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Führungskräfte stehen vor der größten Transformation denn je. Höchste Zeit, Führung in die Hand zu nehmen – und das nicht nur als Führungskraft, sondern auch als Mensch. Barbara Liebermeister verbindet neueste neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit den aktuellen Veränderungen im Management und hat den Begriff der Alpha Intelligence geprägt. Dabei handelt es sich um einen tiefgreifenden Ansatz, der Führungskräften hilft, ihre Rolle in einer postpandemischen, hybriden Arbeitswelt zu meistern. Das Ergebnis jahrelanger Forschung zeigt sich in fünf zentralen Sphären der Alpha Intelligence, in denen Führungskräfte ihre besonderen Stärken entwickeln und eine hohe Strahlkraft in ihrem Umfeld entfalten können. Die vorgestellten Praxisfälle bieten inspirierende Beispiele für eine zukunftsweisende Führung. Inhalte: - Führung im Krisenmodus – das Ende des Gewohnten - Die verborgene Kraft von Beziehungen: Warum Führung anders funktioniert - Das Rätsel Mensch: Warum Führungskräfte wissen sollten, wie unser Gehirn funktioniert - Alpha Intelligence – der Brain Code für die Zukunft - Von der Kompetenz zur Intelligenz: Warum Können nicht mehr reicht - Next Level Leadership: Führung mit KI, nicht durch KI
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Seitenzahl: 367
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Barbara Liebermeister
Führen mit Alpha Intelligence
1. Auflage, Mai 2025
© 2025 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG
Munzinger Str. 9, 79111 Freiburg
www.haufe.de | [email protected]
Bildnachweis (Cover): Stoffers Grafik-Design, Leipzig, KI-generiert mit Midjourney
Produktmanagement: Mirjam Gabler
Lektorat: Ursula Thum, Text+Design Jutta Cram, Augsburg
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Vom Wandel überholt?
Anna, die Bereichsleiterin des führenden Technologieunternehmens ByteBeast, beginnt das Online-Meeting pünktlich um 9 Uhr. Sie hat sich viele Gedanken zur Agenda gemacht, die jetzt doch wieder zehn Punkte umfasst. Dennoch nimmt sie sich vor, sie gleich mit den Kolleginnen und Kollegen innerhalb einer Stunde abzuarbeiten. Mit Elan eröffnet sie das Meeting, aber schon meldet sich Tom, der Vertriebsleiter, aus dem Auto: »Sorry, ich bin unterwegs, aber ich wollte unbedingt dabei sein!« Die Verbindung knackt, das Bild bleibt immer wieder hängen und seine Stimme bricht ab. Es ist klar, dass Toms Teilnahme mehr Störung als Beitrag bringen wird, aber alle schweigen höflich und nachsichtig – schließlich waren sie alle schon einmal in dieser Situation.
Anna lässt sich nichts anmerken und fährt fort, doch ihre Aufmerksamkeit wird schnell von Sabine abgelenkt, die die Marketingabteilung vertreten soll. Sabine hat die Kamera ausgeschaltet. »Sabine, möchtest du dazu etwas sagen?« Es bleibt still, bis Sabine sich leise meldet: »Sorry, ich bin noch nicht ganz fertig im Bad …« Ein kurzes, peinlich berührtes Lächeln huscht über die Gesichter der Teilnehmenden, aber das Meeting muss weitergehen. Unterdessen bemerken einige, dass Kai und Laura, beide aus dem Controlling, ständig auf ihre Handys schauen. Sie tippen ununterbrochen – wahrscheinlich beantworten sie Mails oder chatten. Ihre Blicke sind kaum in die Kamera gerichtet. Als Anna sie direkt anspricht, zuckt Kai zusammen und stammelt: »Ähm, ja … sorry, kannst du das noch mal wiederholen?«
Anna, inzwischen leicht frustriert, setzt ihre Moderation fort, aber es scheint, als würde niemand wirklich zuhören. Die Agenda wird Punkt für Punkt durchgegangen, doch die Energie im virtuellen Raum ist längst verpufft. Diskussionen bleiben aus, Nachfragen ebenso. Anna redet und redet, während der Rest der Mannschaft sich beschallen lässt. Es ist, als würde sie eine Radiosendung moderieren, bei der niemand wirklich zuhört. Gegen Ende des Meetings, als Anna gerade zum letzten Punkt kommen will, unterbricht plötzlich Frank aus der IT: »Entschuldigung, ich muss gleich raus, ich habe in fünf Minuten ein anderes Meeting.« Anna, bereits entnervt, nickt nur und beeilt sich, den letzten Punkt abzuhandeln.
Zwar hat sie ihre zehn Punkte abgearbeitet, doch es bleibt das Gefühl, dass nichts wirklich besprochen oder entschieden wurde. Das Meeting endet ohne Raum für zwischenmenschlichen Austausch. Niemand fühlt sich wirklich abgeholt oder einbezogen, und als die letzten Teilnehmenden den Call verlassen, seufzt Anna tief – und macht sich direkt auf ins nächste Meeting.
Von Routine zu Resonanz: mehr Mensch in der hybriden Führung
Führungskräfte wie Anna bringen in virtueller und hybrider Führung viel Erfahrung mit. Doch genau diese Routine kann zur Falle werden. Die Selbstsicherheit, mit der sie ihre Meetings leitet und ihre Teams steuert, gibt ihr das Gefühl, alles im Griff zu haben – und genau das verhindert, dass sie spürt, was fehlt: der Mensch.
Effizient arbeitet sie ihre Agenda ab, sorgt für klare Abläufe, doch was dabei oft unsichtbar bleibt, ist die Distanz, die sich in virtuellen oder hybriden Teams schneller einschleicht als in Präsenz. Führung ist eben mehr als die Verwaltung von Aufgaben. Es geht darum, Nähe und Vertrauen aufzubauen – auch auf Distanz.
Menschen sind keine Zahnräder im System. Sie brauchen Verbindung, Austausch und das Gefühl, wirklich gesehen zu werden. Fehlt das, drohen Meetings zu Pflichtveranstaltungen zu werden – jeder ist »anwesend«, aber niemand wirklich dabei.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Persönlicher Austausch – auch digital – bleibt essenziell. Gute Führung erkennt die individuellen Bedürfnisse und Potenziale jedes Teammitglieds und fördert diese aktiv.
Führung ist Beziehung. Und genau diese Beziehung ist es, die Menschen antreibt, über sich hinauszuwachsen. Nur wenn die Verbindung zwischen Führungskraft und Team tragfähig ist, entsteht echte Bereitschaft, gemeinsam das Beste zu geben. Fehlt diese zwischenmenschliche Tiefe, bröckelt das Zusammengehörigkeitsgefühl – und mit ihm die Teamidentität. Das wirkt sich direkt auf die Produktivität aus. Eine schlechte Stimmung senkt nachweislich die Leistung drastisch, wie zahlreiche Studien zeigen.1 Wird das nicht erkannt, scheitert die Führungskraft langfristig an ihren Zielen – und landet selbst in der Überforderung. Ein Teufelskreis, der sich nur schwer durchbrechen lässt.
Doch diese Überlastung ist selten nur die Folge äußerer Umstände. Vielmehr wurzelt sie oft in einem verzweifelten Festhalten an überholten Führungsprinzipien. Viele Führungskräfte erkennen nicht, dass ihr Gefühl der Überforderung eng mit einem Führungsstil verknüpft ist, der nicht mehr in die Zeit passt.
Moderne Führung erfordert mehr, als eine Duz-Kultur einzuführen oder Meetings ins Virtuelle zu verlagern. Besonders das Festhalten an klassischen Kontrollprinzipien – oder anders gesagt: die fehlende Kontrollverlustfähigkeit – wird zur Last. All dies blockiert den Weg, die neuen Herausforderungen mit frischem Denken und innovativen Methoden zu meistern.
Um Stress in der Führung zu überwinden, ist es entscheidend, sich auf den Kern erfolgreicher Führung zu besinnen: das Zwischenmenschliche zu fördern. Denn auch oder gerade im digitalen Zeitalter bleibt die persönliche Verbindung das Herzstück jeder effektiven Führung. Die meisten Menschen unterschätzen diesen Part jedoch. Sie legen den Fokus bei der digitalen und hybriden Zusammenarbeit auf technische oder organisatorische Details. Allerdings besteht die wahre Stärke einer Führungskraft heute darin, auch auf Distanz eine echte Verbindung zu den Mitarbeitenden zu halten. Wenn diese Verbindung fehlt, ist die Gefahr groß, dass das Wir-Gefühl im Team schwindet und die Motivation sowie das Engagement der Mitarbeitenden leidet.2
In der nichtdigitalen Arbeitswelt konnten Missverständnisse oft durch persönliche Begegnungen – sei es in der Kaffeeküche oder am Kopierer – unauffällig korrigiert werden. Ich erinnere mich an eine Situation, die einer meiner Coachees erzählte und die genau das widerspiegelt.
Er arbeitete in einem Büro, in dem er sich mit Kolleginnen und Kollegen nur dann und wann zusammenfand, weil meist vom Homeoffice aus gearbeitet wurde. Von einem sehr sympathischen Kollegen erhielt er an einem Tag eine Mail, die ungewöhnlich schroff und kurz angebunden wirkte. Im ersten Moment fühlte sich mein Coachee ein wenig vor den Kopf gestoßen und fragte sich, ob sein Kollege verärgert war oder ob er selbst etwas falsch gemacht hatte.
Normalerweise hätte er dieses Gefühl vielleicht mit sich herumgetragen – nicht schlimm genug für ein offizielles Gespräch, aber doch störend genug, um Unbehagen zu hinterlassen. Doch genau in diesem Moment kam ihm der Zufall zur Hilfe: In der Kaffeeküche liefen sie sich spontan über den Weg. In dieser lockeren Atmosphäre, ganz ohne formellen Rahmen, traute er sich, die Situation anzusprechen: »Hey, ich habe gerade deine E-Mail gelesen. Sie war ganz schön kurz. Ist alles okay bei dir?«
Der Kollege war kurz irritiert, bis er verstand, worum es ging – und konnte sofort aufklären: Er sei einfach nur im Stress gewesen und hätte die Mail deshalb so knapp gehalten. Die Situation klärte sich in Sekunden.
Solche zufälligen Begegnungen sind weit mehr als bloße Plaudermomente – sie sind das unsichtbare Sicherheitsnetz sozialer Beziehungen. In diesen kleinen, oft beiläufigen Momenten entstehen Klarheit, Vertrauen und das Gefühl, auf einer Wellenlänge zu sein. Fehlt dieses Netz, wird aus jeder kleinen Unsicherheit schnell ein großes Fragezeichen – und auf Distanz schnell ein Missverständnis.
Die stille Macht der Emotionen
Neurowissenschaftlich betrachtet spielen solche persönlichen Interaktionen eine wichtige Rolle, weil wir alle Beziehungswesen sind. In unserem Gehirn gibt es neuronale Schaltkreise, die speziell auf nonverbale Signale, wie Gesichtsausdruck, Tonfall und Körpersprache, reagieren. Diese Signale helfen uns, die Absichten und Emotionen unseres Gegenübers besser zu verstehen. In der digitalen Kommunikation fehlen viele dieser nonverbalen Hinweise häufig. Das macht es unserem Gehirn schwerer, den Kontext einer Nachricht richtig zu interpretieren. Dies wiederum kann dazu führen, dass wir etwas negativer auffassen, als es gemeint ist, oder zu einer Fehlinterpretation kommen – so entstehen Missverständnisse und im schlimmsten Fall ein Konflikt.3
Persönliche Begegnungen bieten dagegen die Möglichkeit, Missverständnisse direkt zu klären, denn sie aktivieren auch jene Teile unseres Gehirns, die für das gegenseitige Verständnis wichtig sind. Heute fallen solche spontanen Gelegenheiten für den direkten, persönlichen Austausch oft weg. In einer digitalen Welt ist es daher umso wichtiger, gezielt Möglichkeiten für informelle Klärungen zu schaffen. Jede Führungskraft sollte also bewusst auf die zwischenmenschliche Ebene achten.
In der vordigitalen Zeit war es nicht üblich, auf das Zwischenmenschliche zu achten, da der Fokus stärker auf Strukturen und Prozessen lag und wir uns in Präsenz trafen. Wenn diese Unachtsamkeit im virtuellen oder hybriden Umfeld allerdings weiter besteht, wir also an veralteten Praktiken festhalten, ohne die Bedürfnisse und Dynamiken unserer Teams wirklich wahrzunehmen, dann schaden wir dem Unternehmen, weil unsere Teammitglieder in einem solchen Umfeld weniger leisten. Ohne achtsame Kommunikation schaden wir uns aber auch selbst, weil wir als Führungskräfte den Draht zu unseren Teams verlieren und uns überlastet fühlen – nur weil wir uns nicht von alten Methoden lösen können.
Ich denke da an eine Führungskraft, die mir vor Kurzem im digitalen Workshop mit verschränkten Armen gegenübersaß und meinte: »Ich weiß auch nicht, warum ich mein Team nicht begeistern kann.« Ja, so nicht, dachte ich. In einschläferndem Tonfall, mit so gut wie keiner körpersprachlichen Regung und kaum einem Funken Begeisterung formulierte sie diesen Satz – und kam dabei nicht auf den Gedanken, dass sie selbst irgendwie der Grund für die Reaktionen des Teams sein könnte. Emotionen sind ansteckend und wenn eine Führungskraft gelangweilt und ohne inspirierende Gedanken vor dem Team sitzt, kann auch schlecht ein Funken der Begeisterung überspringen.
Haltung als Hebel: Führungskräfte und ihre innere Überzeugung
Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch schreibe – die Unwissenheit vieler, wie sich Haltung, Verhalten und Emotionen auf die Leistung der Kollegen und Kolleginnen niederschlagen. Und sorry, ja, es startet mit der eigenen Überzeugung, mit der Haltung von mir als Führungskraft. Meine Haltung wirkt sich nicht nur auf mein eigenes Verhalten, sondern auch auf das Verhalten aller innerhalb meines Teams aus und lädt Menschen dazu ein, entweder über sich selbst hinauszuwachsen oder gerade nur das Nötigste zu erledigen.
Das Nötigste? Wenn die eigenen Teammitglieder ohne Herzblut und Initiative agieren, führt dies unweigerlich zur Überforderung der Führungskraft, ohne dass sie es überhaupt bemerkt. Denn wir schaffen die Herausforderungen, die uns heute umtreiben, nicht, wenn jeder und jede im Team gerade nur das erfüllt, was unbedingt getan werden muss.
Und hier liegt der entscheidende Punkt: Alles, was ich in meinem Team sehe – ob Engagement oder Dienst nach Vorschrift, ob Innovation oder Stillstand –, ist das direkte Ergebnis meiner Führung. Wenn mir etwas nicht passt, liegt es an mir, es zu verändern. Führung bedeutet nicht, sich über das Team zu beklagen, sondern den eigenen Einfluss auf das Team zu erkennen – und entsprechend zu handeln.
Es wird höchste Zeit, Führung in die Hand zu nehmen – und das nicht nur als Führungskraft, sondern auch als Mensch. In einer Welt, in der Maschinen immer mehr Raum einnehmen, brauchen wir den Mut, den menschlichen Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Nur so können wir sicherstellen, dass wir in dieser sich immer mehr beschleunigenden Welt nicht nur bestehen, sondern auch souverän und unaufgeregt unseren Platz neben den Maschinen behaupten, ohne ins Straucheln zu geraten.
In unserer immer stärker vernetzten Welt nimmt die Informationsflut exponentiell zu – und das erhöht auch den Druck, immer schneller zu reagieren. Die ständige Erreichbarkeit und die rasante technologische Entwicklung verstärken das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft. Wir sind gezwungen, in einem Tempo zu agieren, das kaum Raum für Reflexion lässt. Dies wiederum gibt uns das Gefühl, von der Geschwindigkeit überrollt zu werden.
Die Führungskraft der Zukunft versteht es, in der Flut an Informationen den roten Faden zu finden, das große Ganze im Blick zu haben und gleichzeitig zu wissen, was die Mitarbeitenden benötigen. In dieser Zeit der Permakrisen wie der digitalen Transformation, der Pandemie, geopolitischer Unsicherheiten und des Klimawandels hat sich das Spielfeld grundlegend verändert. Diese kontinuierlichen Krisen fordern uns auf, Flexibilität und Resilienz zu entwickeln, da es keine Rückkehr zu einem »normalen« Zustand gibt.
Inmitten dieser Turbulenzen erscheint die Digitalisierung als zweischneidiges Schwert: Einerseits hören wir, dass wir uns durch jede Krise weiterentwickeln und sie uns auch Chancen bietet. Aber was, wenn wir vor lauter Wald keine Bäume mehr sehen? Während einige in der Flut der Veränderungen unterzugehen drohen, gibt es Menschen, denen es gelingt, die Gelegenheit zu ergreifen und ihre Navigation neu auszurichten. Stillstand ist keine Option. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass unser Gehirn sich an neue Gegebenheiten anpassen kann. Das ist besonders für Führungskräfte relevant, da sie lernen müssen, alte Denkmuster zu überwinden. In diesem Buch begleiten uns neurowissenschaftliche Erkenntnisse wie ein roter Faden. Sie helfen uns zu verstehen, warum wir bestimmte Dinge so und nicht anders wahrnehmen, interpretieren, denken oder tun – und machen viele Zusammenhänge in der Führung klarer und greifbarer.
Von Technologie zu Menschlichkeit: Die neue Ära der Führung in einer vernetzten Welt
Die digitale Transformation ist mehr als nur eine technologische Veränderung – sie ist eine leise, aber tiefgreifende Revolution. Und auch wenn viele Führungskräfte überzeugt sind, längst agil, modern und auf Augenhöhe zu führen, zeigt die Realität oft ein anderes Bild.
Vielleicht hast du es selbst schon erlebt: Plötzlich kündigen geschätzte Teammitglieder, die Motivation bröckelt oder der persönliche Draht zu den Mitarbeitenden geht verloren. All das sind keine Zufälle – sondern klare Signale dafür, dass herkömmliche Führung längst an ihre Grenzen stößt.
Und das Fatale: Genau jene Führungskräfte, die glauben, längst modern zu führen, tappen oft am tiefsten in die Falle veralteter Denkmuster. Wenn Führung sich auf Prozesse und Anweisungen beschränkt – wie kannst du da noch erwarten, dass alle ihr Bestes geben?
Dieses Buch dient auch als Weckruf, der zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur das große Ganze im Blick zu behalten, sondern auch die feinen Zwischentöne wahrzunehmen. Es reicht nicht aus, Anweisungen zu geben und auf Ergebnisse zu warten. Der Mensch ist keine austauschbare Ressource, sondern der zentrale Akteur in einem komplexen Netzwerk von Beziehungen und Prozessen.
Ich bin täglich nicht nur mit Führungskräften in der Praxis in Kontakt, sondern wir führen im »Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter« auch regelmäßig Studien und Online-Trendbarometer durch, die zu teils erschreckenden Studienergebnissen führen, oder ich erfahre durch Expertengespräche, wo der Schuh drückt. Aus diesem Grund ist in mir der Entschluss gereift, diesen Dilemmata mit neuen Ansätzen zu begegnen.
Eine zentrale Erkenntnis für mich war: Wir brauchen keinen Fokus mehr auf Kompetenzen, sondern auf Intelligenzen, die im neuen Zeitalter nicht starr, sondern fluide und anpassungsfähig ist. Agilität im Denken ist unerlässlich – ich meine damit die Fähigkeit, aus einer Fülle an Informationen das Wesentliche herauszufiltern und gleichzeitig das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren.
Daraus sind fünf wesentliche Formen der Intelligenz entstanden, die Führungskräfte der Zukunft entwickeln und beherrschen sollten. Diese Ausprägungen von Intelligenz interagieren miteinander und ermöglichen es Führungskräften, flexibel und vorausschauend zu agieren. Die Alpha Intelligence wird hierbei zu einem integrativen Konzept all dieser Intelligenzen, das über das bloße Verständnis von Technologien hinausgeht und die komplexen Anforderungen einer modernen, vernetzten Welt berücksichtigt. Der Fokus liegt darauf, Menschen in die Lage zu versetzen, die Potenziale der Digitalisierung optimal zu nutzen und gleichzeitig menschenzentriert und ethisch fundiert zu führen.
Die Zukunft der Arbeit liegt nicht in der vollständigen Automatisierung. Maschinen und künstliche Intelligenz können viele Aufgaben übernehmen, doch sie können nicht das komplexe und intuitive Zusammenspiel menschlicher Fähigkeiten ersetzen. Es sind die Menschen mit ihren Gefühlen, ihrem Bewusstsein, ihrem Einfühlungsvermögen und ihrem moralischen Kompass, die für eine gelingende Zukunft entscheidend sind.
Wie aber schaffen wir es, die Balance zwischen Mensch und Technik zu halten? Genau diese Frage wird uns durch die kommenden Kapitel begleiten. Es liegt an jeder einzelnen Führungskraft, die menschlichen Qualitäten wertzuschätzen und zu fördern. Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen der Nutzung moderner Technologien und der Pflege menschlicher Beziehungen. Nur so sichern wir Menschen unsere Daseinsberechtigung in einer immer technischer werdenden Welt und schaffen eine Arbeitsumgebung, in der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Dieses Buch bietet nicht nur theoretische Grundlagen, sondern auch praktische Werkzeuge, um die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt zu meistern. Ich werde die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfassen und einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen geben. Mein Ziel ist es, dich zu inspirieren und zu ermutigen, deine Art der Führung zu überdenken und deine Chancen aktiv zu nutzen.
Das Buch enthält verschiedene Praxisfälle, die nicht nur die Fehler der Vergangenheit aufzeigen, sondern auch inspirierende Beispiele für eine zukunftsweisende Führung liefern. Unternehmen, die den Mut hatten, traditionelle Wege zu verlassen und sich auf Innovation und Menschlichkeit zu konzentrieren, sind als Gewinner hervorgegangen. Diese Geschichten sollen dich inspirieren und dir zeigen, dass wir Menschen – gerade in hochgradig technologischen Zeiten – als Gewinner hervorgehen können. Seit Jahrtausenden haben wir alle selbst die größten Herausforderungen gemeistert – dafür sind wir gemacht. Und so werden wir auch die aktuellen erfolgreich bewältigen.
Höchste Zeit, dass wir alte Denk- und Verhaltensweisen ablegen und dieser Ära zeigen, wer am Ruder sitzt! Denn der Erfolg eines Unternehmens hängt nicht von der technischen Ausstattung ab, sondern vor allem von den Menschen, die dort arbeiten. Führungskräfte, die dies verstehen und leben, werden nicht nur die aktuellen Krisen überwinden, sondern gestärkt daraus hervorgehen.
1 Junges Herz Agentur (o. J.). Gallup-Studie: Schlechte interne Kommunikation lähmt Unternehmen,https://www.agentur-jungesherz.de/blog/gallup-studie-schlechte-interne-kommunikation-laehmt-unternehmen/ (abgerufen am 17.02.2025)
2 Bernardy, V.; Müller, R.; Röltgen, A. T.; Antoni, C. H. (2021). Führung hybrider Formen virtueller Teams–Herausforderungen und Implikationen auf Team- und Individualebene. Projekt- und Teamarbeit in der digitalisierten Arbeitswelt: Herausforderungen, Strategien und Empfehlungen, S. 115–138
3 Kruger, J.; Epley, N.; Parker, J.; Ng, Z. W. (2005). Egocentrism over e-mail: can we communicate as well as we think? Journal of Personality and Social Psychology, 89(6), S. 925–936. doi: 10.1037/0022-3514.89.6.925
Früher waren die Dinge einfacher – so zumindest fühlte es sich an. Führung bedeutete klare Ansagen, strikte Kontrolle und das Einhalten von Hierarchien. Diese Art zu führen hat viele von uns geprägt. Wir haben Routinen entwickelt, die uns Sicherheit gaben, weil sie eben immer funktioniert haben. Und seien wir ehrlich: Oft haben wir uns diese Techniken von unseren eigenen Chefs abgeschaut, weil es einfach der Weg war, der uns zum Erfolg geführt hat. Aber die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Anforderungen an uns als Führungskräfte.
Jetzt ist unsere Zeit geprägt von rasanter Digitalisierung und globaler Vernetzung; da sind andere Spielregeln für die Führung erforderlich. Flexibilität, Empathie und die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen, sind zu entscheidenden Kompetenzen geworden, die weit über die klassischen Führungsprinzipien hinausgehen.
FührungsillusionEine Studie aus dem International Journal of Economics, Business and Management Studies4 enthüllt beunruhigende Fakten: Viele Führungskräfte sind sich nicht bewusst, dass sie in einer Führungsillusion leben. Sie denken, sie führen hervorragend, aber dem ist bei Weitem nicht so. Diese Illusion wird durch kurzfristige Erfolge in Krisenzeiten genährt, während die tieferliegenden, langfristigen Probleme in den Organisationen weitgehend unbeachtet bleiben. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass nur die Hälfte der befragten Unternehmen gut auf externe Schocks vorbereitet ist. Dies bedeutet wiederum, dass viele Führungskräfte die langfristige Resilienz ihrer Organisationen überschätzen, getäuscht durch das Bewältigen akuter Krisen wie der Covid-19-Pandemie. Doch die Realität zeigt, dass Volatilität nicht nur eine vorübergehende Herausforderung ist, sondern ein Dauerzustand, auf den viele Organisationen nur unzureichend vorbereitet sind.
Zudem wird die Komplexität von Organisationen zunehmend zur Falle. Zwei Drittel der Unternehmen gelten als zu komplex und damit ineffizient. Diese Komplexität führt zu unklaren Rollenanforderungen, ineffektiven Entscheidungsstrukturen und einer allgemeinen Trägheit, die Organisationen daran hindern, flexibel und schnell auf Veränderungen zu reagieren. Führungskräfte, die glauben, sie hätten ihre Organisation im Griff, übersehen häufig, dass ihre Strukturen in Wirklichkeit starr und ineffizient sind.
hybrides ArbeitenEin weiteres Thema ist das hybride Arbeiten. Obwohl 90 Prozent der Organisationen mittlerweile hybride Arbeitsmodelle etabliert haben, fehlt es oft an den nötigen flexiblen und inklusiven Formen der Zusammenarbeit. So gehen viele Führungskräfte davon aus, dass die Einführung von hybriden Arbeitsmodellen allein ausreicht, um moderne Arbeitsanforderungen zu erfüllen. In Wirklichkeit jedoch bleibt die effektive Umsetzung solcher Modelle oft auf der Strecke, was zu einem Verlust an Produktivität und Mitarbeiterzufriedenheit führen kann.
Dies hat auch unsere Studie »Alpha Collaboration« aus dem Jahr 2022 deutlich gemacht. Wir wollten wissen, wie gut Führungskräfte und ihre Teams mit der hybriden Zusammenarbeit zurechtkommen, und waren erstaunt, wie weit Selbst- und Fremdwahrnehmung der Führungskräfte auseinanderklaffen: So sehen beispielsweise nur 8 Prozent der Führungskräfte beim Führen auf Distanz die Gefahr des Kontrollverlusts. Unterhält man sich mit den Teammitgliedern, so zeigt sich ein anderes Bild: Sie erkennen ganz deutlich im täglichen Handeln ihrer Vorgesetzten, dass die Fähigkeit loszulassen für viele ein Thema ist. Zwar ist die Angst der Führungskräfte vor Kontrollverlust nachvollziehbar, da sie für die Leistung ihres Bereichs verantwortlich sind, ihre Leistung letztlich stets an der Leistung ihrer Mitarbeitenden gemessen wird und sie natürlich auf Kontrolle konditioniert sind. Diese zumindest latent vorhandene Angst gestehen sich viele Führungskräfte aber nicht ein. Ihr Selbstbild ist eher: »Ich kann vertrauen und loslassen«.5
FluktuationMcKinsey legt den Finger in die Wunde6 – und die Erkenntnis ist bitter: Viele Führungskräfte leben in einer gefährlichen Selbsttäuschung, wenn es um Mitarbeiterbindung und -entwicklung geht. Unrealistische Erwartungen an die Performance gepaart mit Jobs, die keinen echten Sinn stiften, treiben Talente reihenweise in die innere oder gleich die äußere Kündigung. Wer heute immer noch glaubt, dass ein ordentliches Gehalt und ein sicherer Arbeitsplatz ausreichen, um die Besten zu halten, sollte dringend die Führungskomfortzone verlassen.
Gerade die erfolgskritischen Rollen – also die Menschen mit den Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten, die im Unternehmen wirklich entscheidend für Innovation, Transformation oder Kundenzufriedenheit sind – bleiben viel zu oft unbesetzt oder die Mitarbeitenden auf diesen Stellen wandern ab. Studien wie die von McKinsey zeigen klar7, dass genau diese Talente ein feines Gespür dafür haben, ob sie mit ihrer Zeit und Energie am richtigen Ort sind – oder eben nicht.
Schwache Führung, blinde Flecken in der Entwicklungskultur und die Weigerung, sich ehrlich mit den Erwartungen dieser Talente auseinanderzusetzen, sind längst kein internes Problem mehr – sie gefährden den Unternehmenserfolg direkt.
Schließlich zeigt sich in den Bereichen Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion, dass viele Führungskräfte hier nur an der Oberfläche kratzen. Trotz zahlreicher Initiativen bleibt die Infrastruktur für nachhaltige Veränderungen oft unzureichend. Nicht zu vergessen ist auch die Pflege der mentalen Gesundheit der Mitarbeitenden. Wird sie übersehen, können die Folgen für die Organisationen gravierend sein.
Insgesamt zeigen die dargestellten Befunde, dass viele Führungskräfte sich in einer gefährlichen Blase befinden. Sie glauben, ihre Organisation sei gut aufgestellt und zukunftssicher, während es in Wahrheit tiefgreifende strukturelle Schwächen gibt, die sie langfristig anfällig für Krisen machen. Die Realität der heutigen Organisationswelt fordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit dieser Situation und den Mut und die Kraft, umfassende und nachhaltige Veränderungen zu gestalten.
Uns Menschen vermitteln Routinen ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Doch hier lauert auch die Gefahr: Altbewährte Methoden stammen aus einer Ära, die nicht mehr unserer heutigen Realität entspricht. Diese Erkenntnis wird auch in einer Studie von Harvard Business Publishing8 unterstrichen, die zeigt, dass traditionelle Führungsmethoden in einer sich ständig verändernden, digitalen Welt nicht mehr ausreichen. Die Studie macht deutlich, dass Führungskräfte heute auf allen Ebenen gefordert sind, sich auf eine chaotische, unvorhersehbare und sich schnell verändernde Umgebung einzustellen statt auf die Sicherheit ihrer Routinen zu vertrauen.
4 Mei, J.; Chen, K.; Sun, W. (2024). Adaptive leadership in crisis: strategies for managing uncertainty and enhancing organizational resilience. International Journal of Economics, Business and Management Studies. https://doi.org/10.36713/epra18158
5 Institut für Führungskultur; Alpha Collaboration (2022). Führung im Umbruch: Perspektiven für die Zusammenarbeit der Zukunft
6 McKinsey & Company (2023). The state of organizations 2023: Ten shifts transforming organizations,https://www.mckinsey.com/capabilities/people-and-organizational-performance/our-insights/the-state-of-organizations-2023 (abgerufen am 17.02.2025)
7 McKinsey & Company (2022). The great attrition in Germany: Who is leaving, why, and what can companies do about it?, https://www.mckinsey.de/news/presse/2022-12-21-great-attrition-deutschland (abgerufen am 17.02.2025)
8 Harvard Business Publishing (2020). Leading in times of crisis: Rethinking the role of leadership in a rapidly changing world. Harvard Business Review.
Auch wenn das Bewusstsein dafür wächst, dass neue Ansätze gefragt sind, verlangen diese Veränderungen den Menschen viel ab. Disruptive Ideen, schnellere Entscheidungsfindung und empathische Teamführung – all dies stellt hohe Anforderungen. Mentale Barrieren und alte Gewohnheiten verhindern, dass Führungskräfte sich vollständig auf die neue Situation einlassen.
KontrollverlustfähigkeitHier zeigt sich ein tieferliegendes Problem: die fehlende Kontrollverlustfähigkeit. Führungskräfte tun sich oft schwer damit, flexibel auf neue und unvorhersehbare Situationen zu reagieren, da sie ein Gefühl des Kontrollverlusts auslösen können. Diese Schwierigkeit ist tief in psychologischen und neurologischen Prozessen verankert, die uns dazu bringen, an alten, vertrauten Mustern festzuhalten. Wir Menschen möchten die Kontrolle behalten – und das erschwert die Bereitschaft zur Anpassung. Der größte »Feind« dabei ist unser Gehirn: Es neigt dazu, Gewohnheiten anzunehmen, um Energie zu sparen. Veränderungen oder flexible Reaktionen auf neue Situationen erfordern jedoch immer eine Neuprogrammierung und die Überwindung alter Muster. Das strengt an!9 Darüber hinaus aktivieren Veränderungen oder unerwartete Ereignisse unsere Amygdala, das Angstzentrum im Gehirn. Wir stehen unter Stress. Auch das hemmt unsere Handlungs- und Anpassungsfähigkeit.
Wir erkennen es schon an den kleinen Dingen: Die Art, wie wir Meetings gestalten, zeigt, wie eng Veränderung und die Fähigkeit zum bewussten Kontrollverlust zusammengehören. Führung verändert sich – weg von der Idee, dass eine Führungskraft jedes Detail steuert, hin zur Fähigkeit, Rahmen zu setzen und gleichzeitig dem Team die Dynamik zu überlassen.
Gerade in digitalen Meetings wird das sichtbar. Es reicht nicht, sich rein auf Sachthemen zu konzentrieren. Wer in Zeiten des Wandels Teams führen will, muss auch den Raum für Zwischenmenschliches bewusst mitdenken – sei es durch einen lockeren Check-in, persönliche Worte zwischendurch oder kleine vertrauensbildende Rituale.
Und genau hier zeigt sich, wie gut du mit Kontrollverlust umgehen kannst. Du musst weder die Stimmungskanone spielen noch jedes Detail selbst regeln. Viel wichtiger ist, dass du dem Team die Verantwortung übergibst, wie genau diese persönliche Note ins Meeting kommt. Gib zum Beispiel jemandem die Aufgabe, das Meeting mit einer humorvollen oder kreativen Frage zu eröffnen, oder plane bewusst Zeit für ungezwungenen Austausch ein – selbst wenn du vorher nicht weißt, wo das Gespräch hinführt.
Du hältst den roten Faden in der Hand und gibst die Richtung vor. Aber die konkrete Gestaltung – wann, wie und auf welche Weise sich das Team einbringt – liegt in deren Händen. Genau diese Fähigkeit, Kontrolle abzugeben und Veränderung als Raum für Mitgestaltung zu begreifen, wird zur entscheidenden Führungsqualität in der neuen Arbeitswelt.
Interessanterweise erlebe ich oft in meiner Arbeit mit Führungskräften, dass genau hier ein Missverständnis entsteht: Viele glauben, dass sie nicht nur die Verantwortung tragen, sondern auch alles allein umsetzen müssen. Doch das ist nicht der Fall. Es geht darum, den Raum zu schaffen und die richtigen Impulse zu geben, damit das Team in die Verantwortung kommt.
9 Miller, K. J.; D’Esposito, M. (2019). Habits, decision making, and neural mechanisms: Learning from past behavior. Annual Review of Neuroscience, 42, S. 363–385, https://doi.org/10.1146/annurev-neuro-072116-031526
KontrolleEine der unbequemsten Wahrheiten, mit denen sich erfahrene Führungskräfte heute auseinandersetzen müssen, ist, dass wirkliche Stärke genau darin liegt, Kontrolle abzugeben – und den Mut aufzubringen, sich auf Wendungen einzulassen, die man eben nicht immer im Voraus kennt. Und genau das macht vielen zu schaffen. Klar, wir alle haben es über Jahre anders gelernt: Wer führt, gibt die Richtung vor, setzt den Rahmen, entscheidet – und behält die Kontrolle. Das hat lange Sicherheit gegeben – oder zumindest die Illusion davon.
Aber genau diese alte Gewohnheit wird heute zum Stolperstein. Amy Edmondson beschreibt es treffend in ihrem Artikel zur innovativen Kulturbildung10: Organisationen wollen ihre Führungskräfte nicht mehr nur fit machen, um mit Veränderungen irgendwie klarzukommen. Sie sollen »mittenrein« – sie sollen proaktiv gestalten, auch wenn die Richtung noch nicht feststeht. Dazu gehört, Unsicherheit nicht als Störfaktor zu sehen, sondern als Teil des Spiels. Kontrolle? Die gibt es nicht mehr im klassischen Sinne. Und genau das auszuhalten, wird zur echten Bewährungsprobe.
Früher war Kontrolle das Markenzeichen guter Führung: klare Ansagen, klare Prozesse, klare Wege. Heute ist genau dieses Festhalten an Sicherheit oft das, was den Wandel ausbremst. Wer führen will, muss loslassen können – nicht die Verantwortung, aber die Illusion, alles im Griff zu haben.
Die alte Vorstellung von Kontrolle gerät in der digitalen und hybriden Arbeitswelt also zunehmend ins Wanken. Teams arbeiten selbstständiger, Entscheidungen werden dezentral getroffen, und als Führungskraft siehst du oft nur noch die Ergebnisse – nicht mehr jeden einzelnen Schritt, der dorthin geführt hat. Für viele Routiniers ist das eine echte Zumutung. Es fühlt sich an, als würde ihnen Stück für Stück die Kontrolle entgleiten. Und genau dieser Kontrollverlust löst bei vielen den Reflex aus, die Zügel wieder fester in die Hand zu nehmen – sei es durch Mikromanagement, endlose Abstimmungsschleifen oder detaillierte Vorgaben, die eigentlich keiner mehr braucht.
VertrauenFrag dich selbst: Wie viel Kontrolle brauchst du wirklich – und wie viel Vertrauen bist du bereit zu geben?
Wir Menschen neigen dazu, Dinge kontrollieren zu wollen, weil uns dies ein Gefühl von Sicherheit und Vorhersehbarkeit gibt. Wenn wir die Kontrolle über eine Situation haben, fühlen wir uns einfach weniger gestresst, weil wir glauben, unangenehme Überraschungen besser vermeiden zu können. Dieser Drang, die Kontrolle zu behalten, hat, wie schon erwähnt, mit unserer Amygdala zu tun. Sie ist dafür zuständig, wie wir mit Angst und Bedrohungen umgehen. Manchmal wird das Kontrollieren dann auch zu einer Art »Trick«, um Angst und Unsicherheit zu reduzieren. Wenn wir merken, dass uns die Kontrolle entgleitet, führt das oft dazu, noch mehr zu versuchen, alles im Griff zu behalten – und dann landen wir in einem Teufelskreis.
Gleichzeitig führt der verzweifelte Versuch, die Kontrolle zu behalten, nicht nur zu Frustration und Unzufriedenheit im Team, sondern auch dazu, dass die Entscheiderinnen und Entscheider selbst überfordert sind – denn Kontrolle braucht Zeit. Zeit, die in einer sich schnell verändernden Welt oft fehlt.
SelbstbestimmungUnd noch etwas: Die Fixierung auf Kontrolle widerspricht dem Prinzip der Selbstbestimmung, das im Kontext von New Work zentral sind. Selbstbestimmung ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit, um Kontrolle zu minimieren und Raum für echte Schaffensfreude zu ermöglichen. Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden, weil ihnen Verantwortung entzogen wird, sinken Motivation und Engagement drastisch. Gleichzeitig leidet die Produktivität, da Entscheidungen verzögert und Innovationen erstickt werden. Die Fähigkeit, Kontrolle abzugeben und Vertrauen in die Mitarbeitenden zu setzen, ist deshalb heute wichtiger denn je. Doch viele Führungskräfte tun sich schwer damit, diese Fähigkeit zu entwickeln. Sie verwechseln oft das Loslassen von Kontrolle mit einem Verlust an Macht, anstatt es als Chance zu erkennen, die Eigenverantwortung und Kreativität ihrer Teams zu fördern.
Reflexionsfrage: Bist du ein Kontrollfreak?
Stufe dich doch mal auf einer Skala von eins (sehr selten) bis zehn (sehr oft) mit der Frage ein: »Wie oft ertappe ich mich bei dem Versuch, alles im Griff zu haben, anstatt den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen?«
Was sagt das Ergebnis über dich aus?
1 bis 3: Gratulation – du scheinst ein gesundes Maß an Gelassenheit entwickelt zu haben. Wahrscheinlich fällt es dir leicht, Verantwortung zu teilen und deinem Team zu vertrauen. Die spannende Frage ist: Gibt es dennoch Situationen, in denen du unbewusst wieder in den Kontrollmodus rutschst? Halte die Augen offen – auch die Entspanntesten haben ihre Trigger.
4 bis 7: Willkommen in der Realität moderner Führung. Die meisten von uns bewegen sich genau hier – zwischen dem Wunsch, alles im Blick zu behalten, und der Erkenntnis, dass das im digitalen Dauerrauschen kaum möglich ist. Nimm dir einen Moment und überlege: In welchen Situationen könntest du dir selbst erlauben, mal nur zu beobachten, statt direkt einzugreifen? Oft entstehen genau dann die besten Lösungen – weil andere Raum bekommen.
8 bis 10: Wer so tickt, ist oft selbst die größte Bremse für die eigene Wirksamkeit. Klar, Kontrolle gibt Sicherheit – aber in einer Welt, die sich schneller verändert als jede To-do-Liste, wird Kontrollwahn zur Sackgasse. Vielleicht magst du ein kleines Experiment starten: Setz dir bewusst eine Woche lang die Challenge, jeden Tag eine Entscheidung oder ein Thema komplett an dein Team abzugeben – und dann nur zu beobachten. Was passiert, wenn du den Raum für andere freihältst, statt ihn zu füllen?
Egal, wo du dich einordnest: Diese kleine Skala ist kein Urteil, sondern eine Einladung. Eine Einladung, dich selbst ein bisschen besser zu verstehen – und vielleicht genau dort anzusetzen, wo du am meisten wachsen kannst.
AchtsamkeitKleiner Trick: Achtsamkeit hilft tatsächlich. Aber Achtung: Das bedeutet nicht, dass du als Führungskraft planlos in den Tag hineinleben oder alles stoisch hinnehmen sollst. Vielmehr geht es darum, im Moment präsent zu sein, anstatt gedanklich immer drei Schritte vorauszueilen oder zwanghaft jedes Detail zu kontrollieren.
Indem du lernst, den aktuellen Moment bewusst wahrzunehmen – ohne direkt zu bewerten oder innerlich schon an der nächsten Eskalationsmail zu feilen –, kannst du dein Bedürfnis nach Kontrolle besser steuern. Das bedeutet nicht, dass du nicht mehr strategisch denken sollst, sondern dass du bewusster zwischen Aktion und Reflexion wechselst.
Denn mal ehrlich: Wie oft hast du in Meetings tatsächlich zugehört – ich meine, wirklich zugehört – anstatt parallel zu überlegen, wie du die nächsten zehn Aufgaben unter einen Hut bekommst? Führung heißt, präsent zu sein. Wer ständig nur vorausdenkt, verpasst das, was gerade passiert.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer es vielen fällt, Kontrolle auch nur ein Stück weit loszulassen, zeigt sich überall dort, wo Austausch eigentlich spontan, offen und produktiv sein könnte – es aber selten ist. Ob in Projektupdates, Teamrunden oder Abstimmungsformaten: Statt wirklicher Zusammenarbeit entsteht oft ein fein gesponnenes Netz aus Informationsmanagement. Wer bekommt welche Infos, wann und in welchem Rahmen? Wer darf wie viel sagen – und wer besser nicht? Und immer mitschwingend: die leise Angst, die Kontrolle über Themen, Meinungsbilder oder gar die eigene Position zu verlieren.
Und genau diese Dynamik zeigt sich besonders deutlich – in unseren Meetings.
10 Edmondson, A. C. (2019). The hard truth about innovative cultures
MeetingsKennst du das Bedürfnis, ständig Meetings abhalten zu wollen, um sicherzugehen, dass alles im Team nach Plan läuft? Viele Führungskräfte neigen dazu, genau das zu tun – oft unbewusst, weil sie das Bedürfnis haben, die Kontrolle zu behalten, und nichts dem Zufall überlassen wollen. Meetings bieten dann eine scheinbar sichere Möglichkeit, stets auf dem Laufenden zu bleiben und jedes Detail im Blick zu haben. Doch die Kehrseite davon ist, dass diese Meetingflut letztlich mehr Zeit frisst, als tatsächlich für produktive Arbeit bleibt. Wenn wir zu oft auf Meetings setzen, entsteht schnell eine Kultur des Misstrauens. Statt darauf zu vertrauen, dass das Team selbstständig und effektiv arbeitet, neigen wir dazu, ständig nachzufragen und zu überprüfen. Diese Haltung hat ihre Wurzeln in alten Denkmustern, die Kontrolle und Mikromanagement über Vertrauen und Eigenverantwortung stellen.
Wusstest du zum Beispiel, dass Mitarbeitende im Durchschnitt mehr als einen ganzen Arbeitstag pro Woche allein damit verbringen, sich auf Meetings vorzubereiten und daran teilzunehmen?11 Über eine Karriere von 40 Jahren betrachtet sind das etwa zehn Jahre, die nur für Meetings draufgehen – das ist kaum zu glauben!12
Diese enorme Zeitverschwendung hat einige Unternehmen, vor allem im innovationsgetriebenen Silicon Valley, dazu veranlasst, radikale Veränderungen vorzunehmen. Ein beeindruckendes Beispiel liefert Kenzo Fong, CEO und Co-Gründer der Messaging-App Rock.13 Er hat kurzerhand alle regelmäßigen Meetings gestrichen – mit durchschlagendem Erfolg. Statt Dauerbesprechungen gibt es nur noch Meetings, die tatsächlich der Entscheidungsfindung dienen. Informationsmeetings? Abgeschafft. Das Ergebnis: mehr Zeit für das Wesentliche, höhere Effizienz und motiviertere Mitarbeitende, die sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können, anstatt sich durch endlose Abstimmungen zu quälen.
Eine Studie zeigt übrigens: Deutsche Büroangestellte verbringen im Schnitt 16,5 Stunden pro Monat in Meetings – Tendenz steigend seit dem Homeoffice-Boom. Und es wird nicht nur mehr, sondern auch anstrengender: Forschende der Stanford University fanden heraus, dass 13,8 Prozent der Frauen und 5,5 Prozent der Männer nach einem Meeting-Tag mit Zoom & Co. »sehr« bis »extrem« erschöpft sind. Kein Wunder, dass Fong mit seinem radikalen Ansatz für Aufsehen sorgt – und vielleicht auch den einen oder anderen Impuls liefert, die eigene Meetingkultur kritisch zu hinterfragen.
Weniger Meetings können tatsächlich zu mehr Produktivität führen – und letztlich dazu, dass alle Beteiligten zufriedener sind. Nicht nur, dass eine solche Meetingkultur ein deutliches Zeichen von Kontrollverlusttoleranz ist, sie zahlt gleichzeitig auf die Vertrauenskultur ein.
11 Flowtrace (2024). 50 surprising meeting statistics for 2024, https://www.flowtrace.com (abgerufen am 17.02.2025)
12 The Muse Editors (2020). How much time do we spend in meetings? (Hint: It’s scary), https://www.themuse.com/advice/how-much-time-do-we-spend-in-meetings-hint-its-scary (abgerufen am 17.02.2025)
13 Steinharter, H. (2022). Bürokultur: Dieser Manager empfiehlt: Schafft alle Standardmeetings ab!, https://www.handelsblatt.com/karriere/buerokultur-dieser-manager-empfiehlt-schafft-alle-standardmeetings-ab/28192164.html (abgerufen am 02.03.2025)
VertrauenDie meisten Führungskräfte heute haben erkannt, dass Vertrauen die neue Währung ist, nicht nur um eine gute Atmosphäre der Zusammenarbeit zu schaffen, sondern auch um ein Miteinander zu ermöglichen – und das spiegelt sich direkt in besseren Ergebnissen wider. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich oft ein anderes Bild: Das vermeintliche Vertrauen ist oft nur die Fassade in einer neu geschaffenen Duzkultur, in der wahre Offenheit fehlt. Klar, die Führungskräfte haben es nie gelernt. In der Vergangenheit stand Vertrauensbildung nie zur Debatte, Prozesse wurden kontrolliert und Führungskräfte machten Ansagen. Das ist so in Fleisch und Blut übergegangen, dass nie gelernt wurde, richtig loszulassen.
Die Entscheiderinnen und Entscheider, die weiterhin so agieren – und Hand aufs Herz, es gibt noch viele davon – behalten ihre Mitarbeitenden genau im Auge, kontrollieren nach wie vor die Fortschritte und greifen ein, sobald etwas nicht nach Plan läuft. Sie sprechen von Vertrauen, handeln aber in einer Weise, die das Gegenteil zeigt. Diese Diskrepanz bleibt den Mitarbeitenden nicht verborgen. Sie reagieren entsprechend: werden vorsichtiger, trauen sich weniger, Risiken einzugehen, und passen sich den Erwartungen der Führungskraft an, statt kreativ und eigenverantwortlich zu arbeiten.
VertrauenskulturEine echte Vertrauenskultur erfordert jedoch mehr als nur Worte; sie muss gelebt werden. Viele sprechen davon, dass Vertrauen heutzutage alles ist, aber an den kleinen Handlungen erkennt man, dass etwas nur gesagt ist und nicht gelebt wird. Da werden dann z. B. Kleinigkeiten kontrolliert oder den Mitarbeitenden wird nicht einmal in kleinen Projekten Selbstbestimmung zugestanden.14 Edgar Schein, ein renommierter amerikanischer Sozialpsychologe und ein bedeutender Theoretiker im Bereich der Organisationspsychologie, der vor allem für seine Arbeiten zur Organisationskultur und Führung bekannt ist, hat ein Modell entwickelt, das die Organisationskultur in drei Ebenen unterteilt:
1. Artefakte (sichtbare Strukturen und Prozesse)
ArtefakteArtefakte umfassen alles, was man in einer Organisation direkt beobachten kann, z. B. das Bürodesign, den Dresscode oder Rituale in Meetings.
Beispiel