Frieden schließen - Norbert Mucksch - E-Book

Frieden schließen E-Book

Norbert Mucksch

0,0

Beschreibung

Immer wieder bleiben trauernde Menschen nach einem Sterbefall zurück mit Gefühlen von Schuld, mit dem Eindruck, etwas mit einem Verstorbenen versäumt zu haben, was nicht mehr nachgeholt werden kann. Tatsächliche Schuld und mehr noch unklare Schuldgefühle können einen Trauerverlauf erheblich beeinflussen. Norbert Mucksch wendet sich dem Erleben von Schuld und Schuldgefühlen zu und zeigt, welche positiven Chancen darin liegen, diese Empfindungen zu benennen und sich ihnen in einer geschützten Atmosphäre anzunähern. Es geht primär darum, Schuld und Schuldgefühle nicht zu bewerten, sondern sie als Trauernder und auch als Begleiter in ihrer Vollständigkeit und damit auch Sinnhaftigkeit zu betrachten, sie als zur eigenen Biografie zugehörig zu akzeptieren und letztlich zu integrieren. So kann ein Versöhnungsprozess stattfinden, der im Frieden mit sich und der Situation mündet. Neben Zugängen, Hintergründen und Chancen einer so ausgerichteten Trauerbegleitung werden auch Erkenntnisse aus der neurobiologischen Forschung einbezogen. Konkrete Fallbeispiele aus der Trauerbegleitung – sowohl mit Blick auf Trauernde wie auch auf die Rolle der Begleitenden – sorgen für den notwendigen Praxisbezug.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 176

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Norbert Mucksch

Frieden schließen

Die Bedeutung der Versöhnung in der Trauerbegleitung

Mit einem Vorwort von Klaus Onnasch

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99829-9

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: © Norbert Mucksch

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort

Einleitung und Hinführung zum Thema

Teil I

Die Unausweichlichkeit von Schuld – »Wer von Euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein«

Die Unvermeidbarkeit von Verletzungen

Versöhnung – eine begriffliche Einordnung

Schuld und Versöhnung – ein Zugang aus anthropologischer Sicht

Schuld und Versöhnung – ein theologischer Zugang

Schuld und Versöhnung – ein philosophischer Blick

Schuld und Versöhnung aus dem Blickwinkel der Psychologie

Exkurs: Schuld und Versöhnung aus neurobiologischer Perspektive

Notwendige Differenzierung: Vergebung – Verzeihung – Versöhnung

Vergebung

Verzeihung

Versöhnung

Teil II

Prozesse der Versöhnung – Praxisberichte

Fallbeispiel 1: Späte Versöhnung

Fallbeispiel 2: Versöhnung durch Verstehen (Trauer um den Vater, der sich suizidiert hat)

Fallbeispiel 3: Versöhnung mit der unbekannten »leiblichen« Mutter nach fast sechs Jahrzehnten

Fallbeispiel 4: Versöhnung mit dem emotionsarmen Vater

Fallbeispiel 5: Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte

Fallbeispiel 6: Der plötzliche Tod eines heranwachsenden Kindes – sich aussöhnen damit, dass etwas Unversöhntes bleibt

Fallbeispiel 7: Die notwendige Fähigkeit zur Versöhnung von Trauerbegleitenden mit ihrem Tun

Abschließende Anmerkung zu den Fallbeispielen

Teil III

Das Thema Versöhnung in der Trauerbegleitung – konkrete Hinweise für Begleitende

Familiendynamiken als Thema in der Trauerbegleitung

Versöhnungsarbeit unter Zuhilfenahme des Mediums Film

Nokan – Die Kunst des Ausklangs (Japan 2008)

Vergiss mein nicht (Dokumentarfilm, Deutschland 2012)

Versöhnung als intergeneratives und transgenerationales Thema

Neurobiologische Erkenntnisse in der Begleitung trauernder Menschen in Schuldzusammenhängen nutzen

»Der Raum kann nur so weit sein, wie ich innerlich weit bin« – die Anerkennung von Dualität als unausweichliche Realität der menschlichen Existenz

Trauerbegleitende – verwundete Helfer/-innen

Was ist so schlimm an Schuldgefühlen?

Ich versöhne mich mit mir – Ich versöhne mich mit der Situation – Ich versöhne mich mit dir – Ich söhne dich aus

Versöhnung bedeutet mehr als »Schuld verstehen« – Versöhnungsbegleitung als Form spiritueller Wegbegleitung

Schuld, Versöhnung und Kongruenz

Weiterführende Adressen

Dank

Literatur

Vorwort

In der Begleitung von Trauernden kommt es immer wieder zu der Erfahrung, dass Schuldgefühle eine Bedeutung bekommen, die oft unangemessen groß erscheint. Auch in sehr einfühlsamen Gesprächen lassen sich diese Gefühle oft nicht lösen; das »schlechte Gewissen« lässt sich nicht einfach ausreden. Was steckt hinter einer solchen Dynamik? Wie kann es zu Lösungen und Entlastungen kommen? Wie können diejenigen, die Trauernde begleiten, damit umgehen, dass so stark und oft so langwierig an Schuldgefühlen festgehalten wird?

Chris Paul hat Mechanismen beschrieben, die dazu führen, dass Trauernde oft so beharrlich in ihren Schuldgedanken bleiben: Es geht um Macht, die in der Trauer nicht verloren gehen soll, es geht um Sinn, der durch einen Schuldzusammenhang erhalten bleiben soll, und es geht um Beziehungen zu den Verstorbenen, die durch Schuldbewusstsein weitergeführt werden. Die Methoden, die Chris Paul für die Begleitung in solchen Situationen vorschlägt, sind vorwiegend kognitiv ausgerichtet.

Demgegenüber geht Norbert Mucksch in diesem Buch neue Wege. Für mich sind seine Ansätze im mehrfachen Sinn tiefer und zugleich auch weiter. Er zeigt eindrucksvoll, wie wichtig es ist, neben den Lichtseiten im eigenen Leben auch die Schattenseiten wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Durch Schmerzen hindurch können Veränderungsprozesse in Gang kommen, die lähmende alte Muster überwinden. Ein solcher Weg durch die Tiefe kann zu einer Weite führen, in der ich zu einer neuen Beziehung zu mir selbst und auch zu anderen finden kann.

Am Anfang seines Buches nennt Mucksch zwei Grundbedingungen menschlicher Existenz: die Unausweichlichkeit von Schuld und die Unvermeidbarkeit von Verletzungen. Es gehört zu mir, dass ich anderen etwas schuldig bleibe. Ich bin verletzt worden und habe auch andere verletzt. Solche Aussagen könnten bedrücken. Mucksch stellt sie jedoch in einen Zusammenhang, der entlastet und befreit. Ich muss nicht perfekt sein. Ich kann meine dunklen Seiten anschauen und mit ihnen leben. Hier bringt Mucksch den Prozess der Versöhnung ins Spiel. Dieser Prozess eröffnet die Möglichkeit, dass ich mich mit mir selbst aussöhne und auch mit anderen Menschen. Dabei erweitert Mucksch den Begriff »Versöhnung«. War ursprünglich noch »Sühne« Voraussetzung für einen solchen Neuanfang, so wird in seinem Verständnis Versöhnung als Geschenk und Chance erfahren. Versöhnung wird von vielen wissenschaftlichen Aspekten her beschrieben. Mucksch bringt Erkenntnisse aus Psychologie, Anthropologie, Philosophie, Theologie und besonders – noch etwas ungewöhnlich – auch aus der Neurobiologie mit ein. So zeigt er zum Beispiel auf, dass in der Trauer unter dem Cortex liegende Bereiche des limbischen Systems wie Alarmsystem und Belohnungssystem besonders aktiviert sind und rein kognitive Zugänge nur eine sehr begrenzte Wirkung haben. In allem setzt er sich dafür ein, den Blick nach innen zu wenden, die konfliktreichen Prozesse im eigenen Leben wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

In dieser Sicht hat mich das Buch besonders angesprochen und berührt, in einzelnen Abschnitten auch ergriffen; das gilt besonders für den sehr lebendigen zweiten Teil mit den sieben Fallgeschichten und deren einfühlsamer Interpretation. Kann ich mich selbst damit aussöhnen, dass etwas Unversöhntes bleibt nach dem Tod eines Kindes (Fallbeispiel 6)? Wie hat mich meine eigene Kriegsgeschichte geprägt mit der Sorge, ob die Verdunkelung durch Rollos bei Fliegerangriffen ausreicht, und mit der Angst im Keller bei der Bombardierung? Wie haben sich diese Erfahrungen ausgewirkt auf das Leben meiner Kinder und meiner Enkel (dazu Fallbeispiel 4)? Diese und andere Fragen haben meine Selbstreflexion vertieft und erweitert. Mucksch sieht in solcher Reflexion eine Voraussetzung dafür, Trauernde in ihren Konflikten authentisch begleiten zu können. Wie ich mich auf mich selbst beziehe, so beziehe ich mich auch auf andere.

Wie ist Versöhnung in der Trauerbegleitung möglich? Sicher ist eine solche Versöhnung kein Ziel, das mit festgesetzten Methoden erreicht und evaluiert werden kann. Auch hier gilt: Versöhnung ist ein Geschenk und eine Chance zugleich. Es kann jedoch die Bereitschaft unterstützt und gefördert werden, dass es zu einem solchen Prozess kommt. Von Seiten der Begleitenden ist dabei eine »personzentrierte Haltung« günstig, wie sie Mucksch in seinem vorangehenden Buch »Trauernde hören, wertschätzen, verstehen« bereits entwickelt hat. Die Methoden, die Mucksch vorschlägt, sind nicht primär kognitiv ausrichtet, sondern sprechen die Trauernden mit Leib und Seele an, sie können berühren und Wandlungsprozesse in Gang setzen. So können in einer Trauergruppe, in der Vertrauen schon gewachsen ist, Fotos aus dem Leben Verstorbener gezeigt werden und dabei vergangene Zeiten erinnert und vergegenwärtigt werden; von Lichtseiten und von Schattenseiten, die noch belasten, kann erzählt werden. Auch verbindende Symbole können vorgestellt werden, Träume und auch Märchen können mitgeteilt werden (Fallbeispiel 5).

Kann eine Versöhnung mit Verstorbenen geschehen – auch über den Tod hinaus? Es gibt vielfältige Erfahrungen, die darauf hinweisen, dass das möglich ist. Im inneren Dialog lassen sich Gefühle in den Beziehungen aussprechen und verändern. So leiden viele Trauernde oft unter einem »schlechten Gewissen«. Wie kann ich mich wirklich über gute Erlebnisse freuen, wenn der Mensch, den ich verloren habe, das alles nicht mehr mit erleben kann? Hier führt oft die Anregung weiter, sich vorzustellen, was der verstorbene Angehörige dazu sagen würde. Vielfach erhalten Trauernde in einer solchen Vorstellung eine Antwort, die sie ermutigt, ihr eigenes Leben zu gestalten und auch die Freude zuzulassen. Hinweisen möchte ich hier auf neue Erkenntnisse neurobiologischer Forschung, dass wir Zeit unseres Lebens mit eng verbundenen Partnern Spiegelsysteme entwickeln, die auch nach dem Tod weiterwirken. Bewährt hat sich für den inneren Dialog auch folgende Methode, die aus der Gestalttherapie stammt: Der Trauende sitzt einem leeren Stuhl gegenüber. Er stellt sich vor, die Person, um die er trauert, sitzt auf diesem Stuhl. Er spricht zu ihr und gibt dann die Antworten wieder, die er von ihr her wahrnimmt. Auch schwere Konflikte können manchmal in solchem Dialog geklärt und so Versöhnung gefunden werden (Fallbeispiele 1, 2 und 4). Dadurch kann die eigene Biografie neu verstanden werden, zugleich können Zukunftsperspektiven entwickelt werden. Mucksch nimmt spirituelle Traditionen auf, die in Bildern und Symbolen Tiefe und Weite erschließen, so zum Beispiel die Erfahrung, dass der tiefe Abgrund zur heilenden Quelle wird. In der biblischen Tradition heißt es: »Du stellst meine Füße auf weiten Raum.« Manchmal tut es mir gut, dass ich das noch Unversöhnte, nicht Lösbare in mir selbst und in unserer Welt in die Weite stelle.

Insgesamt gibt das Buch Informationen aus vielen Wissenschaftsbereichen und vielfältige praktische Anregungen zu einer reflektierten, authentischen Trauerbegleitung. Darüber hinaus zeigt es Wege, die Grenzen und Möglichkeiten des eigenen Lebens deutlicher zu sehen. Es kann dazu beitragen, mehr Tiefe und Weite im eigenen Leben zu gewinnen. So ist es mir beim Lesen mancher Seiten ergangen, dafür bin ich dankbar. Ich wünsche auch anderen, dass sie dieses Buch mit Gewinn lesen – für sich selber und dadurch auch für andere.

Klaus Onnasch

Einleitung und Hinführung zum Thema

Trauernde Menschen leben vielfach mit unversöhnten Teilen aus der gemeinsamen Lebensgeschichte mit verstorbenen Menschen, seien es Partner1, Eltern, Kinder, andere Angehörige oder Zugehörige. Oftmals scheinen es die unversöhnten Anteile einer gemeinsamen oder teilweise gemeinsamen Lebensgeschichte zu sein, die es Menschen in der Trauer schwermachen, den erlittenen Verlust in das eigene Leben zu integrieren. Es bleibt dann viel stärker das Gefühl, weiterleben zu müssen (eben auch mit diesen unversöhnten Anteilen) als die gegenteilige Grundempfindung, nämlich weiterleben zu dürfen, auch mit den Anteilen einer durch Tod beendeten Beziehung, die nicht nur Lichtanteile haben, sondern eben auch Schattenseiten. Selbstverständlich spreche ich an dieser Stelle nicht von ganz akuter Trauer mit einer hohen zeitlichen Nähe zu einem Todesereignis, sondern von einer Trauer, die eine Schwere und eine Last mit sich bringt, die – auch auf längere Sicht – nicht leichter zu werden vermag.

Um möglichen Missverständnissen gleich zu Beginn vorzubeugen: Ich vertrete nicht die Meinung, dass Trauer etwas ist, was abgearbeitet oder gar bewältigt werden könnte. Das ist nicht mein Bild, wenn ich von Versöhnung und Trauer sowie von Versöhnung in der Trauer spreche. Ich möchte Versöhnung auch nicht als Aufgabe eines trauernden Menschen verstanden wissen, die dieser unbedingt erledigen muss. Mehr als eine Aufgabe scheint mir die Versöhnung eine Chance und ein Geschenk zu sein, also etwas, das man annehmen können muss. Es geht auch auf gar keinen Fall darum, einen verstorbenen Menschen loszulassen durch eine im besten Fall gelungene Versöhnung. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass es durch einen Versöhnungsweg möglich ist, einen verstorbenen Menschen mit all seinen Facetten, Eigenschaften, Fähigkeiten und Begrenzungen, mit seinem Unvermögen und seinen Hilflosigkeiten, mit seinem Unbeholfensein, seinen Macken, Ecken und Kanten zu sehen und vor allem mit den Teilen, wo er oder sie mir (durchaus auch ganz objektiv) etwas schuldig geblieben ist. Versöhnung mit einem verstorbenen Partner, Kind oder Elternteil kann, soll und darf also nicht die Trauer an sich beenden. Wohl aber geht es darum, die quälenden und letztlich die Trauer behindernden Anteile zu beenden und mit diesen einen versöhnlichen Abschluss zu finden. Insofern kann das Element Versöhnung in einer Trauerbegleitung mit dazu beitragen, einen schwierigen, scheinbar auch stagnierenden Trauerweg leichter und offener zu machen und zu einem versöhnlichen Abschluss zu führen, ohne dass die Trauer selbst damit beendet sein wird. Aber ein offener, erweiterter, ja ein vollständiger Blick auf einen verstorbenen Menschen wird, davon bin ich überzeugt, das Trauererleben positiv verändern.

Trauer und das Erleben von Trauer sich auch einmal mit dieser inneren Brille anzuschauen und diesem Aspekt Aufmerksamkeit zu schenken, scheint mir in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll, aber auch vor allem hilfreich zu sein, nicht zuletzt für trauernde Menschen, die möglicherweise ohne eine solche Brille wichtige Aspekte aus einer Lebensgeschichte bzw. einer Beziehungsdynamik übersehen und aufgrund dessen in einem stagnierenden Trauererleben festsitzen. Diese Brille, oder anders gesagt, diesen inneren Blick benötigen jedoch nicht nur trauernde Menschen, sondern vor allem auch diejenigen, die Trauernde begleiten. Wir wissen alle, dass es gerade in Krisenzeiten und in Zeiten persönlicher Verwirrung und Desorientierung oftmals einer Botschaft bzw. eines Signals von außen bedarf. Gerade in solchen Phasen (und wer wollte bestreiten, dass die Trauer mit ihrer großen Vielfalt und hohen Ambivalenz an Gefühlen dazu gehört) benötigen Menschen Signale, Zuspruch und mitunter auch »Korrektive« von außen. Und schlicht und ergreifend manchmal auch Worte, die man sich selbst nicht sagen kann, sowie empathisch zuhörende Menschen, die wirklich in einer Begleitung präsent sind mit purer Präsenz. Krisenphasen im Leben eines Menschen sind Zeiten, in denen Betroffene »Zusagen« benötigen, Aussagen, Signale, Worte und Gedanken, die sie sich selbst nicht sagen können und die nur deshalb wirksam sind und werden, weil sie ihnen zugesprochen werden. Und Krisenphasen sind Zeiten in denen viel in große Unordnung geraten ist. In einer solchen Situation von Unordnung sortieren mitzuhelfen gehört mit zu den zentralen Aufgaben von Trauerbegleitenden. Dass dieses Sortieren immer geleitet sein sollte von einer deutlichen inneren Ausrichtung auf den trauernden Menschen, die dessen Signale hoch achtsam wahrnimmt und dann reflektiert und verantwortlich damit umgeht, das sollte sich von selbst verstehen. Es geht nicht darum, mit der Tür ins Haus zu fallen und jemandem das Versöhnungsthema überzustülpen, sondern vielmehr, mit der inneren Bereitschaft und Wachsamkeit dabei zu sein, auch dieses Thema gemeinsam mit einem trauernden Menschen zu heben, sofern dieser Signale in eine solche Richtung setzt. Wie immer in der Trauerbegleitung gilt: Der Begleitende geht nicht voran! Oder anders formuliert: »Es gilt den Trauernden da ernst zu nehmen, wo er ist, und ihn nicht dahin bringen zu wollen, wo ich es als Helfer gerne hätte« (Weiher, 2004, S. 105 f.).

»Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung«, so heißt es in einer altjüdischen Weisheit. Trauern bedeutet zu erinnern, immer und immer wieder. Trauerbegleitende müssen ein tief verinnerlichtes Wissen haben, wie wichtig dieses beständige Erinnern für Trauernde ist. Sie wissen auch um die Bedeutung der beständigen Wiederholung der Erinnerungen an einen verstorbenen Mitmenschen. In der Situation der Begleitung sind die Begleitenden so etwas wie Zeuginnen und Zeugen2 dieser Erinnerungen. Darin liegt die Chance, diese Erinnerungen auch so zu bezeugen, dass alle Teile einer gemeinsamen Biografie ausgesprochen und erinnert werden können, ohne Angst vor einer Bewertung oder gar Abwertung zu haben. Ein Trauernder, der eine solche Atmosphäre erlebt, wird zum Sprechen und zum Erinnern ermutigt und kann durch diese Ermutigung auch an die Teile einer Beziehung herangeführt werden, die etwas mit Angst und Beschämung zu tun haben, vielleicht auch mit Schuld – sowohl als objektive Schuld wie auch als subjektives Schuldgefühl. Wenn das im Rahmen einer Trauerbegleitung gelingt (und das kann und wird nicht immer gelingen), dann eröffnet sich die große Chance, die Beziehung und Lebensgeschichte mit einem verstorbenen Menschen vollständig zu sehen und nicht nur fragmentarisch oder nur mit den »glänzenden« Seiten und Anteilen einer Beziehung. Nur in der Vollständigkeit einer Betrachtung mit allen Anteilen (Licht und Schatten) liegt die Chance, einen unverklärten, einen realistischen und auch einen erwachsen-emanzipierten Blick auf einen Menschen zu werfen. Nur dadurch wird das Bild dieses Menschen vollständig. Ein solches Bild schützt vor Idealisierung und Überhöhung. Es kann einen verstorbenen Menschen, den ich vermisse mit allen seinen Anteilen, sichtbar sein lassen und es gibt einem trauernden Hinterbliebenen die Chance, diesem verstorbenen Menschen auf partnerschaftlicher Augenhöhe zu begegnen. Jeder andere Blick als dieser Blick »auf Augenhöhe« wird eine Aussöhnung mit den Schattenseiten einer Beziehung und mit den Dingen, die Menschen sich notwendigerweise schuldig bleiben (müssen), erschweren oder sogar unmöglich machen.

Ich komme noch einmal auf die eingangs genutzte Metapher der Brille zurück. Begleitende wie Trauernde benötigen eine solche Brille im Sinne einer Bereitschaft, in das eigene Innere zu schauen, wobei der Zugang zu diesem Hilfsmittel einem nicht akut trauernden Menschen in der Begleitung sehr viel leichter fallen wird. Die Chance liegt darin, Trauernden diese Brille anzubieten und auf die Momente zu achten und sie sensibel zu erspähen, in denen ein solches Angebot gemacht werden kann. Eine Brille hat eine klare Funktion: Sie ist dafür da, scharf, eindeutig, klar und unverschwommen zu sehen. Es braucht gerade bei den Schattenseiten einer gemeinsamen Lebensgeschichte auch genau diese Möglichkeit des klaren Blicks. Aber es braucht auch – und dafür ist nicht zuletzt die palliative Haltung auch in der Trauerbegleitung wichtig – das Gespür, die Empathie und die Achtsamkeit für den richtigen Augenblick. Das Angebot, auch mit dem Versöhnungsthema in einer Trauerbegleitung präsent zu sein, es zur Verfügung zu haben und vor allem keine Angst davor zu haben, ist meiner festen Überzeugung nach ein ganz wichtiges Werkzeug, ein Blickwinkel, den Trauerbegleitende einzunehmen grundsätzlich imstande sein müssen.

Ausgehend davon ist in mir der Impuls entstanden, zu diesem Thema dieses kleine Fachbuch zu verfassen, und ich hoffe, dass die einzelnen Aspekte, die ich nachfolgend aufgreifen werde, zur Hilfestellung werden können, in der Begleitung Trauernder auch mit dem nicht gerade einfachen Versöhnungsthema umzugehen und genau dazu zu ermutigen, letztendlich mit dem Ziel, auch Trauernde zu befähigen, in Versöhnungsprozesse einzutreten, und sie selbst dazu ebenfalls zu ermutigen.

Einen Anstoß zu meinen Gedanken haben mir die Veröffentlichungen von Schulz, Radebold und Reulecke (2004), Bode (2013), Müller-Hohagen (2014), Goltermann (2011) und Alberti (2013) gegeben, die sich mit der transgenerationalen Weitergabe von Schuldgefühlen beschäftigen. Wir beginnen in unserer Gesellschaft ja erst seit einigen Jahren zu verstehen, wie traumatisierende Ereignisse und Erfahrungen, vor allem Kriegserfahrungen, über die Prägung derer, die diese Erfahrungen machen mussten, in die nachfolgenden Generationen hineinwirken. Als Zugehöriger zur Nachkriegsgeneration und als 1960 geborener Sohn eines Vaters, der noch als Jugendlicher die Grausamkeiten des Krieges erfahren musste, durfte ich über die Forschungen und Erkenntnisse der vorgenannten Autoren erfahren, wie wichtig das Verstehen solcher Zusammenhänge ist, um in die Versöhnung mit den Teilen meiner Eltern zu kommen, in denen diese mir zwangsläufig etwas schuldig geblieben sind und in der Reaktion darauf ich ihnen auch – weil sie aufgrund eigener Traumatisierungen und einer daraus erwachsenen Schutzbedürftigkeit schlichtweg nicht anders konnten, als mir dies schuldig zu bleiben.

Das ist ein ganz wichtiger und gewichtiger Teil dieses kleinen Fachbuches. Darüber hinaus geht es aber auch um die Versöhnung mit sich selbst und mit den Anteilen und Begrenzungen, die Menschen nur ungern in den Blick nehmen. Da dieses Buch ja vor allem Menschen in der Trauerbegleitung als Zielgruppe hat, muss es darin auch um die Versöhnung von Trauerbegleitenden mit Situationen gehen, in denen eine Begleitung nicht den Zielen und Idealen entsprochen hat, die ein Trauerbegleitender an sich selbst stellt. Oftmals sind Ansprüche von Trauerbegleitenden an sich selbst zu hoch. In dieser überhöhten Form geraten nicht selten die Personen, die als Sterbende und Trauernde begleitet werden, in einen Blick, der sie sehr schnell nicht mehr als Subjekt und mit all den Fähigkeiten und Potenzialen sieht, den eigenen Weg zu gestalten, sondern der sie zu Objekten der eigenen Hilfeleistung macht und ihnen damit auch etwas nimmt von der Würde und möglicherweise auch von der Selbstachtung in der ohnehin schwer auszuhaltenden Phase des Abschieds. Menschen, die sich im Rahmen von Hospizinitiativen und Palliative Care engagieren, tun dies auch, weil sie eine Helferinnen-Identität haben. Eine solche Helferinnen-Identität ist klar und deutlich abzugrenzen von einem »Helfer-Syndrom«. Das Helfer-Ideal, die Helferinnen-Identität ist klar positiv zu bewerten, immer natürlich unter der Voraussetzung, dass mir diese innere Grundstruktur (»Helfen ist für mich ein hoher Wert und ein Ideal«) mit ihren hilfreichen und weniger hilfreichen Impulsen gut bewusst ist. Dieses so wichtige innere Bewusstsein und die notwendige Selbstreflexionsfähigkeit haben Menschen mit einem »Helfer-Syndrom« nicht.

Menschen mit einer Helfer- bzw. Helferinnen-Identität erleben bei sich aber ganz häufig eine typische und spezifische Schwierigkeit: Ihnen fällt es grundsätzlich eher schwer, mit Situationen von Hilflosigkeit umzugehen und diese auszuhalten. Zu diesen Situationen von Hilflosigkeit gehören auch Erfahrungen von eigener Begrenzung. Wenn sich dieses Buch des Themas »Versöhnung« annimmt, dann eben auch im Hinblick auf die wichtige Versöhnung von Begleitenden als Menschen mit einer solchen Identität mit ihren eigenen Erfahrungen von Begrenzung und Hilflosigkeit, die es unweigerlich in Sterbe- und Trauerbegleitungssituationen immer wieder neu geben wird. Mitunter ist die eigene Begrenztheit nicht nur eine Last, sondern sie kann auch ein Schutzraum sein für Begleitende und Trauernde – ein Schutzraum, hinter dessen Grenze etwas Neues, Anderes beginnen kann und darf, welches sich (jetzt) meiner Einflussnahme entzieht.

In dieser Bandbreite bewegen sich die nachfolgenden Gedanken. Sie tun dies ganz im Sinne einer nichtdirektiven Grundhaltung3 nicht als Lehrbuch, sondern mein Ziel besteht darin, zu sensibilisieren und ein fachliches Angebot zur eigenen Reflexion zu machen. In diesem Sinne hoffe ich, Menschen, die sich in der Trauerbegleitung engagieren, zu erreichen und ihnen ein genau solches Angebot zu machen.

Das Buch folgt dabei dem bewährten Dreischritt der »Edition Leidfaden«:

• theoretische Hinführung aus unterschiedlichen Blickwinkeln,

• Fallbeispiele aus der Trauerbegleitungspraxis,

• Informationen zur Wirkung und Umsetzung (praktische Hinweise).

Bevor ich mich dem zentralen Thema dieses Buches zuwende und die Begrifflichkeiten zu klären versuche, möchte ich zunächst zwei Unvermeidbarkeiten benennen, die unser Menschsein ausmachen und an denen wir nicht vorbeikommen. Es handelt sich dabei um die Unvermeidbarkeit von Schuld und Verwundungen.

_______________

1Ich benutze im Text abwechselnd die männliche und weibliche Form. Gemeint sind immer beide Geschlechter.

2Neben der Erlaubnis zu trauern, dem Ausdruck der Trauer und