Heuschreckentanz - Hermann Severin - E-Book

Heuschreckentanz E-Book

Hermann Severin

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Beschreibung

Mit intelligenter Raffinesse betrügen Unternehmensberater, Vorstände und Aufsichtsräte mit Hilfe der Banken den Familienunternehmer Mark Attelmann um seine Firma. Hilflos muss er zusehen, wie sein Vertrauen enttäuscht und ihm Unternehmen und Vermögen entzogen werden. Völlig legal. Ohnmacht und Wut bringen ihn dazu, mit Unterstützung eines afrikanischen Freundes den aussichtslosen Kampf aufzunehmen. Es beginnt ein roll back. Ganz und gar nicht legal. Hermann Severin zeigt, dass ein Gerichtsthriller nicht nur in der anglo-amerikanischen Literatur packend und faszinierend geschrieben werden kann. Brandaktuell und spannend mit garantiertem Gänsehauteffekt.

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Dieses Buch ist Birgit Gieger-Bojczuk gewidmet. Ohne ihren Esprit wäre es nicht entstanden. Wegen ihres frühen und plötzlichen Todes bin ich ihr viel schuldig geblieben.

Das Buch ist ein Roman; also ein Produkt der Fantasie des Autors. Fiktive Personen und Schicksale sind in tatsächliche Ereignisse hineingewoben. Sollte jemand sich selbst oder andere wiedererkennen, so wäre dies rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Ostern 2017

Hermann Severin

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Prolog

Er erzählte ihr also, dass ein Karzinom an seiner Lunge festgestellt worden war und dass er sich entschlossen habe, sich in seinem Alter keinen sinnlosen Therapien mehr zu unterziehen. Er betrachte es als eine ihm gewährte Gnade, sein Leben geordnet beenden zu können. So ein Alterskrebs kann sich lange hinziehen, meinte er. Die Oberstaatsanwältin hatte dem alten Anwalt sehr aufmerksam zugehört und erwiderte ihm, sie hoffe, dass ihn die Situation nicht dazu verleite, noch Unordnung in ein bisher geordnetes Leben zu bringen und fragte, wie er die ihm verbleibende Zeit gestalten wolle. Er werde an seinem Leben nichts mehr ändern. Wohl auch nichts mehr ändern können, antwortete er. »Halten Sie sich heraus aus den Geschäften dieser Welt«, sagte sie. »Das ist nichts für uns. Wir sind wie Ärzte. Wir sehen nur die Kranken. Die Gesunden und Anständigen landen nicht bei uns.« Erschöpft erkundigte sich der Greis: »Woher nehmen Sie Ihre Sicherheit, Marlene?« Und die so vertraut Angesprochene entgegnete: »Wieso glauben Sie, lieber Alexander, dass ich sicher bin?« Frauen zu verstehen, war Alexanders hervorstechendste Stärke nie. Nicht einmal dann, wenn sie Staatsanwältinnen waren. Als sie sich verabschiedeten, nahm die Oberstaatsanwältin den alten Mann in den Arm und drückte ihre schmalen Lippen auf seine gelbe, kalte Wange. »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts beurteilt. Pass auf dich auf, Alexander«, flüsterte sie und verließ das Lokal, ohne sich nochmals umzusehen.

Erster Teil

1

Als Mark erwachte, wusste er, dass es kein guter Tag werden würde. Er war genauso müde wie vor dem Schlafengehen. Sein Schädel brummte wie nach einem Besäufnis, und die Knochen schmerzten, als hätte er in eisiger Kälte einen halben Tag lang Kaminholz gehackt. Hätte er gewusst, was ihm heute bevorstand, hätte er zwei Finger bis zum Anschlag in seine Nase gesteckt, um den Kaffee nicht zu riechen und sich wie ein Grizzlybär beim ersten Schnee in seiner Winterhöhle vergraben. Unglücklicherweise roch er das anregende Aroma des Kaffees, den seine Haushälterin unten in der Küche bereits vorbereitet hatte, quälte sich aus dem Bett und schlurfte, wie jeden Tag zwischen Aufstehen und Erwachen ins Bad. Erst nach einer ausgiebigen Dusche brachte er sein Aussehen mit dem Alter von 56 Jahren zusammen. Dann suchte er nach den Kleidern für den bevorstehenden Tag. Er wählte ein braun und grün kariertes Jackett, eine braune Hose, Hemd und Krawatte in zarten Grüntönen und braune Schuhe.

Seit seine Frau des unbefriedigenden Ehelebens überdrüssig ihrem Drang nach Selbstverwirklichung gefolgt war und das Haus verlassen hatte, wählte er die Garderobe nach seinem eigenen Geschmack. Zur gemeinsamen Ehezeit trug er blau, schwarz und grau, wie es sich für einen Fabrikanten gehörte. Er konnte diese Farben nicht mehr sehen.

Nach dem Frühstück holte ihn sein Fahrer wie jeden Tag Punkt acht Uhr zur Fahrt in das Werk ab. Mark ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schloss die Augen. Er zwang den Tag, der vor ihm stand, in seine Gedanken.

Zunächst stand ein Gespräch mit seinem Finanzvorstand an, dann eine Konferenz mit den Vertretern der Banken, mit denen die Firma zusammenarbeitete, schließlich ein Zusammentreffen mit Betriebsräten und Gewerkschaftern und für den Abend ein sicher angenehmes Meeting mit einem befreundeten iranischen Geschäftspartner.

Mark trug den Namen eines Maschinenbaukonzerns, den sein Vater aus einer Schlosserwerkstätte heraus gegründet hatte und der zwischenzeitlich unter der Firma Maschinenwerke Attelmann AG weltweit tätig war.

Sein Vater hatte sich vor einigen Jahren mit fast achtzig Jahren aus dem Unternehmen zurückziehen und die Zügel übergeben müssen. Er war in das Kreuzfeuer von Gewerkschaften und Steuerfahndern geraten, und ein Journalist entlockte ihm ein Statement, in dem er die Gewerkschafter als linke Faulpelze und die Steuerfahnder als windige Beamtenärsche titulierte. Nach der Veröffentlichung des Artikels waren seine Tage als angesehener Patriarch gezählt. Verbittert zog er sich in sein Haus zurück und ließ nur noch seine ehemalige Sekretärin an sich heran, die ihn penibel über die Vorgänge im Unternehmen auf dem Laufenden hielt.

Mark hatte eher widerwillig die Unternehmensführung übernommen, bei der jetzt jeder Schritt argwöhnisch vom Alten beobachtet wurde. Zusammen hatten sie nicht arbeiten können. Der Vater duldete keine andere Meinung als die seine. Wenn er auf Argumente hörte, so eher auf diejenigen von Fremden als von Angehörigen der eigenen Familie. Er hatte Mark in angesehene Privatschulen geschickt. Schulen, die er selbst nie hatte besuchen können. Sein Schicksal war es gewesen, von Kind an unter strenger Anleitung in der großväterlichen Schlosserei den Beruf eines Werkzeugmachers zu erlernen. Nach der Meisterprüfung übernahm er den Betrieb und wurde außerordentlich erfolgreich. Für sein Lebenswerk als Unternehmer überhäufte ihn seine Heimatstadt mit Ehrungen. Das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland befand sich hinter Glas im Foyer des Firmengebäudes.

Mark erweiterte das Spektrum des Unternehmens und wandelte die Familiengesellschaft in eine Aktiengesellschaft um. Alle Anteile blieben im Besitz der Familie. Ein Drittel behielt er für sich selbst und je ein Drittel teilte er seinen beiden Halbschwestern zu. Einige Jahre später, nachdem er mit den Spielregeln auf dem Parkett vertrauter war, führte er die Gesellschaft an die Börse. Dank professioneller Beratung verlief der Börsengang sehr erfolgreich. Die Aktien verkauften sich gut. Knapp mehr als die Hälfte behielten die drei Familienmitglieder, der Rest fand reißenden Absatz. Zur weiteren Expansion stellten die Familienmitglieder einen großen Teil des Erlöses aus dem Aktienverkauf der Firma als Darlehen zur Verfügung. Nach der Börsennotierung änderte sich zwangsläufig der Führungsstil des Hauses. Die Entscheidungen konnten nicht mehr autokratisch gefällt, sondern mussten kollegial vorbereitet werden. Die Verantwortung und auch die Macht waren mit Beratern und Vorstandskollegen zu teilen. Als Vorstandsvorsitzender musste er seine Pläne gegenüber Mitvorständen, Aufsichtsrat, Betriebsrat und Banken rechtfertigen. In der jährlichen Hauptversammlung den oft lästigen und wichtigtuerischen Kleinaktionären und ihren Vertretern zuzuhören und Rede und Antwort zu stehen, fiel ihm zunächst schwer. Nach einer kurzen Phase der Gewöhnung bereitete ihm aber auch dies keine schlaflosen Nächte mehr. Seine hervorragende Ausbildung war ihm bei diesen unternehmerischen Umwandlungen zugutegekommen. Sie befähigte ihn, seine Argumente in jedem Gremium erfolgreich zu vertreten, und außerdem besaß die Familie auf Grund ihres Aktienbesitzes nach wie vor in der Hauptversammlung die Stimmenmehrheit. Sämtliche Stammaktien befanden sich im Familienbesitz. An der Börse wurden nur stimmrechtslose Vorzugsaktien gehandelt.

Die Banken, mit denen die Attelmann AG zusammenarbeitete, hatten sich zur Risikominimierung und zur Erhöhung ihres Einflusses in einem Pool vereinigt. Auf ihr Anraten hin hatte Mark schon vor einigen Monaten das Team der international tätigen Unternehmensberatungsgesellschaft IMC engagiert. Die jungen und eifrigen Leute hatten gerade ihr Betriebswirtschaftsstudium beendet und wurden von einem agilen Restrukturierungsexperten, dem Rechtsanwalt, Steuerberater und Gesellschafter der IMC Richie Machlik geführt. Beflissen durchforsteten sie das Unternehmen nach organisatorischen Schwachstellen.

Von Machlik war Mark die Berufung eines neuen Finanzvorstandes empfohlen worden. Dr. Assfort war ein ruhiger und besonnener Mann im Alter von sechzig Jahren, bei dem Mark die finanziellen Angelegenheiten des Unternehmens in verantwortlichen Händen wusste. An ihn delegierte er die Auswertung der Unmenge an Papieren, die die jungen Leute der Unternehmensberatung produzierten. Eine Besprechung mit ihm war der erste Termin des heutigen Tages.

Das Gespräch mit den Vertretern der Hausbanken dürfte problemlos verlaufen. Mark sah sich dabei mehr in der Zuhörerrolle. Assfort würde die Last der Darlegung der Unternehmenssituation tragen. Ermüdend würde die Länge der Konferenz werden, da die Bankenvertreter die Gespräche regelmäßig so lange ausdehnten, dass sie von der Firma nicht mehr in ihre Bank zurückkehren mussten, sondern sich direkt in den Feierabend verabschieden konnten.

Auf das Abendessen mit seinem Geschäftsfreund aus Teheran freute sich Mark. Mr. Humbeni belieferte die Attelmann AG seit Jahren mit Stahlteilen. Die Geschäftsbeziehung erwies sich als zuverlässig und frei von vermeidbaren Reibungen. Die außerhalb ihres Einflussbereiches aufgestellten politischen Hürden belasteten die Beziehung nicht. Gemeinsam fanden sie immer einen Weg durch den Dschungel von häufig wechselnden Vorschriften. Die Behörden beider Länder erwiesen sich dabei regelmäßig als sehr flexibel und hilfreich. Humbeni liebte es, geschäftliche Dinge beiläufig bei einem entspannenden und ausschweifenden Abendessen zu erörtern. Die Ergebnisse des Gesprächs am Abend konnte der Einkaufsleiter am folgenden Tag in Vertragsform bringen.

Vor ihm läge ein angenehmer Tag, dachte Mark.

Philipp Assfort saß aufrecht hinter einem mächtigen Schreibtisch. Einen kleinen, aufgeschlagenen Terminkalender hatte er vor sich liegen. Daneben stand eine Tasse Tee.

Die linke hintere Ecke des Schreibtisches begrenzte ein großer Fotorahmen mit einem Bild, auf dem vier Frauen in perfekter Pose abgebildet waren. Dr. Assfort war verheiratet und hatte drei erwachsene Töchter. Die ältere Frau auf dem Bild, seine Ehefrau und Mutter der drei Töchter, lebte in dem Heim der Familie bei Frankfurt.

Assfort wechselte seinen Arbeitsort häufig. Auf Empfehlung der Beratungsgesellschaft und großer Banken übernahm er kurzfristig die Verantwortung und mehr noch die Kontrolle über die Finanzen von Unternehmen. Er mietete dann jeweils ein luxuriöses Penthouse im bestrenommierten Teil der Stadt, in der das jeweilige Unternehmen seinen Sitz hatte. Mit diesem Komfort belohnte er sich für seine anstrengende Mobilität und versuchte, sich für den Verlust eines alltäglichen Familienlebens schadlos zu halten. Die Kosten brauchten ihn nicht zu interessieren; sie wurden von der jeweiligen Firma getragen. Das Familienfoto begleitete ihn an jede seiner Wirkungsstätten.

Eine Längsseite seines Büros bestand nur aus Fenstern, durch die er über das umliegende Industriegebiet bis hin zum hoch aufragenden spitzen Turm des gotischen Münsters sehen konnte, einem weltbekannten Wahrzeichen der Stadt.

Seinem Schreibtisch gegenüber stand lässig rückwärts an einen Besprechungstisch gelehnt der Chef der Beratungsgesellschaft. Sein schwarzer Anzug saß knapp wie bei Pep Guardiola. Richie Machlik war Coach der Mannschaft aus jungen Betriebswirten, die das Unternehmen Attelmann als ihr Spielfeld betrachteten.

»Wir müssen jetzt endlich vorwärtskommen«, sagte er mit ruhiger Baritonstimme vor sich hin. »Ich habe die Absicht, den Banken in der heutigen Sitzung Zahlen zu präsentieren, damit die Kugel nun endlich ins Rollen kommt.«

Assfort hörte aufmerksam zu, erhob sich langsam, geradezu vorsichtig, aus dem Sessel und trat neben seinen Schreibtisch. Er war klein gewachsen und zartgliedrig. Ihn kleidete ein Dreiteiler. Der Schneider hatte vorzügliche Arbeit geleistet. Für einen Sechzigjährigen besaß der Finanzvorstand eine tadellose Figur, die er durch straffe Körperhaltung unterstrich. Hose, Jacke und Weste schienen farblich mit den Haaren abgestimmt. Der ganze Mann war graumeliert. Ein feiner Geruch umwehte ihn, und warme wasserblaue Augen blickten hellwach aus einem fein modellierten Gesicht. »Unser Bonsaivorstand«, spotteten die Sekretärinnen respektvoll, denn die Hände und Gesichtszüge des Mannes waren sorgfältig und ausdrucksstark ausgeformt, nur eben etwas kleiner als üblich. Eine distinguierte Erscheinung ohne jede Unordentlichkeit von der Sohle bis zum Scheitel.

»Wie stellen Sie sich das vor, Herr Machlik?«, fragte er leise. »Die Zahlen der Firma sind nicht schlecht. Der Professor hat sich zwar etwas übernommen und in letzter Zeit ziemlich unkoordiniert eingekauft. Die Banken machen wir damit aber nicht nervös. Es bestehen hervorragende Sicherheiten, und die individuelle Geschäftsentwicklung folgt den allgemeinen Konjunkturdaten.«

Mark wurde »der Professor« genannt, seit ihn die Universität von Omsk, Sibirien, zum Professor honoris causa berufen hatte. Er hatte dort eine Stiftung errichten und finanziell ausstatten müssen, über deren Zweck und Mittel das dortige Kollegium selbständig entscheiden konnte. Der regionale westsibirische Provinzfürst hatte ihn dazu genötigt, sonst wäre ein beabsichtigtes Joint Venture zwischen der Attelmann AG und dem Omsker Maschinenbaukombinat von der postsowjetischen Oligarchie nicht genehmigt worden. Zum Dank schmückte ihn nun ein Professorentitel. In der Firma munkelten die üblichen Klatschtanten, dass der Chef nicht nur wegen der Geschäfte eine intensive Bindung zu dieser Industriestadt am Irtysch unterhielt, sondern dass er sich dort diejenigen Freiheiten nahm, auf die er zu Hause wegen seiner hohen Bekanntheit verzichten musste.

Marks Spesenabrechnungen nach jeder Russlandreise erregten die geballte Neugier der Sachbearbeiterinnen in der Personalabteilung, und sie ließen ihrer Fantasie freien Lauf. Mark wurde bei seinen Besuchen, die zum Aufbau der Beziehungen erforderlich waren, eine junge Frau als Begleiterin beigestellt. Dies gehörte wie der obligatorische Jagdausflug zum Umfang des Geschäfts. Mit ihr traf er sich jedes Mal, wenn er nach Omsk flog. Dies arrangierte er etwa dreimal im Jahr. Mark genoss diese Begegnungen. Olja erwartete nichts von ihm, sondern erfüllte seine und ihre eigenen Wünsche mit temperamentvoller Leidenschaft. Außerdem war sie eine ausgezeichnete Begleiterin bei der Jagd. Sie kannte die Hintergründe bei personellen Veränderungen und teilte ihr Wissen mit Mark. Ihre Informationen waren unbezahlbar. Wenn er ihr Geld zusteckte, so bedeutete es ihm nichts, und sie nahm es ohne Aufhebens und als selbstverständlich, ohne ihn durch Gesten des Dankes in Verlegenheit zu bringen.

Der Finanzvorstand liebte es, Mark mit seinem Professorentitel zu benennen. Es zierte ihn selbst, mit einem Professor zusammenzuarbeiten.

»Assfort, es ist Ihre Aufgabe aus Sicht des Unternehmens darzulegen, dass weitere Finanzmittel benötigt werden.«

Machlik redete mit Nachdruck auf den obersten Finanzchef des Unternehmens ein. »So etwas lässt sich immer begründen. Ich werde dann als externer Berater, der auch die Interessen der Banken zu beachten hat, von denen ich ja schließlich die Aufträge zugeschanzt bekomme, zur Vorsicht raten. Wir werden sie schon hellhörig machen.«

Philipp Assfort hörte genau zu, und mit dünner, aber nuancierter Stimme stellte er seine Fragen:

»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Machlik? Welche Ziele verfolgen Sie, und wohin soll die Reise gehen? Sie müssen mir schon Ihre Optionen sagen, wenn Sie meine Kooperation erwarten. Aus Sicht des Unternehmens sind weitere Finanzmittel zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorrangig.«

Richie Machlik antwortete entsprechend seiner Art direkt und ohne Umschweife:

»Ich habe einen potenten Interessenten, der mit der Firma Großes vorhat. Voraussetzung für sein Engagement ist, dass er in der Hauptversammlung die Mehrheit stellen kann. Im Augenblick halten der Professor und seine Familie alle Stammaktien. An einen Verkauf denken die nicht. Also kommt nur eine Kapitalerhöhung in Betracht, um unserem Investor zu helfen. Dazu brauchen wir durchschlagende Argumente. Wir müssen das Unternehmen internationalisieren. Wir müssen es an den globalen Markt führen. Dazu benötigen wir Kapital. Der Professor hat es nicht, die Banken werden es nicht geben, das habe ich mit Schwarzmann abgesprochen, also zaubern wir einen Investor herbei. Dieser übernimmt die Gesellschaft auf dem Weg der Kapitalerhöhung. Die Leute werden ihm in die neue Liga begeistert folgen. Bis der Professor merkt, was läuft, ist er schon in der Minderheit.«

»Und warum sollte ich hier mitspielen?«, warf Assfort fragend ein.

»Sie beenden Ihre Tätigkeit hier mit einem riesigen Erfolg und erhalten eine ordentliche Prämie. Objektiv gesehen führen Sie das Unternehmen nach oben und sichern dadurch seinen Bestand. Für Ihre Anschlussaufträge ist gesorgt, Herr Assfort. Schwarzmann hat mir dies ausdrücklich versichert. Ich habe den Deal vermittelt und durchgeführt. Das gibt eine saftige Provision und anschließend einen Fünfjahresvertrag für meine Beratungsgesellschaft, falls Sie mich nach meinen Motiven fragen.«

»Meinen Sie wirklich, dass Professor Attelmann den Braten nicht riecht, Herr Machlik? Der Mann ist hervorragend ausgebildet und führt die Firma schon viele Jahre. Vergessen Sie nicht, dass sich hier Loyalitäten aufgebaut haben.«

»Ach lieber Assfort«, seufzte der Unternehmensberater herablassend, »Sie sind nun mal ein Buchhalter und bleiben einer. Dann kommt Plan B. Wofür bin ich bekannt? Ich restrukturiere Unternehmen, notfalls auch über eine geplante Insolvenz. Und genau dazu brauche ich Sie. Macht der Professor die Kapitalerhöhung nicht mit und versucht auszubrechen, bekommen wir Probleme mit der Zahlungsfähigkeit. Eine Überschuldung kriegen wir nicht hin, aber drohende Zahlungsunfähigkeit lässt sich immer darstellen. Ich lege einen Insolvenzplan vor, der Professor und die Familie sitzen auf ihren wertlosen Aktien, und wir gründen eine Auffanggesellschaft mit dem Investor. In diesem Fall haben wir bei der Anpassung des Personals zusätzlich nahezu freie Hand. Wo ist das Problem?«

Über den ohnehin blassen Teint in Assforts Gesicht legte sich während dieses Vortrags ein grauer Schatten. Offensichtlich existierte eine Strategie, die ihm bisher verborgen war.

»Wer soll Insolvenz anmelden?«, fragte er mit gespielter Ruhe. Er sah von unten her dem Berater direkt in die Augen.

Machlik wurde ungeduldig. Mit rauer Stimme antwortete er unwirsch:

»Natürlich die Gesellschaft selbst, also der Vorstand. Klar, im Augenblick ist Attelmann noch Vorsitzender. Das können wir mit Hilfe der Banken ändern. Es entspricht nicht mehr der modernen Unternehmensführung, dass der Familienaktionär im Vorstand des Unternehmens sitzt. Wir stellen es als eine exzellente vertrauensbildende Maßnahme dar, wenn wir eine gleiche Distanz des Managements zu Banken und Anteilseignern schaffen. Die Zahlen werden transparenter und objektiver, und die Unternehmensberichte eines neutralen Managements sind aussagekräftiger und weniger verdächtig als diejenigen des geschäftsführenden Hauptaktionärs. Die Banken und auch die Kleinaktionäre werden den Rückzug des Hauptaktionärs geradezu verlangen, wenn sie unsere Argumente hören.«

»Wir können den Professor nicht zwingen«, warf Assfort ein, »und ich bin eigentlich nicht gekommen, um einen Insolvenzantrag zu stellen«, setze er mit feinem Lächeln hinzu.

Machlik blieb unbeeindruckt.

»Nein, aber überzeugen können wir ihn. Schauen Sie, wir erklären ihm, dass ein familienunabhängiges Management mit der Belegschaft wesentlich problemloser verhandeln kann als der Eigentümer. Sozusagen von Arbeitnehmer zu Arbeitnehmer. Ohne den Neid und die Emotionen, die der Kapitaleigner a priori auf sich zieht. Dem Professor gehen die ewigen Verhandlungen mit den Betriebsräten und Gewerkschaften ohnehin auf die Nerven. Auf diesem Ohr wird er hören. Für seine Unternehmerfreunde liefern wir ihm hervorragende Argumente für sein Ausscheiden aus dem Vorstand. Außerdem bieten wir ihm einen Beratungsjob und den Titel des Generalbevollmächtigten, der ihm ermöglicht, in der Welt herumzureisen. Das kommt seinen Neigungen entgegen. Sie wissen schon, er ist sicher lieber in Sibirien auf der Jagd als zu Hause.«

Die Tür öffnete sich und Marks Erscheinen unterbrach abrupt Machliks Vortrag.

»Hallo, guten Morgen! Ich sehe mit Freuden die Stützen des Unternehmens bereits bei der Arbeit«, begrüßte er gut gelaunt die beiden Herren.

»Guten Morgen, Herr Professor.« Dr. Assfort reichte Mark die Hand. Auch Richie Machlik begrüßte den Professor mit Handschlag, fragte aber, ohne sich auf einige verbindliche Worte einzulassen: »Können wir anfangen? Ich sehe ein Problem auf uns zu kommen.« Während sich Mark und Assfort noch setzten, begann Machlik zu dozieren. »Unser Fertigungsprogramm ist zu breit und zu tief. Die Produktionswege sind zu lang. Zusammen führt dies zu einem unwirtschaftlichen Personalbedarf, zu erhöhten Stückkosten und außerdem zu starker Mängel-anfälligkeit. Unsere Konkurrenz ist uns bei der Vereinfachung der Modelle und der Verschlankung des Betriebs schon mehrere Schritte voraus. Wir haben Handlungsbedarf.«

»Bisher sind wir doch ganz gut gefahren«, warf Mark ein. »Was hat sich denn verändert, dass Sie die Alarmglocken so heftig läuten, Machlik?«

»Verändert hat sich die Konkurrenz, verändert hat sich der Markt. Die bauen drei, vier Standardmodelle, und wir kommen allen möglichen Kundenwünschen nach. Jede Abweichung vom Standard ist arbeitsaufwändig und störanfällig. Wir kommen nicht mehr mit. In der vorigen Woche haben unsere Leute ein Briefing im Vertrieb durchgeführt. Wissen Sie, was die Vertreter dort sagen? Standardmodelle kauft man bei Weber und Andechser, also unseren stärksten Konkurrenten. Die liefern schneller und termingerechter und geben außerdem Nachlässe, dass uns die Ohren pfeifen.

Wenn man was Besonderes braucht, kommt man zu uns. Wir schicken unsere Konstrukteure zum Kunden und tüfteln und bauen, und wer zahlt das? Keiner! Weil es nicht zu bezahlen ist. Außerdem bekommen wir ein Imageproblem, weil bei uns ständig nachgebessert werden muss, während die Nullachtfünfzehn-Modelle der Konkurrenz laufen wie ein Uhrwerk. Wir müssen die Produktion und die Entwicklung rationalisieren, die Modellzahlen reduzieren und die Fertigung lokal auf einen Standort konzentrieren. Dies bedeutet: Auflösung von drei Zweigbetrieben und weitere Investitionen im Hauptwerk.«

Machlik lehnte sich zurück, streckte die Beine von sich, faltete die Hände und steckte seine gespreizten Finger zwischen den geschlossenen Knöpfen unter das stramm sitzende Jackett.

Mark hatte mit wachsender Verwirrung zugehört. Auf einen solchen Vortrag war er nicht vorbereitet. Seiner Ansicht nach genügten in der Firmenpolitik kleinere Anpassungen. Einschneidende Maßnahmen wie Werksschließungen und Investitionen in Millionenhöhe standen nicht auf seinem Programm.

»Wir haben doch erst vor ein paar Jahren das neue Werk für über zweihundert Millionen von Wurstfeiler gekauft und umgebaut. Vor zehn Jahren haben wir im Osten zwei Werke gekauft und modernisiert. Gut, die Investitionshilfen haben es uns erleichtert; aber wir können doch jetzt nicht schon wieder eine solche Aktion auflegen. Assfort, was meinen Sie? Werksschließungen können wir uns auf keinen Fall leisten. Die Sozialpläne bringen uns um.«

»Zur Technik kann ich nichts sagen, Herr Professor«, antwortete Assfort. »Das fällt nicht in meine Kompetenz. Zur Finanzlage nur so viel: Unsere Mittel nach den Investitionen der letzten Jahre sind begrenzt. Jede Investition schmälert unsere freien Finanzmittel und belastet letztlich die Zahlungsfähigkeit. Ohne neue Kapitalzufuhr rate ich von solchen Investitionen ab.«

»Wie stellen Sie sich die Kapitalbeschaffung vor?« Mark zog die Augenbrauen zusammen. Sein anfänglich entspanntes Gesicht veränderte sich. Es sah aus, als würde es sich zuspitzen. Irgendetwas stimmte nicht. Mark war Jäger. Er pflegte diese Leidenschaft nicht passioniert, sondern eher wegen der Geselligkeit, die sich um eine Jagd herum einstellt. Aber wie Rehe plötzlich verhalten und ihre Lauscher in den Wind stellen, so witterte Mark eine Gefahr. Er wusste nicht, woher und warum. Aber ein Unbehagen erfasste ihn.

Der Tag verlief nicht wie erwartet.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, begann Assfort vorzutragen, und Mark hörte die Stimme wie durch eine Nebelwand. »Entweder wir nehmen weitere Kredite auf, oder wir erhöhen das Kapital. Andere Möglichkeiten sehe ich nicht.«

»Eine Kapitalerhöhung kommt nicht in Betracht«, antwortete Mark schroff mit fast drohendem Unterton.

»Mein Geld in der Firma bleibt ein Darlehen. Meine Schwestern und ich haben das Geld nach dem Aktienverkauf der Firma zur Verfügung gestellt. Es ist unser gesamtes Kapital. Assfort, das steht nicht zur Disposition. Sie können nachher den Banken das Problem vortragen. Die kommen ja gleich.«

Er schob seinen Stuhl zurück und verließ, ohne die beiden Herren nochmals anzusehen und ohne weiteres Erklärendes zu sagen, das Büro des Finanzvorstands. Der Tür gab er von außen so wenig Schwung, dass sie nicht in das Schloss fiel, sondern einen Spalt geöffnet blieb.

Richie Machlik schaute Mark schweigend nach, stand auf, durchmaß das Büro in ganzer Länge und schloss die Tür. Dann drehte er sich um, blieb stehen, nahm Dr. Assfort fest ins Visier und sagte hart:

»Das hat gesessen. Er schweißt schon.«

Machlik bediente sich der Sprache der Jäger, denn er fühlte sich als solcher. Sein Jagdgebiet lag nicht in Wald und Flur, sondern in den obersten Etagen von Banken und Unternehmen. Dann wandte er sich zu Assforts Schreibtisch und griff mit vertrautem Griff, ohne den Finanzvorstand anzusehen oder gar zu fragen, nach dem in einer Schublade versenkten Telefon und tippte eine Nummer ein.

»Ja, hier Machlik, bitte Dr. Schwarzmann.«

Während der kurzen Verbindungspause betrachtete Machlik ungeniert neugierig Assforts Terminkalender, der aufgeschlagen auf der Schreibtischplatte lag.

»Hallo Heinz, ja hier Richie. Wir treffen uns nachher beim Meeting. Die Sache rollt, wie besprochen. Du sprichst für den Pool? Okay. Also es bleibt dabei, kein weiteres fresh money.«

Philipp Assfort saß immer noch am Besprechungstisch und sah quer durch das Büro auf Machlik, der an seinem Schreibtisch stand, sich zu ihm drehte und zufrieden lobte:

»Gut gemacht, Assfort. Also auf in die nächste Runde!«

Mark schritt den langen Korridor der Vorstandsetage entlang, vorbei an den Türen, die links und rechts in die Vorzimmer der leitenden Mitarbeiter führten. Am Ende des Korridors öffnete er die schwere Mahagonitür zu seinem eigenen Büro. Am Schreibtisch saß eine schwarzhaarige, schlanke Frau in mittleren Jahren und telefonierte. Sie ließ sich durch den eintretenden Chef nicht stören.

»Ja, heute schon wieder. Alle Banker und die Leute von der Unternehmensberatung«, hörte er sie sagen. Im Vorbeigehen warf Mark einen Blick auf das Display und erkannte in der aufgeleuchteten Telefonnummer die seines Vaters. Schweigend ging er in sein Büro. Der Schreibtisch war überladen mit Papieren und Mappen.

Mark Attelmann trat ans Fenster, blickte über die Produktions- und Verwaltungsgebäude des Industriegebietes, das weit unter ihm lag und strich sich mit der flachen linken Hand über das Gesicht. Von den Augen bis zum Kinn, als wische er sich ab. Diejenigen, die ihn kannten, wussten, dass er diese Geste immer gebrauchte, wenn er mit sich im Unreinen war und für ein Problem noch keine Lösung gefunden hatte.

Jasmin Weiß, die Frau, die seinen Berufsalltag managte und eben mit seinem Vater telefoniert hatte, stand im Türrahmen. Sie hielt ein Tablett mit einer Tasse Kaffee in Händen und suchte auf dem Schreibtisch einen Platz, um es abzustellen.

»Guten Morgen, Chef. Um elf kommen die Bankleute. Wäre gut, wenn Sie von Anfang an dabei wären. Ich glaube, Machlik und seine Leute hecken eine Gemeinheit aus. Ich traue denen nicht über den Weg. Jetzt sind es schon neun, die ständig im Haus sind. Die blonde Schönheit von Machlik hat heute ein eigenes Büro angefordert. Was glaubt die wohl, wer sie ist. Cora Christiansen! Wenn ich das schon höre! Das Weib ist Machliks Geheimwaffe, mit der er von seinen krummen Geschäften ablenkt. Von der Buchhaltung habe ich erfahren, dass im letzten Monat über vierhundert tausend Euro an die IMC bezahlt worden sind. Die fressen uns noch auf, Chef, glauben Sie mir.«

»Wie geht es dem Senior?«, fragte Mark ablenkend.

»Gut, dass er nicht mehr alles mitbekommt. Das gäbe Mord und Totschlag in der Firma. Er hat in der Zeitung gelesen, dass die Firma expandiert und wollte wissen, was wir vorhaben. Ich konnte ihm nichts sagen. Ich weiß selber nichts«, sagte sie mit einem gewissen Vorwurf in der Stimme.

Mark sah rote Flecken am Hals der Weiß, ein Zeichen erhöhter Betriebstemperatur, und schwieg. Die Frau kümmerte sich um seinen Vater und ermöglichte ihm, die Zeiträume zwischen seinen Besuchen immer weiter auszudehnen. Diese Besuche verliefen unerfreulich. Anfangs versuchte Mark seinem Vater zu vermitteln, dass er das Unternehmen nicht mehr nach Gutsherrenart führen könne. Er musste Entscheidungen kollegial vorbereiten und Vorstandskollegen, Aufsichtsrat, Banken und sogar den Betriebsrat in die Prozesse einbinden. Sein Vater wies alle diese Argumente als Geschwätz, das nur Flucht vor Verantwortung und Führungsschwäche überdecken solle, zurück. Wie hätte er ihm, der nicht einmal den Begriff des kollektiven Führungsstils kannte oder kennen wollte, erklären sollen, dass er nicht nur Aufgaben, sondern auch die Befugnis, Entscheidungen zu treffen, auf mehrere Schultern verteilen musste. Aussichtslos! Sein Vater verschloss sich Marks Argumenten wie eine gereizte Auster. Er lebte in einer Welt, die nicht mehr existierte. Deshalb überließ er den Alten der Obhut seiner Sekretärin und reduzierte seine Besuche auf ein Minimum.

Mark schätzte die Weiß wegen dieser Entlastung und sah ihr, an deren Loyalität zur Familie es keinen Zweifel gab, manches nach. Jasmin Weiß nutzte diese Freiräume nicht zum eigenen Vorteil, sondern um ihre Meinung auch dann zu sagen, wenn sie wusste, dass sie Mark damit nervte. Manchmal musste sich Mark eingestehen, dass Jasmin Weiß, die bereits über zehn Jahre die Sekretärin seines Vaters gewesen war, nicht ganz unrecht hatte. Seit die IMC im Hause war und den neuen Pressesprecher eingesetzt hatte, erschienen über das Unternehmen öfters Veröffentlichungen, die mit Mark nicht abgesprochen waren. Bisher machte er sich keine Gedanken darüber, sondern lobte die Selbständigkeit des neuen Mitarbeiters, zumal der Inhalt aller Artikel und Interviews sehr optimistisch war, und die herausgegebenen Zielbeschreibungen, Prognosen und Berichte auch in der Fachpresse durchweg positiv kommentiert wurden. Das Unternehmen erschien im besten Licht. Die Chefs von Weber und Andechser, mit denen sich Mark bei Sitzungen des Unternehmerverbands hin und wieder traf, mokierten sich zwar manchmal über die euphorischen Nachrichten aus seinem Hause. Er tat dies aber als missgünstige Flachsereien seiner Konkurrenten ab und genoss den Neid, den er aus ihren fast boshaften Worten zu erkennen glaubte.

»Was muss ich wissen, Jasmin? In einer Stunde beginnt die Bankensitzung.« Mark deutete fragend auf das Chaos auf seinem Schreibtisch.

»Der neue Betriebsrat hat einen Vorschlag für eine Betriebsvereinbarung zur verblockten Altersteilzeit hereingegeben. Das Papier liegt auf Ihrem Schreibtisch. Sicher will er mit Ihnen heute Nachmittag darüber reden. Stunk gibt es wegen der ungenehmigten Überstunden in der Lackiererei. Das Schreiben von der Gewerkschaft kam heute mit der Post.

Außerdem hat sich der Vertriebsleiter heute schon beschwert. Er kommt an Sie nicht mehr ran. Die Leute von der IMC schleichen um seine Vertreter herum und lassen sie Fragebögen ausfüllen. Er ist stinksauer. »Die sollen raus zu den Kunden und nicht diesen Kram machen«, sagt er. Er möchte wissen, ob Sie das angeordnet haben. Übrigens hat Schwarzmann vor einer Stunde angerufen, wollte aber nicht zurückgerufen werden. Er sieht Sie bei der Bankensitzung sowieso. Passen Sie auf Chef! Der Machlik und die Christiansen sind ein Paar. Wie ein Arsch und ein Gesicht. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.«

Mark hatte sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt und hob kurz den Kopf. Ein tüchtiges Mädchen, diese Weiß, dachte er sich. Sie war bereits die rechte Hand seines Vaters und kannte die Firma und auch den üblichen Klatsch mit den kleineren und größeren Rivalitäten und Intrigen genau. Ihre Röcke sind immer ein wenig zu kurz oder zu lang, wie es vor zwanzig Jahren in ihrer Jugend Mode war. Aber bei ihrer Figur konnte sie es sich leisten, und wenn er ehrlich war, dann sah er es eigentlich recht gerne. Kurz war ihm lieber, lang zu gouvernantenhaft. Er verkniff sich dazu aber jeden Kommentar.

Während Mark versuchte, einen Überblick über die Akten vor ihm zu bekommen, trafen im Foyer nach und nach die Vertreter der Banken ein. Gelangweilt betrachteten sie die Bilder an der Wand: den eingerahmten Meisterbrief des Firmengründers von 1925, daneben das Bundesverdienstkreuz und den Ehrenbürgerbrief der Heimatstadt. Auf der anderen Seite diverse Urkunden über die bedeutendsten Firmenpatente und dazwischen das Gemälde eines Künstlers der Stadt, das ein abstraktes Portrait des Seniorchefs darstellen sollte. Auf kleinen Glastischen neben schwarzen Ledersesseln lagen Prospekte verstreut, in denen der Attelmannkonzern sich und seine Produkte in mehreren Sprachen vorstellte.

Die Herren bildeten Grüppchen und unterhielten sich. Hinter der Edelholzbarriere in der Empfangshalle, die in die Rezeption eines jeden Luxushotels gepasst hätte, versuchte die Empfangsdame aus dem Gemurmel einige Wörter aufzufangen. Die dezent leise Sprechweise der zehn Herren ließ dies aber nicht zu. Bisher war es nie vorgekommen, dass so viele Banker auf einmal in die Firma kamen. Grund genug für eine wache Angestellte, aufmerksam zu sein. Die Herren waren alle irgendwie uniformiert. Dunkle Anzüge. Dunkelblau oder dunkelgrau. Mit Weste oder ohne. Gedeckte Krawatten, dazu goldene Krawattennadeln und Manschettenknöpfe an den weißen Hemdsärmeln, die fingerbreit unter den Jacken hervorschauten. Die meisten der schwarzen Schuhe waren mit einer auffälligen Ziernaht versehen. Sie schienen vom gleichen britischen Hersteller bezogen zu sein. Alle glänzten frisch gewichst.

Die leise Konversation unter den Herren verstummte, als eine große, schlanke Dame im schwarzen Kostüm aus dem Aufzug ins Foyer trat, einige Schritte auf die Bankenvertreter zuging und ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. Die etwa dreißig Jahre alte Frau trug eine weiße Bluse, bei der die oberen zwei Knöpfe geöffnet waren. Vor ihrem Dekolleté schaukelte an einem unauffälligen Silberkettchen ein kleines Kreuz. Die blonden Haare waren hochgesteckt und mit Kämmen, deren Vorhandensein man nur vermuten, aber nicht erkennen konnte, gebändigt. Der schlichte Rock des gediegenen schwarzen Kostüms endete eine Handbreit über dem Knie und erlaubte einen Blick auf mit hellglänzenden Seidenstrümpfen bedeckte, makellos geformte Beine.

Als sie der Aufmerksamkeit aller Herren sicher war, trat sie zielstrebig auf einen stattlichen Mann zu, reichte ihm die Hand und sagte mit einer angenehmen Altstimme gerade so laut, dass alle es hören konnten:

»Guten Tag, Herr Dr. Schwarzmann, schön, dass Sie alle da sind. Darf ich Sie in den Konferenzraum bitten? Unsere Herren erwarten Sie schon. Bitte folgen Sie mir.«

Sie ging in den Aufzug voran. Alle zehn Herren drängten nach ihr in die Kabine, die eigentlich auf eine Personenzahl von acht angelegt war. Cora Christiansen lächelte unmerklich, drückte den Knopf zum achten Stock und schwieg.

Oben angekommen verließ sie als erste die Kabine, richtete ihre Schrittgeschwindigkeit so ein, dass sie dem ihr folgenden Pulk um mindestens drei Meter voraus war und steuerte dem Konferenzraum entgegen. Auf den zu einer U-Form geordneten Tischen standen Getränke und belegte Brötchen für die Gäste bereit, und neben den Namensschildern lagen in schwarzes Leder gebundene Notizblöcke mit dem goldenen Aufdruck »IMC«.

»Ich darf Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen. Ich sage unseren Herren Bescheid. Sie entschuldigen mich.«

Cora Christiansen drehte sich langsam um, wobei sie versuchte, noch jedem der im Raum befindlichen Herren einen Blick zuzuwerfen, den jeder als nur für ihn bestimmt wertete, und verließ den Raum.

Der Duft eines teuren Parfüms hing noch eine kurze Weile im Raum, bis er verwehte. Die Herren sahen sich gegenseitig an, als hätten sie eben ein edles Pferd zu begutachten gehabt. Sie suchten ihre Plätze. Ein Gespräch kam nicht mehr auf.

Als der Finanzvorstand den Konferenzsaal betrat, erhoben sich die Bankenvertreter, als hätte ein unsichtbarer Unteroffizier ein Kommando gegeben. Der kleine, zarte Mann ging in aufrechter Haltung von Mann zu Mann und reichte jedem formvollendet die Hand. In seinem hellgrauen Anzug stach er trotz seiner geringen Körpergröße unter den einheitlich dunkel gekleideten Herren freundlich hervor.

Machlik hatte sich bereits unauffällig unter die Gäste gemischt. Man hätte auch ihn für den Vertreter einer Bank halten können. Auf seine Initiative hin fand diese Zusammenkunft statt. Während er mit den ihm offensichtlich gut bekannten Bankern plauderte, behielt er die Tür aufmerksam im Auge. Dort erschien schließlich Mark Attelmann, der Vorstandsvorsitzende und Mehrheitsaktionär der Gesellschaft.

Philipp Assfort eröffnete als zuständiger Finanzvorstand das Meeting und bat Professor Attelmann, einige Begrüßungsworte zu sprechen. Mark, der mit der ganzen Veranstaltung wenig anfangen konnte und außerdem von dem zurückliegenden Gespräch mit Machlik und Assfort noch angesäuert war, kam seinen Gastgeberpflichten lustlos nach und fasste sich dabei äußerst kurz. Zum Sinn und Zweck des Zusammentreffens sagte er nichts.

Interessiert verfolgte er den Auftritt des Initiators dieser Veranstaltung. Machlik trat, bevor er zu sprechen begann, hinter seinen Stuhl und umklammerte die Lehne so krampfhaft, dass seine Handknöchel weiß hervortraten. Als habe Mark dies nicht schon erledigt, hieß Machlik die Gäste nochmals willkommen. Er wies daraufhin, dass seine Firma, die weltweit tätige IMC, seit nahezu zwölf Monaten die Gesellschaft analysiere. Es zeichne sich ein positives Ergebnis ab. Die Gestaltung der weiteren Entwicklung des Erfolg versprechenden Unternehmens mache die sofortige Installierung eines Lenkungsausschusses erforderlich. Diesem Ausschuss sollten Vertreter der Banken, der Finanz- und Technikvorstand und natürlich er selbst angehören. Der Vorstandsvorsitzende sei immer gerne willkommen, und aus anderen Fachbereichen würden Kräfte je nach zu behandelnden Themen von Fall zu Fall und bei Bedarf hinzugezogen.

Dann führt er aus, dass seine Mannschaft an Bord über hohe Qualifikationen verfüge, und dass beträchtliche Schwachstellen aufgefunden worden seien. Die Unternehmensstrategie stehe insgesamt auf dem Prüfstand. Es sei absehbar, dass einschneidende Veränderungen nicht vermieden werden könnten. Nachdem er diese Erkenntnis gewonnen habe, habe er sofort vorgeschlagen, die Banken, die sich in einem Pool zusammengeschlossen hätten, zu informieren und von Anfang an mit ihnen vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und alle Schritte gemeinsam zu beraten. Deshalb begrüße er es außerordentlich, dass alle Beteiligten die Zeit gefunden hätten, seiner Einladung zu folgen, insbesondere danke er Herrn Dr. Heinz Schwarzmann, der die Poolführerin vertrete und der mit der Materie bereits befasst sei, für seine Teilnahme. Schweigendes Nicken der Herren signalisierte Zustimmung und ermunterte Machlik fortzufahren:

»Es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass das Unternehmen zur Realisierung der ehrgeizigen Restrukturierung frisches Kapital benötigt. Die Kapitaleigner sind mit dem Problem vertraut gemacht worden und haben eine Erhöhung definitiv abgelehnt. Also bleibt nur die Ausweitung des Engagements der Banken.«

Machlik ließ einen fragend auffordernden Blick über die Runde schweifen und zuckte dann ratlos mit den Achseln. Niemand schien antworten zu wollen. Schließlich nahm Dr. Schwarzmann das Wort und äußerte mit bekümmertem Gesicht und belegter Stimme, dass man verstehen müsse, wenn in der derzeitigen Konstellation eine Ausweitung der Kreditlinien nicht möglich sei.

»Wir müssen uns alle vor unseren Gremien rechtfertigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Kollegen eine andere Meinung dazu haben.«

Wieder lief stummes, zustimmendes Nicken wie eine Welle durch die Sitzreihe.

»Andererseits erkennen wir die Notwendigkeit und die Chancen der Investitionen. Das Management muss aber deutlich den neuen Herausforderungen angepasst und entsprechend verstärkt werden«, betonte er.

Alle Augen richteten sich nach diesen überraschenden und deutlichen Worten auf den Vorstandsvorsitzenden. Mark war dem Verlauf der Veranstaltung immer erstaunter gefolgt, erhob sich jetzt langsam, schob seinen Stuhl zurück und wandte sich direkt Schwarzmann zu:

»Ich verstehe diesen Angriff von Ihrer Seite nicht, Herr Schwarzmann. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass die Organe der Gesellschaft und insbesondere ich für den Vorstand reibungslos mit Ihnen zusammengearbeitet haben. Wenn Sie jetzt daran Kritik üben, verwundert mich das, und ich hätte erwartet, dass so etwas zunächst vertraulich geschehen wäre. Sollte die weitere Entwicklung tatsächlich eine Veränderung im Vorstand erfordern, so werde ich diese vornehmen, wenn dies dem allgemeinen Wunsch entspricht«, sagte er bestimmt und nahm dabei Machlik und Assfort ins Visier. Machlik hielt seinem Blick stand. Assfort aber machte sich in seinem Stuhl noch kleiner als er ohnehin war und starrte geradewegs auf Schwarzmann, um dem Blick des Professors nicht begegnen zu müssen.

Es entstand eine peinliche Stille im Saal. Nach einigen langen Sekunden fuhr Mark fort:

»Dazu fehlen mir im Augenblick aber überzeugende Argumente.« Wieder antwortete niemand. In die Stille hinein sagte Mark, dass er die Sache beraten und seine Entscheidung mitteilen werde. Dann verließ er mit trotzigen Schritten den Raum.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, standen alle Teilnehmer auf und gruppierten sich aufgeregt um Machlik und Schwarzmann.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Schwarzmann in Richtung Machlik.

»Er wird unserem Vorschlag folgen, Heinz. Der Professor ist nicht das Problem.«

Mit einer Kopfbewegung wies er die anderen auf den allein am Fenster stehenden Finanzvorstand hin. Der kleine Mann schien in Gedanken versunken und blickte mit versteinerter Miene auf den hohen Turm des Münsters, der in der Ferne über die Dächer der Stadt herausragte.

Nach diesem Eklat leerte sich langsam der Raum. Die Bankenvertreter strebten dem vorzeitigen Ende des Bürotages entgegen, und Assfort kehrte an seinen Schreibtisch zurück, ohne mit Machlik und Schwarzmann noch ein Wort zu wechseln. Diese beiden setzten sich an einer Ecke des Konferenztisches zusammen. Richie Machlik schenkte zwei Tassen Kaffee nach.

»Wir müssen den Vorstand neu besetzen, Heinz. Wichtig ist, dass Attelmann ausscheidet. Dann ist der Weg für die Kapitalerhöhung frei.«

»Das hilft doch nichts«, gab der Banker zu bedenken, »in der Hauptversammlung hat er doch die Mehrheit. Er wird uns niederstimmen.«

»Das ist ein überwindbares Hindernis«, antwortete Machlik hintersinnig. »Lass das meine Sorge sein. Jetzt loben wir ihn in den Aufsichtsrat. Komm, wir gehen zu ihm.«

Machlik war gewohnt, Eisen zu schmieden, solange sie heiß waren.

Die beiden Männer durchschritten den langen Flur, betraten Marks Vorzimmer, ohne die Weiß eines Blickes zu würdigen, und gingen an der sprachlosen Chefsekretärin vorbei direkt in Attelmanns Büro.

Mark saß mit ausgestreckten Beinen in seinem Sessel und blickte erstaunt auf, als er die beiden in der Tür erblickte.

»Können wir Sie kurz sprechen, Herr Attelmann. Es ist dringend.« Machlik wartete eine Antwort erst gar nicht ab und ging zielstrebig auf den großen, runden Besprechungstisch zu.

Die beiden Herren setzten sich, und Mark verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch und stellte sich zu ihnen. Er blickte Machlik fragend an.

»Herr Attelmann, im Interesse Ihres Unternehmens haben wir eine große Bitte an Sie.«

Mark schwieg und wartete.

Machlik sah zu Schwarzmann, und als der ermutigend nickte, sagte er:

»Wechseln Sie in den Aufsichtsrat. Übergeben Sie das operative Geschäft einem familienunabhängigen Topmanager. Als Vorsitzender des Aufsichtsrats und mit ihrer Aktienmehrheit bleiben Sie der Herr im Hause, und das Rating Ihres Unternehmens wird dadurch so angehoben, dass es den Banken unmöglich wird, ihr finanzielles Engagement nicht auszuweiten.«

Marks Blick wanderte zu Heinz Schwarzmann. Dieser nickte.

»Sie haben lange genug die Kärrnerarbeit geleistet, Herr Attelmann«, schmeichelte er. »Es wird Ihrer Gesundheit guttun, wenn Sie etwas kürzertreten. Und Ihre Leistung haben Sie ja nun wirklich erbracht«, führte Schwarzmann Machliks Gedanken weiter. »Wenn Sie in den Aufsichtsrat gehen und der Vorstand neutral besetzt wird, gibt es für den Pool keine Veranlassung mehr, die Eigentümer für überrepräsentiert anzusehen. Bedenken Sie, Piëch sitzt auch nicht im Vorstand bei VW. Er regiert vom Aufsichtsrat aus. Und wie man bei der Auseinandersetzung mit den Vorständen beobachten konnte, nicht machtlos.«

»Das ist ein gutes Beispiel«, bekräftigte Machlik, als er sah, dass dieses Argument bei Mark wirkte.

»An wen denken Sie?«, unterbrach Mark den Unternehmensberater abrupt, der bereits zu weiteren Ausführungen ansetzte.

»Sie haben doch schon eine Vorstellung, wer an meine Stelle treten soll.«

Schwarzmann neigte sich zu Mark vor.

»Eigentlich wollten wir Ihnen nicht vorgreifen. Aber wir können uns Dr. Kleiner gut vorstellen. Er ist eine erfahrene und integre Persönlichkeit. Er besitzt einen hervorragenden Ruf.«

Mark blickte überrascht auf. Er kannte Kleiner. Bei verschiedenen Anlässen war er ihm in den zurückliegenden Jahren begegnet und es stimmte: Der Mann stand in Wirtschaftskreisen in hohem Ansehen. Er war hochgewachsen, sehr gepflegt, Mitte vierzig und fiel durch seine schlohweißen Haare auf, die seltsam mit dem jungenhaften Gesicht kontrastierten.

»Ist der denn frei?«, fragte Mark überrascht. »Er führt doch ein Unternehmen.«

»Ich habe gehört, er sucht eine neue, größere Aufgabe«, antwortete der Banker.

»Wenn Sie es wünschen, nehme ich Kontakt zu ihm auf«, erbot sich Machlik, »Headhunting gehört schließlich auch zu unseren Aufgaben.«

»Nein, nein, das mache ich schon selbst«, stoppte Mark den Berater. Er ging zu seinem Schreibtisch, schlug den braunen, ledernen Kalender auf und tippte eine Nummer in das Telefon. Nach einem kurzen Gespräch, das er vom Vorzimmer aus führte, wandte er sich an die beiden Herren:

»Er macht es«, sagte er knapp. »Ich werde mich noch heute Abend mit ihm treffen. Meine Herren, ich halte Sie auf dem Laufenden.«

Machlik und Schwarzmann verließen zufrieden Marks Büro. Noch auf dem Flur nahm Machlik sein Handy aus der Tasche:

»Also, Dr. Kleiner, was habe ich Ihnen gesagt? Der Job ist Ihnen sicher. Es läuft wie besprochen. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Es gibt viel zu tun.«

Er müsse noch kurz mit seiner Mitarbeiterin Christiansen sprechen, entschuldigte Machlik seinen abrupten Abschied bei Schwarzmann. Der nickte verständnisvoll.

„Eine gute Kraft haben Sie da. Gratuliere!“

Mark schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen. Ihm war speiübel. Die Unverfrorenheit, mit der ihm Machlik und Schwarzmann begegnet waren, lag ihm wie ein unverdaulicher Klumpen im Magen. Bevor ich mich hier übergebe, gehe ich nach Hause, entschied er. Als er an der wegen ihrer Missachtung immer noch empörten Weiß vorbeiging, hörte er sie sagen, dass beim Senior niemand gewagt hätte, sich so rüpelhaft zu benehmen. Mark zog den Kopf ein und zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Auf der Fahrt zu seinem Haus hielt er die Rede, die er vor einer Stunde nicht gehalten hatte: Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid. Ich habe in St. Gallen Wirtschaft studiert. Ich habe das Unternehmen an die Börse gebracht. Ich habe einen Konzern daraus gemacht. Mit meinem Geld! Auf mein Risiko! Ich bezahle euch dafür, dass ihr mich beratet. Entscheidungen fälle ich! Habt ihr mich verstanden?

Zuhause angekommen holte er eine Whiskyflasche aus dem Barschrank, schenkte sich ein Glas voll und trank es aus. Dann packte er hastig seinen Reisekoffer und warf ihn in den Jaguar.

Die können mich doch alle! Ich bin doch kein Depp!

Mark startete das Auto und fuhr los.

2

Horst Leicht bot sich ein Anblick, den er in seiner bisherigen Laufbahn als Kriminalist noch nicht erlebt hatte, und er leitete die Mordkommission der Stadt schon seit zehn Jahren. In dem Bett des Hotelappartements, in das er gerufen wurde, lag eine nackte Frau. Tot, aber noch nicht lange. Weniger als zwei Stunden vermutlich. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, so dass der Hals einen fast halbkreisförmigen Bogen bildete. Ihre Arme ruhten entspannt neben dem Körper. Die Handflächen zeigten nach oben. Das auffallend schöne Gesicht war von einer üppigen blonden Haarmähne umrahmt. Beide Beine lagen gespreizt auseinander. Das rechte Knie war angewinkelt.

In der unteren Hälfte des französischen Bettes lag ein Mann, dessen Gesicht zwischen den Schenkeln der Frau eingeklemmt war. Seine ausgestreckten Beine reichten mit den Füßen knapp über die untere Bettkante hinaus. Es handelte sich offensichtlich um einen kleinen, fragilen Menschen. Er musste schon älter sein, denn seine Haare waren grau. Beide Personen waren tot, wiesen aber keine sichtbaren Verletzungen auf. Der Nachtportier hatte gegen Mitternacht die Polizei verständigt. Er war nach seinen Aussagen um zehn Uhr von der Mieterin des Appartements beauftragt worden, eine Flasche Châteauneuf du Pape für sie bereitzustellen und sie zwei Stunden später zusammen mit einem Dutzend Austern zu servieren. Um Mitternacht öffnete trotz heftigen Klopfens niemand. Der Ober benutzte den Zweitschlüssel und fand die beschriebene Szene vor.

Der Hauptkommissar betrachtete alles genau, rührte die beiden Körper aber nicht an. Er wartete auf die Spurensicherung. Routiniert sah er sich im Zimmer um. Es handelte sich um den Schlafteil einer Suite, wie sie sich in ähnlicher Ausstattung in allen gehobenen Hotelkategorien finden. Neben dem französischen Bett stand ein Beistelltisch aus Chromröhren mit zwei eingesetzten Rauchglasplatten. Auf der oberen Glasplatte brannte eine Jugendstil-Lampe und daneben stand eine kleine Schale, in die drei Fingerringe, eine Armbanduhr und ein Silberkettchen mit Kreuz gelegt waren.

Auf der unteren Glasplatte sah er eine angebrochene Packung Papiertaschentücher und eine Schachtel mit hochgeklapptem Deckel. »Lindt. Hauchdünne Plättchen feinster Schokolade« war aufgedruckt.

So möchte ich auch mal sterben, dachte Leicht, als er einen zusammenfassenden Rundumblick auf die vor ihm ausgebreitete Szene warf.

Die Kleidung des Mannes war sorgfältig über die Lehne eines Stuhls am Fußende des Bettes gehängt. Sie bestand aus einem grauen Anzug mit Weste. Die schwarzen, blank polierten Schuhe standen ordentlich darunter. Lediglich die Unterwäsche, die Socken und das weiße Hemd, wie auch die Krawatte waren etwas unordentlich auf die Sitzfläche geworfen. Im Hemd steckten noch die goldenen Manschettenknöpfe. Offensichtlich hatte der Mann die Ärmel über die Hände ziehen können, ohne die Manschettenknöpfe öffnen zu müssen. Der Kommissar wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich zwei Beamte der Spurensicherung mit einer schweren Tasche durch den engen Flur zwischen Bad und Garderobe zwängten. Sie wurden von einer etwa fünfzigjährigen Frau begleitet.

»Wir haben unsere Frau Doktor auch gleich mitgebracht«, erklärte einer und holte die Kamera aus der Tasche.

Der zweite sah sich suchend um, während die Ärztin nach einem kurzen Berühren der beiden Körper wieder zurücktrat und die Männer ungestört arbeiten ließ. Der Fotograf lichtete den Raum aus allen Perspektiven ab und dokumentierte die Details. Er öffnete die beiden großen Spiegeltüren des Kleiderschranks. In ihm befanden sich ausschließlich weibliche Kleidungsstücke: ein schwarzes Kostüm, mehrere Röcke und Blusen und Unterwäsche.

Der zweite KTU-Mann durchsuchte das Apartment nach etwaigen Spuren. Schweigend arbeitete er sich von der Eingangstür bis zum Bett vor. Die Gerichtsmedizinerin kannte der Hauptkommissar aus jahrelanger Zusammenarbeit. Ute Werr war eine resolute, hagere Frau, die im Ruf stand, ihr Handwerk nicht nur zu beherrschen, sondern eine eine Koryphäe in der Kunst zu sein, Tote zum Sprechen zu bringen und ihnen ihre verborgensten Geheimnisse entreißen zu können. Anstrengend für Leicht war es, auf die flapsige Art einzugehen, die sich die Medizinerin im Laufe ihrer Berufsjahre angeeignet hatte und mit der sie sich gegen das Elend, das ihr täglich begegnete, wappnete. Er erwartete zutreffend eine entsprechende Bemerkung, als sich Ute Werr neben ihn stellte.

»Da haben Sie heute etwas ganz Besonderes zu bieten, Herr Kommissar. Respekt! Sieht man nicht alle Tage.« Sie lächelte süffisant und trat entschlossen zum Bett. Sie fasste den Mann an Schulter und Becken und drehte ihn auf den Rücken. Alles an ihm war klein und graziös.

»Den kenne ich doch. Ich habe sein Foto irgendwann in der Zeitung gesehen.« Leicht wandte sich fragend an die beiden Kollegen, die mit übergestreiften Latexhandschuhen die beweglichen Gegenstände in Plastikbehälter sammelten. Alle schauten nun auf den Mann.

»Frau Doktor, kommt der Ihnen nicht bekannt vor?«

Die Medizinerin ließ sich nicht stören und setzte ihre Untersuchungen konzentriert fort. Nachdem der Kopf des Mannes weggedreht war, lag der Körper der Frau unbedeckt da. Er war selbst im Tod außergewöhnlich schön und attraktiv. Nachdem sie ihre Untersuchungen abgeschlossen hatte, kam Ute Werr auf Leichts Frage zurück.

»Ich kenne den nicht. Hat mich noch nie beehrt. Scheint aber ein fantasievoller Liebhaber gewesen zu sein. Da sehen Sie, Leicht – auf die Größe kommt es nicht an.« Mit leicht süffisantem Lächeln betrachtete sie Leichts Hundertkilokörper.

»Können Sie schon etwas sagen, Frau Doktor?«, lenkte der Kommissar ab.

»Geduld, Herr Kommissar. Ich bekomme die beiden noch exklusiv auf meinen Tisch. Mal sehen, ob sie mir etwas über ihr Abenteuer ins Ohr flüstern. Lassen wir uns überraschen.«

Um die Mittagszeit besuchte Leicht die Pathologin in ihrem Reich.

Die Gerichtsmedizin war in einigen Kellerräumen der Universitätsklinik untergebracht. Es war ein herrlicher Sommertag und unter dem Vorwand, sie zum Mittagessen aus ihren Katakomben an die Sonne zu holen, wagte es der Kommissar, die Werr so kurz nach dem Auffinden der Leichen nach eventuellen Ergebnissen der Autopsien zu fragen. In der Stadt schwirrten bereits die Gerüchte. Der Finanzvorstand der Attelmann AG Philipp Assfort war in einschlägigen Kreisen wohlbekannt. Sein rätselhafter und plötzlicher Tod schlug ein wie eine Bombe. Und auf welchen Wegen Informationen über gewisse peinliche Umstände in Umlauf kamen, war rätselhaft. Leicht hatte sich schon nach kurzer Zeit als Leiter der Mordkommission daran gewöhnt, dass nichts geheim zu halten war und aufgegeben, nach Lecks in seiner Behörde zu suchen.

Ute Werr nahm seine Einladung zum Mittagessen an.

»Woran sind die beiden denn nun gestorben?« Horst Leicht tappte im Dunkeln, und dies machte ihn nervös. »Weiß die Zauberin der Pathologie mehr?«

Die hagere Frau genoss zweierlei: Sie saß in einem Biergarten unter der mächtigen Krone einer blühenden Kastanie, und ihr gegenüber schwitzte der Hauptkommissar vor unterdrückter Neugier. Sie spannte ihn auf die Folter.

»Es roch nicht nach Pulver im Zimmer, und Einschusslöcher habe ich nicht gefunden. Strangulationswunden? Fehlanzeige. Keine Würgemale. Gleichzeitiger natürlicher Tod? Unwahrscheinlich.

Es war wohl Gift im Spiel. Äußerst schnell wirkend. Über die Schleimhäute. Im Mund des Mannes habe ich Reste von Schokolade gefunden. Kontaminiert. Die Todesursache des Mannes ist geklärt. Er hat vergiftete Schoko-Plättchen gegessen.«

»Und woran starb die Frau?«, fragte der Kommissar.

Die Ärztin lächelte verschmitzt.

»Ihr Männer habt Schleimhäute im Mund und manchmal in der Nase. Wir Frauen noch an anderer Stelle. Erinnern Sie sich, wie die Toten aufgefunden wurden?«.

Leicht grübelte und kratzte sein Kinn. Den letzten Worten von Frau Werr hatte er nur mit halbem Ohr zugehört.

»Auf dem Nachttisch lag eine Schachtel Lindt-Schokolade. Haben wir die untersucht?«

»Ich nicht«, sagte die Pathologin. »Wäre aber interessant. Jedenfalls ein schöner Tod für beide. Ich denke, ich kann nicht mehr weiterhelfen. Viel Glück. Die genaue Bezeichnung des Gifts werden wir bald wissen.«

Zwei Stunden später stand Hauptkommissar Horst Leicht in seinem Büro im Polizeipräsidium der Stadt vor einer der in das metertiefe Mauerwerk eingelassenen und wie Schießscharten angeschrägten Fensterluken. Er schaute auf den benachbarten Münsterturm. Sein Blick wanderte über das filigrane und doch wuchtige gotische Bauwerk. An einem der Sandsteinteufel, durch dessen Rachen das Regenwasser abgeleitet wird, klebte ein Steinmetz und bemühte sich, die Figur zu restaurieren.

»Was gibt das für einen Sinn? Der Mörder stirbt mit. Zu was Menschen nicht alles fähig sind«, brummelte er vor sich hin.

3

»Es ist eine interessante Sache, Nelson. Ich glaube, ich mache mit. Lass mich jetzt nach Deutschland zurückfliegen. Wahrscheinlich bin ich schneller wieder da als du mich erwartest. Und passe auf unser Konto auf und auf Amara, natürlich!«

Mark lachte und nahm seinen Gesprächspartner in den Arm. Der bullige Schwarze drückte ihn an sich und klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Sie hatten mehrere Tage miteinander verbracht, und als Nelson die Terrasse der »Oyster Box« verließ, winkten sie sich nochmals freundschaftlich zum Abschied zu.

Mark saß mit weit aufgeknöpftem Hemd bei einem Glas Wein in der Sonne. Vor ihm lag der Pool des Hotels, und wenn er seinen Blick hob, sah er weit hinaus über die Wellenkämme des Indischen Ozeans. Rechts am Strand fand das Auge einen nahen Ruhepunkt im rotweißen Leuchtturm, den sie hier als Besonderheit empfanden. Er war nicht vergleichbar mit den Leuchttürmen an der Nord- oder Ostseeküste. Er erinnerte mehr an denjenigen an der Hafeneinfahrt in Lindau, der dem Löwen gegenübersteht. Eher klein – aber er ist das Wahrzeichen der Küste bei Umhlanga Rocks.

Wäre die Fähigkeit seines Auges nicht begrenzt gewesen, so hätte Mark bis Madagaskar sehen können. So aber endete seine Sicht bei den schwer beladenen Frachtern, die zehn Meilen vor der Küste lagen und auf die Einfahrt in den Hafen von Durban warteten, wo ihre Ladung gelöscht würde.

Dass Durban der größte Hafen des gesamten afrikanischen Kontinents war, interessierte Mark erst, seit er sich mit dem Projekt beschäftigte, das ihm sein Gesprächspartner seit mehreren Tagen versuchte schmackhaft zu machen, und von dem er selbst immer mehr in Bann gezogen wurde.

Mark Attelmann war nach Südafrika gereist, um Abstand zu gewinnen. Dazu hatte er genügend Grund. Er wollte sein Leben neu ordnen. Am Abend nach dieser überraschenden Bankensitzung in seiner Firma war er im Zorn nach München zum Flughafen gefahren, hatte sich dort mit Dr. Kleiner getroffen und mit ihm die Situation ohne Beschönigung besprochen. Offenbar war die Zeit der großen Familienunternehmen zu Ende. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu stemmen. Wenn die Banken und die Öffentlichkeit keine Familienmanager mehr ertragen wollten, dann musste man sich eben darauf einstellen. Er würde zunächst etwas kürzertreten, und wenn sich etwas Interessantes ergeben sollte, eine neue Aufgabe übernehmen. Es war ihm klar, dass ihn die Aufsichtsratstätigkeit allein nicht ausfüllen würde. Seine Anteile an der Firma machten ihn zu einem wohlhabenden und unabhängigen Mann. Mit Kleiner und Assfort sah er den Vorstand der Attelmann AG gut besetzt, und so begann er, sich mit der neuen Lebenssituation anzufreunden, obgleich er nicht verdrängen konnte, dass sein Ausscheiden gegen seinen Willen erzwungen war. Das Verhalten von Schwarzmann und insbesondere das von Machlik empfand er als persönliche Niederlage. Sein Vieraugen-Gespräch mit Kleiner war der Versuch, sein Gesicht zu wahren.

Nachdem er seine Nachfolge geregelt hatte, buchte er trotzig einen Flug nach Windhoek. In Namibia würde er seinen Jugendfreund besuchen, der kurz nach dem Studium dort hängengeblieben war und die Bewirtschaftung einer Farm einer Karriere in Deutschland vorgezogen hatte. Auf Peters Farm war er schon einmal einige Tage gewesen, als seine Ehe in die Brüche gegangen war. Im »Kempinski« buchte er für die Nacht ein Zimmer, legte sich auf das Bett und ließ sich die Ereignisse des Tages nochmals durch den Kopf gehen. Dabei fiel ihm ein, dass er den Aufsichtsratsvorsitzenden noch nicht unterrichtet hatte. Vom Zimmertelefon aus rief er Dr. Domler an und teilte ihm mit, dass in der Bankensitzung beschlossen worden sei, ihn als Vorstandsvorsitzenden abzulösen. Es war ihm bewusst, dass diese Mitteilung nicht ganz korrekt, sondern überzogen war. Seinem verletzten Empfinden nach entsprach der Inhalt dieser Nachricht aber der tatsächlichen Situation. Er informierte Domler, dass er sich mit Dr. Kleiner über seine Nachfolge einig geworden sei und der Aufsichtsrat diesen berufen müsse. Er selbst werde einige Tage verreisen und sich nach seiner Rückkehr wieder melden. Bis dahin solle Dr. Domler sich besonders um das Unternehmen kümmern. Der Aufsichtsratsvorsitzende versuchte, Mark zu beruhigen und versicherte, er werde sich unverzüglich mit Dr. Assfort und Machlik in Verbindung setzen.

»Fahren Sie und seien Sie versichert, dass wir alle in Ihrem Sinne handeln. Gute Reise, Professor, kommen Sie gesund wieder«, beendete er das Gespräch.

Nach einem ruhigen, fast zehnstündigen Flug mietete Mark am Flughafen Windhoek bei Avis einen geländegängigen Land Rover und fuhr zum Kalahari Sands Hotel in die City. Zunächst bezog er für die Nacht ein Appartement. Dann zog er sich eine Badeshorts an, warf sich das weiße, flauschige Hotelhandtuch über die Schultern und fuhr mit dem Lift auf das Dach, wo sich der hoteleigene Pool befand. Um das Schwimmbecken standen ungeordnet einige Liegestühle. Er suchte sich einen aus, von dem er einen bequemen Blick über die Stadt hatte, legte sein Handtuch darauf und stieg in das Wasser. Erst nachdem er einige Runden geschwommen war, fiel ihm auf, dass er völlig allein war. Er genoss die warme afrikanische Sonne auf seinem Körper, legte sich in den Liegestuhl und schloss seine Augen.

Mit Disziplin drängte er alle Gedanken an sein Unternehmen und an die Ereignisse, die ihn zu dieser Reise veranlasst hatten, aus dem Kopf und verschob sie auf später. Mark entspannte sich und schlief ein.

Amara war eine schöne Frau. Sie war dreißig Jahre jung, intelligent und willensstark und besaß einen Körper, der Männer den Kopf verlieren ließ. Sie arbeitete als Abteilungsleiterin im Wirtschaftsministerium in Windhoek und war zuständig für die Organisation des Außenhandels.

Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, nach Verlassen ihres Büros, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, zur Erfrischung im Pool des Kalahari Sands zu schwimmen und sich von der Hitze des Tages abzukühlen, bevor sie den alten und gepflegten Teil Windhoeks verließ, um nach Katutura in ihre Wohnung zu fahren.

Amara war eine Wambo und schwarz wie Ebenholz.

Das Bad auf dem Dach des Hotels war erstaunlicherweise wenig besucht. Wahrscheinlich hatten die Besucher Windhoeks anderes zu tun, als sich an einem schmucklosen Hotelpool aufzuhalten.

Der schlafende Mann im Liegestuhl störte Amara nicht. Er war wegen seiner noch ungebräunten weißen Haut problemlos als Neuankömmling zu erkennen. Sie streifte ihr Kleid über dem tomatenroten Bikini ab, schlüpfte aus ihren Sandaletten und befühlte mit den Zehenspitzen vorsichtig die Temperatur des Wassers. Dann schüttelte sie kräftig den Kopf, um ihre Haare zu lockern und hechtete mit einem entschlossenen Sprung ins Becken. Mark hörte ein Planschen und erwachte aus dem Halbschlaf. Beim Versuch, die Augen zu öffnen, schmerzte das helle Licht. Deshalb kniff er sie zu Schlitzen zusammen und versuchte sich, noch benommen von den Ereignissen der letzten Stunden, zu orientieren.

»Du bist im Kalahari Sands und fährst morgen früh zu Peter auf die Farm. Aus Deutschland bist du weg, weil sie dich nicht mehr in deiner eigenen Firma wollen. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Wahrscheinlich hättest du dortbleiben sollen. Aber jetzt bist du schon hier. Also mache das Beste daraus. Wenn du zurück bist, schaffst du Ordnung. Jetzt denke nicht daran.«

Dann strich er sich mit der flachen linken Hand über das Gesicht und wischte sich diese unangenehmen und dem Ort seines Aufenthalts nicht angemessenen Gedanken aus dem Kopf.

Als er sich ein wenig aufrichtete, sah er, dass er nicht mehr allein war. Im Becken schwamm eine Frau. Sie trug einen leuchtend roten Bikini und kraulte die Bahn entlang von ihm weg. Die Bewegungen ihres runden Hinterns erinnerten ihn an die ruhige und kraftvoll elegante Erscheinung eines auftauchenden Wals.

Erst auf den zweiten Blick fiel ihm auf, dass die Frau eine schwarze Hautfarbe hatte. Seltsamerweise deshalb, weil die Fußsohlen leuchtend weiß aus dem Wasser blinkten. An der Stirnseite des Pools zog sie sich mit den Armen an die Wand und warf sich rückwärts in die Bahn zurück. Mark beobachtete den nasslockigen schwarzen Haarschopf, die kräftigen Oberarme, mit denen sie sich durchs Wasser zog, ihren muskulösen Bauch, wie er sich bei jedem Schwimmstoß zusammenzog und aufwölbte, und die langen, auffallend geraden Beine, mit denen sie das Wasser zu Schaum schlug, der dann ihre prallen schwarzen Schenkel umperlte. Hat sich doch einiges getan hier, dachte er sich. Bei meinen ersten Besuchen hier wäre es unmöglich gewesen, dass eine Schwarze im Pool dieses Hotels geschwommen wäre. Sie hätte höchstens Handtücher verteilen und Getränke bringen dürfen.

Die Sonne hatte begonnen, die dunklen Nebel aus Marks Seele zu saugen. Er lehnte sich wieder in den Liegestuhl zurück, und ein zartes Lächeln spielte um seine schmalen Lippen.

Amara zog ihre Bahnen weiter, als hätte sie den weißen Mann im Liegestuhl nicht gesehen. Tatsächlich aber taxierte sie ihn genau. Mindestens eins achtzig groß, blond, fast rötlich, also Engländer, Skandinavier oder Deutscher. Was macht er hier? Vermutlich Tourist oder im schlimmsten Fall irgendein Hobbyjäger auf der Suche nach den Big Five. Andererseits hatte sie das Gefühl, der Mann sei zurückhaltend, zerbrechlich, gar nicht auf der Jagd nach irgendetwas. Sie spürte, dass von diesem Mann auf dem weißen Badetuch keinerlei Aktion oder gar Belästigung zu befürchten war.