Früchte einer befohlenen Flucht - Hermann Severin - E-Book

Früchte einer befohlenen Flucht E-Book

Hermann Severin

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Beschreibung

Die deutschen Truppen in Afghanistan erhalten am 29.06.2021 den Befehl, ihr Camp unter größter Geheimhaltung innerhalb einer Nacht zu räumen und das Land zu verlassen. In dieser Nacht findet das Europameisterschaftsspiel Deutschland gegen England im Wembley-Stadion statt. Die afghanischen Hilfskräfte der Soldaten sitzen vor den Fernsehgeräten und fiebern mit der deutschen Mannschaft. Als sie am nächsten Morgen zum Camp kommen, finden sie es verlassen. Die Taliban betrachten sie als Verräter und nehmen an den Kollaborateuren Rache. Die deutschen Soldaten leiden an diesem Befehl, betrachten ihr Verhalten selbst als ehrlos und gehorchen trotzdem. Der Roman erzählt die Geschichte des Generals und einiger seiner Offiziere, die unter diesem Verrat zusammenbrechen und unmittelbar nach ihrer Rückkehr ihre Werte verlieren. Nur mit der Hilfe starker Frauen finden einige den Mut zu leben und den Weg in die Gesellschaft zurück.

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Dieses Buch ist denjenigen Frauen gewidmet, die den Zauber in sich tragen, »der uns beschützt, und der uns hilft zu leben«. *

* Aus dem Stufengedicht von Hermann Hesse

Vorwort des Autors

Selbst wenn Wiederholungen lästig sind, muss ich auch diesem Roman die Bemerkung voranstellen, dass es sich beim Inhalt der nachfolgenden Seiten um ein Produkt meiner Fantasie handelt. Die Personen sind frei erfunden und die fiktiven Handlungen in bekannte, historische Geschehnisse hineingewoben. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

H.S.

Wenn wir mit reichem Licht tief

hineinschauen in das

Innerste im Inneren,

hebt sich Begrenztes in Unbegrenztes auf,

erheben sich hinter Schatten neue Bilder.

Wenn wir dann hinaufschauen aus dem

Innersten im Inneren,

verwandeln uns die Bilder und wir

erkennen das neue Land.

Wenn wir dann heraustreten aus dem

Innersten im Inneren,

beginnt das neue Land zu leben.

Peter Michael Lupp

Namensverzeichnis

Der General, Oberkommandierender

Simone, seine Frau, Anästhesistin

Aki Fleischmann, Chefredakteur

Andreas Fleischmann, Bruder von Aki

Anna-Maria Fleischmann, Ehefrau von Andreas

Peter Plum, Reporter

Sofie, Volontärin

Alexander Seltmann, Oberst beim General

Konstantin Mayer, Major Muli

Klaus Füller, Oberleutnant

Max Kraski, Oberleutnant

Dr. Lena Krause, Oberfeldärztin

Zuraya Akbar, Leiterin der Uni-Klinik Masar-e Scharif

Dr. Gregor Starkbaum, Oberfeldarzt

Horst Leicht, Kriminalhauptkommissar

Otto Müller, Kriminaloberkommissar

Dr. Ute Werr, Gerichtsmedizinerin

Dr. Marlene Rossmann, Oberstaatsanwältin

Dr. Nikolaus Flimm, Gerichtspräsident

Dr. Clemens Denk, Strafverteidiger

Judith, Freundin von Leicht

Asif Akbar, Kommandant der Taliban

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

1

»Liebst du mich nicht mehr, oder bist du nur faul?«

Simone zog die Bettdecke hoch und kuschelte sich hinein. Ihre Augen blitzten schelmisch. Aber wie Kinder beim Versteckspiel um die Ecke spähen, lugte hinter dem Schalk ungewohnte Besorgnis hervor. Sechs Wochen waren vergangen, seit der General an heimischen Herd und eheliches Bett zurückgekehrt war. Wie immer brachte seine Anwesenheit ihr gewohntes Leben durcheinander. Vor drei Jahren war ihr Sohn Franz ausgezogen, vor fünf Jahren ihre Tochter Johanna, und ihr Mann war seit Beginn ihrer Ehe oft wochenlang abwesend gewesen. Bei ihrer Silberhochzeit vor zwei Jahren hatten sie am Tisch gesessen und gerechnet und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass sie bisher zweitausendachthundert Nächte von den insgesamt über neuntausend ihrer Ehe miteinander verbracht hatten.

Am Anfang war sie seinen Versetzungen noch gefolgt. Sie wusste ja, als sie den jungen ehrgeizigen und vor Zuversicht strotzenden Oberleutnant heiratete, auf was sie sich einließ. Nachdem Johanna geboren war, beschloss sie, sesshaft zu werden. Sie hatte sich am Standort Ulm eingerichtet. In dieser Stadt konnte sie nicht nur gut leben, sondern sie fand auch regelmäßige Arbeit in ihrem Beruf als ambulante Anästhesieärztin. Nach und nach hatte sie sich traulich eingerichtet, einen kleinen Lebenskreis aufgebaut, spielte Bridge und Tennis, segelte, wenn sich die Gelegenheit ergab, auf dem Bodensee und pflegte ihr Premierenabonnement am Theater. So hatte sie ihr Leben organisiert. Ihre Ehe verlief anders als andere, aber nicht schlechter.

Hinter ihrer scherzhaft vorgetragenen Frage verbarg sich eine ernsthafte Irritation. Bisher war ihr Mann jedes Mal, wenn er nach mehreren Wochen zu ihr kam, ausgehungert gewesen wie ein braver Familienhund, der ein, zwei Tage ausgerissen war und nass und zerzaust den Weg zurück an Schlafplatz und Futternapf gefunden hatte. Er musste erst wieder satt sein, um er selbst zu werden. Manchmal waren die ersten Stunden etwas heftig. Diesmal waren sie ausgefallen. Er schien, überhaupt energielos zu sein. Auch in anderen Dingen. Es gehörte zum Ritual, dass er von ihr über Franz und Johanna begierig alles wissen wollte, was die Kinder ihrer Mutter anvertrauten und ihm gegenüber verschwiegen. Sie neckte ihn dann wegen seiner väterlichen Eifersucht. Diesmal hatte er kein Wort über sie verloren, als ob sie nicht existierten. Nie hatte sie erwogen, er könne sich in eine Affäre verstricken. Aus solchem Holz war er nicht geschnitzt, und außerdem war er dazu nicht dumm genug, denn er stand so exponiert im Rampenlicht, dass sich eventuelle außereheliche Eskapaden nicht geheim halten ließen.

Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, belastete ihn die Unsicherheit über seine weitere dienstliche Verwendung. Natürlich war ihnen klar, dass sein Auslandseinsatz in Afghanistan irgendwann auslaufen würde. Jedoch hatten sie beide nicht vor dem Ende des Sommers mit seiner Rückkehr gerechnet. Bis jetzt hatte er mit ihr kein Wort über den Grund dieses vorzeitigen Abbruchs gesprochen, und sie hatte sich angewöhnt, ihn in Angelegenheiten seines Dienstes nicht mit ihrer Neugier zu bedrängen. Dass sich Unausgesprochenes zwischen ihnen türmte,war jedoch neu. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Also beließ sie es dabei und hoffte, dass es sich von selbst irgendwie klären würde.

Als sich Ende August die Nachrichten über den Abzug der deutschen und amerikanischen Truppen aus Kabul überschlugen, und sich ein Desaster ankündigte, das die Berichterstatter mit dem fluchtartigen Räumen Saigons im Jahre 1975 verglichen, verfolgte der General schweigend die Fernsehbilder. Stundenlang saß er in diesen Tagen auf der Veranda und schien den Äpfeln auf dem alten Berlepschbaum beim Reifen zuzusehen. In Simone wuchs ein ungutes Gefühl, wenn sie morgens das Haus verließ und ihrer Beschäftigung nachging, während er still am Frühstückstisch zurückblieb und ihr stumm nachblickte.

»Die Taliban haben Kabul, Kunduz und Masar-e Scharif eingenommen? Kampflos. Das hättest auch du wohl nicht für möglich gehalten?« Simone versuchte, ihn nach einem Nachrichten-Spezial zum Reden zu bringen. »Auf deinem Stuhl in Marmal sitzt jetzt ein Talib.« Sie meinte diese Bemerkung nicht böse oder spöttisch. Sie wollte ihn nur dazu bringen, mit ihr zu reden.

Er aber stand auf, zog die Schuhe an und verließ schweigend das Haus. Vor der Tür blieb er kurz stehen, änderte offensichtlich seine Pläne und suchte in seiner Jackentasche nach dem Drücker, mit dem er das Garagentor öffnen konnte. Er sah dem Tor zu, wie es nach oben verschwand und klemmte sich durch die Fahrertür. Die Autos waren im Laufe der Jahre breiter geworden, und die Garage war nicht mitgewachsen. Gut, dass er schlank geblieben war. Kurz nachdem er sein Grundstück verlassen hatte, aktivierte er das Telefon.

»Konstantin, bist du noch im Dienst? Ich komme gerade aus Stuttgart«, schummelte er, »und fahre an der Wilhelmsburg vorbei. Hast du etwas kaltgestellt, oder passt es dir nicht?«

Oberst Mayer freute sich über den Anruf des Generals. Nach ihrer glanzlosen Rückkehr war er außerplanmäßig in kürzester Zeit vom Major zum Oberst befördert und zum Multinationalen Kommando Operative Führung versetzt worden. Zwar hätte er lieber seinen Dienst in der Gebirgsjägerbrigade in Mittenwald fortgesetzt. Dort gab es aber keine freie Stelle für seinen neuen Rang, und objektiv betrachtet war die Aufgabe, bei der Organisation der Auslandseinsätze der NATO mitzuwirken, herausfordernder und interessanter.

Mit den Offizierskameraden aus Masar-e Scharif hielt er noch Kontakt, aber langsam wandte sich jeder seiner neuen Aufgabe zu. Nur der General und Seltmann schienen noch in der Luft zu hängen. Mauser und Knoll hatten Kommandos in Potsdam, und die Oberfeldärztin Lena Krause war im benachbarten Bundeswehrkrankenhaus stationiert. Vielleicht konnte ihm der General etwas Neues berichten. Ganz ohne Anlass hatte der Oko, wie er seinen ehemaligen Oberkommandierenden immer noch nannte, wenn er an ihn dachte, noch nie ein Gespräch gesucht.

Der General war geschmeichelt, weil die Torwache salutierte und ihn durchwinkte, als er zur Kontrolle am Kasernentor anhalten wollte. Offenbar erkannten ihn die Soldaten auch dann, wenn er als Zivilist erschien. Er wusste nicht, dass Oberst Mayer der Wache sein Kommen angekündigt hatte.

»Schön, dass du mich in meiner bescheidenen Bude besuchst.« Der Oberst erwartete den General an der geöffneten Tür. »Komm rein und setzt dich.«

Mayer befreite sich von seiner eng sitzenden, unbequemen Jacke. Er hatte zugenommen, fand der General, verkniff sich aber eine spöttische Bemerkung, die ihm auf den Lippen lag. Er stellte in ziviler Kleidung eine respektablere Erscheinung dar als der Edelweißoberst in Uniform. Mayer öffnete den durch eine vormontierte Tür getarnten Kühlschrank und brachte zwei Flaschen mit dem heimeligen Auerhahn-Aufkleber der Mittenwalder Privatbrauerei zum Vorschein. »Für den Durst«, erklärte er kurz, bevor er zwei Cognacschwenker und eine halbvolle Bauchflasche Remy Martin auf dem Tisch bereitstellte.

»Gibt es was Neues?«, fragte er, nachdem sie einen kräftigen ersten Schluck Bier getrunken hatten.

»Kann man sagen«, antwortete der General. »Ab Oktober bin ich beim Stab in Brüssel. Sozusagen im Auge des Taifuns. Ich werde zuständig sein für die verlustfreie Räumung von Stützpunkten«, fügte er bitter hinzu.

»Vergessen wir das!«, schlug Oberst Mayer vor und hielt dem General sein Cognacglas zum Anstoßen entgegen. »Es macht keinen Sinn, sich länger mit etwas zu beschäftigen, was nicht geändert werden kann. Das Leben geht weiter. Einen Stützpunkt verlustfrei zu räumen, ist eine militärische Meisterleistung. Das ist uns gelungen, auch wenn wir uns den Abschied anders vorgestellt haben.«

»Das war nicht mein Verdienst«, murmelte der General, und Oberst Mayer tat so, als habe er es nicht gehört.

»Hast du noch Kontakt zu Seltmann? Ich glaube, er hängt ziemlich in der Luft«, fragte er schnell.

Seltmann war in Masar- e Scharif die rechte Hand des Generals gewesen. Er besaß den Rang eines Obersten, war dem General loyal ergeben, handelte selbstständig, als könne er dessen Gedanken lesen und war bei allen, insbesondere den Unteroffizieren, hoch angesehen.

»Ja«, sagte der General. »Er wartet noch auf seine Beförderung. Ich werde alles daransetzen, ihn mit mir nach Brüssel zu nehmen.«

Die beiden Männer ließen die goldgelbe Flüssigkeit durch ihre Kehlen rinnen, und als der General ausgehüstelt hatte, weil ihm durch den scharfen Weinbrand kurz die Luft weggeblieben war, sagte er auf die gegenüberliegende Wand schauend, er befürchte, der schmähliche Abzug der vermeintlich stärksten Armee der Welt werde noch Konsequenzen nach sich ziehen, die man sich nicht vorgestellt habe. »Wenn einer behauptet, er ist der Stärkste von allen und sich einen solchen fluchtartigen Abzug leistet, dann wird diese Position zwangsläufig in Zweifel gezogen. Irgendwann wird er beweisen müssen, der Stärkste zu sein. Die Welt ist ein Wolfsrudel. Der Leitwolf darf keine Schwäche zeigen, wenn er die Rolle behalten will. Ich fürchte, die Nagelprobe steht ziemlich nah bevor.«

»Dann können wir ja beruhigt sein, dass du im NATO-Hauptquartier sitzt, wenn es so weit ist«, frotzelte der Oberst, der keine Lust hatte, sich mit dem General in eine politische Unterhaltung zu begeben.

»Wird dich deine Frau nach Brüssel begleiten?«, fragte er, ein anderes Thema suchend. »Deine Kinder sind aus dem Haus, und Brüssel ist eine sehr schöne Stadt. Ihr werdet es genießen, sie zusammen zu erkunden.«

»Ich habe es ihr noch nicht gesagt.«

Konstantin Mayers ehrliches Gesicht konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Wieso? Willst du sie überraschen? Wann?«

Der General sah unschlüssig vor sich hin. »Wir haben uns ziemlich auseinandergelebt. Sie hat ihren eigenen Weg gefunden. Ohne mich.«

»Ein anderer Mann?«, fragte der Oberst und griff nach dem Schwenker, als ob er seinen Mund nach dieser Frage spülen müsste.

»Ich weiß nicht. Sie redet nicht mit mir. Ich habe neulich ein Telefonat mit einem Mann mitbekommen, den sie Aki nannte. Es war etwas seltsam. Unabsichtlich natürlich«, fügte er hinzu, als er den überraschten Blick von Oberst Mayer auffing. »Aber einen Tag später lag die Tageszeitung auf dem Tisch, und meine Frau hatte einen Kommentar von einem gewissen Aki Fleischmann angestrichen, der sich mit unserem Afghanistaneinsatz beschäftigte. Mit Lüge und Verrat war er überschrieben. Der Text war verletzend, beleidigend und zeugte von wenig Sachverstand.

Die Amerikaner hätten Erfahrung darin, ihre Freunde zu verraten. Sie hätten es in Vietnam schon geübt und seitdem x-mal wiederholt. Über das Verhalten der Deutschen sei die Welt dagegen erstaunt. Den Begriff der Nibelungen-treue könne man spätestens ab jetzt getrost als überwunden bezeichnen und aus der deutschen Geschichte streichen. Er jedenfalls wolle nicht in der Haut der Soldaten stecken, die ihre Helfer und noch mehr ihre Helferinnen der Rache der Taliban überlassen hätten. Es wäre besser gewesen, sie hätten afghanischen Boden nie betreten.

Ich habe mich gefragt, warum sie ihn gekennzeichnet hat.«

»Du weißt doch, dass unsere Medien der Unterhaltung dienen. Sie wollen kritisieren und möglichst überheblich spotten, aber ihr Informationswert geht gegen Null. Erst nach meiner Rückkehr ist es mir richtig aufgefallen. Übrigens ist Aki Fleischmann der Chefredakteur unserer größten Lokalzeitung. Er nimmt sich so wichtig, als wäre er zumindest der Oberbürgermeister.«

»Der Verrat wurde uns von der zivilen Politik befohlen«, sagte der General hart. »Das Militär hat gehorcht. Wahrscheinlich war es ein Fehler.«

Eine Stunde später, der General hatte sich gerade verabschiedet, räumte Konstantin Mayer die Weinbrandgläser und die Cognacflasche weg und holte sich zur Verdünnung eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Versonnen und schon ein wenig benebelt betrachtete er den Auerhahn auf dem Etikett. Was gäbe er dafür, jetzt zu Hause zu sein? An der oberen Isar und in seinem Karwendel, wo er jeden Quadratmeter kannte. Auf seine Petra konnte er sich felsenfest verlassen, dessen war er sich sicher. Oder etwa nicht? In Afghanistan hatten ihn keine solche Gedanken beschlichen.

2

Zuerst wehte das Gerücht wie ein warmer, spätsommerlicher Wind durch die Gassen der Altstadt. Schnell schwoll die Nachricht zu einem Sturm an, und schließlich wusste es jeder: Der Chefredakteur Aki Fleischmann hatte sich beim Örlinger Turm vor den ersten IC von Stuttgart nach München geworfen. Um sechs Uhr am Morgen. Natürlich war er sofort tot. Aus seiner zerfetzten Jacke zogen die Rettungskräfte sein Portemonnaie. Es enthielt Ausweispapiere und Kreditkarten mit seinem Namen. Es gab keinen Zweifel.

»Das ist doch nicht zu glauben. Incredible.« Mimmo ließ einen Espresso aus dem Automaten und schüttelte seinen Kopf. »Seit zwanzig Jahren kommt der Mann fast täglich zu mir.« Der alte Italiener konnte und wollte seine Erschütterung nicht verbergen. »Wieso hat der sich umgebracht? Der hatte doch alles.«

An der Theke des Espresso 29 lehnte ein älterer Herr. An Kleidung, Verhalten und Sprache als Alteingesessener erkennbar. »Man sieht an die Leit nur na, net nei. So isches.« Zufrieden unterstrich er den tiefschürfenden Kommentar mit einem Schluck aus seiner Kaffeetasse. »Vielleicht isch eam sei oigens domms Gschreibe auf’d’ Nerve gange, oder steckt doch a Frau dahinter. Sersche la famm. So isches meistens.« Mit gewichtigem Nicken zeigte er, welch große Bedeutung er seinen eigenen Worten zumaß.

Aki Fleischmann war als Chefredakteur der größtenTageszeitung in der Region bekannt. In dieser Position hatte er den wirtschaftlichen Erfolg der Zeitung zu verantworten und das Orchester der Redakteure zu dirigieren. Er verstand es meisterhaft, diese Aufgabe mit der Förderung seiner eigenen Karriere zu verbinden. Er schrieb nicht nur in seiner eigenen Zeitung Kommentare, sondern ließ sich zu Talkshows einladen und sorgte im Austausch mit einem Netzwerk von weiteren Chefredakteuren dafür, dass sein Name in anderen Regionen und in größeren Zeitungen bekannt wurde. Seine Meinung war zu sehen und zu hören, und je hörbarer und sichtbarer sie wurde, für umso richtiger hielt er sie selbst.

Während in den Gassen und Restaurants der Stadt die Menschen darüber rätselten, weswegen sich ein Mann wie Aki Fleischmann vor einen Zug geworfen haben könnte, mischte sich der Reporter Peter Plum unter die Polizisten und Feuerwehrleute, die den Unfallort auf dem Gleiskörper sicherten und räumten.

»Wenn einer sich umbringen will, muss er sich dann vor einen Zug werfen?«, schimpfte ein uniformierter Retter. »Das ist doch eine Sauerei. Der Zugführer vergisst das nie, und wir müssen seine Leichenteile zusammensuchen. Kann er sich nicht vergiften oder in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden? Es ist eine Rücksichtslosigkeit, sich so umzubringen.«

Peter Plum war seit über zwanzig Jahren Reporter und Lokalredakteur. In der Stadt kannte er jeden Stein, und er selbst war bekannt wie der Spatz auf dem Dachfirst des berühmten Münsters. Sofort, als ihn das Gerücht erreichte, Aki Fleischmann, sein eigener Chefredakteur, habe sich umgebracht, war er an den Unfallort geeilt und überwand routiniert die nachlässige Absperrung. Obwohl er die Bemerkung des verärgerten Feuerwehrmannes in dieser Situation unpassend und taktlos fand, stimmte er ihm insgeheim zu. Es gab rücksichtsvollere und weitaus weniger spektakuläre Möglichkeiten, ein Ende zu machen, wenn man beschlossen hatte, aus dem Spiel oder Kampf des Lebens endgültig auszusteigen. Warum, fragte sich Plum und starrte auf die Schienen und Schwellen, die auf dem geschotterten Gleiskörper wie eine horizontale Hängeleiter aussahen und die sich Fleischmann als tödliches Werkzeug ausgesucht hatte. Warum hatte sich Aki Fleischmann umgebracht und warum auf diese Weise?

Plum wusste, dass er das, was er hier erfuhr, nicht zu einem reißerischen Artikel verarbeiten durfte. Nachrichten über einen Suizid wurden sehr zurückhaltend kommuniziert, wenn nicht überhaupt unterdrückt. Darüber war man sich innerhalb der seriösen Berichterstattung einig. Seit der signifikanten Selbstmordwelle nach der Veröffentlichung von Goethes Leiden des jungen Werther fürchtete man eine Kultur der Nachahmung. Nur wenige Gesellschaften tolerierten die Entscheidung, durch eigene Hand seinem Leben ein Ende zu setzen. Noch während sich Plum Gedanken darüber machte, warum das so war, fiel ihm ein Feuerwehrmann auf. Er stand breitbeinig zwischen den Bahnschienen und sah seinen Kameraden zu, die kleinere Reste von Aki Fleischmanns Körper einsammelten, um sie nicht den Krähen und Füchsen zu überlassen. »Da stimmt doch etwas nicht,« brummelte er wiederholt und nachdenklich vor sich hin.

»Was stimmt Ihrer Meinung nach nicht?«, fragte Plum, nachdem er sich neben ihn gestellt hatte.

»Da geht’s nicht um Meinung, da geht’s um Tatsachen«, korrigierte ihn der Mann.

»Also was stimmt nicht?«, bohrte Plum nach.

Der Feuerwehrmann drehte sich zu ihm und taxierte ihn einige Augenblicke stumm.

»Sie sind von der Presse, stimmt’s?«

Plum nickte.

»Wenn einem Mann Kopf und Beine abgetrennt werden wie dem da, dann blutet er wie ein abgestochenes Schwein. Sehen Sie Blut? Ich nicht.«

Er deutete auf die Stelle, wo Aki Fleischmann vom Zug überrollt worden war. Es war fast kein Blut zu sehen.

»Was bedeutet das? Kann der Fahrtwind das Blut weggeweht haben?«

Der Feuerwehrmann schaute mitleidig auf den ahnungslosen Zeitungsschreiber. »Da fragen Sie am besten einen Mediziner«, sagte er. »Mir glaubt es sowieso keiner.«

»Jetzt sagen Sie schon«, drängte Plum und witterte die Chance auf etwas, was berichtenswert sein könnte.

»Ich wette, der IC hat eine Leiche überfahren. Oder glauben Sie, die Räder waren heiß wie eine Bratpfanne?«

Plums Augen sendeten Fragezeichen. »Was meinen Sie?«

»Heiße Pfanne, Steak, Zisch, Poren zu, Saft bleibt drin. Kapiert?«

Der erfahrene Feuerwehrmann erklärte es ohne jede Ironie.

Aus dieser Information konnte man eine Story machen. Plum entschloss sich, eine Anleihe bei Arthur Miller zu nehmen. Tod eines Chefredakteurs würde er seinen Artikel über das Ableben von Aki Fleischmann betiteln. Auch gegen den Willen der Redaktion.

Die Nachricht vom Selbstmord des Chefredakteurs beherrschte die Redaktionskonferenz am späten Vormittag. Sven Priller, der Stellvertreter von Aki Fleischmann, gab die Richtung vor. »Über Selbstmorde schreiben wir nur kurz oder gar nicht. Da machen wir keine Ausnahmen.«

»Und wenn es kein Selbstmord war?«, hielt Plum dagegen.

»Plum wittert schon wieder eine Story«, mokierte sich Priller. »Das ist pure Spekulation.« Er wollte von Anfang an keinen Zweifel aufkommen lassen, wer in Zukunft bestimmte, was in der Redaktion geschah.

»Wir gehen von Selbstmord aus. Das würden wir bei dieser Sachlage bei jedem anderen auch. Keine Ausnahme, weil es Aki Fleischmann betrifft. Es sei denn, die Kripo gibt uns dafür Anhaltspunkte.«

»Solche gibt es«, behauptete Plum.

»Dann mal raus damit«, forderte ihn Priller auf. »Wer sollte um Gottes willen Aki Fleischmann ermordet haben? Der hatte doch keine Feinde, die zu solchen Mitteln greifen.«

Plum schwieg, und alle anderen auch. Noch hatte er nichts als den Verdacht des Feuerwehrmannes. Nur in den Augen der einzigen Volontärin in der Runde zeigte sich ein zorniges Flackern, das so gar nicht zu dem intelligenten und neugierigen Gesicht der jungen Frau passte.

Priller fiel auf, dass die Nachwuchsjournalistin, die er als begabt und fleißig einschätzte und gerne unter seine Fittiche genommen hätte, etwas sagen wollte. »Sind Sie nicht dieser Meinung, Sofie?«, forderte er sie auf zu sprechen.

»Könnte schon sein, dass manche gar nicht traurig sind, wenn sie nicht mehr begrapscht werden. Der hat seinen Schniedel doch in jede Frau gesteckt, die bei Fünf nicht auf dem Baum war.«

Normalerweise verliefen Redaktionskonferenzen lautund chaotisch. Jetzt hätte man eine Nadel vom Tisch fallen hören. Niemand hatte von Sofie, der Volontärin, die am Anfang ihrer Ausbildung stand, ein solches Statement erwartet. Undenkbar, so ordinär über Aki Fleischmann zu sprechen!

»Was meinen Sie damit?«, fragte Priller und dämpfte seine Stimme auf gefährlich leise.

»Gar nichts«, antwortete Sofie trotzig. »Aber nicht nur in der Chefredaktion von BILD nutzen Männer ihre Machtpositionen aus.«

»Haben Sie dafür Beweise, oder saugen Sie sich das aus Ihren feministischen Fantasien? Niemand sollte mit Dreck werfen, der auf ihn zurückfällt.« Prillers aufnahmebereiten Fittiche klappten zusammen.

Sofie lehnte sich zurück, verschränkte ihre Arme vor der Brust und starrte bockig vor sich hin.

»Also kein Wort über Mordspekulationen, Plum. Haben wir uns verstanden?«, beendete Priller dieses Thema.

Plum ließ die Anweisung an sich abperlen wie Teflon das Öl, sagte erklärend, dass er dringend telefonieren müsse und verließ die Konferenz. Er hatte seinen Plan.

Seit fast zwanzig Jahren war er in der Stadt als Reporter unterwegs. Während dieser Zeit hatte er ein vertrauensvolles Verhältnis zur Polizei aufgebaut. Er war auf deren Informationen angewiesen, und andererseits konnte er durch seine Artikel auch für sie hilfreich sein. Insbesondere zum Leiter der Mordkommission, dem Kriminalhauptkommissar Horst Leicht und seinem Kollegen Otto Müller, besaß er einen kurzen Draht.

Als Hauptkommissar Leicht die vertraute Zahlenreihe von Plums Handy auf dem seinigen aufleuchten sah, war er nicht überrascht.

»Wieso informiert ihr mich nicht?«, beschwerte sich Plum ins Blaue hinein. »Ich tappe wie ein Blinder auf dem Bahngleis herum und ihr lasst mich im Ungewissen. Das ist nicht fair.«

Die beiden wussten, wie sie miteinander umzugehen hatten. Leicht gab gelegentlich Hintergrundwissen an Plum, und der Journalist verwendete die Information wie abgesprochen. Man konnte sich aufeinander verlassen, und Plum war deshalb der mit Abstand am besten informierte Gerichts- und Polizeireporter weit und breit. In dieser Symbiose war Plum der Putzervogel und Leicht das Flusspferd.

»Wir haben es selbst eben erst von der Gerichtsmedizin erfahren«, verteidigte sich Leicht. »Einem Polizisten ist aufgefallen, dass die Schuhe von Fleischmann blitzsauber waren. Er konnte unmöglich selbst auf den Bahndamm gelaufen sein. Die Böschung am Örlinger Turm war nass und matschig.«

»Und was habt ihr von der Frau Doktor erfahren?«

»Der Mann war tot, als er überfahren wurde.«

»Ihr würdet also sagen, es war Mord?«, sicherte sich Plum ab.

»Wir gehen davon aus. Mehr wissen wir noch nicht. Hast du eine Ahnung, was dahinterstecken könnte? Er war immerhin dein Chef.«

»Nicht am Telefon«, wehrte Plum nach kurzem Überlegen ab. »Seid ihr in eurer Höhle? Ich komme rüber.«

Auf der Treppe von der Redaktion hinunter zur Eingangshalle des Verlagshauses traf er auf Sofie. Offensichtlich war die Redaktionskonferenz beendet.

»Ganz schön mutig. Aus Ihnen kann noch mal was werden«, lobte er den Auftritt der Volontärin vor wenigen Minuten. »Ist da was dran?«

»Ihr seid doch alle blind«, schnaubte sie. »Das war ein Scheißkerl, und ihr habt gebuckelt vor ihm.«

Plum stutzte und betrachtete die junge Frau, als sähe er sie zum ersten Mal. Ihm fiel unter den weit auseinanderstehenden großen braunen Augen, die er an ihr kannte, die kurze Nase und der kleine, von vollen Lippen umsäumte Mund auf. Ihr braunes Haar war praktisch kurz geschnitten. Er hatte wenig, fast gar nichts, mit ihr zu tun, und altersmäßig hätte sie seine Tochter sein können. Richtig aufgefallen war sie ihm erst heute in der Redaktionskonferenz.

»Haben Sie etwas vor?«, fragte er spontan, und als sie den Kopf schüttelte, schlug er vor, dass sie ihn begleiten könne, wenn sie wolle.

Natürlich wolle sie. Sie hole nur noch schnell ihre Tasche und sei gleich wieder da, sagte sie und machte kein Geheimnis aus ihrer Freude, den stadtbekannten Reporter zu einem Auswärtstermin begleiten zu dürfen.

Sie gingen vom Verlagsgebäude die Olgastraße hoch und bogen vor dem Justizgebäude in das Hafenbad ein. Obwohl Sofie schlank, mit langen Beinen gesegnet und genauso groß war wie Plum, musste sie sich anstrengen, mit ihm, der gewohnt war, im Laufschritt von Termin zu Termin zu eilen, Schritt zu halten. Als sie schweigend neben ihm herlief, was er sympathisch fand, erklärte er ihr von sich aus, dass ihr Ziel der Neue Bau sei, wo er zwei Kommissare treffe und mehr über den Tod von Aki Fleischmann erfahren wolle. Sie brauche nur zuzuhören und könne dabei möglicherweise eine Menge lernen.

»Den Hauptkommissar Leicht kenne ich seit vielen Jahren. Wenn Sie von solchen Leuten etwas erfahren wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass sie Ihnen vertrauen.«

Plum hörte seiner eigenen Stimme zu und wunderte sich, wie belehrend er auf die junge Frau einsprach. Bin ich schon so alt, erschrak er. »Machen Sie sich selbst ein Bild«, unterbrach er sich deshalb und konnte es trotzdem nicht unterlassen, einen Tipp anzuhängen. »Lassen Sie sich nicht täuschen. Leicht sieht aus wie ein träger, stumpfsinniger Bär. Hinter seiner Fassade verbirgt sich die höchste Aufklärungsquote, die wir im Land haben.«

Als sie vom Münsterplatz her in den Innenhof des Neuen Baus gelangt waren, beschlich Sofie eine eigenartig seltsame Stimmung. In der Mitte stand der alte Hildegard-Brunnen, der an die dritte Ehefrau Karls des Großen erinnerte. Als einziger der vielen Brunnen der Stadt zeigte er eine Frauenfigur. Die daneben geparkten Einsatzfahrzeuge der Polizei wirkten wie aus anderer Zeit irgendwie deplatziert. Über die ausgetretenen Steinstufen des Treppenturms, auf denen Napoleon nach der Kapitulation der Stadt mit seinem Hengst Marengo hoch geritten sein soll, stiegen sie zu dem Büro der Kommissare hinauf. Hinter dem Schutz dicker Mauern verschanzte sich an diesem Platz die Staatsmacht seit über tausend Jahren und vermittelte den Bürgern den Eindruck von Sicherheit und Ordnung. All dies hing schwer wie alter Staub in der Luft dieses Gemäuers und nahm ihr fast die Luft zum Atmen.

Otto Müller und Hauptkommissar Leicht studierten den Obduktionsbericht, den ihnen die Gerichtsmedizinerin Dr. Ute Werr mit einem süffisanten Lächeln in die Hände gedrückt hatte. »Das ist mal was Neues. Eine Leiche lässt sich vom Zug überfahren. Diese Variante eines Selbstmords hatte ich noch nie in meiner Karriere.«

Die Werr oder unsere Frau Doktor, wie sie von allen, die mit ihr zu tun hatten, respektvoll genannt wurde, liebte solche flapsigen Bemerkungen. Sie war eine unumstrittene Koryphäe ihres Faches und schützte mit diesen Sprüchen die sensible Seite ihrer Seele gegen die Grausamkeiten eines Alltags zwischen Seziertischen und Kühlfächern. Die Kategorien von Schuld und Unschuld oder die Unterscheidung von Opfern und Tätern spielten in ihren Gedanken keine Rolle mehr. Wer auf ihrem Tisch lag, hatte die Welt, in der solche Begriffe wichtig waren, verlassen. Die Kommissare wussten, was sie an ihr hatten, waren an ihre skurrilen Formulierungen gewöhnt und schätzten sie hoch. Wenn die Werr sich auf eine Diagnose festlegte, war dies ein sicherer Haken, an dem sie das Seil für ihre weiteren Ermittlungen zuverlässig festmachen konnten.

»Die Werr sagt, er war tot, als er überfahren wurde«, fasste Hauptkommissar Leicht das Gelesene kurz und prägnant zusammen. »Also war es vermutlich Mord.«

Kaum hatte er ausgesprochen, öffnete sich die Tür, und Plum drängte herein. Dass Plum eintrat, ohne anzuklopfen, waren sie gewohnt. Er benahm sich ohnehin, als sei er hier zu Hause. Bisher war der Reporter aber immer allein gewesen, wenn er zu einem Plausch in ihrem Büro erschien. Mit Begleitung war er noch nie aufgetaucht.

Leicht ließ sich in seinen Gedanken nicht stören. Otto rückte für Sofie einen Stuhl zurecht.

»Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, dass ich Sofie mitgebracht habe. Sie ist bei uns Volontärin und hat eine eigene Meinung zu Aki Fleischmann, die euch interessieren könnte«, erklärte Plum ihre Begleitung.

Erst jetzt sah Leicht auf und musterte die junge Frau. Sofort kam ihm Judith in den Sinn. Spontan fühlte Leicht bei dieser jungen Frau dieselbe Unbekümmertheit, dieselbe Neugier und dieselbe irrige Zuversicht, das Leben sei ein Füllhorn voll von schönen Dingen.

Judith war ein nicht bewältigter Schmerz in seinem Herzen. Sie war eine wirklich hübsche, temperamentvolle Archäologiestudentin, in die sich der Hauptkommissar Hals über Kopf verliebt hatte. Zu seiner eigenen Überraschung erwiderte sie sein Gefühl. Fast jedes Wochenende kam sie von Tübingen in seine Dachwohnung, interessierte sich für seine Arbeit, und er ließ sie daran teilnehmen. Dies ging über ein Jahr und Leicht wurde nicht gerade federleicht, aber merklich lockerer. Zu dieser Zeit kam ihnen ein Mordfall auf den Tisch, der allen unter die Haut ging. Ein besonderes Ekel von Mann hatte eine junge Frau gequält, vergewaltigt und verfolgt. Sie erzählte davon einigen Schülern, die kurz vor dem Abitur standen. In ihrem jugendlichen Idealismus empört lockten sie den Mann in einen Hinterhalt und halfen der Frau, die keinen anderen Ausweg sah, ihn umzubringen.

Judith schlug sich voll auf die Seite der jungen Leute und erwartete allen Ernstes von ihm, er solle die Ermittlungen im Sand verlaufen lassen. Diese Männer hätten das Bundesverdienstkreuz verdient und nicht einige Jahre Knast. Als der Hauptkommissar genügend Beweise zusammengetragen hatte, ließ er die Frau und ihre Helfer verhaften. Judith bezeichnete ihn deswegen als rückgratlosen Staatsbüttel, vor dem sie kotzen müsse und beendete die Beziehung von einem Tag auf den anderen für immer. Leicht blieb mit dem Gefühl zurück, seine Pflicht erfüllt zu haben, auch wenn sie bitter war. Otto gestand damals, er sei nicht sicher, ob er an Leichts Stelle genauso gehandelt hätte. Ob Leicht seine Pflichttreue jemals bereute, ließ er nicht erkennen. Wenn er an Judith dachte, war ihm, als dringe eine feine Nadel durch seine Brust. Er bemühte sich, dieses Kapitel zu verkapseln und irgendwo in seinem Inneren abzulegen. Otto meinte, eine Erklärung für Leichts Leibesfülle sei das Volumen dieser Abstellkammer und die Anzahl der dort deponierten Kapseln. Tatsächlich war es bezeichnend für den Hauptkommissar, Probleme schweigend zu bebrüten und erst dann zu reden, wenn er eine Lösung gefunden hatte. Das machte die Zusammenarbeit mit ihm nicht einfach. Otto als sein engster Partner konnte Leichts Schweigen annähernd zutreffend entschlüsseln und wurde deshalb zum alltäglichen Dolmetscher zwischen dem Hauptkommissar und seinem Umfeld.

»Habt ihr schon einen Nachfolger für Fleischmann? Wäre das kein Job für dich?«, riss sich Leicht von seinen abschweifenden Gedanken los.

»Keine Ambitionen«, erklärte Plum. »Ich bleibe euch erhalten. Steht es fest, dass Fleischmann ermordet wurde?«

»Fest steht, dass der Zug nicht die Todesursache war. Wie der Mann gestorben ist, wissen wir nicht. Noch nicht.« Leichts Blick wanderte von Plum zu Sofie. »Wir werden es bald wissen«, fügte er mit plötzlich sanft gewordener Stimme hinzu.

»Er wird sich ja nicht als Leiche auf die Gleise gelegt haben, um sicher zu gehen«, spottete Plum und erwartete ein anerkennendes Lächeln von Sofie. Er wurde enttäuscht. Ihre Aufmerksamkeit gehörte Leicht.

»Sie wollen uns etwas zu Ihrem Chef sagen?«, nahm Leicht den Ball auf, den ihm Plum zugespielt hatte. Er fragte weich und ohne Drängen.

»Er war ein Arsch, wenn Sie verstehen, was ich meine«, antwortete Sofie grob.

»Nicht ganz, ehrlich gesagt. War er übergriffig?«, fragte Leicht von ihrem Ausdruck überrascht. »Ihnen gegenüber, meine ich.«

»Er war immer übergriffig. Gegenüber allem und jedem.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Er war der Ansicht, das stehe ihm zu. Ich glaube, er sah das nicht als unfair an. Wahrscheinlich betrachtete er seine Aufdringlichkeit als Zuwendung, für die man ihm dankbar sein müsse. Er hielt sich für unwiderstehlich.«

»Der Herr scheint ja mega-sympathisch gewesen zu sein. Haben das alle so gesehen?«

»Mir ist nichts Derartiges aufgefallen«, antwortete Plum. »Aber ich kann mir schon vorstellen, dass er manchen ganz schön auf die Nerven gegangen ist. Es machte ihm Spaß, sich mit Leuten anzulegen und Widerspruch herauszufordern. Er hatte ja meist das letzte Wort.«

»Jetzt nicht mehr«, schaltete sich Otto ein und zwinkerte Sofie komplizenhaft zu. »Die Frage ist, wer es ihm abgeschnitten hat. Was weiß man eigentlich noch von ihm, außer dass er ein Arsch war? War er verheiratet? Gibt es Kinder? Irgendwelche Skandale? Intime Feindschaften und Rivalitäten sind in eurem Milieu doch keine Seltenheit.«

Plum gab sich betroffen. »Was heißt in unserem Milieu?«

»Wo sich jeder für den Besten und Schönsten hält«, erläuterte Otto. »Irgendjemandem muss er jedenfalls gewaltig auf die Zehen gestiegen sein.«

Plum meinte, Fleischmann habe im Rahmen der Presse- und Meinungsfreiheit seinem zynischen Sarkasmus freien Lauf gelassen. »Mir gefiel das meistens, manchen weniger. Beispielsweise schrieb er wütend gegen die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan an, unterhielt aber gleichzeitig eine stadtbekannte Beziehung zur Ehefrau des Generals, der dort das Kommando führte. Der Mann sprühte vor Energie.«

»Oder er schrieb engagierte Kommentare für Frauenrechte, gab aber Redakteurinnen, die so jung waren, dass sie noch Kinder bekommen konnten, nur befristete Arbeitsverträge«, ätzte Sofie, der Plums Beschreibung nicht gefiel.

»Ist mir gar nicht aufgefallen.« Plum war einen Augenblick sprachlos.

»Das ist es. Niemandem fällt so etwas auf.«

Der Hauptkommissar erlebte bei Sofies Worten ein Déjà-vu. War Fleischmann möglicherweise auch das Opfer eines idealistischen Mörders oder einer Mörderin? Das würde seine Arbeit nicht leichter machen. Er konnte sich gut vorstellen, dass diese Sofie die gleiche Erwartung haben würde wie damals Judith. Er sah ihre Augen auf sich gerichtet und meinte, genau dieses Anliegen in ihnen zu lesen.

»Also nochmals von vorn«, riss er sich von diesen Gedanken los, »Fleischmann marschierte ziemlich rücksichtslos durchs Leben, wurde umgebracht, und sein Mörder legte die Leiche zur Verdeckung des Mordes auf die Eisenbahnschienen, wo ein Zug seinen Körper vorhersehbar zerfetzte. Das sieht alles sehr geplant aus. Dumm scheint unser Mörder also nicht zu sein.

»Aber auch nicht intelligent genug«, warf Otto ein. »Sonst hätte er das Risiko dieser Aktion bedacht. Es muss dort oben eine Menge Spuren geben.«

»Dann haben wir also eine Chance«, beendete Leicht die Spekulationen. »Wo fangen wir an?«

»Der Mann wurde vom Tatort auf die Gleise geschafft. Suchhunde könnten uns helfen. Zumindest sollten wir es versuchen. Ich veranlasse das mal«, sagte Otto und griff zum Telefon.

»Und ich schreibe einen Artikel und klopfe ordentlich auf den Busch«, kündigte Plum an.

»Mach das! Das Märchen vom Selbstmord können wir ohnehin nicht aufrechterhalten«, gab ihm der Hauptkommissar grünes Licht.

»Sehen Sie, Sofie, so geht das zwischen Presse und Polizei, wenn man gut ist«, prahlte Plum, als sie das Zimmer verlassen hatten und erwartete ein wenig Bewunderung. Aber Sofie war mit ihren Gedanken woanders. Sie wollte dranbleiben an diesem Fall, wusste aber noch nicht wie.

»Wissen Sie, wie man investigativer Journalist wird?«, fragte sie auf dem Rückweg in die Redaktion so beiläufig wie möglich.

»Indem man selber etwas herausfindet, über das es sich zu berichten lohnt. Das ist der Traum von fast jedem, der in unserem Beruf anfängt. Das Problem ist, dass du dafür nicht bezahlt wirst und nicht weißt, ob dir jemand deine Story abkauft. Neben Talent brauchst du also Geld.«

Dann blieb er abrupt stehen und betrachtete sie ungeniert von oben bis unten. »Sie sind zu hübsch für einen Detektiv. Sie fallen sofort auf. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? An den Schreibtisch kommen wir noch früh genug.«

Sofie spürte, dass sich eine Tür in ihrem Leben öffnete und war fest entschlossen, hindurchzugehen. »Ja, gerne«, sagte sie und hakte sich bei Plum unter. Ihm gefiel diese vertraute Geste so gut, dass sie vom Café nicht in ihre Redaktion zurückgingen, sondern das Lokal wechselten. Im Bella Vista bekamen sie einen Tisch auf der Dachterrasse und konnten dem adlergroßen Steinspatz auf dem Dachfirst des Münsters fast in den Schnabel sehen. Durch ihre hellwache Neugier verleitete Sofie den erfahrenen Reporter zum Erzählen, und Plum glaubte manchmal selbst nicht, was er in der Kiste seiner Erinnerung fand, so kurios war manches gewesen.

»Was ich hinter mir habe, hast du noch vor dir.« Sie waren vom förmlichen Sie im Laufe des Gesprächs zum kollegialen Du übergegangen.

»Wer ist leichter zu knacken, der Hauptkommissar oder der andere? Was meinst du?«

»Für dich dürften beide kein Problem sein«, flirtete Plum. »Was hast du vor?«

»Ich möchte an diesem Fall dranbleiben. Ganz nah. Und nicht nur berichten, sondern mitmischen. Das hat der Arsch verdient.«

Von De mortuis nil nise bene hatte Sofie noch nichts gehört. Jedenfalls hielt sie sich nicht daran.

»Warum bist du eigentlich so wütend auf den Aki Fleischmann? Hat er dir was getan?« Plum wurde durch Sofies zur Schau gestellte Abneigung angespitzt und wollte Genaueres wissen.

»Der Mann war die Ausgeburt eines arroganten Heuchlers. Er war so kaputt, dass er alle kaputt sah, nur sich selber nicht. Und alle haben ihm zugehört und seinen Speichel geleckt, nur weil er das Megafon in der Hand hatte und seine Meinung am lautesten hinausschreien konnte. Ist dir nicht aufgefallen, dass er nur seine eigene Meinung gelten ließ?«

Plum dachte einen Augenblick nach. »Wir sind uns nicht in die Quere gekommen. Ich habe berichtet, was in der Stadt los war. Das hat ihn nicht interessiert. Er wollte höher hinaus. Er war in der Politik unterwegs.«

»Um seine Karriere weiterzuspinnen«, ergänzte Sofie. »Die Politik war ihm egal wie alles andere. Er kannte nur sich. Ich möchte denjenigen finden, der ihn ausgeblasen hat und mich bei ihm bedanken. Er hat die Welt ein Stück besser gemacht.«

»Wie lange bist du schon bei uns in der Redaktion?«, fragte Plum ernst.

»Fünf Monate. Die haben gereicht, wenn du das bezweifeln willst. Männer dieses Schlags erkennen Frauen schnell und ziemlich treffsicher. Ich war noch keine drei Wochen da, als er mir das großzügige Angebot machte, ihn nach Hamburg zu begleiten. Ich könne viel lernen, sagte er großspurig. Er war Gast in einer Talkshow, und ich durfte sein bewundernder Annex im Publikum sein. Als Dank dafür gab es eine Suite im Atlantic. Für zwei Personen natürlich.«

»Und das hast du gemacht?«, fragte Plum mit einem kleinen Vorwurf in der Stimme.

»Tu doch nicht so scheinheilig!«, empörte sich Sofie. »Ihr seid ihm in der Redaktionskonferenz alle in den Arsch gekrochen und habt einen festen Vertrag. Was habe ich? Eine Volontärstelle!« Sie lachte bitter auf. »Ich bleibe da dran. Wie heißen die beiden Kommissare eigentlich?«

»Der ältere ist Hauptkommissar Horst Leicht. Er ist der Chef in der Mordkommission. Der andere ist Otto Müller. Sie sind ein Team und vielleicht sogar Freunde. Beide Junggesellen, aber nicht schwul. Der eine wohnt unterm Dach im Judenhof; der andere in einem Grabenhäuschen auf der Stadtmauer. Der eine leidet unter seinen Frauengeschichten, und dem anderen machen sie Spaß. Ziemlich unterschiedlich die beiden. Vielleicht sind sie gerade deshalb so erfolgreich. Versuche nicht, den einen gegen den anderen auszuspielen. Das geht garantiert daneben.«

»Und wo kann man die außerhalb ihres Büros treffen?«

»Den Leicht höchstens auf dem Weg in seine Wohnung, der Otto zieht schon mal um die Häuser.«

»Ich glaube, das ist mir zu kompliziert«, zweifelte Sofie nach einer kurzen Überlegung an ihrem noch nicht ausgereiften Plan. »Du hast gesagt, der Arsch hatte eine Affäre mit der Frau des Generals, der aus Afghanistan zurückgekommen ist. Bist du sicher?«

»Das war keine Affäre«, stellte der Reporter klar, »das war eine stadtbekannte Beziehung. Sie sind zusammen ins Theater gegangen. Die haben sich einen Dreck darum gekümmert, ob sie gesehen werden. Darum hat sich auch niemand mehr dafür interessiert.«

»Dass das niemand interessiert hat, glaube ich nicht«, zweifelte Sofie. »Diese Spur nehme ich auf. Ich bin neugierig, wie weit ich komme, und wo sie hinführt.«

»Solltest du das nicht besser den Kommissaren überlassen? So etwas kann gefährlich werden.« Plum entdeckte wieder den fürsorglichen, fast väterlichen Ton in dem, was und wie er es sagte.

Verdammt, ich werde alt, durchzuckte ihn die Erkenntnis, die ihn in letzter Zeit immer häufiger und überfallartig heimsuchte. Er war doch erst fünfzig, aber Sofie nicht einmal halb so alt.

»Ich habe ja so einen alten Hasen wie dich«, kokettierte sie aufgekratzt, »was soll mir da schon passieren?«

»Dann halte mich wenigstens auf dem Laufenden, wenn ich auf dich aufpassen soll.«

»Wird nicht nötig sein«, sagte sie locker und war mit ihren Gedanken bereits bei der Frau des Generals.

3

Das Haus lag in einer reinen Wohngegend. Die Anwohner kannten ihre Nachbarn und die Autos, die vor den Häusern parkten. An dem sonnigen Sonntagvormittag lag die Straße ruhig, und in den Gärten blühten späte Rosen, Anemonen und Chrysanthemen, und leise sprühten die Rasensprenger.

Simone weckte mit einem Knopfdruck den Kaffeeautomaten, schaute noch etwas verschlafen durch das Küchenfenster dem Sonntag entgegen und sah auf der anderen Straßenseite einen kleinen roten Peugeot stehen. Dieses Auto hatte sie hier noch nie gesehen. Nach ihrer dritten Tasse Cappuccino stand es immer noch unbewegt an der gleichen Stelle. Sie schaute deshalb genauer hin und beobachtete hinter dem Steuer eine junge Frau, die in einem Buch las, ab und zu aufsah und auf ihr Küchenfenster blickte. Kurzentschlossen warf sie ihren Morgenmantel über und trat vor die Haustür. Die junge Frau sah sie kommen, schaute ihr direkt in die Augen, machte aber keine Anstalten aus dem Auto zu steigen. Simone gürtete ihren Umhang fester und ging die wenigen Schritte über die Straße zur Fahrertür. Sofie ließ die Scheibe herab.

»Suchen Sie etwas? Kann ich Ihnen helfen?« Ihre Stimme war höflich, aber nicht zuvorkommend. Die Abwehr einer Belästigung war deutlich zu hören.

»Ja«, sagte Sofie kalt, »ich möchte die Frau sehen, die diesen Arsch geliebt hat.«

Simone wusste im ersten Moment nicht, was sie mit dieser Antwort anfangen sollte, war wegen der groben Direktheit der Sprache einen kurzen Moment verblüfft, fing sich aber schnell. Sie warf einen abschätzenden Blick auf die ihr unbekannte Frau und sah in ein fein geschnittenes, intelligentes Gesicht und auf eine durchaus gepflegte Erscheinung, soweit sich dies auf die Schnelle beurteilen ließ.

Nach dreißig Ehejahren mit einem Soldaten war sie durch solche Kraftausdrücke nicht aus der Fassung zu bringen.

»Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte sie abweisend kühl.

»Sie waren doch die Geliebte von Aki Fleischmann. Ich will nur sehen, wie eine Frau aussieht, die einen solchen« – sie suchte nach einem Wort und sprach nach kurzem Zögern weiter – »Mann lieben kann.«

Simone sah auf Sofie hinunter. Aki Fleischmann hatte ihr vor einigen Wochen von einer jungen Volontärin in seiner Redaktion erzählt. Sie hatte nicht richtig zugehört, weil es ihr nicht wichtig war. Sie ahnte, dass es sich bei der Frau um diese handelte. Aki hatte von einem Hamburger Termin berichtet und sie zutreffend beschrieben, attraktiv, jung und neugierig. Er hatte kein Hehl daraus gemacht, mit ihr im Atlantic in einer gemeinsamen Suite übernachtet zu haben.

»Was interessiert Sie daran?«, fragte sie und fügte souverän und spöttisch hinzu, dass sie sich in einem fundamentalen Irrtum befinde.

»Ich suche den, der ihn umgebracht hat«, sagte Sofie. »Ich möchte ihm danken.«

»Und Sie meinen, ihn vor meiner Haustüre zu finden? Ich schlage vor, wir beenden unsere Straßenvorstellung. Kommen Sie!«

Ohne eine Antwort abzuwarten und sich zu vergewissern, dass Sofie ihr folgen würde, schritt sie ins Haus zurück und ließ die Tür hinter sich offen.

Es war wie die Aufforderung, nicht länger mit dem Säbel in der Gegend herumzuschlagen, sondern den Fechtboden zu betreten. Wenn die junge Dame einen Kampf haben wollte und bereits am Anfang den schweren Säbel zog, dann holte sie Simone auf ihren Fechtplatz, um zu zeigen, dass ein Florett in geübter Hand jedem Degen überlegen war.

»Wir müssen den Nachbarn kein Schauspiel bieten«, erklärte sie, nachdem Sofie neben ihr in der Küche stand. »Sind erst mal Gerüchte entstanden, lassen sie sich schwer entkräften.«

»Dass Sie sich um Gerüchte scheren? Ihr Verhältnis zu Fleischmann war stadtbekannt, obwohl Sie die Ehefrau eines Generals sind.«

Simone stellte zwei Tassen unter die Düsen des Kaffeeautomaten und überlegte, ob sie diesem Hieb ausweichen oder ihn parieren sollte. Sie beschloss, einen Schritt zurückzuweichen und sagte lediglich, dass es sich um kein Gerücht, sondern um eine Offensichtlichkeit gehandelt habe und die Fantasie der Leute nicht mehr beschäftigte.

Nachdem sie Sofie eine Weile gemustert hatte, bemerkte sie anerkennend, dass Aki bei ihrer Beschreibung nicht übertrieben habe.

»Fleischmann hat mit Ihnen über mich gesprochen?«, fragte Sofie verblüfft.

»Wenn Sie die junge Volontärin sind, die ihn nach Hamburg begleitete, ja. Er nannte keinen Namen, aber seine Beschreibung stimmt.«

»Wie hat er mich denn beschrieben? Jung, dumm, naiv und gutgläubig?«

»Im Gegenteil! Aki Fleischmann nannte sie intelligent und sah viel Potenzial für eine gute Journalistin in Ihnen.«

»Wissen Sie, was dort geschehen ist?«, fragte Sofie etwas verunsichert.

»Wenn zutrifft, was er berichtet hat, ja. Er hat es kurz erwähnt.«

»Erwähnt«, spuckte Sofie. »Was hat er denn erwähnt? Dass er, der große Chefredakteur Fleischmann, eine weitere Kerbe in sein Bett schnitzen kann? Ein Scheißkerl war er.«

Simone wandte sich noch aufmerksamer Sofie zu, und während sich auf ihrer Stirn zwei steile Falten direkt über der Nasenwurzel bildeten, verrieten ihre Augen Spott, den sich Sofie nicht erklären konnte.

»Ich finde das nicht amüsant«, sagte sie verärgert.

»Das ist schade. Hat er sich über Ihr Nein hinweggesetzt? Sieht ihm eigentlich nicht ähnlich. Ich kenne ihn anders. Oder hat es kein Nein gegeben?«

Sofie senkte ihren Blick auf den Boden und schwieg. Touché, zählte Simone und senkte das Florett.

»Setzen wir uns. Der Kaffee ist fertig.«

Versöhnlich, fast mütterlich, stellte sie eine Tasse vor Sofie auf den Tisch. Die ihre behielt sie in der Hand.

»Sie sind also gekommen, um die Frau kennenzulernen, die Aki Fleischmann geliebt hat. Ich fürchte, Sie sind an der falschen Adresse. Ich liebe meinen Mann. Mit Herrn Fleischmann hatte ich eine Verbindung, die mir guttat, und ich bin sicher, ihm auch. Ich bedaure sehr, ihn verloren zu haben. Er wird mir fehlen. Dies erzähle ich Ihnen nur, um Sie vor einer falschen Einschätzung zu bewahren.«

Als sie sah, dass Sofie nicht verstand und verlegen die Kaffeetasse mit beiden Händen umfasst hielt, schickte sie einen Zusatz hinterher.

»Vielleicht sind sie noch zu jung, um das zu verstehen. Seien Sie beruhigt, dieser Makel behebt sich von selbst. Schneller als Sie glauben.«

Wieder kontrastierte der Ernst, mit dem sie sprach, mit dem Spott, der aus ihren Augen blitzte.

»Verraten Sie mir, weswegen Sie so wütend sind? Hat er Sie verletzt?«

»Er war arrogant, überheblich und rücksichtslos«, ereiferte sich Sofie.

»Sind Sie deshalb mit ihm nach Hamburg geflogen?«

Simones Spott hatte ihre Stimme erreicht. Ihre Augen richtete sie belustigt auf Sofie und ihre Lippen formte sie spitz. Das Florett in ihrer Hand wartete auf die Möglichkeit zum entscheidenden Stoß.

»Ich finde das nicht amüsant«, wiederholte Sofie.

»Ich amüsiere mich nicht. Aber was, bitteschön, haben Sie erwartet? Sie wussten, auf was Sie sich einließen und haben sich dafür entschieden, es zu tun. Nichts ist geschehen, was Sie nicht jederzeit hätten beenden können. Wenn Sie auf jemanden wütend sein wollen, können Sie das nur auf sich selbst sein. Es ist für Sie wohl bequemer, ihn oder mich als Ziel zu suchen.«

Sofie hatte sich das Gespräch anders vorgestellt. Sie war gekommen, um die Frau zu sehen, die sich aus Liebe zu Fleischmann vor den Augen der ganzen Stadt als Ehebrecherin outete. Eine schwache und labile Frau mit einem sichtbar schlechten Gewissen hatte sie sich ausgemalt. Getroffen war sie auf eine selbstbewusste Persönlichkeit, die tat, was sie wollte, ohne sich um die Leute und deren Urteil und Geschwätz zu scheren. Mehr noch: Plötzlich sah sie sich selbst und ihr Verhalten ins Zwielicht gerückt.

Sie hielt immer noch die Kaffeetasse in beiden Händen. »Macht es Ihnen nichts aus, dass er mit mir geschlafen hat«, fragte sie verwundert.

Simone zog den Gürtel um ihren Hausmantel nach.