Apeirogon - Colum McCann - E-Book
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Apeirogon E-Book

Colum McCann

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Beschreibung

Rami Elhanan und Bassam Aramin sind zwei Männer. Rami braucht fünfzehn Minuten für die Fahrt auf die West Bank. Bassam braucht für dieselbe Strecke anderthalb Stunden. Ramis Nummernschild ist gelb, Bassams grün. Beide Männer sind Väter von Töchtern. Beide Töchter waren Zeichen erfüllter Liebe, bevor sie starben. Ramis Tochter wurde 1997 im Alter von dreizehn Jahren von einem palästinensischen Selbstmordbomber vor einem Jerusalemer Buchladen getötet. Bassams Tochter starb 2007 zehnjährig mit einer Zuckerkette in der Tasche vor ihrer Schule durch die Kugel eines israelischen Grenzpolizisten. Ramis und Bassams Leben ist vollkommen symmetrisch. Ramis und Bassams Leben ist vollkommen asymmetrisch. Rami und Bassam sind Freunde. Apeirogon: eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten. Während "Apeirogon" nach und nach seine nahezu unendlichen Seiten auffächert und die beiden Männer in seiner Mitte rahmt, entfaltet sich der Palästinakonflikt in seiner ganzen Historie und Komplexität. Dies ist Colum McCanns überwältigendes Meisterwerk - ein Roman, der das Unbeschreibliche sinnlich und sinnhaft erfahrbar, greifbar macht. Ein kaleidoskopischer Text stellt die zeitlose Frage: Wie leben wir weiter, wenn das Liebste verloren ist? Und: Wie kann der Mensch Frieden finden? Mit sich selbst, mit anderen. Colum McCann ist für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2021 nominiert.

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Seitenzahl: 572

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Colum McCann

Apeirogon

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

 

Über dieses Buch

Rami Elhanan und Bassam Aramin sind zwei Männer. Rami braucht fünfzehn Minuten für die Fahrt auf die West Bank. Bassam braucht für dieselbe Strecke anderthalb Stunden. Ramis Nummernschild ist gelb, Bassams grün.

Beide Männer sind Väter von Töchtern. Beide Töchter waren Zeichen erfüllter Liebe, bevor sie starben. Ramis Tochter wurde 1997 im Alter von dreizehn Jahren von einem palästinensischen Selbstmordbomber vor einem Jerusalemer Buchladen getötet. Bassams Tochter starb 2007 zehnjährig mit einer Zuckerkette in der Tasche vor ihrer Schule durch die Kugel eines israelischen Grenzpolizisten.

Ramis und Bassams Leben ist vollkommen symmetrisch. Ramis und Bassams Leben ist vollkommen asymmetrisch. Rami und Bassam sind Freunde.

Apeirogon: eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten.

Während «Apeirogon» nach und nach seine nahezu unendlichen Seiten auffächert und die beiden Männer in seiner Mitte rahmt, entfaltet sich der Palästinakonflikt in seiner ganzen Historie und Komplexität. Dies ist Colum McCanns überwältigendes Meisterwerk – ein Roman, der das Unbeschreibliche sinnlich und sinnhaft erfahrbar, greifbar macht. Ein kaleidoskopischer Text stellt die zeitlose Frage: Wie leben wir weiter, wenn das Liebste verloren ist? Und: Wie kann der Mensch Frieden finden? Mit sich selbst, mit anderen.

Vita

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

 

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Für Sally

Vorbemerkung des Autors

Mit der politischen Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten vertraute Leser werden feststellen, dass die beiden treibenden Kräfte in diesem Roman, Bassam Aramin und Rami Elhanan, reale Personen sind. Mit «real» meine ich, dass ihre Geschichten – und die Geschichten ihrer Töchter Abir Aramin und Smadar Elhanan – ausführlich in Film und Presse dokumentiert sind.

Die Erzählungen der beiden Männer im Mittelteil des Romans sind Zusammenschnitte aus mehreren Gesprächen, die wir in Jerusalem, New York, Jericho und Bait Dschala geführt haben. Bei den anderen Teilen haben Bassam und Rami mir erlaubt, frei mit ihren Worten und Lebensgeschichten umzugehen oder sie zu verändern.

Trotz dieser Freiheiten hoffe ich, ihre gemeinsamen Erfahrungen wahrheitsgetreu wiederzugeben. Wir leben unser Leben, schrieb Rilke, in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.

2016

1

Die Hügel von Jerusalem schwimmen in Nebel. Rami braust einen geraden Streckenabschnitt hinunter und bereitet sich auf die Einfahrt in die nächste Kurve vor.

Er sitzt tief gebeugt auf dem Motorrad, mit wattierter Jacke und festgezurrtem Helm. Es ist eine japanische Maschine, siebenhundertfünfzig Kubik, spritzig für einen Mann von siebenundsechzig.

Rami holt alles aus der Maschine raus, auch bei schlechtem Wetter.

Bei den Gärten, wo der Nebel sich hebt, biegt er scharf nach rechts. Corpus separatum. Er drosselt das Tempo und fährt an einem Wachturm vorbei. Die Straßenbeleuchtung wirkt diffus im Morgendunkel. Für einen kurzen Augenblick schwärzt ein kleiner Vogelschwarm das orange Licht.

Am Fuß des Hügels führt die Straße in die nächste in Nebel gehüllte Biegung. Er schaltet runter in den Zweiten, lässt sanft die Kupplung los, gleitet durch die Kurve und schaltet wieder in den Dritten. Landstraße 1 verläuft über den Ruinen von Qalunya: Alle Geschichte türmt sich hier.

Am Ende der Auffahrt gibt er Gas, nimmt die innere Spur, vorbei an Wegweisern zur Altstadt, nach Givat Ram. Auf der Gegenseite vereinzelt Scheinwerfer.

Er wechselt auf die Schnellspur zum Tunnel, zur Sperrmauer, zur Stadt Bait Dschala. Eine Route, zwei Möglichkeiten: Gilo auf der einen Seite, auf der anderen Bethlehem.

Geographie ist hier alles.

2

THIS ROAD LEADS TO AREA «A»

UNDER THE PALESTINIAN AUTHORITY

THE ENTRANCE FOR ISRAELI

CITIZENS IS FORBIDDEN

DANGEROUS TO YOUR LIVES

AND IS AGAINST THE ISRAELI LAW

3

Fünfhundert Millionen Vögel ziehen jedes Jahr über den Hügeln von Bait Dschala durch die Lüfte. Sie folgen den Wegen ihrer Vorfahren: Wiedehopfe, Drosseln, Fliegenschnäpper, Grasmücken, Kuckucke, Stare, Würger, Kampfläufer, Steinschmätzer, Regenpfeifer, Nektarvögel, Segler, Sperlinge, Nachtschwalben, Eulen, Möwen, Habichte, Sperber, Adler, Milane, Kraniche, Bussarde, Strandläufer, Pelikane, Flamingos, Störche, Gänsegeier, Mohrenschwarzkehlchen, Blauracken, Graudrosslinge, Bienenfresser, Turteltauben, Schafstelzen, Sumpfrohrsänger, Rotkehlpieper, Zwergdommeln.

Es ist die zweitgrößte Flugroute der Welt: Mindestens vierhundert Vogelarten ziehen in unterschiedlichen Höhen vorbei. Große Vs in geräuschvoller Entschlossenheit. Einzelreisende gleiten dicht über dem Gras.

Jedes Jahr sieht die Landschaft unten anders aus: israelische Siedlungen, palästinensische Wohnblocks, Dachgärten, Kasernen, Absperrungen, Umgehungsstraßen.

Manche Vögel ziehen nachts, um Fressfeinden auszuweichen. Sie orientieren sich an den Sternen, verbrennen auf dem langen Flug ihre Muskeln und Eingeweide. Andere fliegen bei Tag, um die Thermik zu nutzen, die warme aufsteigende Luft, die ihre Flügel hebt, sodass sie segeln können.

Bisweilen verdunkeln ganze Schwärme die Sonne und überziehen Bait Dschala mit Schatten: die Felder, die steilen Terrassen, die Olivenhaine am Rande der Stadt.

Man kann sich zu jeder Tageszeit in den Weinberg des Klosters Cremisan legen und die Vögel auf ihrer gesprächigen Reise beobachten.

Sie landen auf Bäumen, Telegraphenmasten, Stromleitungen, Wassertürmen, sogar auf der Mauer, wo sie gelegentlich zu Zielscheiben junger Steineschleuderer werden.

4

Die altertümliche Steinschleuder bestand aus einer etwa augenklappengroßen, mit kleinen Löchern versehenen Tasche aus Rindsleder und einer Lederschnur. Sie wurde von Schäfern erfunden, um ihre Herden vor Raubtieren zu schützen.

In der linken Hand hielt der Schäfer die Tasche, in der rechten die Schnur. Es erforderte ein enormes Maß an Übung, die Waffe zielsicher einzusetzen. Nachdem er einen Stein in die Tasche gelegt hatte, zog der Schütze die Schnur stramm. Er schwang die Schleuder mehrmals hoch über dem Kopf, bis sie genug Geschwindigkeit erreicht hatte, dann ließ er das eine Schnurende los, und der Stein flog heraus: Manche Schäfer konnten aus zweihundert Schritt Entfernung ein Ziel von der Größe eines Schakalauges treffen.

Schnell hielt die Schleuder Einzug in die Kriegskunst: Da man mit ihr Steilhänge hinauf und über Wehrmauern schießen konnte, war sie eine unentbehrliche Waffe beim Angriff auf befestigte Städte. Ganze Legionen von Distanzschützen wurden beschäftigt. Sie fuhren in voller Körperrüstung auf mit Steinen beladenen Streitwagen. Wenn das Gelände zu unwegsam wurde – Wälle, Festungsgräben, Trockentäler, steile Böschungen, Felsbrocken auf dem Weg –, schulterten sie ihre reich verzierten Taschen und gingen zu Fuß weiter. Die tiefsten Taschen fassten bis zu zweihundert Steine.

Während der Kampfvorbereitungen war es üblich, mindestens einen Stein zu bemalen. Der Glücksbringer wurde, wenn der Schleuderer in den Krieg zog, ganz unten in die Tasche gelegt, in der Hoffnung, er werde nicht gebraucht.

5

Am Rande des Kampfgeschehens beauftragte man acht-, neun-, zehnjährige Kinder, Vögel vom Himmel zu schießen. Sie lauerten an Wadis, versteckten sich im Gebüsch, schleuderten Steine von Festungsmauern. Sie erlegten Turteltauben, Wachteln, Singvögel.

Manche Vögel überlebten. Sie wurden aufgesammelt, und bevor man sie in Käfige sperrte, stach man ihnen die Augen aus, damit sie sich in ewiger Nacht wähnten: So stopften sie sich pausenlos mit Körnern voll.

Wenn ihr Gewicht sich verdoppelt hatte, wurden sie in Lehmöfen gebraten und mit Oliven, Gewürzen und Brot aufgetischt.

6

Acht Tage vor seinem Tod ließ sich der ehemalige französische Staatspräsident François Mitterrand zum Abschluss eines opulenten Schlemmermahls Ortolane servieren, winzige Singvögel mit gelber Kehle, nicht größer als sein Daumen. Die Delikatesse verkörperte für ihn die Seele Frankreichs.

Seine Mitarbeiter hatten die Wildvögel in einem Dorf in Südfrankreich besorgt. Die Polizei wurde bestochen, die Jagd vorbereitet, und bei Sonnenaufgang wurden die Ortolane in besonders feinmaschigen, am Waldrand aufgespannten Netzen gefangen. Dann wurden sie in einem Lieferwagen mit abgedunkelten Scheiben zu Mitterrands Landsitz in Latche gebracht. Der Souschef kam und trug die Käfige ins Haus. Die Vögel wurden zwei Wochen gemästet, bis sie zu platzen drohten, dann wurden sie kopfüber in einen mit Armagnac gefüllten Krug getaucht und bei lebendigem Leibe ertränkt.

Der Küchenchef rupfte sie, salzte und pfefferte sie, garte sie sieben Minuten in ihrem eigenen Fett und legte sie in eine vorgewärmte weiße Keramikform.

Als der Gang in den holzgetäfelten Saal getragen wurde, verfielen die Gäste – Mitterrands Frau, seine Kinder, seine Geliebte, Freunde – in Schweigen. Mitterrand richtete sich auf, schob die Decken von den Knien, trank von einem alten Château Haut-Marbuzet.

– Das einzig Interessante ist, zu leben, sagte er.

Er legte sich eine weiße Serviette über den Kopf, um den herrlichen Duft der Vögel einzuatmen und, wie es die Tradition verlangte, die Handlung vor Gottes Blick zu verbergen. Er nahm die Singvögel aus der Form und verspeiste sie ganz: das saftige Fleisch, das Fett, die bitteren Eingeweide, die Flügel, die Sehnen, die Leber, die Niere, das noch warme Herz, die Füße, die winzigen Schädelknochen, die zwischen seinen Zähnen knirschten.

Mitterrand kaute mehrere Minuten, ohne sein Gesicht zu zeigen. Seine Familie hörte die Knochen knacken.

Schließlich lüftete er die Serviette, tupfte sich den Mund ab, stellte lächelnd die Keramikform beiseite, wünschte allen eine gute Nacht und erhob sich, um zu Bett zu gehen.

Danach fastete er achteinhalb Tage und starb.

7

In Israel werden die Vögel mit modernen Radaranlagen überwacht, die überall im Land – Eilat, Jerusalem, Latrun – entlang der Zugrouten stehen und mit Militäreinrichtungen sowie der Flugverkehrskontrolle am Flughafen Ben Gurion vernetzt sind.

Die Flugverkehrskontrolle sitzt hinter abgedunkelten Scheiben in Hightechbüros. Reihen von Computern, Funkanlagen, Telefone. Ein Team aus Luftfahrtexperten und Mathematikern beobachtet die Größe der Schwärme, ihre Flugbahnen und Formationen, ihre Geschwindigkeit und Höhe, ihr Verhalten bei verschiedenen Wetterlagen, ihre Reaktion auf Seitenwinde, Schirokko, Gewitter. Sie erstellen Algorithmen und geben Gefahrenmeldungen an Fluglotsen und Verkehrsfluggesellschaften aus.

Eine weiterer heißer Draht besteht zur Luftwaffe. Stare in 1000 Fuß Höhe nördlich vom Hafen von Gaza, 31.52583° N, 34.43056° O. Zweiundvierzigtausend Kraniche in etwa 750 Fuß Höhe über dem Südufer des Roten Meeres, 20.2802° N, 38.5126° O. Ungewöhnliche Schwarmbewegung östlich von Akko, Achtung Küstenwache, Unwetterwarnung. Ein Schwarm Kanadagänse, voraussichtlich um 0200 Stunden östlich von Ben Gurion, genaue Koordinaten folgen. Zwei Wüstenuhus in Bäumen gesichtet, in der Nähe von Helipad B, Südhebron, 31.3200° N, 35.0542° O.

Am meisten haben die Mitarbeiter im Herbst und im Frühjahr zu tun, wenn ganze Vogelpopulationen auf die Reise gehen: Manchmal sehen ihre Radarschirme aus wie Rorschachtests. Sie arbeiten mit Vogelkundlern am Boden zusammen, obwohl ein guter Tracker an der Formation des Schwarms und an der Flughöhe intuitiv erkennt, welche Art er auf dem Schirm hat.

Auf der Militärakademie werden Kampfpiloten mit dem komplexen Zugverhalten der Vögel vertraut gemacht, damit sie in besonders vogelreichen Gebieten nicht ins Trudeln geraten. Alles ist von Bedeutung: Eine große Pfütze auf dem Rollfeld kann einen Schwarm Stare anlocken; ein Ölfleck kann die Flügel eines Raubvogels schlüpfrig machen und ihm die Orientierung nehmen; ein Waldbrand kann eine Gänseschar vom Kurs abbringen.

In der Vogelzugsaison bemühen sich die Piloten, möglichst selten unterhalb von dreitausend Fuß zu fliegen.

8

Ein Schwan kann für einen Piloten so tödlich sein wie eine Panzerfaust.

9

Im Herbst der Ersten Intifada verfing sich ein Vogelpaar auf dem Weg von Europa nach Nordafrika in den Japannetzen an den Westhängen von Bait Dschala. Ihre Füße hingen am selben Faden fest, sodass es auf den ersten Blick aussah, als handle es sich um einen einzelnen unförmigen Vogel, der panisch mit den Flügeln schlug.

Entdeckt wurden sie von dem vierzehnjährigen Tarek Khalil, der zunächst Zweifel hatte, ob es sich bei den winzigen Vögeln wirklich um Zugvögel handelte: Vielleicht waren es Mönchsgrasmücken. Er ging näher heran. Ihr qualvolles Piepen verblüffte ihn. Er befreite sie, setzte jeden in einen Stoffbeutel und trug sie zur Beringungsstation auf dem Berg, um sie bestimmen und vermessen zu lassen: die Länge der Flügel und Schwanzfedern, Gewicht, Geschlecht, Körperfettanteil.

Noch nie hatte Tarek solche Geschöpfe gesehen: grüne Köpfe, geheimnisvoll, wunderschön. Er blätterte in Vogelbüchern, ging das Archiv durch: Singvögel, wahrscheinlich aus Osteuropa oder dem Kaukasus. Er war sich nicht sicher, was er mit ihnen anstellen sollte. Es war seine Aufgabe, winzige nummerierte Aluminiumringe an ihren Beinen zu befestigen, damit man später ihre Zugbewegungen dokumentieren konnte.

Tarek griff zur Zange und bereitete die Ringe vor. Die mageren Vögel wogen nicht mehr als ein Teelöffel voll Gewürze. Er befürchtete, dass die Metallringe sie beim Fliegen aus dem Gleichgewicht bringen würden.

Nach kurzem Zögern steckte er die Vögel wieder in die Beutel und nahm sie mit nach Hause. Vorsichtig stieg er die steilen, kopfsteingepflasterten Gassen von Bait Sahur hinauf. Käfige wurden in der Küche aufgehängt. Zwei Tage lang wurden die Ortolane von seinen beiden Schwestern gefüttert und mit Wasser versorgt. Am dritten Tag trug Tarek die Vögel unberingt zurück zum Berghang, um sie zwischen den Aprikosenbäumen freizulassen.

Einer verweilte einen Augenblick auf seiner Handfläche. Die Krallen zwickten an einer Schwiele. Tarek ließ ihn von Finger zu Finger wandern, bis der Vogel ihm dem Rücken zukehrte. Der Ortolan schwang sich unsicher auf, dann flatterte er davon.

Zum Andenken zog der Junge die beiden Aluminiumringe mit den fortlaufenden Nummern auf eine dünne Silberkette.

Die Ringe hüpften an seinem Hals, als er zwei Monate später mit seinen großen Brüdern hinunter zur Straße der Maria ging, um Steine zu schleudern.

10

Die Beringungsstation auf dem Campus der Talitha-Kumi-Schule ist eine von zweien ihrer Art im Westjordanland: Sie gehört zu einem Umweltbildungszentrum, zusammen mit einem Museum für Naturgeschichte, einem Wasseraufbereitungsprojekt und einem botanischen Garten, in dem Jasmine, Stockrosen, Disteln, Pillen-Brennnesseln und üppige Steppenrauten blühen.

Unterhalb des Zentrums windet sich die Mauer durch das Land. In der Ferne ziehen sich, umgeben von elektrischen Zäunen, die Terrakottadächer der Siedlungen in geordneten Reihen über die Bergkuppen.

Im Tal gibt es so viele neue Straßen und Brücken, Tunnel und Wohnhäuser, dass es die Vögel zu dem schmalen Hangstück zieht, wo sie zwischen Obstbäumen und hohen Gräsern rasten und fressen können.

Zwischen den Tamarisken, Olivenbäumen, Opuntien und Blütensträuchern über das vier Hektar große Zentrumsgelände zu schlendern ist wie ein Spaziergang auf dem Rand einer kollabierenden Lunge.

11

Oft erscheint ein Luftschiff am Himmel über Jerusalem. Es schwebt über der Stadt, taucht kurzzeitig ab, steigt wieder auf und verschwindet. Von den Hügeln um Bait Dschala – ein paar Kilometer weit entfernt – ähnelt das komplett weiße Luftschiff einer kleinen Wolke, einer weichen Beule, einem riesigen Insekt.

Ab und zu nutzen Vögel es als Mitfahrgelegenheit, lassen sich träge drei, vier Kilometer durch die Lüfte kutschieren, bevor sie wieder herabstoßen: eine Nachtigall auf dem Rücken eines Adlers.

Meistens schwebt das Luftschiff, von der israelischen Besatzung und den Radartechnikern Fat Boy Two getauft, in einer Höhe von etwa tausend Fuß. Es ist aus Kevlar und Aluminium. Die gläserne Gondel an seinem Bauch bietet Raum für dreizehn Menschen. Sie ist ausgestattet mit Computern und leistungsstarken Infrarotkameras, die Farbe und Nummer jedes Kfz-Kennzeichens erfassen können, das unten vorbeirauscht.

12

Ramis Kennzeichen ist gelb.

13

Er blickt auf die Uhr im Cockpit, dann auf die Armbanduhr. Kurze Verwirrung. Eine Stunde Unterschied. Das Ende der Sommerzeit. Sicher, die Armbanduhr lässt sich problemlos zurückstellen, aber der Tag ist durcheinander. Jedes Jahr ist es dasselbe: Mindestens ein paar Tage lang ist es im Westjordanland eine Stunde früher.

Er kann es nicht ändern. Es lohnt sich nicht, wieder nach Hause zu fahren. Er könnte die Zeit auf der Landstraße totschlagen. Oder über die Nebenstraßen, durch die Täler kurven. Sich eine Strecke suchen, wo er die Maschine herausfordern, dem Tag ein bisschen einheizen kann.

Er schaltet in den Vierten, beobachtet die rote Nadel auf dem Tourenzähler, schießt an einem Sattelzug vorbei und schaltet in den Fünften.

14

Ein Gummigeschoss, das aus einer M16 mit aufgesetztem Metallrohr abgefeuert wird, verlässt den Lauf mit einer Geschwindigkeit von über hundertsechzig Stundenkilometern.

Die Geschosse sind groß genug, dass man sie sehen kann, aber zu schnell, um ihnen auszuweichen.

Sie wurden erstmals in Nordirland eingesetzt, wo die Briten sie Knieschläger nannten: Die Kugeln sollten vom Boden abprallen und die Beine der Demonstranten treffen.

15

Das Gummigeschoss, das Abir tötete, flog fünfzehn Meter durch die Luft, bevor es sie am Hinterkopf traf und ihre Schädelknochen zertrümmerte wie die eines winzigen Ortolans.

Sie hatte sich gerade etwas Süßes gekauft.

16

Für zwei Schekel hätte Abir ein Armband mit der Aufschrift Er liebt mich, er liebt mich nicht haben können. Stattdessen kaufte sie zwei iswarit mlabase: rosa, orange, gelbe und hellblaue Zuckerperlen, aufgefädelt auf einem Gummiband, das man sich übers Handgelenk streifen konnte.

Sie schob das Geld über den Tresen, und die Ladenbesitzerin angelte zwei Armbänder aus dem hohen Glas.

Auf dem Rückweg zur Schule schenkte Abir das zweite Armband ihrer Schwester Areen.

17

Seit Abirs Tod geht Bassam fast jeden Tag eine Stunde vor Sonnenaufgang in die Moschee, zum freiwilligen Gebet vor dem Morgengrauen.

Der Achtundvierzigjährige geht mit einem leichten Hinken durch die Dunkelheit, in der hohlen Hand eine Zigarette. Er ist schlank, drahtig, gut in Form. Das Hinken markiert ihn: Andernfalls würde man ihn vielleicht kaum wahrnehmen. Doch darunter lauert eine erstaunliche Beweglichkeit, als könnte er seine Gehbehinderung nach Belieben abstreifen und hinter sich lassen.

Er wirft die Kippe auf den Gehweg, tritt sie mit dem Turnschuh aus, streicht das weiße Hemd glatt, geht einsam die Stufen hinauf. Vor dem Eingang zieht er die Schuhe aus, betritt mit dem rechten Fuß die Moschee, kniet am Ende der Halle nieder und verneigt sich vor seinem grenzenlosen Gott.

Er betet für seine Frau, seine fünf Kinder, für die verstorbene Abir. Allah, schütze uns vor offenen und verborgenen Abscheulichkeiten. Gebetsperle für Gebetsperle gleitet durch seine Finger.

Wenn das Morgenrot durch die Fenster dringt, säumt ein schmaler Schattenstreifen die steinernen Stufen. Bassam fegt den Boden mit einem Reisigbesen und rollt die Gebetsteppiche aus, die entlang der Ostwand stehen.

Von draußen der Geruch nach Holzkohle und Hanf. Das Brummen des erwachenden Verkehrs, der Trost des Muezzins, das Gebell streunender Hunde.

Bassam schreitet gewissenhaft die Wand ab, legt den gesamten Fußboden mit Teppichen aus. Dann folgen die Takken und Gebetsketten für das erste Gebet des Tages.

18

Als Ort im Nirgendwo wirkt Anata wie ein sonderbarer urbaner Archipel – eine palästinensische Stadt im Westjordanland, unter israelischer Besatzung, im Bezirk Jerusalem. Sie ist fast vollständig von Sperranlagen umgeben.

In den oberen Hanglagen finden sich ein paar schöne Häuser – weißer Stein, Marmorsäulen, hohe Bögen, große Fenster –, doch darunter macht sich schnell Chaos breit.

Der Hang ist steil und unwegsam. Satellitenschüsseln sprießen aus den Dächern. Tauben kreischen in Käfigen. Wäsche flattert auf von Haus zu Haus gespannten Leinen. Jungen mit nacktem Oberkörper weichen mit ihren Fahrrädern Schlaglöchern aus. Sie fahren bergab, vorbei an Müllbergen und überquellenden Containern.

Auf den ampellosen Straßen herrscht dichter Verkehr. Überall Leuchtreklame. Reifendienste, Bäckereien, Handyreparaturbuden. Männer täuschen im Schatten Lässigkeit vor. Über ihnen Wolken aus Zigarettenrauch. Frauen eilen in Hidschabs vorbei. Vor den Fleischereien hängen Lammkadaver trostlos an Haken. Popmusik plärrt aus den Lautsprechern. Überall liegt Schutt.

Die Stadt stößt an das Flüchtlingslager Shuafat. Shuafat wächst in die Höhe, Wohnhaus für Wohnhaus wird aufgestockt. Es bleibt nur der Weg in den Himmel.

Es ist einfach, in das Lager zu gelangen – man muss nur das eiserne Drehkreuz am Checkpoint passieren und die Straße hinuntergehen –, doch herauszukommen ist schwieriger. Wer nach Jerusalem will, benötigt einen Ausweis oder einen Passierschein. Um in andere Teile des Westjordanlands zu fahren, bleibt einem – wenn man wie Bassam ein grünes Nummernschild hat – nur eine von Schlaglöchern übersäte Straße.

19

Der Rand einer kollabierenden Lunge.

20

Stellen Sie es sich so vor: Sie sitzen in Anata auf der Rückbank eines Taxis, in den Armen ein kleines Mädchen. Das Mädchen wurde gerade von einem Gummigeschoss am Hinterkopf getroffen. Sie sind unterwegs ins Krankenhaus.

Das Taxi steht im Stau. Die Straße durch den Checkpoint nach Jerusalem ist gesperrt. Wenn Sie versuchen, die Grenze unerlaubt zu überqueren, werden Sie bestenfalls festgenommen. Schlimmstenfalls werden Sie und der Fahrer, trotz des schwerverletzten Kindes auf dem Rücksitz, erschossen.

Sie senken den Blick. Das Kind atmet noch. Der Taxifahrer hupt. Ebenso der Wagen hinter Ihnen. Das Fahrzeug vor Ihnen stimmt mit ein. Das Hupkonzert wird lauter und lauter. Sie sehen aus dem Fenster. Das Taxi schiebt sich an einem Müllhaufen vorbei. Plastiktüten flattern im Wind. Sie kommen nicht voran. Die Hitze ist unerträglich. Schweiß tropft von Ihrem Kinn auf den Kunstledersitz.

Der Fahrer hupt wieder. Wolkenfetzen ziehen über den blauen Himmel. Als das Taxi anfährt, versinkt ein Vorderrad in einem Schlagloch. Die Wolken, denken Sie, sind hier das Schnellste. Dann bewegt sich etwas: Zwei Hubschrauber schneiden sich durch das Blau.

Etwas in Ihnen will aussteigen, das angeschossene Kind zu Fuß ins Krankenhaus bringen, aber Sie müssen seinen Kopf halten und versuchen, Ruhe zu bewahren, während die Welt um Sie herum stillsteht.

21

Der biblische Jeremia – auch bekannt als der klagende Prophet und von Gott dazu bestimmt, vor drohendem Unheil zu warnen – soll im alten Anata geboren worden sein. Sein Bildnis ist an der Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom zu sehen, gemalt von Michelangelo im frühen 16. Jahrhundert.

Das Gemälde, das sich schräg über dem Altar im vorderen Teil der Kapelle befindet, zeigt den bärtigen Jeremia sitzend in lachsfarbenen Gewändern, die Hand vor dem Mund, den Blick nachdenklich zu Boden gerichtet.

22

Bis heute geht Bassam das Zuckerarmband seiner Tochter nicht aus dem Sinn. Im Krankenhaus traf er auf den Taxifahrer und die Ladenbesitzerin, die mit Abir auf dem Rücksitz gesessen hatte. Man hatte Abir den verlorenen Schuh wieder angezogen, doch das Armband war verschwunden: Es war nicht in ihrer Hand, nicht an ihrem Handgelenk, nicht in den Jackentaschen.

Im Operationssaal küsste Bassam sie auf die Stirn. Abir atmete noch. Die Monitore piepten leise. Es war ein Krankenhaus, das selber ein Krankenhaus brauchte. Die Ärzte taten alles, was in ihrer Macht stand, aber es fehlte an den nötigen Geräten.

Man entschied, sie ins Hadassah in Jerusalem zu verlegen. Eine zwanzigminütige Fahrt, auf die andere Seite der Mauer.

Zwei Stunden später – der Krankenwagen stand kurz vor dem Checkpoint immer noch im Stau – griff Bassam in Abirs Schultasche und fand unter ihrem Mathebuch die Süßigkeit.

23

Der Schuss kam aus einem fahrenden Jeep. Aus der Metallklappe in der Hecktür, zehn mal zehn Zentimeter groß.

24

Der Kommandant der Grenzpolizei schrieb in seinem Bericht, der Jeep sei von einem nahegelegenen Friedhof mit Steinen beworfen worden. Seine Leute, fuhr er fort, seien in Lebensgefahr gewesen.

25

Abir war zehn Jahre alt.

26

Sie kam mit Areen und zwei Freundinnen aus dem kleinen Lebensmittelladen. Es war kurz nach neun. Die Wintersonne schien. Die Mädchen mussten zurück zur Schule. Gleich würden sie einen Mathetest schreiben, das große Einmaleins.

Zwölf mal acht, sechsundneunzig. Zwölf mal neun, einhundertacht.

Das Sonnenlicht schnitt die Straße entzwei. Die Mädchen passierten die Bushaltestelle, wichen der Straßensperre aus. Ihre Schatten glitten über die Betonpoller.

Zwölf mal zwölf, einhundertvierundvierzig.

27

28

Als der gepanzerte Jeep um die Ecke bog, rannten die Mädchen los.

29

Die Kugel war mit einem Spezialgummi überzogen, doch der Kern war aus Metall. Als sie Abirs Kopf traf, verformte sich das Gummi, dann federte das Geschoss, ohne sichtbare Schäden, in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

30

Die Soldaten nannten die Gummigeschosse Lazaruspillen: Wenn möglich, konnte man sie aufsammeln und wiederverwenden.

31

Im Jahr nach der Jahrtausendwende baute ein Künstler aus Bait Dschala winzige Futterröhren aus ausgehöhlten Gummigeschossen: Er versah sie mit kleinen Löchern, füllte sie mit Vogelfutter und befestigte sie mit dünnem Draht in den Bäumen.

Die hängenden Geschosse lockten zahlreiche kleine Vögel an: Schafstelzen, Sperlinge, Rotkehlpieper.

32

Der Grenzpolizist war achtzehn.

33

Während der Militäroperationen im Libanon in den 1980ern mussten die israelischen Soldaten mit ihren Truppenkameraden für offizielle Fotos posieren, bevor sie zu ihren Einsätzen aufbrachen.

Als sie vor die Kamera traten, bat sie der Fotograf, sich so aufzustellen, dass zwischen ihnen und ihren Nachbarn eine Handbreit Platz blieb.

Das war die einzige Vorgabe. Die Soldaten durften lächeln, finstere Gesichter ziehen, in die Kamera sehen oder den Blick abwenden. Alles war erlaubt, solange sie genug Abstand hielten, dass ihre Schultern sich nicht berührten.

Manche Soldaten hielten es für ein Ritual, andere für eine Weisung von oben, wieder andere sahen darin ein Zeichen von Anstand und Demut.

Die Soldaten gruppierten sich neben Panzern, in Zelten, vor Etagenbetten, in Waffenkammern, Musikpavillons, Kantinen, vor Wellblechstapeln und den grünen Hügeln des Libanons. Mützen wurden zurechtgerückt: olivbraun, pechschwarz, taubengrau.

Die Fotos waren ein Schauspiel der Gesichtsausdrücke: Furcht, Wagemut, Anspannung, Unbehagen, Überheblichkeit. Auch Verwirrung, auf die Aufforderung hin, noch etwas weiter auseinanderzurücken. Nach dem Fototermin zogen die Soldaten in den Krieg.

Manchmal offenbarte sich der Grund nach ein paar Tagen, manchmal erst nach Wochen oder Monaten: Die Lücken zwischen den Soldaten waren nötig, um die Gesichter der Toten mit einem roten Kreis zu markieren, wenn das Foto in der Zeitung abgedruckt oder im Fernsehen gezeigt wurde.

34

Um einen Vogel zu markieren, muss der Metallring mit einer Ringzange vorsichtig um das Bein geschlossen werden.

35

Zeitungsredakteure und Fernsehproduzenten legten der Optik halber Wert auf klar getrennte Linien. Oft wies ein einziges Foto fünf oder sechs Kreise auf.

36

Um einen Vogel aus einem hängenden Japannetz zu befreien, muss der Ornithologe zuerst die Zehen von dem dünnen Nylonfaden lösen und dann – je nachdem, wie lange der Vogel schon festhängt und wie sehr er sich gewehrt hat – in aller Ruhe die Füße, die Knie, den Rumpf, die Achseln und zum Schluss den Kopf losbinden. Gleichzeitig muss er die Flügel gegen das pochende Herz drücken und aufpassen, dass ihm der Vogel mit dem Schnabel oder den Krallen nicht die Finger aufreißt.

Der Vorgang ähnelt dem Entwirren einer feingliedrigen Kette.

Oft schiebt der Ornithologe dem Vogel einen Kuli oder einen Bleistift zwischen die Krallen, damit er sich daran festhalten kann. Bei größeren Vögeln verwendet man Äste oder abgesägte Besenstiele.

Bisweilen fliegt ein Vogel nach der Beringung samt Besenstiel davon.

37

Ein Vorläufer des Gummigeschosses wurde schon in den 1880ern in Singapur eingesetzt, als die Polizei mit Besenstielsplittern auf Aufständische schoss.

38

Viele der israelischen Soldaten im Libanon wurden durch französische Milane getötet, Panzerabwehrraketen, die von der Regierung Mitterrand zu Tausenden nach Syrien geliefert und dann auf dem Schwarzmarkt an die Hisbollah weiterverkauft wurden.

Andere starben durch sowjetische T-55-Panzer, die als schwerfällig und unbrauchbar galten, bis ein General auf die Idee kam, sie im Boden einzugraben und wie ein MG-Nest einzusetzen. Nur der Kanonenlauf schaute heraus: Die Guerillakämpfer nannten sie Sargpanzer. Aufgrund der Tarnung waren sie aus der Luft schwer aufzuspüren, doch einmal entdeckt, ließen sie sich problemlos sprengen.

Sechs Soldaten starben bei einer die «Nacht der Drachen» genannten Operation, als zwei Guerillas mit selbstgebauten, von Rasenmähermotoren angetriebenen Flugdrachen über die libanesische Grenze flogen und ein israelisches Heerlager angriffen. Sie waren mit russischen Kalaschnikows und Handgranaten aus tschechischer Herstellung bewaffnet, aus einer Fabrik unweit des ehemaligen deutschen Konzentrationslagers Theresienstadt.

39

Bis heute, heißt es, machen Zugvögel um die Felder von Theresienstadt einen Bogen.

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In der Nacht der Drachen bemerkte der israelische Wachposten Irina Cantor am dunklen Himmel ein schwaches Leuchten. Cantor, die zwei Jahre zuvor aus Australien eingewandert war, hatte gerade erst den Militärdienst angetreten.

Sie hielt es für eine ferne Lichterscheinung, eine optische Täuschung vor den ausgefransten Wolken.

Vor dem Militärgericht sagte Cantor später aus, sie sei, als die ersten Schüsse fielen, so durcheinander gewesen, dass sie beim Anblick des Flugdrachens geglaubt habe, ein riesiger prähistorischer Vogel stoße aus der Finsternis herab.

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Man stelle sich vor, ein Schwan wird in die Turbine eines Kampfflugzeugs gesogen. Mayday, Mayday, Mayday. Das harsche Knacken des langen Flügels. Die wirbelnden Rotoren. Mayday, Mayday, Mayday. Der Motor stottert, Federn stieben, Bänder reißen, Knochen werden zermalmt. Die Turbine spuckt Schnabelsplitter aus. Mayday, Mayday, Mayday.

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Man stelle sich weiter vor, dass der Pilot samt Sitz aus dem Flugzeug katapultiert wird, mit einer Kraft, die der eines Gummigeschosses ähnelt.

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Der Ausdruck Mayday, abgeleitet vom französischen Venez m’aider – Kommt mir helfen –, wurde 1923 in England geprägt. Der Notruf erfolgt immer dreimal, Mayday, Mayday, Mayday. Die Wiederholung ist notwendig, damit es, zum Beispiel bei hohem Lärmpegel, nicht zu Missverständnissen kommt.

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Die M16, mit der auf Abir geschossen wurde, stammte aus einer Waffenfabrik bei Samaria in North Carolina. Es gibt eine Menge Samarias auf der Welt: acht in Kolumbien, zwei in Mexiko, je eines in Panama, Nicaragua, Griechenland, Papua-Neuguinea, auf den Salomonen, in Venezuela, Australien und Angola.

Auch die Hauptstadt des alten Königreichs Israel hieß Samaria.

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Um Gummigeschosse abzufeuern, wird ein Metallrohr auf die Mündungsbremse eines M16-Ordonnanzgewehrs gesetzt. Das Rohr fasst bis zu acht Geschosse. Als Treibladung werden Platzpatronen verwendet. Innen ist das Rohr mit Nuten versehen, die dazu dienen, die Flugbahn des Geschosses zu stabilisieren: Sie verlaufen helixförmig wie die Streifen einer Zuckerstange, sodass die Kugel in einer vollendeten Spirale aus dem Rohr schnellt.

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Bei einem Fliegernotruf müssen alle Nichtbeteiligten Silence Mayday oder Funkstille wahren, bis die Situation geklärt ist. Um die Funkstille aufzuheben, gibt der Pilot die Meldung Silence fini aus.

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François Mitterrand wurde in seinem Geburtsort Jarnac beerdigt, am Ufer des Flusses, an dem er als Kind gespielt hatte.

Kurz bevor er starb, schlug er die Augen auf und sagte zu seinem Arzt: Ich bin innerlich zerfressen.

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Abir trug ihre Schuluniform – weiße Bluse, dunkelblaue Strickjacke, blauer Rock über knöchellanger Hose, weiße Strümpfe, dunkelblaue, leicht verkratzte Lackschuhe. In ihrer braunen Lederschultasche steckten neben dem Zuckerarmband zwei Lehrbücher und drei Kinderbücher, alle auf Arabisch, obwohl Bassam darüber nachgedacht hatte, ihr ein paar Wörter Hebräisch beizubringen, das er als Jugendlicher, während seiner siebenjährigen Haft, im Gefängnis in Hebron gelernt hatte.

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Seine Mithäftlinge mochten seine stille Art. Es war etwas Geheimnisvolles an dem Siebzehnjährigen mit der Gehbehinderung, an seiner dunklen Haut, seiner drahtigen Kraft, seinem Schweigen. Er trat immer als Erster vor, wenn die Wärter in die Kantine kamen. Das Hinken verschaffte ihm einen Vorteil. Die ersten ein, zwei Stockhiebe kamen fast zögerlich. Oft war er der einzige Häftling, der stehen blieb.

Bassam verbrachte viele Wochen auf der Krankenstation. Die Ärzte und Pfleger waren schlimmer als die Wärter. Er roch förmlich ihren Frust. Sie stießen und schlugen ihn, rasierten ihm den Bart ab, verweigerten ihm Medikamente, stellten sein Wasser außer Griffweite.

Die drusischen Pfleger waren besonders grausam: Sie kannten die Einstellung der Muslime zum nackten Körper, ihr Schamgefühl. Sie nahmen ihm die Kleidung und das Bettzeug weg, fesselten ihm die Hände auf dem Rücken, damit er sich nicht bedecken konnte.

Er lag still da und starrte auf die perforierten Deckenplatten. Verband die winzigen Punkte im Geiste zu Mustern. Legte Patiencen. Sein Schweigen irritierte die Pfleger. Sie erwarteten Geschrei, Vorwürfe, Beschimpfungen. Je länger er schwieg, desto brutaler wurden die Prügel. Er sah das besorgte Zucken in den Gesichtern der schwächeren Pfleger. Am Ende, dachte er, würde er sich ihnen ins Gehirn wanzen.

Als Bassam schließlich redete, versetzte seine Stimme das gesamte Stationspersonal in Unruhe: Es lag etwas Gelassenes darin. Er erlernte die Kunst, rätselhaft zu lächeln und dann, wie auf Knopfdruck, ins Leere zu starren.

Er lauschte den Ärzten auf dem Gang: Immer öfter verstand er, was sie sagten. Er beschloss, trotz aller Demütigungen, eines Tages fließend Hebräisch zu sprechen.

Es sprach sich herum, dass man ihn zum Anführer der Fatah-Zelle im Gefängnis gemacht hatte. Er ließ seinen Bart wachsen. Die Schläge kamen häufiger.

An seinem neunzehnten Geburtstag lag er wieder einmal auf der Krankenstation, mit zwei Zähnen weniger, mehreren gebrochenen Knochen und einem leergelaufenen Infusionsschlauch in jedem Arm. Über dem Bett hingen Kameras: Er drückte sich an die Wand, damit niemand sah, wie er sich in den Schlaf weinte.

Die Tage wurden hart wie altes Brot: Er würgte sie hinunter.

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Nach einem Jahr Gefängnis erstellte sich Bassam einen Stundenplan. Englisch. Hebräisch. Arabische Geschichte. Israelisches Recht. Der Untergang des Osmanischen Reiches. Die Geschichte des Zionismus. Vorislamische Lyrik. Die Geographie des Nahen Ostens. Das Leben in Palästina unter britischer Mandatsherrschaft.

Kenne deinen Feind, kenne dich selbst.

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Im Be’er-Scheva-Gefängnis schickten die verheirateten Häftlinge mit selbstgebauten Pappblasrohren Liebesgrüße an ihre Frauen, die vor dem Gefängnistor warteten.

Die Blasrohre bestanden aus ineinandergesteckten, zusammengeklebten Klopapierrollen und waren bis zu anderthalb Meter lang. Die Häftlinge schrieben ihre Nachrichten auf Papierschnipsel, falteten sie und schoben das Rohr so weit wie möglich aus dem Zellenfenster. Dann holten sie tief Luft und bliesen.

Die Männer lernten, die Pappe sanft zu biegen, sodass sie um die Ecke schießen und günstige Winde einfangen konnten. Manchmal mussten zwei bis drei Männer das Papprohr stützen, damit es nicht abknickte oder durchhing.

Die meisten Briefe landeten auf dem Gefängnishof oder blieben im Stacheldraht hängen, aber ab und zu erwischte ein Brief einen kräftigen Windstoß und flog bis zum Parkplatz mit den Frauen. Sag Raja, sie soll stark sein. Der Tag, an dem wir uns kennengelernt haben, war der schönste meines Lebens. Gib Ahmed das Mekka-Puzzle. Ich kann’s kaum erwarten, hier rauszukommen, in diesem Loch verfault mein Herz.

Bassam beobachtete die Frauen aus seinem Zellenfenster. Wenn ein Brief es über die Mauer schaffte, eilten sie herbei, falteten ihn auseinander und lasen ihn laut vor. Manchmal tanzten sie.

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In der Gefängnisbibliothek, die zur Open University gehörte, fand Bassam eine hebräische Ausgabe der Mu’allaqat, eine Sammlung arabischer Gedichte aus dem 6. Jahrhundert, übersetzt von einer israelischen Literaturgruppe in einem Kibbuz kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg. Damit hatte er nicht gerechnet. Auf Arabisch kannte er die Gedichte auswendig, und so brachte er sich, indem er die Wörter verglich, Hebräisch bei. Er lag auf der Pritsche und las sich die Gedichte laut vor, dann schrieb er sie auf Etiketten, die er von Wasserflaschen abgelöst hatte, und ging damit zu einem der Wärter, Hertzl Shaul, einem Mathematikstudenten, der nebenbei im Gefängnis jobbte.

Noch herrschte ein gewisses Misstrauen zwischen Häftling und Wärter, aber seit ein paar Monaten betrachteten sie einander als Bekannte: Hertzl hatte Bassam eines Nachmittags in der Kantine vor Prügel bewahrt.

Hertzl stopfte die Etiketten in die Brusttasche und nahm sie mit nach Hause. Er berührte die Mesusa an seiner Wohnungstür: verborgene Gebete.

Am Abend, als seine Frau Sarah schon im Bett war, zog Hertzl die Etiketten aus dem Hemd und begann zu lesen.

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Im Krankenhaus, in dem Abir 2007 im Sterben lag, fiel Hertzl eine Zeile aus jener Gefängniszeit ein: Mein einziger Trost sind Tränen, die ich vergieße; doch kann auch bei wüsten Trümmern wohl etwas helfen noch? Er hatte auf dem Flur die Kippa abgenommen und stand mit gesenktem Kopf an Abirs Bett, sah, wie sie nach Luft rang. Die Beatmungsmaske war von innen beschlagen. Ihr Kopf war mit Verbänden umwickelt.

Bassam stellte sich neben ihn, ohne dass ihre Schultern sich berührten. Keiner der beiden sagte etwas. Viele Jahre waren seit Bassams Entlassung aus dem Gefängnis vergangen.

Zwei Jahre zuvor hatte Bassam die Combatants for Peace mitbegründet. Hertzl war bei einem der Treffen gewesen. Er hatte gestaunt, als Bassam sagte, er habe den Frieden im Gefängnis kennengelernt, von seinem Ringen und seiner Verwirrung erzählte und davon, dass – Salām, Schalom – auch in Zeiten des Nicht-Friedens immer Frieden in ihm sei.

Jetzt starb Bassams Tochter vor ihren Augen. Die roten Lämpchen leuchteten, die Monitore piepten.

Hertzl legte seinem Freund die Hand auf die Schulter, nickte den Leuten zu, die sich um Abirs Bett drängten, darunter Rami, Nurit und ihr ältester Sohn Elik.

Beim Verlassen des Krankenhauses setzte Hertzl die Kippa wieder auf und machte sich auf den Weg zur Hebräischen Universität, um seinen Erstsemesterkurs in Mathematik zu unterrichten.

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Später schrieb Hertzl: Teilt man den Tod durch das Leben, erhält man einen Kreis.

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Nach der Beringung eines Vogels wird die Seriennummer in eine globale Datenbank eingegeben. Anhand der Nummer lässt sich zurückverfolgen, in welchem Land der Vogel markiert wurde: Norwegen, Polen, Island, Ägypten, Deutschland, Jordanien, Tschad, Jemen, Slowakei. Es ist, als hätte man ihm eine Staatsangehörigkeit zugewiesen.

Israelische und palästinensische Ornithologen geraten gelegentlich in Wettstreit, wenn ein seltener Vogel, ein Goldkuckuck zum Beispiel oder ein windzerzauster Triel, direkt über der Nahtzone gesichtet wird.

Manchmal werden Pfeifen eingesetzt, um einen Vogel in ein Japannetz zu locken und zu markieren.

Für den Ornithologen ist es jedes Mal eine Enttäuschung, wenn der Vogel bereits anderswo beringt wurde.

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Wenn Tarek unterwegs war, um Vögel zu katalogisieren, spürte er die Ortolanringe an seinem Hals.

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Der Gesang von Singvögeln besteht aus hochkomplexen Lauten: eine Mischung aus Revierverteidigung und Lockruf.

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Das erste Treffen der Combatants for Peace fand im Restaurant des Everest Hotels unter den Kiefern in Bait Dschala statt, in Zone B, auf dem Hügel gegenüber der Vogelberingungsstation.

Die beiden Parteien gaben sich nervös die Hände und begrüßten einander auf Englisch.

Im Raum standen zwei große Sofas und ein langer Tisch mit roten Stühlen. Die Sofas blieben leer. Die Gruppen saßen einander gegenüber am Tisch. Alle Wörter, die sie füreinander zur Verfügung hatten, waren belastet: Muslim, Araber, Christ, Jude, Soldat, Terrorist, Kämpfer, Märtyrer, Besatzer.

Sie waren zu elft: vier Palästinenser, sieben Israelis. Die Israelis nahmen die Akkus aus ihren Telefonen, legten sie auf den Tisch. Das sei sicherer so, sagten sie. Man wisse nie, wer alles mithöre. Die Palästinenser warfen sich Blicke zu und taten dasselbe.

Anfangs redete man über das Wetter. Dann über die Fahrt durch die Checkpoints. Über die Straßen, die man genommen hatte, die Abzweigungen, Kreisel, die roten Schilder. Sie hatten verschiedene Namen für die Orte, an denen sie vorbeigefahren waren, sprachen die Straßen unterschiedlich aus. Die Israelis zeigten sich erstaunt über die einfache Anreise: Sie seien nur sieben Kilometer gefahren. Sie könnten unbesorgt sein, erwiderten die Palästinenser, die Rückfahrt werde genauso problemlos verlaufen. Es wurde verlegen gelacht.

Man kam wieder aufs Wetter: die Hitze, die hohe Luftfeuchtigkeit, den ungewöhnlich klaren Himmel.

Die Palästinenser tranken Kaffee, die Israelis Mineralwasser. Alle Palästinenser rauchten. Von den Israelis nur zwei. Oliven wurden gebracht. Teller mit Käse. Gefüllte Weinblätter. Die Spezialität des Restaurants war Taube: Niemand bestellte eine.

Eine Stunde verging. Die Israelis fingen an zu erzählen. Einer war ein ehemaliger Pilot. Ein anderer Ex-Fallschirmjäger. Einer war den Großteil seiner Militärzeit Kommandant am Checkpoint Kalandia gewesen. Ja, sie hätten in der Armee gedient, aber jetzt würden sie ihre Stimmen erheben: gegen die Besatzung, die Demütigungen, gegen Folter und Mord. Bassam war fassungslos: Noch nie hatte er aus dem Mund eines Israelis solche Wörter gehört. Er war sich sicher, dass sie etwas im Schilde führten: Spionage, Überwachung, eine Undercover-Operation. Am meisten verwirrte ihn, dass einer, Jehuda, wie ein Siedler aussah. Untersetzte Figur, Brille, langer Bart. In seinem Haar war der Abdruck einer Kippa zu sehen. Jehuda war Offizier in Hebron gewesen. Heute, sagte er, denke er anders, über den Wehrdienst, die Militäroperationen, das ganze Gerede von einer moralischen Armee. Bassam lehnte sich zurück und machte ein finsteres Gesicht. Warum kamen sie mit so plumpen Tricks? Was sollte diese Farce? Aber vielleicht, dachte er, war auch das nur eine List, ein raffiniertes Ablenkungsmanöver: Die Israelis waren schließlich bekannt für ihre faszinierenden Schachzüge, ihr schamloses Theaterspiel.

Die Sonne ging über den steilen Hügeln unter. Einer der Israelis wollte bezahlen, doch Bassam fasste den Mann am Arm und übernahm die Rechnung.

– Palästinensische Gastfreundschaft, sagte er.

– Nein, nein, bitte, lassen Sie mich.

– Hier ist mein Zuhause.

Der Israeli wurde blass und nickte. Die beiden Gruppen verabschiedeten sich höflich. Für Bassam stand fest, dass sie sich nie wiedersehen würden.

Am Abend gab er ihre Namen in die Suchmaschine ein. Wishnitzer. Alon. Shaul. Ein paar der Wörter, die sie benutzt hatten, tauchten in verschiedenen Blogs auf: unmenschlich, Folter, Bedauern, Besatzung. Er schloss den Browser und öffnete ihn wieder, nur zu Sicherheit: Vielleicht hatte jemand seinen Rechner manipuliert. Denen war alles zuzutrauen. Er wiederholte die Suche. Die Wörter waren noch da. Er mailte Wishnitzer, dass er zu einem zweiten Treffen bereit sei.

Ein paar Wochen später aßen sie im Everest Hotel zu Abend. Zwei Israelis bestellten Taube. Ein Trinkspruch wurde ausgebracht. Bassam erhob das Wasserglas.

Allmählich dämmerte ihm, was sie miteinander verband: Beide Gruppen hatten früher Menschen töten wollen, die sie nicht kannten.

Als er es aussprach, gab es Zustimmung: Langsames Nicken auf beiden Seiten, und die Anspannung löste sich. Die Erzählungen wurden persönlicher. Meine Frau Salwa, meine Tochter Abir, mein Sohn Muhammad. Dann, gegenüber: Meine Tochter Rachel, mein Großvater Chaim, mein Onkel Josef.

Der Gedanke war so simpel, dass Bassam sich wunderte, warum er erst jetzt darauf kam: Auch die anderen hatten Familien, Geschichten, Schatten.

Nach zwei Stunden reichten sie sich die Hände und versprachen, sich nach Möglichkeit bald wieder zu treffen. Sanftes Abendlicht schimmerte durch die hohen Kiefern. Ein paar Israelis waren noch immer beunruhigt wegen der Heimfahrt: Was würde geschehen, wenn sie sich aus Versehen in Zone A verirrten?

– Keine Sorge, sagte Bassam, ich zeige Ihnen den Weg, fahren Sie einfach hinter mir her.

Die Israelis lachten nervös.

– Das war ernst gemeint. Falls es Probleme gibt, kümmere ich mich darum. Wenn ich dreimal kurz bremse, biege ich rechts ab, und Sie fahren nach links.

Sie saßen noch eine halbe Stunde bei Kaffee zusammen und unterhielten sich darüber, wie sie ihre Organisation nennen sollten, falls es tatsächlich zur Gründung kam. Das war nicht einfach. Der Name musste eingängig sein, provokant und gleichzeitig neutral. Bedeutungsvoll, aber nicht beleidigend. Combatants for Peace – Kämpfer für den Frieden. Das könnte funktionieren. Das hatte etwas Widersprüchliches.

Einen Kampf führen. Um Verständnis ringen.

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Im Restaurant hingen Fotos von Fregattvögeln über dem Meer.

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Zone A: unter palästinensischer Selbstverwaltung, offen für Palästinenser, Zutritt für israelische Staatsbürger nach israelischem Recht verboten. Zone B: unter palästinensischer Zivilverwaltung und israelisch-palästinensischer Sicherheitsverwaltung, offen für Israelis und Palästinenser. Zone C: ländlich geprägtes Gebiet mit palästinensischen Dörfern, Ort aller israelischen Siedlungen im Westjordanland, unter israelischer Verwaltung.

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Unter den Israelis im Everest Hotel war Ramis siebenundzwanzigjähriger Sohn Elik, Ex-Soldat in einer Eliteaufklärungseinheit.

Beim zweiten Treffen erzählte Elik von seiner Schwester Smadar, die bei einem Selbstmordanschlag in Jerusalem getötet worden war, doch richtig nahe ging Bassam die Geschichte erst Monate später.

Bassam war erst seit ein paar Jahren wieder in Freiheit. Abir lebte noch. Rami und er hatten sich noch nicht kennengelernt. Rami war bereits Mitglied im Parents Circle. Bassam noch nicht.

Das ganze Durcheinander sollte noch kommen.

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(Zone A besteht aus versprengten, eingekesselten Gebieten mit den großen palästinensischen Städten, gesichert durch Dutzende israelische Checkpoints, die von palästinensischen Sicherheitskräften bewacht werden, der israelischen Armee jedoch jederzeit offenstehen.)

(Zone B, unter palästinensischer Zivilverwaltung, unter geteilter Sicherheitsverwaltung, sodass die palästinensische Armee nur mit israelischer Erlaubnis operieren kann.)

(Zone C, das größte Gebiet im Westjordanland mit den meisten natürlichen Ressourcen, vollständig unter israelischer Kontrolle, wobei sich Israel ausschließlich um die Sicherheit und Verwaltung der über einhundert illegalen Siedlungen kümmert, während die Zuständigkeit für die Bildung und die medizinische Versorgung der Palästinenser bei der Palästinensischen Autonomiebehörde liegt. Auf neunundneunzig Prozent der Fläche gelten für die palästinensischen Bewohner massive Einschränkungen im Planungs- und Baurecht, sodass es nahezu unmöglich ist, legal Häuser oder Wasserleitungen zu bauen.)

(Dazu die Zonen H1 und H2 in der Stadt Hebron, zu achtzig Prozent von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet und zu zwanzig Prozent von Israel, inklusive der sogenannten sterilen Straßen, die nur für Israelis und Personen mit gültigem Reisepass zugänglich sind.)

(Dazu Zone E1, ein zwölf Quadratkilometer großes umstrittenes/besetztes Hügelareal, bewohnt von Beduinen, gelegen zwischen dem annektierten Ostjerusalem und der israelischen Siedlung Ma’ale Adumim in Zone C.)

(Dazu die Nahtzone, das Gebiet zwischen der Grünen Linie und der Sperranlage, auch bekannt als die geschlossene Zone, auch bekannt als Niemandsland, vollständig in Zone C, mehrheitlich bewohnt von israelischen Siedlern, für Palästinenser nur mit Passierschein zugänglich.)

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Es ist nicht genau bekannt, ob beziehungsweise wie verschiedene Vogelarten miteinander kommunizieren.

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Rami mag es, in den Tunnel zu fahren, wenn es draußen noch dunkel ist. Ein Gefühl von Geborgenheit. Bei Tag ist der Tunnel wie ein schwarzes Loch. Zu dieser frühen Morgenstunde ist es umgekehrt: Er fährt hinein ins fluoreszierende Licht.

Der Motor schnurrt. Er schaltet hoch in den fünften Gang, beugt sich weiter vor, seine Knie berühren den Tank. Aus dem Kopfhörer im Helm Musik: Die Hollies. Die Beach Boys. Die Yardbirds. Die Kinks.

Es ist kalt an diesem Morgen im späten Oktober. Er schließt die Belüftungsreißverschlüsse der Bikerhose, spannt fröstelnd die Finger in den Handschuhen an. Ein kurzer Blick in beide Rückspiegel, dann wechselt er auf die langsame Spur, hält die Drehzahl konstant.

Der einen Kilometer lange Tunnel wurde unter der Leitung von französischen Ingenieuren aus dem Berg gesprengt. Die Arbeiten wurden von Tunnelbauern aus New York durchgeführt.

Der Tunnel führt unter der Stadt Bait Dschala hindurch, auf einem Abschnitt der biblischen Route der Patriarchen.

Rami fährt aus dem Tunnel in den dunklen Morgen hinaus und passiert kurz darauf sorglos das große rote Schild mit dem Warnhinweis auf Arabisch, Hebräisch und Englisch.

THE ENTRANCE FOR ISRAELI

CITZENS IS FORBIDDEN

Er geht vom Gas. Der Motor stottert verächtlich. Er wird heute Morgen den Umweg über die Nebenstraße nehmen, vorbei an den gelben Sperren. Keine Anspannung, keine Angst. Er ist daran gewöhnt: Er fährt mindestens zweimal in der Woche nach Bait Dschala.

Bis jetzt ist er schnell unterwegs gewesen, aber er liebt die Momente der Verlangsamung, in denen alles nahezu stillsteht und er den Raum um sich herum spüren kann: ein Foto, auf dem nur er sich bewegt.

Er ist immer wieder erstaunt, was eine Grenze ausmachen kann: Diese willkürliche Linie, hier gezogen, dort gezogen, woanders neu gezogen.

Keine Soldaten, keine Grenzposten, niemand zu sehen.

Die Straße führt steil bergauf. Er kennt die Gegend gut: den Stacheldrahtzaun, die rostenden Autos, die staubigen Windschutzscheiben, die niedrigen Häuser, die hängenden Fuchsientöpfe, die Gärten, die Windspiele aus Tränengasdosen, die schwarzen Wassertanks auf den Dächern.

Früher war der Weg hierher ganz einfach, auch in den schlechten Zeiten. Keine Umgehungsstraßen, keine Passierscheine, keine Mauern, keine verbotenen Routen, keine unerwarteten Straßensperren. Man kam und ging. Oder ließ es bleiben. Das ist lange her. Heute ist die Gegend ein Dschungel aus Asphalt, Beton, Lichtmasten. Mauern. Absperrungen. Schutzwällen. Schranken. Blitzleuchten. Bewegungsmeldern. Elektronischen Schließanlagen.

Er wundert sich nicht über die drei dunkelhaarigen palästinensischen Jugendlichen, die wie aus dem Nichts vor ihm auftauchen. Einer, ein magerer Junge, hüpft übermütig über ein Feld aus Betonschutt und tritt am Straßenrand auf einen Reifen, als wollte er ihn als Sprungbrett benutzen. Die anderen beiden sind älter, vorsichtiger, halten Abstand zur Straße. Fünfzig Meter, vierzig Meter, zwanzig, zehn, dann ist Rami fast gleichauf mit dem Anführer. Er löst die Hand vom Gas und hupt im Rhythmus der stampfenden Schritte.

Dunkle Füße in Flipflops, weiße Fußsohlen. Auf der Wade eine lange Narbe. Blau-weiß gestreiftes T-Shirt. In Smadars Alter. Jünger sogar.

Der Junge rennt weiter. Das Nike-Logo spannt sich über der Brust. Die Halssehnen treten hervor. Er bleckt grinsend die weißen Zähne. Die Straße führt weiter bergauf. Im gelben Licht einer Straßenlaterne bleibt der Junge ganz plötzlich stehen, wirft mit einem hohen Schrei die Arme hoch, dreht sich zur Seite und springt über die Betonabsperrung.

Im Rückspiegel verschmelzen die anderen Jungen mit dem Schutt am Straßenrand.

Rami kann nicht sagen, warum der Junge so abrupt stehen geblieben ist – vielleicht vor Erschöpfung, vielleicht wegen des gelben Nummernschilds oder wegen des Aufklebers vorne auf der Maschine: רבדנש דע רמגיי אל הז.

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רבדנש דע רמגיי אל הז

Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden.

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Er schaltet runter in den Dritten, um den Berg hinaufzufahren.

Weiter oben auf dem Hang die Vogelberingungsstation in der Talitha-Kumi-Schule, steile Straßen, Steinmauern, das Ortszentrum, christliche Kirchen, Blechdächer, hohe Kalksteinhäuser mit Blick auf das grüne Tal, das Krankenhaus, das Kloster. Inseln aus Licht und Schatten ziehen über das Weingut, alle Atome des beginnenden Tages breiten sich vor ihm aus.

Es ist, wie fast immer, ein ganz normaler Tag: ein Treffen mit einer internationalen Gruppe – sieben, acht Leute, hat er gehört – im Kloster Cremisan.

Er biegt am Ende der Manger-Straße ab.

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In der Ferne, über Jerusalem, steigt das Luftschiff auf.

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Vor einem Jahr, an einem Sonntag, ist Rami dem Luftschiff ein paar Stunden lang gefolgt, hat es beobachtet, während es ihn beobachtete, um herauszufinden, ob seine Bewegungen einem Schema folgen.

Er fuhr von Kreuzung zu Kreuzung, von Straßenschild zu Straßenschild, hinaus aus der Stadt bis zum Skopusberg. Am Aussichtspunkt stieg er vom Motorrad, setzte sich auf die niedrige Steinmauer, beschirmte die Augen mit der Hand, blickte hinauf in den blauen Himmel, beobachtete das schwebende Schiff. Von einem Freund hatte er gehört, es handle sich um eine Wetterstation, zum Messen der Feuchtigkeit und der Luftqualität. Jeder Wahrheit ließ sich auf den Grund gehen. Wie viele Sensoren? Wie viele Kameras? Wie viele Augen blickten vom Himmel herab?

Rami kam es oft so vor, als wohnten mindestens zehn Israelis in ihm, die einander bekämpften. Der innerlich Zerrissene. Der Beschämte. Der Enthusiastische. Der Trauernde. Der, der über die Erfindung des Luftschiffs staunte. Der, der wusste, dass es der Observierung diente. Der, der es dabei observierte. Der, der observiert werden wollte. Der Anarchist. Der Demonstrant. Der, der alles Sehen gründlich satthatte.

Ihm wurde schwindelig davon, so viele Menschen auf einmal zu sein. Das machte alles so kompliziert. Was sollte er seinen Söhnen sagen, wenn sie ihren Wehrdienst antraten? Was Nurit, wenn sie ihm die Lehrbücher zeigte? Was Bassam, wenn er an einem Checkpoint festgehalten wurde? Was sollte er fühlen, wenn er die Zeitung aufschlug? Was denken, wenn an Jom haSikaron die Sirenen heulten? Wenn er an einem Mann mit Kufiya vorbeiging oder wenn ein Taxifahrer mit Akzent sprach? Wie reagieren, wenn seine Söhne den Bus nehmen mussten? Wie sich verhalten, wenn er die Nachrichten einschaltete? Welche Gräueltat folgte als Nächstes? Wie würde der Vergeltungsschlag aussehen? Was sollte er Smadar sagen? Wie ist es, tot zu sein, Prinzessin? Kannst du mir das sagen? Würde es mir gefallen?

Unten auf dem Hang hingen ein paar Jungen träge auf dünnen Araberpferden. Ihre Jeans waren blütenweiß. Die Pferde tänzelten nervös. Rami wünschte sich, er könnte sie irgendwie erreichen, auf sie zugehen, mit ihnen reden. Aber sein Nummernschild, sein Verhalten hatten ihnen schon verraten, wer er war, was er war. Sie würden es auch an seinem Akzent erkennen, wenn er Arabisch mit ihnen sprach. Ein älterer Mann auf einem Motorrad. Die helle Haut. Das offene Gesicht. Die verborgene Angst. Ich sollte es ihnen erzählen. Ich sollte entschlossen auf sie zugehen und ihnen direkt in die Augen sehen. Ihr Name war Smadar. Die Weinrebe. Schwimmerin. Und Tänzerin. Sie war so groß. Sie hatte sich gerade die Haare abgeschnitten. Ihre Zähne standen ein bisschen schief. Die Sommerferien gingen zu Ende. Sie wollte Schulbücher kaufen. Ich war auf dem Weg zum Flughafen, als ich die Nachricht hörte. Sie wurde vermisst. Wir wussten es. Meine Frau und ich. Wir wussten es. Wir fuhren vom Krankenhaus zur Polizeiwache, wieder ins Krankenhaus. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das ist. Eine Tür nach der anderen. Dann die Leichenhalle. Der Geruch von Desinfektionsmittel. Es war entsetzlich. Sie haben sie auf einer Bahre herausgezogen. Einer kalten Metallbahre. Da lag sie. So alt wie ihr. Nicht älter. Nicht jünger. Seien wir ehrlich, Jungs. Ihr hättet euch darüber gefreut. Ihr hättet gefeiert. Hurra geschrien. Und ich hätte früher auch gejubelt. Wenn es euch getroffen hätte. Eure Väter. Und deren Väter. So war das, ich gebe es offen zu. Früher, das ist lange her. Was sagt ihr dazu? In was für einer Welt leben wir? Schaut zum Himmel. Es beobachtet uns, uns alle. Seht ihr? Dort oben.

Das Luftschiff senkte sich bedrückend auf ihn herab, wie eine Hand auf seine Brust, erst sanft, dann immer fester, bis Rami nur noch einen Ort finden wollte, wo er unsichtbar war. So erging es ihm ständig. Der drängende Wunsch zu verschwinden, alles mit einer einzigen flüssigen Handbewegung wegzuwischen. Tabula rasa. Das ist nicht mein Krieg. Nicht mein Israel.

Komm, zeig es mir. Überzeuge mich. Roll den Stein weg. Gib mir Smadar zurück. Ganz. Gib sie mir zurück, zugenäht und dunkeläugig und schön. Mehr will ich nicht. Ist das zu viel verlangt? Dann höre ich auf mit dem Jammern, keine Tränen, keine Klagen mehr. Eine göttliche Naht, mehr will ich gar nicht. Und bring auch Abir zurück, für Bassam, für mich, für Salwa, für Areen, für Hiba, für Nurit, für uns alle. Und wenn du schon dabei bist, bring Sivan zurück und Ahuva und Dalia und Yamina und Lilly und Jael und Shumalit und Khalila und Sabah und Zahava und Rivka und Yasmine und Sarah und Inaam und Ayala und Sharon und Talia und Rahida und Rachel und Nina und Mariam und Tamara und Zuhal und alle anderen unter dieser heißen, unbarmherzigen Sonne. Ist das wirklich zu viel verlangt?

Er raste nach Hause, ging in sein Arbeitszimmer, schloss die Vorhänge, arrangierte die Fotos auf seinem Schreibtisch neu.

69

Smadar. Aus dem Hohelied Salomos. Die Weinrebe. Die aufgehende Blüte.

70

Abir. Aus dem Altarabischen. Das Parfüm. Der Duft der Blüte.

71

Einmal erst ist er mit dem Motorrad angehalten worden, auf der Rückfahrt aus dem Westjordanland. Er hatte gehört, dass die Nebenstraße gesperrt war, aber das war der einfachste und schnellste Weg nach Hause. Es goss in Strömen Er riskierte es. Was konnte ihm schlimmstenfalls passieren: dass er angehalten, befragt, zurückgeschickt wurde?

Trotz seiner siebenundsechzig hatte er noch sein spitzbübisches Grinsen, das pausbäckige Gesicht, den sanften, hellen Blick. Er beugte sich vor und gab Gas. Wasser spritzte hinter ihm auf.

Ein aufleuchtender Scheinwerfer jagte ihm einen Angstschauer über den Rücken. Er drosselte das Tempo, richtete sich auf. Regentropfen auf dem Visier beeinträchtigten seine Sicht. Der Scheinwerfer hüllte ihn ein. Er bremste in dem hellen Lichtkreis. Das Hinterrad geriet im öligen Regen leicht ins Rutschen.

Ein Ruf durchdrang die Dunkelheit. Der Grenzposten lief zitternd auf ihn zu. Regentropfen glitzerten im Licht wie Silbernadeln. Der Grenzer richtete das Gewehr auf Ramis Helm. Rami hob langsam die Hände, schob das Visier hoch, grüßte in seinem breitestem Hebräisch, Shalom aleichem, shalom, zeigte ihm seinen israelischen Ausweis, sagte, er wohne in Jerusalem, er müsse nach Hause.

– Die Straße ist gesperrt.

– Was soll ich jetzt machen, dorthin zurückfahren?

Regen tropfte vom Lauf des Soldatengewehrs: Ja, zurück, drehen Sie um, sofort, hier dürfen Sie nicht durch.

Müdigkeit hatte sich in Ramis Knochen geschlichen. Er wollte nach Hause zu Nurit, in seinem bequemen Sessel sitzen, mit einer Decke über den Knien, das einfache Leben, die profane Normalität, seinen stillen Schmerz, nicht diesen gottverdammten Regen, die Straßensperre, die Kälte, das zitternde Gewehr.

Er schob das Visier weiter hoch: Ich habe die falsche Abzweigung genommen, mich verfahren, und Sie wollen, dass ich umkehre? Geht’s noch? Sehen Sie sich meinen Ausweis an. Ich bin Jude. Ich habe mich verfahren. Verfahren, verstehen Sie? Warum um alles in der Welt soll ich umkehren?

Das Gewehr des Jungen schwang wild hin und her.

– Kehren Sie um.

– Sind Sie verrückt? Halten Sie mich für lebensmüde? Ich habe mich verfahren, verdammt, den falschen Weg genommen, sonst nichts.

– Ich sage Ihnen doch, die Straße ist gesperrt.

– Sagen Sie mir eins –

– Was?

– Welcher Jude, der noch alle beisammenhat, fährt freiwillig ins Westjordanland?

Der Junge sah ihn ratlos an. Rami gab Gas und ließ den Motor aufheulen.

– Nur zu, Habibi, erschieß mich, wenn du musst, aber ich fahre nach Hause.

Eine Bruchlinie bildete sich auf der Stirn des Jungen, ein kleines Beben der Verunsicherung, als Rami das Visier herunterklappte, aufblendete und weiterfuhr, sein Körper tief geduckt auf dem Motorrad, seine Gedanken die ganze Zeit bei dem zielenden Gewehr, bei einer Kugel in seinem Rücken.

72

Als er Bassam am nächsten Tag im Büro des Parents Circle den Vorfall am Checkpoint schilderte, fiel es ihm plötzlich wieder ein – der blaue Lackschuh, der durch die Luft geflogen war, das Geschoss, das ihren Schädel zertrümmert hatte –, und er verstummte.

73

Die Ladenbesitzerin hieß die alte Niesha, obwohl sie erst vierunddreißig war. Sie hörte es knallen. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Quietschende Reifen. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Ihre Hände ruhten auf dem langen Holztresen. Dann begann das Geschrei: helle Kinderstimmen, hauptsächlich Mädchen. Ein beunruhigendes Zeichen; normalerweise verhielten sich die Mädchen leise. Niesha nahm die Schlüssel aus der Kasse.

Draußen Aufruhr. Ein Kind auf dem Gehweg. Blaues Kleid. Weiße Baumwollbluse. Ein fehlender Schuh. Niesha kniete sich hin. Sie kannte den Namen des Mädchens. Sie beugte sich vor und fühlte seinen Puls.

– Wach auf, Abir, wach auf.

Schreie ertönten. Eine Menschenmenge drängte sich um Abir. Sie war bewusstlos. Männer und Frauen tippten auf ihren Telefonen, um ein Netz zu bekommen. Es hieß, das Militär habe das andere Ende der Straße gesperrt. Niemand werde durchgelassen: keine Krankenwagen, keine Polizei, keine Sanitäter.

– Wach auf, wach auf.

Minuten vergingen. Ein junge Lehrerin überquerte laut weinend den Kreisel. Ein verbeultes Taxi hielt an. Der junge Fahrer winkte. Kinder strömten durch das Schultor.

Niesha half, Abir vom Boden aufzuheben und hinten ins Taxi zu bugsieren. Sie zwängte sich zwischen Vorder- und Rücksitz, damit das Kind nicht herunterfiel. Der Fahrer drehte sich kurz um und fuhr los. Jemand hatte den verlorenen Schuh in den Wagen geworfen. Niesha streifte ihn Abir über den Fuß. Ihre Zehen waren ganz warm. Niesha wusste sofort, dass sie diese überraschende Wärme nie vergessen würde.

Der Wagen raste quer über den Marktplatz. Der Vorfall hatte sich schon bis nach Anata und Shuafat herumgesprochen. Rufe ertönten von den Moscheen, den Balkonen, aus den Seitenstraßen. Kinder rannten aus den Gassen, strömten hinunter zur Schule. Der Fahrer bremste nur bei Temposchwellen. Am Ende des Platzes traf er auf den Verkehr. Er hupte. Die anderen Autos stimmten mit ein in die Höllensymphonie.

Niesha lag mit ausgestrecktem Arm auf dem Boden und hielt den Kopf des Kindes still. Abirs Lider zuckten. Sie gab keinen Laut von sich. Ihr Puls ging langsam und unregelmäßig. Niesha berührte wieder Abirs Zehen. Sie waren schon kälter geworden.

Die Fenster waren offen. Draußen Lautsprecher. Fahnen wurden entrollt. Drohende Krawalle. Der Wagen schob sich ruckelnd vorwärts. Der Fahrer rief Allah an. Der Lärm dröhnte in Nieshas Ohren.

Das Krankenhausgebäude war niedrig und heruntergekommen. Ein Ärzteteam wartete auf der Treppe. Niesha löste die Hand von Abirs Kopf und öffnete die hintere Seitentür, bevor der Wagen hielt. Jemand rief nach einer Trage. Auf der Treppe herrschte Chaos.

Niesha sah zu, wie die Trage in einem Dickicht aus weißen Kitteln verschwand. Es war die Zeit der kleinen Totenhemden: Sie hatte schon so viele auf den Straßen gesehen.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, den Laden abzuschließen. Sie senkte den Kopf und weinte.

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Die Kameras im Luftschiff drehten sich, und die Linsen blitzen auf. Über Anata kreisten schon Hubschrauber.

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Unten flogen Steine. Sie landeten auf Dächern, prallten gegen Lichtmasten, ließen Wassertanks scheppern.

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Am Tag, als Smadar getötet wurde, waren die Fernsehkameras noch vor den ZAKA-Helfern da.

Jahre später sah Rami Ausschnitte in einem Dokumentarfilm: das Straßencafé, das Nachmittagslicht, die sich windenden Körper, die umgekippten Stühle, die verstreuten Tischbeine, die Glassplitter, die bespritzten Tischdecken, der abgetrennte Rumpf eines der Attentäter, mitten auf der Straße wie das Fragment einer griechischen Statue.

Sogar mit geschlossenen Augen war es unerträglich: das Geräusch eilender Schritte, die heulenden Sirenen.

Als das Licht anging, sah er, dass seine Fingernägel blutige Spuren an seinen Händen hinterlassen hatten.

Er wollte, dass die Filmemacher in die Zeit hineinkrochen und sie zurückspulten, die Chronologie aufhoben und ihr – wie eine Borges-Erzählung – eine völlig neue Richtung gaben, damit das Licht heller war, die Stühle wieder aufgestellt, die Straße aufgeräumt und das Café unversehrt, und dann sollte Smadar vorbeischlendern, mit kurzen Haaren und Nasenpiercing, Arm in Arm mit ihren Schulfreundinnen, mit denen sie ihren Walkman teilte, in der Nase den Duft von Kaffee, umfangen vom banalen Alltag, in dem man sich nicht darum kümmert, was als Nächstes passiert.

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Der Septemberhimmel war strahlend blau. Die kopfsteingepflasterte Einkaufsstraße war voll mit Menschen. Aus den Lautsprechern mit der Bastverkleidung drang leise Musik. Die Explosionen sprengten die Anlage. Die Stille danach war gespenstisch, eine Pause der Lähmung, bis überall Geschrei losbrach.

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Auf Aramäisch bedeutet Talitha Kumi: Erhebe dich, kleines Mädchen, erhebe dich.

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Die Attentäter waren als Frauen verkleidet, mit Sprengstoffgürteln um den Bauch. Sie waren glatt rasiert und trugen Kopftücher, um ihre Gesichter zu verbergen.

Alle stammten aus dem Dorf Asira al-Shamaliya im Westjordanland. Zwei von ihnen waren zum ersten Mal in Jerusalem.

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Als Jorge Luis Borges Anfang der 1970er Jerusalem besuchte, sagte er, er habe noch nie eine Stadt mit so hellem, sengendem Licht gesehen. Auf seinen Rundgängen klopfte er mit dem Gehstock das Pflaster und die Hausmauern ab, um zu ergründen, wie alt die Steine waren.

Die Steine, sagte er, seien rosa wie Fleisch.

Es gefiel ihm, durch die palästinensischen Viertel zu streifen, durch die Suqs, wo man ihn als blinden Geschichtenerzähler mit besonderer Ehrfurcht behandelte. Blinde hatten Tradition bei den Arabern. Der Imam auf dem Markt. Abdullah ibn Umm Maktum. Al-Ma’arrī. Alle, die basir waren, Sehende im Herzen und im Geiste. Ihre Sichtweisen, ihre Art zu erzählen.