich bin auf!

Was offensichtlich nicht stimmt. Überhaupt nicht. Man hat einen weißen Hängegriff über dem Bett angebracht und ein paar weitere Hilfen montiert, um ihm das Aufstehen zu erleichtern. Elliot wollte sogar einen Flaschenzug installieren lassen. Als wäre er eine Art Container. Du brauchst einen Flaschenzug, Dad. Das kannst du dir abschminken, mein lieber Sohn. Ein Flaschenzug ist was für lasche Flaschen. Eileen wäre von diesem Satz nicht besonders beeindruckt. Ihr gefiel eine ganz andere Art von Lyrik – für seine billigen kleinen Reime hatte sie nie viel übrig. Sie mochte diesen Iren Heaney und hatte eine Schwäche für einen anderen wirren Haarschopf namens Muldoon. Sie ging zu ihren Lesungen, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Sie rannte den ungestümen Dichtern nach – er musste immer lächeln. Einmal sah er die beiden Poeten bei einem Dinner im Waldorf – sie hätten Gedichte über Hähnchenfleisch aus Gummi und schlampige Ober schreiben sollen. Er ging durch den Saal, stellte sich in die Schlange, holte seinen guten Füller hervor und ließ die Dichter eine Stoffserviette signieren, die er sorgfältig einsteckte, denn er wollte nicht mit leeren Händen heimkommen, ein Richter, über den sie richten würde. Er überreichte sie Eileen, die sie an das Nachthemd drückte und ihm einen Gutenachtkuss gab, der seiner würdig war: Ich sehe dich in meinen Träumen.

Herrgott. Ist. Das. Ein. Verdammter. Krach. Heute morgen. Aber jetzt endlich hört er das harte Zischen des Dampfs. Schon spürt er, wie Wärme den Raum durchflutet. Guten Morgen, Thelonious. Zeit, aufzustehen. Und Gott zu preisen. Das hat Katja ihm vor vielen, vielen Jahren immer vorgesungen. Das und ihre Kinderlieder.

Er packt den Griff, zieht, setzt sich auf. Verdammt. Er spürt was unter der Pyjamahose. Sie hat ihn gewickelt. Ja, sie hat ihm eine Windel verpasst. Schlicht und ergreifend. Warum zum Teufel hat sie das gemacht? Eine Scheißwindel. Und wann hat sie ihm die angelegt? Wie kann er das vergessen haben? Er erinnert sich an den Verkehr auf der Court Street vor fünf Millionen Jahren, er erinnert sich an Heaney und Muldoon im Waldorf, er erinnert sich daran, als junger Anwalt geboren worden zu sein, an das Krawattengeschäft in der Montague Street, an Katja und ihre Kinderlieder, er erinnert sich an das Cockpit der SOC-3, aber nicht daran, dass Sally ihn heute Morgen gewickelt hat?

Der Geist ist voller schwarzer Hunde.

Sally!

Sie ist groß und stark, aber schnell ist sie nicht. Eher eine Schnecke, eine Sally-Schnecke.

Komme schon, Mr. J.

Tja, Chanukka kommt auch. Wie das 21. Jahrhundert. Wie das Ende der sichtbaren Welt. Komm schon, Frau, hilf mir. Eine verdammte Windel. Warum zum Teufel hat sie mich in diesen verfluchten Blödsinn verpackt? Womit habe ich das verdient? Welches Verbrechen, welche Grausamkeit habe ich begangen? Eine Windel! Vor zweiundachtzig Jahren habe ich Windeln gebraucht, ja, das stimmt, Sally, meine Liebe, aber, verdammte Scheiße (entschuldigen Sie die starken Worte), doch jetzt nicht mehr!

Er ist halb in, halb aus dem Bett, als er ein Schnaufen und die Andeutung eines Seufzers hört. Schritte im Flur. Ein langsames Schlurfen. Sie hält inne, vielleicht um tief Luft zu holen, und er braucht einen Moment, um zu bestimmen, ob sie sich auf ihn zu oder von ihm weg bewegt. Blick auf die Uhr. Wasser aufsetzen. Schlurfen.

Die Grausamkeit der Zeit. Nie genug davon, wenn man sie braucht. Immer zu viel, wenn man sie nicht braucht.

Salllly!

Noch ein Seufzer, ein vernehmliches Mh-hm, noch vier Schritte, und dann endlich bewegt sich der vergoldete Türknauf.

Und schon da, Mr. J.

Schon da oder wo auch immer, und gibt’s eigentlich auf Tobago keine Grammatik? Sie verhunzen, verderben, versauen die Sprache. Kein Wortschatz, kein Stil. Sally wird nie etwas für den New Yorker schreiben, so viel ist sicher. Auch nicht für die Times, nicht mal für die Daily News. Sie könnte es vielleicht schaffen, ein paar kleinere Sachen bei der Post unterzubringen, aber nur so gerade eben, um Hexenhaaresbreite.

Und doch hat ihre Art zu sprechen etwas Schönes. Wenn sie spricht, erklingen schimmernde Münzen. Sie hat ein Tambourin in der Kehle. Ja, Sally James verschluckt gleich als Erstes am Morgen einen Vogel. Da tritt sie herein, gelassen wie eine Palme, groß wie ein Redwood, robust wie eine Eiche. Ihre Gestalt, die sich über ihn beugt. Ihre hängenden Ohrringe. Ihr in phantastischen Winkeln abstehendes Haar. Sie verbringt die Hälfte ihres Lebens damit, ihre Frisur zu richten. Wickler und Stäbe und Kämme und alle möglichen Spangen. Als sie hier angefangen hat, konnte er hören, dass sie um vier aufstand, um zu wickeln und zu föhnen, zu flechten und zu klemmen.

Sie hat einen eigenartigen Geruch, einen angenehmen Geruch, wie Möbelpolitur, die liebe Sally aus Tobago – oder war es Trinidad? Worin unterscheiden die beiden sich überhaupt? Aber, mal ehrlich, wen kümmert das? Spielt es denn eine Rolle, ob sie aus Nord oder Süd, von oben oder unten, aus Ost oder West stammt, wenn es doch eigentlich darum geht, dass er eine Windel trägt? Die schnell und diskret entfernt werden muss – und zwar sofort.

Wie haben Sie das nur gemacht, Sally? Wann haben Sie sich angeschlichen?

Stell es dir vor: die Pyjamahose heruntergezogen, die Tasche mit der tickenden Blackberry-Uhr noch immer über meinem Herzen, und ich frage mich, was sie von meiner Ausstattung hält. Ich hatte noch nie das, was man einen Feuerwehrschlauch nennt. Sie hat ihn jetzt Gott weiß wie oft gesehen, faltig, eingerollt wie ein Seepferdchen. Wir können nur hoffen, dass die, die noch mitten im Leben stehen, nicht kichern.

Sally?

Ja, Mr. J.?

Muss das Winterzeug wirklich sein?

Das ist sein Ausdruck dafür: Winterzeug. Es Windel zu nennen, geht ihm gegen den Strich, und Inkontinenzbinde ist zu schwerfällig, schwergängig. Wie nennen es die Engländer? Ein so sprachbegabtes Volk, die Briten – haben alle Schönheiten ihrer Sprache von den Iren gelernt, würde Eileen jetzt sagen. Aber hier versagen selbst die großen linguistischen Meister. Sie nennen es nappy, ausgerechnet. Von napkin, Serviette. Welchem Originalgenie ist das bloß eingefallen? Welchem gelehrten Oxford-Professor? Eine Serviette. Die man entfaltet und auf den Schoß legt.

Ich mag das nicht, Sally.

Das ist nur, damit Sie gut schlafen können, Mr. J.

Dafür ist das Aufwachen umso schlimmer.

Sie hebt den Kopf und lässt ihn in einen Mund voll dunkler Füllungen sehen, aber das ist nicht zum Lachen, Sally, nein, ganz bestimmt nicht. Hier geht’s um mich und nicht um dich. Sie beugt sich wieder zu mir – ihr durchdringendes Parfüm, ihr kitzelndes Haar – und schlägt mit einer raschen Bewegung die Decke zurück. Ach, gibt es auf Gottes dunkler Welt etwas Schlimmeres? Er rutscht ein Stück zur Seite und spürt es. Sperren Sie mich ein, Euer Ehren, und werfen Sie den Schlüssel weg. O Gott, Mendelssohn, du hast dich vollgepisst und eingeschissen. Wem gehört dieser Körper, diese vergammelte Ruine, dieses Spukhaus? Wer verordnet uns diese schmutzige Komödie? Göttlich ist sie jedenfalls nicht. Wie konnte ich das nur verschlafen? Ich bin ein alter Bettnässer. Ha, die Quellen des Helikon.

Sie reicht ihm den Arm und zieht seinen Rollator heran. Noch so ein Wort – wem ist das wohl eingefallen? Er stützt sich darauf und sagt, dass er den Rest selbst erledigen wird: das Winterzeug ausziehen und zu Tal fahren.

Und dann sagt er: Bitte.

Ach, mach ihn ganz kaputt, diesen Körper, Sally, zerbrich ihn in kleine Stücke, dann kann ich mit dem, was noch funktioniert – mit Kopf und Herz –, weitermachen und brauche mich um den nutzlosen Rest nicht zu kümmern. Lebt wohl, Eingeweide, Därme, Pyjamatasche, Prostata, lebt wohl, all ihr unreparierbaren Einzelteile. Soll der Mendelssohn-Geist schweifen. Soll das Herz sich ergehen. Lass den Rest des alten Knackers zurück. Ich habe mich immer an die Naturgesetze gehalten. Ein nacktes Kind vor einem hungrigen Wolf. Ich wurde geboren, als ich zum ersten Mal gewickelt wurde. In Wirklichkeit ist es gar nicht das erste Mal.

Er beugt sich wieder zu Sally und spürt ihre kräftigen Arme und ihre Hand an seinem Hintern, und wer hätte gedacht, dass die letzte Frau in seinem Leben einen so üppigen, freigebigen Busen wie Sally haben würde? So weich und duftend. So rund und hinreißend. So voll und schwer. Ach, du bist eine gute Frau, Sally James aus Tobago oder Trinidad oder Jamaica oder von wo auch immer du stammst, und wie viel bezahle ich dir noch mal? Ich sollte mich doppelt und dreifach vergewissern, dass sie in meinem Testament bedacht ist, denn sie ist ein guter Mensch, sie meint es gut, auch wenn sie beim Reden die Grammatik vergisst, aber das tue ich ja auch manchmal – entlang des Weges und ich bin gestanden –, aber oh, jetzt hat sie mich halb hochgehoben, jetzt ist alles eine Frage der Naturgesetze, heb mich auf, bring mich zum Gipfel, lass mich auferstehen, wälze den schweren Stein beiseite, und er spürt, dass sein Körper sich knirschend nach vorn bewegt, stützt sich schwer auf den Rollator und stößt einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, auch wenn er merkt, dass sich der Inhalt des Winterzeugs da unten verschiebt.

Schön langsam, Mr. J.

Sehen Sie nur zu, dass ich rechtzeitig in der Kirche bin, Sally.

Hmm?

Im Badezimmer, Sally, im Badezimmer.

Ja, Sir.

Bläh die Nüstern, Mendelssohn. Mach hin. Genug geknirscht. Gib dem Leben Zeit, und es löst all deine Probleme, sogar das Problem, dass du immer noch am Leben bist.

Sie sehen blass aus, Mr. J.

Mir geht’s prima.

Wir haben was vergessen, sagt sie.

Sie geht zum Wandschrank und beugt sich hinunter. Die weiße Uniform spannt sich über zwei schönen runden Backen. Ach, ich bin ein schrecklicher Mann, aber Herrgott, wirklich: Es gibt schlimmere Anblicke. Nichts Böses hören, nichts Böses sagen, aber in meinem Alter darf ich doch wohl wenigstens ein kleines bisschen sehen, oder?

Was hab ich vergessen, Sally?

Sie richtet sich auf, rund und lächelnd, und schwenkt ein Paar Hausschuhe.

Nein, Sally, ich brauche diese blöden Hausschuhe nicht.

Mr. J.?

Haben Sie nicht gehört? Keine Hausschuhe.

Trotzdem bückt sie sich und tätschelt sein Bein, damit er den Fuß hebt.

Nur damit Sie nicht ausrutschen, Mr. J.

Wir sind doch nicht auf der Scheiß-Eisbahn, Sally.

Das Weiß ihrer Augen blitzt ihn an, und er hebt gehorsam, gleichsam entschuldigend, den rechten Fuß. Ach, Sally, mussten Sie wirklich diese Flauschdinger raussuchen? Gibt es da nicht ein dezenteres Paar? Soll ich mein Leben in Flauschhausschuhen beenden? Und sie passen auch nicht so perfekt wie die von Brooks Brothers. Und mussten Sie mir wirklich mitten in der Nacht eine Windel anlegen? Und ist mein untreuer Sohn wieder mal in Schwierigkeiten? Ist meinen wunderbaren Enkelkindern was passiert? Ist meine Tochter von ihrer Friedensmission zurück?

Er ist froh, unendlich froh, dass Eileen das hier erspart geblieben ist. Sie hat sich vor zwei Jahren verabschiedet. Liebe Eileen. Man stelle sich vor: Sie hat in ihrem ganzen Leben keine einzige Zigarette geraucht, und am Ende hatte der Krebs ihre ganze Lunge aufgefressen. Ein abrupter Abgang. Wenigstens das. Der Geist tritt ab. Nimm Hamlet mit.

Fertig, Mr. J.

Auf die Plätze, fertig, los. Das Rollatorrennen. Wo ist die schwarz-weiß karierte Flagge? Legt eine Tugend an, sofern ihr sie nicht habt, rät der Dichter. Wann hat sie eigentlich angefangen, mich Mr. J. zu nennen, wo mein wirklicher Name doch Peter, Pedras, Peadar ist? Ich nehme an, sie hat meine Initialen gesehen. Wie leider auch so manches andere. Ach, Mendelssohn, du elender Narr. So fest wie Petrus bist du nicht mehr.

Danke, Sally.

Hrrmmmfff, antwortet sie.

Lieber Gott, sei gut und erlöse mich aus diesem Elend. Was für eine Strapaze, auch nur ins Badezimmer zu gehen. Er schiebt den Rollator über die Schwelle und schafft es, die Tür zu schließen. Auf den Apparat gestützt steht er da. Das Badezimmer ist voller Griffe. Es ist eine regelrechte Griffausstellung: Griffe am Waschbecken, Griffe in der Dusche, Griffe, um sich in der Badewanne aufzusetzen, Griffe, um Griffe auszuklappen.

Er zieht die Hausschuhe aus, öffnet den Taillenzug der Pyjamahose, lässt sie hinunter und tritt vorsichtig aus dem Stoffhaufen heraus. Sein großer Zeh verfängt sich in dem Band, und beinahe wäre er gestolpert, aber er stützt sich rechtzeitig am Waschbecken ab. Ein kurzer Blick in den Spiegel. Hallo, mein Freund, schön, dass wir uns begegnen. Das bin nicht ich. Du lieber Himmel, ich sehe aus wie ein alter Vorhang mit einem großen Volant unter dem Kinn. Sieht aus wie Gummi, als könnte man ihn endlos dehnen.

Weiter. Weiter jetzt. Das Leben ist kurz, aber die Morgen kosten die meiste Zeit.

Los, Mendelssohn, reiß dich zusammen und säubere dich. Anmut und Würde. Ich wurde geboren, als ich mein erstes Plädoyer hielt, obwohl es mir manchmal so vorkommt, als wäre ich bei anderen Ereignissen geboren worden. Aber wer sollte sich schon für einen zweiten Band von Memoiren interessieren, wenn schon der erste, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ein donnernder Misserfolg war? Das wäre doch einfach lächerlich.

Er zieht an dem seitlich angebrachten Klettband der Windel. Vorsichtig jetzt. Der Inhalt des Gepäckfachs unter Ihrem Sitz könnte sich während des Fluges verschoben haben.

Ach Gott, es gibt nichts Schlimmeres als das Geräusch eines Klettbands beim Öffnen.

Nichts Schlimmeres auf dieser schönen Welt.

III

Die Amsel wirbelte im Herbstwind.

Sie war ein kleiner Teil der Pantomime.

Im Wohnzimmer sind zwei Kameras, beide werden von Bewegungsmeldern aktiviert. Die erste ist im Bücherregal, die zweite steht gut verborgen auf einem Bord am Fenster. Beide sind mit Weitwinkelobjektiven versehen, was den Bildern, die sie liefern, etwas entfernt Maritimes verleiht – alles ist gestreckt wie eine heranrollende Welle.

Wenn die Vorhänge geöffnet werden, strömt das Licht mit theatralischer Plötzlichkeit in den Raum. In der Mitte steht der große Esstisch aus Eiche mit den sechs Chippendale-Stühlen, handgeschnitzt und mit durchbrochenen Lehnen. Auf dem Tisch eine chinesische Vase mit Blumen und ein gemusterter Teller, auf dem Schlüssel, Stifte, Briefe liegen.

An der Wand an der Stirnseite des Tischs hängt ein großes Bild, ein Porträt von Mendelssohn in Anzug und Krawatte, mit großer Brille und ernstem Blick.

Die anderen Bilder in dem Raum sind in Stil und Geschmack eklektisch; am meisten sticht eine Küstenszenerie in Maine hervor. Ein Orientteppich bedeckt den Boden des Wohnzimmers. Vor einem langen Sofa steht ein Glastisch. Die Bücher auf dem Tisch scheinen in der Luft zu schweben: Roth, Márquez, Morrison.

Der Rest des Raums macht einen lange bewohnten Eindruck: ein dunkler Steinway mit offenem Deckel, ein Kaminbesteck neben dem vermauerten Kamin, eine antike Theke aus dunklem Holz, auf der einige Kristallgläser stehen.

Die Polizisten von der Mordkommission werden überrascht sein, Kameras vorzufinden. Sie werden feststellen, dass Mendelssohns Sohn Elliot sie heimlich installiert hat, um ein wachsames Auge auf Sally James zu haben, auch wenn es eigentlich keinen Grund gibt, sie zu verdächtigen, und ebenso wenig einen Grund, Mendelssohn zuzusehen, während er am Tisch sitzt, Kaffee trinkt, die Zeitung liest, dies alles unter den Augen seines Porträts, wobei der ältere Mendelssohn erheblich gebrechlicher wirkt.

Sie nehmen sich die Bänder vor und sehen sich die Aufnahmen vom Tag seines Todes an. Hin und wieder erscheint Sally James vor der Kamera im Bücherregal. Sie saugt. Sie schüttelt die Sofakissen auf. Sie sitzt eine Stunde auf dem Sofa und liest in einer Zeitschrift. Mendelssohn selbst schiebt seinen Rollator genau dreimal durchs Bild: Einmal geht er zum Schreibtisch, liest in einem Buch, macht sich Notizen, sieht auf seinen Blackberry; beim zweiten Mal tritt er ans Fenster, betrachtet vermutlich das Schneetreiben draußen; beim dritten Mal, am frühen Morgen, bleibt er mitten im Zimmer stehen und starrt ins Leere.

Als er sich zur Kamera umdreht, steht er in der verblichenen Pracht seines rotbraunen Morgenmantels da. Er hat die zerfurchten Wangen, die tiefliegenden Augen, das schmale Lächeln des Alters, aber es steckt noch immer etwas von dem robusten Jungen in ihm, als wären die Erinnerungen seines Körpers unter der Haut bis heute lebendig.