Fritz Koppe: Ein Leben für den Konsumentenschutz - Catherine Lechner - E-Book

Fritz Koppe: Ein Leben für den Konsumentenschutz E-Book

Catherine Lechner

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Beschreibung

Im Rahmen seines Engagements für den Verbraucherschutz befasste sich Fritz Koppe sein ganzes Berufsleben lang mit der Verbesserung der industriellen Herstellung von Lebensmitteln. Der Verbraucherschutz, wie wir ihn heute als selbstverständlich wahrnehmen, wurde erst durch ihn ins Leben gerufen und gesetzlich verankert. 1929 in Wien geboren, erlebte Fritz Koppe als Sozialdemokrat und im weitesten Sinne Politiker in der Arbeiterkammer (AK) und im Verein für Konsumenteninformation (VKI) das 20. Jahrhundert und prägte diese Zeit durch seine Berufung als „Konsumentenpapst.“ Die Kennzeichnungspflicht brachte maßgebliche Verbesserungen für die Lebensmittelsicherheit. Catherine Lechner zeichnet in ihrem vorliegenden Buch den Lebensweg Fritz Koppes nach und beschreibt sein lebenslanges Engagement dafür, dass einerseits kein gesundheitsschädigendes Lebensmittel angeboten wird und andererseits der Konsument beim Kauf der Lebensmittel über die Inhaltsstoffe informiert wird. Besonders die persönlichen Berichte und Erinnerungen von Weggefährten und ehemaligen Mitarbeitern Koppes machen dieses Buch zu einer reichen Fundgrube an faszinierenden Hintergrundinformationen zur Entstehung des modernen Verbraucherschutzes.

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Seitenzahl: 263

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

1.1 Begründung und Ziel dieser Biografie

1.2 Die Familie Fritz Koppes

1.2.1 Eltern und deren Geschwister im Nationalsozialismus

1.2.2 Fritz Koppe in der Sozialistischen Jugend (1.12.1954 – 30.4.1958)

1.2.3 Der berufliche Werdegang von Fritz Koppe

2. Konsumentenschutz: Die Vorgeschichte

2.1 Die internationale Entwicklung der Konsumentenrechte und des Konsumentenschutzes

2.2 Die Entstehung und Entwicklung der Zeitschrift „Konsument“ in Österreich seit 1961

2.3 Die Aufgabe und Entstehung des politischen Konsumentenbeirats

3. Fritz Koppe und das Konsumentenschutzgesetz 1979

3.1 Die politische Vorgeschichte des Konsumentenschutzgesetzes 1979

3.2 Der Gesetzgebungsprozess im Parlament

3.3 Das neue Lebensmittelgesetz (LMG) 1975 und die Mitwirkung Fritz Koppes

4. Fritz Koppe und die Lebensmittelskandale

4.1 Der Fleischskandal

4.2 Der Weinskandal

5. Fritz Koppe und der Verein für Konsumenteninformation (VKI)

5.1 Die historische Entwicklung des VKI und seine Aufgaben

5.2 Die Veränderungen im VKI nach dem EU-Beitritt

6. Das Ausscheiden Fritz Koppes aus dem VKI und der AK

6.1 Fritz Koppes weitere Funktionen nach seiner aktiven Laufbahn

6.2 Nachrufe auf Fritz Koppe

7. Zusammenfassung

8 Verwendete Quellen und Literatur

8.1 Archivalien des Österreichischen Staatsarchivs

8.2 Archivalien des Parlamentsarchivs

8.3 Archivalien des Bezirksmuseums Wien-Josefstadt

8.4 Archivalien des Instituts für Historische Sozialforschung (AK)

8.5 Archivalien des Bundesministeriums für Handel, Gewerbe und Industrie

8.6 Literatur

8.7 Quellen aus einer Privatsammlung

9. Internetressourcen

10. Verzeichnis der Interviewpartner

11. Abbildungen

11.1 Firma Neuber

11.2 Zeugnisse von Fritz Koppe

11.3 Bilder von Fritz Koppe

Vorwort

Fritz Koppe war nicht nur der „Konsumentenpapst“, sondern auch an der Schaffung des Lebensmittelgesetzes 1975 und des Konsumentenschutzgesetzes 1979 beteiligt. Er engagierte sich für die Rechte der Konsumenten1 und trug deshalb den eingangs erwähnten Beinamen „Konsumentenpapst“. Über das Lebensmittelgesetz 1975 habe ich im Jahr 2020 meine Masterarbeit an der Universität Wien bei Univ.-Prof. Dr. Peter Becker verfasst und damals ein Kapitel Dr. Fritz Koppe gewidmet. Dieses Material, welches sich im Nachlass Koppes befand, bildete die Grundlage für weitere Forschungen. Der Koppe-Nachlass wird im Sozialarchiv der Arbeiterkammer (AK) aufbewahrt und ist nach Sachthemen geordnet. Dieser Nachlass ist bedeutsam für die weitere Forschung.

Fritz Koppe war ein Mensch, der für seine Überzeugungen gelebt hat und dessen wichtigstes Ziel es war, die Bevölkerung über die Konsumentenrechte aufzuklären, um sie unter anderem vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Ich habe von ehemaligen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von Fritz Koppe Informationen über seine Tätigkeit erhalten. Ich möchte allen Gesprächspartnern und Personen danken, die zusätzliches Material zur Verfügung gestellt haben. Besonders erwähnen möchte ich Maria Ettl, Koppes langjährige Sekretärin und Managerin 34 Jahre hindurch im VKI (jetzt in Pension, aber noch immer tätig als Direktorin des Bezirksmuseums Wien-Josefstadt), welche mir mit Rat und Tat Hilfestellungen leistete. Barbara Kintaert war 34 Jahre lang als Sachbearbeiterin in der SOWIDOK beschäftigt und mit der Beschlagwortung von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln bis Ende 2001 sowie der Betreuung von Lesern und Leserinnen bis Ende 2020 betraut. Aufgrund dieser Funktionen konnte sie mir viele relevante Artikel zur Erstellung der Biografie von Fritz Koppe zur Verfügung stellen. Bei Peter Hauer-Pawlik, ihrem Nachfolger, möchte ich mich ebenfalls für seine Unterstützung bedanken.

1 Auf Gendern des Texts wurde verzichtet, weil dies in der von dieser Arbeit beschriebenen Zeit noch nicht üblich war.

1. Einleitung

1.1 Begründung und Ziel dieser Biografie

Das Ziel dieser Biographie ist es, einen Überblick über Fritz Koppes umfangreiche Tätigkeiten und besonders den Konsumentenschutz, die Entstehung der Zeitschrift „Konsument“, den Verein für Konsumenteninformation (VKI) sowie Koppes privates Umfeld zu geben. Interessanterweise wurde Koppes Leben aus wissenschaftlicher Sicht noch nicht bearbeitet. Meine Arbeit verfolgt vorrangig folgende Zielsetzungen:

Fritz Koppes Biografie, d.h. über seine Eltern, Großeltern sowie seine eigene jüdische Herkunft nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ und die Ermordung seiner jüdischen Verwandtschaft im Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Er wurde von den Nationalsozialisten als sogenannter „Mischling ersten Grades“ nach den „Nürnberger Gesetzen“ diskriminiert.

Fritz Koppes politische Karriere darzustellen: Er war langjähriges Mitglied der Sozialistischen Jugend Österreichs und bei der internationalen Organisation der sozialistischen Jugend (IUSY) tätig.

Koppes berufliche Laufbahn als Konsumentenschützer sowie seinen Einsatz in der Arbeiterkammer (AK) und als Wegbereiter der Zeitschrift „Konsument“ zu beschreiben.

Koppes Engagement für das Konsumentenschutzgesetz 1979 und das Lebensmittelgesetz (LMG) 1975 zu würdigen. Er engagierte sich für den Gesundheitsschutz und trat unter anderem für die Kennzeichnungspflicht ein, die zu weitreichenden Verbesserungen für die Konsumenten führte.

Koppes Freundschaft und Zusammenarbeit mit Josef Staribacher, dem späteren Handelsminister, wobei er zunächst als Sekretär des Ministers für konsumentenpolitische Angelegenheiten zuständig und ab 1973 Geschäftsführer des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) war.

Sein persönlicher Nachlass ist ein zeithistorisches Dokument und deshalb zeige ich in dieser Biografie die bedeutendsten Innovationen Koppes auf. Seine Tätigkeiten sind dermaßen umfangreich, dass sich in der weiteren Forschung noch mehr Erkenntnisse über seine Tätigkeit herauskristallisieren dürften.

Meine Forschungen beziehen sich nicht nur auf Koppes historische Biografie, sondern sind vor allem mit seinem politischen Wirken für den Konsumentenschutz in der Arbeiterkammer verbunden. Der Gegenstand der Arbeit umfasst damit eine soziologische und historische Bearbeitung der Person Fritz Koppes und seiner Familie sowie der vielen Tätigkeiten, welche er im Lauf seines Lebens ausübte. Ohne einen geschichtlichen Blick auf die Entstehung des Konsumentenschutzgesetzes, der daraus abgeleiteten Rechte der Konsumenten und Konsumentinnen sowie der Zeitung „Konsument“ sind die Entwicklungen nicht zu verstehen. Konsum und Konsumentenrollen unterliegen einer Veränderungsdynamik, welche nicht abgeschlossen ist, wie z.B. die Kennzeichnungspflicht im neuen Lebensmittelgesetz zeigt. Fritz Koppe hat sich mit den fachwissenschaftlichen Themen intensiv beschäftigt.

Diese Ausführungen fanden in seinen Büchern einen weiteren Niederschlag. Seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass viele Neuerungen, z.B. die Einführung des Konsumentenschutzes, umgesetzt wurden. Es scheint dennoch so, als ob er in Vergessenheit geraten wäre. Deswegen war es mir ein Anliegen, über Fritz Koppe zu schreiben, um sich an ihn als Mensch und an seine Leistungen zu erinnern.

1.2 Die Familie Fritz Koppes

1.2.1 Eltern und deren Geschwister im Nationalsozialismus

Der väterliche Großvater von Fritz Koppe, Carl W. Koppe, stammte aus Preußen bzw. aus dessen Provinz Brandenburg und war Maurer. Mit seiner ersten Frau, Lina Neupert, hatte er zwei Kinder, Max und Grete, die in Luckenwalde (zwischen Leipzig und Berlin) geboren wurden. Nach dem frühen Tod seiner Frau heiratete Carl erneut und bekam mit seiner zweiten Ehefrau einen weiteren Sohn und eine Tochter. Die Familie war evangelisch/protestantisch nach dem Augsburger Bekenntnis (A.B.).1

Max Koppe, geboren am 24.9.1887 in Luckenwalde, besuchte in seiner Heimat sechs Jahre die Volksschule und absolvierte nach einer weiterführenden Schule eine Ausbildung als Schriftsetzer.2 Als er die Lehrzeit 1906 beendet hatte, ging er auf Wanderschaft, d.h. „auf die Walz.“3 Fritz Koppe erinnerte sich 2009: „Mein Vater wollte die Welt kennenlernen.4 Fritz Koppe schildert in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen, dass sein Vater von Buchdruckerei zu Buchdruckerei wanderte und seinen Sonntagsanzug in einem Koffer mit der Bahn hunderte Kilometer vorausschickte, um ihn zu schonen. Dieser Anzug war dann ein regelmäßiger Begleiter von Max Koppe. Er trug ihn so oft wie möglich, so auch auf der Strecke von Luckenwalde bei Berlin bis Straßburg, durch das Rheinland und die östliche Schweiz bis nach Wien. Dieser Anzug blieb für Max Koppe immer das Ideal eines „guten Stückes.“5 Diese Strecken legte er großteils zu Fuß zurück. 1910 ließ er sich für immer in Wien nieder.6 Max Koppe arbeitete immer wieder in seinem erlernten Beruf. Fritz Koppe berichtete über seinen Vater: „Es gab zwei Dinge, die er immer tat, wenn er in eine neue Stadt kam: Er meldete sich erstens bei der Buchdruckergewerkschaft und zweitens bei den Sozialdemokraten.“7

Max Koppe baute in Wien zusammen mit Max Winter (ein österreichischer Journalist und Politiker, 1870-1937) die sozialdemokratische Bildungseinrichtung „Kinderfreunde Leopoldstadt“ auf, wobei seine spätere Frau, Berta Fleischer, von Beginn an dabei war. Mitglieder dieser Organisation beaufsichtigten gegen einen geringen Mitgliedsbeitrag Kinder (Ausflüge etc.), deren Eltern sie ihnen zeitweilig anvertrauten.8 Leider hat nahezu niemand von den Funktionären und den beaufsichtigten Kindern der „Kinderfreunde Leopoldstadt“, die alle der Sozialdemokratie angehörten und fast alle jüdischer Abstammung waren, die Judenverfolgung überlebt.9 Max Winter, der 1889 die „Arbeiterzeitung“ gegründet hatte, war gleichzeitig einer von deren Redakteuren.10Da sein Vater gewalttätig war, beschloss er bereits in frühen Jugendjahren, bei einer Verbesserung der Lebensbedingungen in der Gesellschaft mitzuwirken.11 Es war ihm ein großes Bedürfnis, mehr Verständnis für Kinder zu erwirken. So gründete er unter anderem 1910 die Ortsgruppe „Alsergrund“.12

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Max Koppe nicht zum Kriegsdienst eingezogen, weil er lungenkrank (TBC) war. Während viele seiner Freunde zum Kriegseinsatz verpflichtet wurden, wurde Max Koppe mit der Leitung der Kinderfreunde beauftragt.13 Der Zweck der Kinderfreunde war nicht nur mit Bildung und Freizeit verbunden, sondern er hatte auch eine politische Ausrichtung.14

Max Koppe berichtete: „Nachdem ich nun das Glück hatte, mein Vaterland nicht verteidigen zu müssen, übernahm ich nun die Obmannstelle der Kinderfreunde – eine Funktion, die erst am 13. Februar 1934 von der Polizei in einer Kerkerzelle im Prater-Kommissariat als beendet erklärt wurde.“15 Kurzfristig wurde Max Koppe im Februar 1934 unter dem Verdacht inhaftiert, Waffen des Schutzbundes zu verstecken.16 Er leistete bereits im April 1945 als neuerlicher Vereinsobmann einen wesentlichen Beitrag zur Wiedererrichtung der Ortsgruppe Wien-Leopoldstadt der österreichischen Kinderfreunde. Nebenbei übte er viele Jahre lang verlässlich die Funktion eines Kontroll- und Überwachungsausschussmitglieds im Landesvorstand der Wiener Kinderfreunde aus.17 Sein Glaube an den Sozialismus blieb trotz des Hitlerregimes und seiner Existenzvernichtung weiterhin bestehen.18 Ab 1945 war er in der Sozialdemokratischen Partei erneut tätig.19 1948 vertraute Max Koppe die Führung der Gemeinschaft dem damaligen Obmann Josef Weis an.20Max Koppe hat enorme Leistungen für die italienischen Überschwemmungsopfer im Zuge der Polesine-Aktion 1952 erbracht. So wurden seinerzeit auf seinen Einsatz hin 500 Kinder aus dem Po-Gebiet (Italien) zu einem Erholungsaufenthalt nach Wien geschickt.21 Er arbeitete in den Jahren 1914 bis 1934 als Obmann. In dieser Zeit gründete Koppe die Tageserholungsstätte in der Freudenau.22Dieser Verein organisierte Lernmöglichkeiten sowie Ausflüge für die Kinder des Arbeiterviertels, deren Eltern sich meistens in Untermiete befanden, und gründete darüber hinaus Spiel- und Sportstätten.23 Im Februar 1934, mit der Untersagung der Kinderfreunde und der Pfändung ihres Besitzes, ging alles aus heiterem Himmel rasch zu Ende. Die Jugendgemeinschaften der Roten Falken und der Sozialistischen Arbeiterjugend waren augenblicklich sich selbst überlassen und gingen in die Illegalität. Zudem konnte die Durchführung solcher politischer Tätigkeiten mit Haft bestraft werden. Dennoch lebten diese Organisationen weiter. Der bedeutsamste Unterschlupf war die Lobau, eine ursprüngliche Aulandschaft an der Donau in Wien.24 1934 wurden alle Organisationen der Sozialdemokratischen Partei unter Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, dem Nachfolger von Engelbert Dollfuß, verboten. Auch die Kinderfreunde-Büchereien wurden geplündert und erst nach Kriegsende 1945 – notdürftig - wiederhergestellt. Die Kinderfreunde hatten jedoch nie mehr jene Relevanz wie in der Zwischenkriegszeit, bevor sie das autoritäre Dollfuß-Regime auflöste.25 Zu Ehren Max Koppes wurde im Jahre 2005 eine Gasse im zweiten Bezirk nach ihm benannt.26

Max Koppe übte seinen Beruf als Schriftsetzer von 1911 bis 1931 erfolgreich aus. Ab 1931 bis zu seiner Kündigung durch die Nationalsozialisten 1938 - „wegen politischer Unzuverlässigkeit“- war er als Hausinspektor der Gemeindebauten der Stadt Wien tätig. Nach dem Kriegsende 1945 bis zu seiner Pensionierung 1954 übertrug man ihm abermals die frühere Stellung als Inspektor bei der Hausverwaltung der Gemeindebauten der Stadt Wien.271910 lernte er seine Frau Berta Fleischer, geboren 1889 in Wien im zweiten Bezirk, kennen und vermählte sich 1921 mit ihr. Sie war wie Max Koppe in der sozialistischen Bewegung tätig.28 Berta Fleischer war nicht nur eine gelernte Buchhalterin, sondern auch maßgeblich am Aufbau des Büchereiwesens der Leopoldstädter Kinderfreunde beteiligt und für die Ausbildung ehrenamtlicher Bibliothekarinnen zuständig.29 Die Eheschließung bewahrte die Jüdin Fleischer später vor der Deportation durch das NS-Regime und sicherte ihr das Überleben.30 Sie wurde allerdings diskriminiert und musste mit den mit „J“ für Jude/Jüdin gekennzeichneten Lebensmittelkarten einkaufen gehen. Dadurch bekam sie nur minderwertige Lebensmittel. Damit sollte auf die jüdische Abstammung des Karteninhabers hingewiesen werden.31 Außerdem durfte sie den Schrebergarten an der Alten Donau, den die Familie Koppe gepachtet hatte, als Jüdin nicht benützen.32 Fritz Koppe erinnerte sich: „Erst in den letzten Kriegsjahren wohnte sie wieder in unserem Gartenhaus, wurde als meine ‚Tante‘ ausgegeben und betrat möglichst selten den Garten vor unserem Haus und verließ niemals die Parzelle. Besonders arg war es für uns, dass sie nie einen Ausflug machen konnte und kein Kino oder Theater besuchen durfte.“33Max Koppe konnte mit seiner „preußischen Art“ gegen etwaige Nazi-Profiteure erreichen, dass der Schrebergarten an der Alten Donau nicht „arisiert“ wurde.34 Über die Besitzverhältnisse des Schrebergartens wusste die Schwiegertochter Barbara Kintaert nur, dass die Koppes (vielleicht schon seit der Hochzeit 1921 oder auch erst zehn Jahre später, als Fritz Koppe ein kleiner Bub war) diesen Garten im Kleingartenverein „Mexiko“ gepachtet hatten, und zwar für „99 Jahre“. Der „Wahlmexikaner“ verbrachte später jedes Wochenende in diesem Garten.35

Berta Fleischer hatte drei ältere Schwestern, Cäcilia (geboren 1883), Jeanette (geboren 1886) und Henriette (geboren 1888). Diese vier „Fleischer-Mädeln“ waren alle in Wien geboren, stammten aber aus einer typischen k.u.k. österreichischen „zugezogenen“ Familie: Der Vater, Heinrich (Chaim) Fleischer, Fritz Koppes Großvater mütterlicherseits, stammte aus Óbuda, einem Außenbezirk von Budapest – heute der dritte Bezirk Budapests – war 1856 geboren und der Jüngste unter seinen Geschwistern. Er heiratete 1882 in Wien Adelina Schnürmacher, die in der südmährischen Stadt Trebitsch (Třebíč) 1859 geboren worden war. Adelina hatte nur einen älteren Bruder namens Leopold Fleischer. Heinrich Fleischer war Kondukteur bei der privaten Wiener Straßenbahngesellschaft, die erst später unter dem christlichsozialen Bürgermeister Karl Lueger (1844-1910) kommunalisiert wurde. Die nicht sehr orthodox-religiöse jüdische Familie Fleischer lebte in der Taborstraße 59 im zweiten Wiener Bezirk.36 Berta Koppe war die einzige der vier Schwestern, die den Holocaust überlebte.37 Sie wollte zunächst nach Großbritannien auswandern und lernte dazu Englisch. Zudem lernte sie englische Rezepte auswendig, um als Köchin für die österreichische und englische Küche zu arbeiten. Berta wollte ihren Sohn mitnehmen, aber Max Koppe war gegen diesen Plan. Daraufhin wollte sie alleine reisen, aber die Schwierigkeiten, Arbeit in England zu bekommen, wurden immer größer. Deswegen entschloss sie sich schweren Herzens dazu, während des Krieges in Wien zu bleiben.38

Bertas älteste Schwester, Cäcilia Fleischer, verheiratete Schechter, hatte mit ihrem Mann, Michael Schechter, ein Delikatessengeschäft in Wien in der Märzstraße/Ecke Johnstraße. Ihr Sohn, Walter Schechter, geboren 1904, war Beamter der Wiener Krankenkasse und hatte ein Wochenendhaus im 18. Bezirk. Cäcilie Schechter, ihr Mann, ihr Sohn, ihre Schwiegertochter Grete sowie ihr Enkel, Richard Schechter, geboren 1926, mussten das Geschäft und alle ihre Besitztümer den Nationalsozialisten überlassen und flohen zunächst nach Finnland.39 Dort kam Cäcilie Fleischer am 13. Oktober 1942 bei einem sowjetischen Luftangriff auf Helsinki ums Leben. Die trauernde Familie zog daraufhin weiter nach Schweden bzw. Stockholm, wo sie den Krieg überlebten, jedoch nicht mehr nach Wien zurückkehrten.40 Durch ihre Familienforschung konnte Mag. Barbara Kintaert 2008 den Kontakt zu Richard Schechter in Stockholm wiederherstellen. Daraufhin übergab er ihr mehrere alte Fotos der Familie.

Die zweitälteste Schwester Jeanette (Jenny, geboren 1886), verheiratet mit Siegfried Albin,41 einem Handelsvertreter in verschiedenen Ländern, besonders auf dem Balkan und in Frankreich42, hatte einen Sohn und zwei Töchter, die beide auswandern konnten.43 Jeanette Albins älteste Tochter, Alice (Liesl, geboren 1909), wanderte mit ihrem Mann, Robert Brunner, einem Elektriker, wohnhaft in der Darwingasse 33, nach Bolivien und von dort in die USA aus.44 Fritz Koppe besuchte Robert und Liesl vor vielen Jahrzehnten einmal in New York.45 Jeanette Albin war, wie ihre Schwester Berta Fleischer, in der Bibliothek der Kinderfreunde tätig.46

Jeanettes zweite Tochter, Gretl Albin (geboren 1914), emigrierte als Hausgehilfin nach England und blieb bis an ihr Lebensende dort. Fritz Koppe besuchte sie zweimal in England.47 Seine Tante „Jenny“ und sein Cousin Hans Albin wurden im Februar 1941 von den Nationalsozialisten von Wien nach Opole Lubelskie deportiert – einem Ghetto im heutigen Polen. Eineinhalb Jahre später wurden dieses Ghetto und die dorthin deportierten Menschen „liquidiert“, was die Deutschen als „Erntedankfest“ bezeichneten. Siegfried Albin war unterdessen in Frankreich festgenommen und nach Drancy, einer französischen Gemeinde bei Paris, gebracht worden. Von dort wurde er nach Auschwitz verschleppt und ermordet.48

Die drittälteste Schwester, Henriette Jetty (geboren 1888), verheiratet mit Leo Adler, hatte zwei Söhne, Oswald (geboren 1920) und Richard Adler (geboren 1921). Beide Söhne waren schon von früher Kindheit an von den sozialdemokratischen Gedanken durchdrungen und hatten den kleinen Fritzi durch diese Gesinnung stark geprägt. Oswald und Richard Adler waren in der sozialistischen Kinderfreunde-Bewegung von klein auf aktiv. Sie waren bei der Sozialistischen Jugend und als die Sozialdemokratie und die Kinderfreunde im Jahr 1933 verboten wurden, waren sie bei den illegalen SJ Zeltlagerstätten in der Lobau und im Widerstand gegen den Austro-Faschismus. Mit diesen Cousins hatte Fritz Koppe eine sehr enge Verbindung, die ihn schon früh politisch sozialisierte. Allerdings wurde er noch mehr von seinen Eltern sozialdemokratisch sozialisiert.

Henriette war ausgebildete Schneiderin und Leo Adler übte den Beruf eines Handelsangestellten aus.49 Aus politischen Gründen kam ihr Sohn Oswald im Herbst 1938 in Gestapohaft und ein paar Monate später ins KZ Dachau. Seine Eltern schafften es mit einem gekauften Monte-Carlo-Visum, Oswald im Juni 1939 aus Dachau zu befreien. Er musste allerdings unverzüglich das Deutsche Reich verlassen.50 Er heiratete im Juli 1939 seine Freundin Trude Glaser, welche allerdings kein eigenes Visum hatte, aber als seine Ehefrau mit ihm gemeinsam auf seinem Visum nach Italien (Triest) fliehen konnte.51 Henriette und Leo Adler hatten nun aber kein Geld mehr. Sie versuchten Unterstützung von der Gildemeester-Aktion zu bekommen, aber vergebens.52 Die Gildemeester-Aktion bezweckte, dass reiche jüdische Bürger emigrieren konnten, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie zugleich durch Beschlagnahme ihres Vermögens und Vertreibung aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen wurden. Durch einen solchen Ausreiseantrag unter restloser Beraubung der Eigentümer wurde zugleich die Ausreise vermögensloser Juden und Jüdinnen finanziert. Benannt wurde diese Variante der Emigration 1938 nach dem Niederländer Frank van Gheel Gildemeester.53

Im Frühjahr 1944 erhielt Berta Koppe keine Post mehr von ihrem Neffen Oswald Adler aus Italien, wo er in einem Gebirgsdorf in Latium als „internato civile di guerra“ als registrierter Flüchtling lebte. Die Nationalsozialisten hatten letztendlich Oswald Adler und zahlreiche andere jüdische Flüchtlinge in den Bergen nahe Montecassino entdeckt und in das KZ Fossoli bei Carpi in der Provinz Modena deportiert. Von dort wurden sie im Mai 1944 nach Auschwitz gebracht. Oswald Adler starb eine Woche nach dem Todesmarsch vom KZ Groß-Rosen ins KZ Flossenbürg am 4. März 1945 an Erschöpfung und Erfrierungen – nur wenige Wochen vor der Befreiung und vor seinem 25. Geburtstag. Trude Adler, geborene Glaser, überlebte das Vernichtungslager schwer gezeichnet und emigrierte nach Israel. Einen Monat nach der Deportation von Jeanette und Hans Albin kamen Henriette und Leo Adler im März 1941 in das Ghetto Lagow/Opatow und wurden eineinhalb Jahre danach ebenfalls von den Nationalsozialisten ermordet.54

Richard Adler, der jüngere Bruder von Oswald Adler, verbrachte den Sommer 1938 in einem Ferienlager der verbotenen sozialistischen Jugend in der Wiener Lobau. Ein angrenzendes Camp der zionistischen sozialistischen Jugend plante die Emigration nach Palästina/Erez Israel. Leo Adler, der Vater von Richard, gab ihm den Rat, sich dieser Gruppe anzuschließen. Es gelang ihm tatsächlich, mit einem legalen britischen Palästina-Zertifikat der Jugend-Aliah für unter 17-Jährige nach Palästina zu flüchten; er leistete Dienst beim britischen Militär. 1945 besuchte Richard Adler sogar seinen Cousin Fritz Koppe und dessen Eltern in deren Wohnung, die in der russischen Zone Wiens lag, in britischer Uniform. Unermüdlich beteiligte er sich an der Erforschung des ungewissen Schicksals seines Bruders. Später wurde er in Palästina aus der Armee verabschiedet und schloss sich einem Kibbuz an,55 d.h. einer Besiedlungsform in Israel, welche auf einer progressiven und gemeinnützigen Grundlage aufbaut.56 Richard Adler verbrachte sein weiteres Leben in Haifa.57

Sowohl Max Koppe als auch Berta Koppe waren konfessionslos. Berta Fleischer trat aus der Jüdischen Kultusgemeinde am 17. November 1921 aus. Fritz Koppe wurde ebenfalls konfessionslos erzogen.58 Fritz Koppe dazu: „1935, als ich in die Schule kam, war Konfessionslosigkeit ein echtes Problem. Mein Vater ließ mich daher evangelisch taufen. Ich spüre heute noch das kalte Wasser, das mir bei der Taufe über den Kopf geschüttet wurde!“59

Max und Berta Koppe kreierten vor ungefähr 100 Jahren den seither gebräuchlichen Familienspruch: „Ich bin kein Judʼ, ich bin kein Christ, ich bin ein kleiner Sozialist!“60 Dieser Leitsatz wurde für beide fast eine Ersatzreligion und stand für Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Solidarität mit den Ärmsten.61

Eineinhalb Jahre lang war Fritz Koppes Mutter die postalische Drehscheibe zwischen allen vier verstreut lebenden Schwestern und deren Kindern. Sie pflegte Briefkontakte mit ihren Schwestern sowie mit den Schechters in Skandinavien, mit Oswald in Italien und mit Richard Adler in Palästina, außerdem in England und Bolivien mit Gretl und Liesl. Ab Ende Oktober 1942 erhielt Berta Koppe keine Briefe mehr von ihren Schwestern. Alle drei waren im selben Monat ermordet worden. Berta Koppe, eine zuvor lebensfrohe, humorvolle und tatkräftige Frau, wurde durch diese Umstände sehr depressiv.62

Fritz Koppe erinnerte sich, „dass er eine eigenartige Beziehung zur Hitlerjugend bzw. Jungvolk hatte.“63 Er wurde in drastischer Weise gezwungen, an den Heimabenden des Jungvolks teilzunehmen. Es war ihm zwar untersagt, einen Dolch zu tragen, aber er musste praktisch alle Verpflichtungen und Tätigkeiten dieser NSDAP-Gliederung erfüllen. Fritz Koppe blieb nichts anderes übrig, als alle Lieder der Hitlerjugend zu lernen und sich an den Feierstunden zu beteiligen. Als er versuchte sich fernzuhalten, wurde er zur Kreisleitung der NSDAP zitiert, die ihn über seine Pflichten als deutscher Arier aufklärte. Denkwürdig erschien Fritz Koppe auch die Lage gegen Ende des Krieges. Er bemerkte darüber Folgendes: „Ich war an sich ‚wehrunwürdig‘ (wegen einer angeborenen Sehschwäche), aber 1945 wurde ich zu einem sechswöchigen ‚Wehrertüchtigungslehrgang‘ einberufen, bei dem allerdings unsere Ausbildner angesichts des nahezu offenen Widerstandes meiner ehemaligen Schulkollegen und mir einen ziemlich harten Stand hatten. Trotzdem erhielt ich noch am 1. April 1945 (die Geschütze von den Flaktürmen waren bereits in den Endkampf mit den sowjetischen Truppen) meine Einberufung zur Wehrmacht. Ich leistete der Einberufung keine Folge, sondern desertierte und verbrachte die letzten Kriegstage nicht an der Front, sondern im Keller.“64

Einer seiner Freunde war im deutschen Reichsarbeitsdienst und kam in sowjetische Gefangenschaft. Erst nach zwölf Jahren Gefangenschaft kam er wieder nach Wien zurück. Nach dem Krieg sind die überlebenden Angehörigen von Fritz Koppe nie mehr nach Österreich zurückgekehrt und der andere Teil der Verwandten der Familie Koppe war in den Vernichtungslagern ermordet worden.65

1.2.2 Fritz Koppe in der Sozialistischen Jugend (1.12.1954 – 30.4.1958)

Fritz Koppe war vom 1. Dezember 1954 bis zum 30. April 1958 Schulungsreferent der Sozialistischen Jugend und Chefredakteur der Zeitschrift „Trotzdem.“66 Hierbei erwarb er seine ersten praktischen Erfahrungen als Journalist und in der Öffentlichkeitsarbeit.67 Koppe erinnerte sich 2008, wie die Zeitung entstand: „Oswald Schanovsky war ein Cousin des Linzer Bürgermeisters Hugo Schanovsky (Linzer Bürgermeister von 1984 bis 1988) und der Schani war als Redakteur der Niederösterreichischen Nachrichten journalistisch tätig. Er war Graphiker und hat eine Reihe von Zeichnungen und Plakaten angefertigt. Das geht jetzt zurück auf die Zeit der Sozialistischen Jugend, da hat er für die Sozialistische Jugend erstens Plakate hergestellt und zweitens haben wir gemeinsam die Zeitschrift ‚Die Stimme der Jugend‘ herausgegeben, die von den Russen verboten wurde.68 Das Verbot war die Folge des Kampfes der Sozialistischen Jugend gegen jede Form von Besatzungsterror, besonders aber gegen den massiven Druck der Russen.69 Es entstand eine neue Publikation, die wir gemeinsam gemacht hatten, und wir haben schöne Zeichnungen hergestellt, z.B. jemand sitzt am Sessel und der Mund ist zugebunden. Dann erschien aber eine neue Zeitschrift und die hieß – als Trotz gegen das Verbot der Russen – ‚Trotzdem!‘ Die Zeitung gibt es noch heute.“70 Der damalige Bezirksobmann Robert Uhlir wollte, dass Koppe im Bezirk Leopoldstadt seine Tätigkeit übernahm, aber Koppe hatte schon den Jugendfunktionären zugesagt. Daraufhin gewann Uhlir Edgar Schranz, der aus einem anderen Bezirk stammte, als seinen Nachfolger. Koppe war dann vier Jahre hauptberuflich Jugendfunktionär.71

1952 wurden unter dem Schulungsreferenten Koppe Kaderschulungen veranstaltet, weil es kein einheitliches Schulungskonzept gab. Diese Schulungen unterschieden sich aber inhaltlich nicht wesentlich von den bisherigen. Immerhin wurde auf dem Papier eine exakte Zusammenstellung der Teilnehmer, Schulungsarten und Anwesenden verlangt.72 Koppe kommentierte 1952 einen Bericht über die politische Lage in den Betrieben, worin er sich für die Arbeiterklasse aussprach und sich mit den Positionen der politischen Parteien ÖVP, Verband der Unabhängigen (VdU, der Vorläufer der FPÖ) und KPÖ näher befasste. Koppe brachte dabei seine eigenen Vorstellungen von der Rolle der Sozialistischen Jugend in der Sozialistischen Partei ein.73

Die materiellen Entbehrungen durch die Mangelwirtschaft in der Nachkriegszeit vermittelten den jungen Arbeitern die Dringlichkeit der Teilnahme an der politischen Gestaltung der sozialen Bedingungen. Dadurch wurde eine grundlegende Wandlung der kapitalistischen Ordnung ermöglicht. Aufgrund dieses wirtschaftlichen Aufschwungs und der damit verbundenen Vollbeschäftigungspolitik ging die Zahl der Arbeitslosen rapide zurück.74 Der Raab-Kamitz-Kurs (Reinhard Kamitz war parteiloser Finanzminister) gilt als Basis des österreichischen Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit.75

Diese Veränderungen wurden im Tätigkeitsbericht der ÖGB-Jugendabteilung von 1957 erwähnt. Höhere Löhne und die Sicherheit der Arbeitsplätze hatten zur Folge, dass die gewerkschaftlichen Konflikte und das gemeinsame Vorgehen der Arbeiterklasse abnahmen.76

Die Lohn- und Preisabkommen bildeten die ersten Ansätze der Wirtschaftspartnerschaft der Zweiten Republik. In ihnen manifestierte sich die Bereitschaft der Gewerkschaftsführung, Arbeiterinteressen zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung hintanzustellen. Die Politik der Gewerkschaftsführung befand sich ganz auf der Linie der Architekten des Marshallplanes: Die Lohn- und Preisabkommen sollten inflationären Tendenzen entgegenwirken sowie der Stabilisierung der Währung und der Konsolidierung des Staatshaushaltes dienen. Am 25. September 1950 leiteten Betriebsversammlungen die massivste Streikbewegung der Zweiten Republik ein. Der Grund für diese Proteste lag im Bekanntwerden der Inhalte des 4. Lohn- und Preisabkommens, das am 26. September vom Vorstand des ÖGB und vom Ministerrat beschlossen werden sollte.77

Die Grundlage des Gelingens der Sozialpartnerschaft waren die stabilen Verbindungen der Parteien zu ihren Interessensvertretungen, wie jene der SPÖ zur Gewerkschaft und jene der ÖVP zur Bundeswirtschafts- und Landwirtschaftskammer. Das vereinfachte die Verwirklichung der Maßnahmen, weil die große Koalition in der Regierung und die ihr nahestehenden Interessensvertretungen gemeinsame Ziele verfolgen.78

Die Zeitschrift „Trotzdem“ schrieb 1957, dass „es die heutige Generation der jungen Sozialisten schwer hat, weil der einzelne glaubt, den materiellen Aufschwung erreichen zu können“ – ungeachtet des Schicksals der Arbeiterklasse. Die Arbeiter hätten jetzt denselben Lebensstandard wie die „Kleinbürger“. Dadurch wurde die Bereitschaft zu politischer Aktivität geringer, weil es den Arbeitern „zu gut geht“.79 Für die Masse der jungen Menschen waren die Probleme der Politik unverständlich und deswegen suchten sie Ablenkung z.B. beim Kino, Tanzen und Sport.80

Schulungsreferent Fritz Koppe schloss daraus: „Auch, wenn die Arbeiter satt und zufrieden geworden sind, dürfen wir deshalb nicht auf dem halben Weg zum Sozialismus stehenbleiben. Es gibt keinen Schutzweg auf dem Weg zum Sozialismus, indem wir beruhigt einkehren könnten. Wenn die Arbeiterschaft […] einschläft, weil sie zu fett und faul geworden ist, so wird sie erfrieren. Wenn wir nicht auf halbem Weg liegenbleiben dürfen, weil das verhängnisvolle Folgen hätte, so brauchen wir einen geistigen Wecker, der die Arbeiterklasse aktiv und kampffähig erhält. Die Kraft, die geistige Neuorientierung der sozialistischen Bewegung zu erreichen, muss […] von der Jugend ausgehen. Wir müssen unsere Kader – eine aktive Minderheit – schulen, damit er hinausgeht und agitiert.“ Bei der „Aktion Kader“ wurde die direkte Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rechten in Schulen, Betrieben und der Gesellschaft versäumt. Eine Schulung des Personals war zu wenig. Die „Aktion Kader“ scheiterte zu Beginn der 1960er Jahre einerseits durch die zu wenig gründliche Auseinandersetzung mit der Krise und andererseits durch personelle Veränderungen, wie das Ausscheiden des Schulungsreferenten Fritz Koppe.81

Die Aufgaben der Sozialistischen Jugend waren nach seiner Ansicht unter anderem folgende:

Die Sozialistische Jugend ist eine Vorfeldorganisation, welche die Interessensgemeinschaft der Jugend innerhalb der Partei und der Öffentlichkeit darstellt. In der Sozialistischen Jugend lag der Schwerpunkt auf der sozialen Gerechtigkeit und war gegen die ökonomische Ausbeutung der Jugendlichen gerichtet. Der Schwerpunkt lag unter anderem auf dem Recht auf eine gute Berufsausbildung, freies Studium und Arbeit. Die Sozialistische Jugend konzentrierte sich auf die Lehre von Karl Marx „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Es ging also bei diesen Forderungen um den materiellen Unterbau der Gesellschaft, der eine erforderliche Grundlage zur Umsetzung des kulturellen Lebens ist. Bei der Umsetzung ihrer Forderungen konnte die Sozialistische Jugend einige Erfolge verbuchen, z.B. die Neufassung des Jugendschutzgesetzes, das Jugendeinstellungsgesetz, die 44-Stunden-Woche, die Einführung von vier Wochen Urlaub sowie eine höhere Lehrlingsentschädigung.

Die Sozialistische Jugend ist eine Bildungs- und Erziehungsorganisation. Die Arbeiterjugend soll mit dem Bewusstsein vertraut gemacht werden, dass Erfolge zur Realisierung der sozialistischen Gesellschaftsordnung beitragen. Der junge Mensch sollte vor allem gebildet werden, unter anderem durch Kunst, Theater und Literatur.82 Die Sozialistische Jugend hatte immer gegen den Faschismus gekämpft, d.h. sie war ein aktiver Gegner des Nationalsozialismus in Österreich.83

Barbara Kintaert hat im Keller ihres verstorbenen Mannes Schriften Koppes gefunden, die sie mir zukommen ließ. In diesen Unterlagen sind allerdings nur allgemeine Formulierungen aus seiner Feder zu finden, z.B. darüber, dass die Sozialistische Jugend ein Teil der großen Vorfeldgemeinschaft der sozialistischen Bewegung war. Das wichtigste Ziel der Sozialistischen Jugend bestand darin, die Welt zum Positiven hin zu verändern; deswegen waren alle dem Zeitgeist entsprechend sozialistische „Kampfgenossen“. Schon das Wort „Genosse“ stand für das Gemeinsame. Der Schöpfer der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, bezeichnete die Sozialistische Jugend als die „Kaderschule der Partei.“ Aus dieser Organisation stammten die eifrigsten und engagiertesten Repräsentanten der Arbeiterbewegung.84 Das Individuum kann nur in einer Gesamtheit Wertschätzung und Anerkennung finden; das ist es auch, was die Sozialistische Jugend ausmacht.85 Fritz Koppe berichtet in einem Manuskript von 1958, dass die Regierung ein neues Jugendwohlfahrtsgesetz beschlossen hat. Er bringt damit zum Ausdruck, dass dieses Gesetz endlich in Zukunft eindeutige Rechtsverhältnisse mit sich bringen werde.86

1.2.3 Der berufliche Werdegang von Fritz Koppe

Fritz Koppe wurde am 25. Februar 1929 in Wien geboren.87 Da er nach den „Nürnberger Gesetzen“ als „Mischling ersten Grades“ galt, durfte er nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 kein Gymnasium besuchen. Die Nationalsozialisten wollten, dass Kinder jüdischer Abstammung wie Fritz Koppe, der noch dazu seit seiner Geburt fast blind war, nach Beendigung der Hauptschule maximal „Bürstenbinder“ oder „Steinmetz“ lernten. Sein Vater konnte durch seinen privaten Kontakt zur Firma Neuber in der Linken Wienzeile seinen Sohn als Lehrling unterbringen. Diese Lehre von 1943 bis 1946 schloss Fritz Koppe als Drogist ab. Er hatte Zeit seines Lebens nur gute Erinnerungen an seine Drogerielehre bei der Firma Neuber.88 Dieses Unternehmen war der größte Händler für Drogeriewaren nicht nur von Wien, sondern von Österreich. Wilhelm Neuber übernahm nach seinem Studium an der Universität Wien 1865 die Drogerie und leistete zudem einen bedeutenden Beitrag zur Entstehung des Lebensmittelgesetzes von 1897.89

Vom Herbst 1945 bis zum Frühjahr 1947 absolvierte Fritz Koppe eine zweijährige Externistenmaturaschule90, zusätzlich zu seiner Ausbildung bei der Firma Neuber.91 Im ersten Jahrgang hatte er am Abend Unterricht und im zweiten Jahrgang ging er tagsüber zur Schule. Von mehr als 100 Studierenden (männlichen und weiblichen) bestanden nur 20 die Maturaprüfung.92

Als sein damaliger Freund Josef Staribacher, der spätere sozialdemokratische Handelsminister der Kreisky-Zeit, hörte, dass Fritz Koppe Chemie studieren wollte, riet er ihm wegen seiner Sehschwäche davon ab.93 Fritz Koppe lernte, mit seiner Behinderung (er war von Geburt an auf einem Auge blind und auf dem anderen sehbehindert) meisterhaft umzugehen.94

Maria Ettl, seine langjährige Sekretärin, sagte dazu: „Er war bewundernswert, er hat aus seiner Behinderung kein Drama gemacht und wollte keine Vorteile. Menschlich war er sehr in Ordnung. Er hatte einen Intellekt und sein Gedächtnis war phänomenal. Er konnte druckreif diktieren und formulieren. Er hatte zwar eine kleine Handschrift, aber diese war gut lesbar. Die Zusammenarbeit als Sekretärin mit ihm war problemlos. Er hat sich ausgezeichnet artikuliert.“95

Fritz Koppe sah sogar in seiner Sehbehinderung einen Vorteil, da er dachte, „dass er bei Ansprachen keine andere Alternative habe, als frei zu sprechen, weil er ja theoretisch von seiner eigenen Niederschrift nichts erkennen konnte. Das wäre dann, seiner Meinung nach, gleichzeitig ein tolles Gedächtnistraining, weil er sich ja alles merken müsse.“96